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Full text of "Baur, Erwin und Fischer, Eugen und Lenz, Fritz - Menschliche Auslese und Rassenhygiene - Band 1 (1936, 414 Doppels., Scan)"

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enschliche Erblehre und 
Rassenhygiene 
(Eugenik 

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*win Baur f ? Eugen 
und Fritz Lenz 



Bandl: 

Menschliche Erblehre 

Band II: 

Menschliche Auslese und 
Rassenhygiene 

(Eugenik) 




J. F. LEHMANNS VERLAG / MÜNCHEN 1936 




Vo 



n 



ur. ur. ur. urwin rsaur 
Prof. Dr. Eugen Fischer 
Prof. Dr. Fritz Lenz 



Vierte, neubearbeitete Auflage 



Mit 1 Bildnis Erwin Baurs, 

209 Textabbildungen und 13 Tafeln 

mit 78 Bassenbildern 




J. F. LEHMANNS VERLAG / MÜNCHEN 1936 



Aiie Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, 
behalten sich Urheber und Verleger vor. 

Copyright 1936 J. F. Lehmanns Verlag, München. 

Druck 



Kastner & Callv 
l'rinted in Germ 



ey, München. 

LÜJ. 



Vorwort zur vierten Auflage. 

Die „Menschliche Erblehre" war einige Jahre vergriffen. Be- 
rufs- und Amtsgeschäfte haben es den beiden unterzeich- 
neten Verfassern unmöglich gemacht, die Neubearbeitung frü- 
her zu vollenden, obwohl sie gerade in der heutigen Zeit drin- 
gend erwünscht war. Jetzt, wo wir sie vorlegen, gedenken wir 
zuerst unseres unvergeßlichen Freundes und Mitarbeiters 
Erwin Baur, den ein früher, jäher Tod die Freude am end- 
lich vollendeten Werk nicht mehr erleben ließ. Die Bearbei- 
tung seines Teiles hat er noch selber durchgeführt, auch die 
Druckbogen einer ersten Durchsicht unterzogen. 

Diese Neuauflage ist eine völlige Neubearbeitung. Es sind 
fast zehn Jahre vergangen, seit die vorige Auflage geschrieben 
wurde. Die allgemeine Erblehre hat auch in diesem Jahrzehnt 
große Fortschritte gemacht, und auch die menschliche Erblehre 
ist zu einer eigenen großen Wissenschaft geworden. Während 
die Grundzüge der allgemeinen Genetik, die in dem von Baur 
bearbeiteten ersten Abschnitt dargestellt sind, im wesentlichen 
feststehen, ist die menschliche Erblehre noch stark in Fluß. 
Deshalb waren gerade diese Abschnitte völlig neu darzustellen. 
Hier sind die Ergebnisse der Zwillingsforschung auf fast allen 
Gebieten ausgiebig verwendet worden. Die frühere Beschrei- 
bung der einzelnen Rassen wurde weggelassen; man darf heute 
die Kenntnis der äußerlichen Rassenmerkmale der europäi- 
schen und der wichtigsten außereuropäischen Rassen als be- 
kannt voraussetzen. Dagegen wurden die Fragen der Rassen- 
entstehung und Rassenkreuzung ausführlich behandelt. 

Im dritten Abschnitt waren zahlreiche neue Erkenntnisse 
über Erbkrankheiten zu berücksichtigen. Im vierten ist eine 
besondere Darstellung der Zwillingsmethode hinzugekommen. 
Im fünften war einiges zu den Problemen der Rassenpsycho- 
logie neu zu sagen. 

So hegt ein als neu zu bezeichnendes Buch vor. Grundsätz- 
liches brauchte nicht geändert zu werden. Wir hoffen, wie 
bisher, die wissenschaftlich oder praktisch wichtigen For- 
schungsergebnisse der Erblehre des Menschen, brauchbar für 
Forscher und Ärzte, darzubieten und damit zugleich dem wis- 
senschaftlichen Ausbau dieser Lehre zu dienen. Die früheren 



VI VORWORT ZUR VIERTEN AUFLÄGE. 

Auflagen unseres Buches haben weit über den Kreis der Fach- 
leute hinaus eine günstige Aufnahme gefunden ; und wir haben 
uns bemüht, auch in dieser Auflage für Gebildete aller Berufe 
verständlich zu schreiben. Schließlich hoffen wir, daß unsere 
Arbeit eine Unterlage sei für eine rassenhygienische, der un- 
geheuren Verantwortung und Tragweite sich bewußte Bevölke- 
rungs politik, wie sie endlich der nationalsozialistische Staat als 
entscheidende Aufgabe für den Bestand und die Rassentüch- 
tigkeit unseres Volkes erkannt hat. 

Berlin-Dahlem, im März 1936 

Kaiser- Wilhelm- Institut für Anthropologie, 

menschliche Erblehre und Eugenik 

EUGEN FISCHER, 
FRITZ LENZ. 



Inhaltsverzeichnis. 

Seile 

Vorwort zur vierten Auflage . . . V 

Erster Abschnitt: Abriß der allgemeinen Variations- und 
Erblehre. Von Prof. Dr. ph.il. et med. Dr. agr. h. c. Dr. phil. h. c. 

Erwin Baur f 1 

1. Einige Grundbegriffe 3 

2. Die Variationserscheinungen 5 

a) Die Modifikation (Paravariation) 6 

b) Die Kombination (Mixo Variation) 22 

c) Die Mutation (Idio Variation) 75 

3. Der Einfluß der Variationserscheinungen auf die Zusammen- 
setzung eines Volkes, die Wirkung von Auslesevorgängen 81 

4. Die Wirkung von Inzucht 91 

Zweiter Abschnitt: Die gesunden körperlichen Erbanlagen 

des Menschen. Von Prof. Dr. Eugen Fischer. . . 95 

1. Einleitung 97 

2. Die einzelnen Erbanlagen 108 

a) Die allgemeinen Erbanlagen 109 

b) Erbanlagen der Färbung 116 

c) Erbanlagen für Tastleisten und Handfurchen . . . 135 

d) Erbanlagen für die Form des Haares und der Behaarung 156 

e) Erbanlagen am Skelett 162 

f) Erbanlagen für das Gesicht und seine Teile .... 192 
g) Erbanlagen für Körpergröße und Körperform .... 208 
h) Erbanlagen für Muskulatur, sogenannte innere Organe, 

Nervensystem, Sinnesorgane 225 

i) Erbanlagen für physiologische Vorgänge 228 

3. Die Erbanlagen der Rassen 

a) Der Rassenbegriff 246 

b) Rassenentstehung 251 

c) Verteilung der rassenmäßigen Erbanlagen 269 

d) Allgemeine Lebenserscheinungen der Rassen (Rassen- 
biologie) 286 

aa) Umfang und Verbreitung der Rassenkreuzung . . 287 

bb) Biologie der Bastardbevölkerung 291 

cc) Biologisches Endergebnis von Rassenkreuzung . . 309 



VIII INHALTSVERZEICHNIS. 

Seite 

Dritter Abschnitt: Die krankhaften Erbanlagen. Von Prof. 

Dr. Fritz Lenz 321 

1. Über die Begriffe Krankheit, Gesundheit und Norm . . . 323 

2. Die Bedeutung krankhafter Erbanlagen für die einzelnen 
Krankheiten und Anomalien 326 

a) Allgemeine Gesichtspunkte 326 

b) Erbliche Augenleiden , . 328 

c) Erbliche Ohrenleiden 365 

d) Erbliche Fiautleiden 373 

e) Anomalien der Körperform 387 

f) Erbliche Diathesen (Anfälligkeiten) 428 

g) Die Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten .... 476 

h) Krebs und andere bösartige Geschwülste 489 

i) Untüchtigkeit zur Fortpflanzung 499 

k) Erbliche Nervenleiden ß03 

1) Erbliche Geisteskrankheiten und Psychopathien . . . 525 

3. Die Neuentstehung krankhafter Erbanlagen 562 

Vierter Abschnitt: Die Methoden menschlicher Erbfor- 
schung, Von Prof. Dr. Fr it z Lenz 587 

1. Analogieschlüsse aus experimentellen Befunden .... 589 

2. Genealogisch-statistische Methoden 593 

3. Die Korrclationsrechnung 627 

4. Die Zwillingsmethode 641 

Fünfter Abschnitt: Die Erblichkeit der geistigen Eigen- 
schaften. Von Prof. Dr. Fritz Lenz 659 

1. Die erbliche Grundlage der geistigen Persönlichkeit . . . 661 

2. Die geistigen Rassenunterschiede 711 

Schrifttum 775 

Namenverzeichnis 77g 

Schlagwörterverzeichnis 785 

Nachträgliche Verbesserungen 796 






Erster Abschnitt 



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Abriß der alleemeinen Variations- 



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und Erblehre 



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Von 
Prof. Dr. phil. et. med. Dr. agr. li. c. Dr. phil. h. c. Erwin Baur f 



1S75— 1933 



I. Einige Grundbegriffe. 

it Vererbung im biologischen Sinne des Wortes 
..VJ. bezeichnen wir gemeinhin die Tatsache, daß die Nachkom- 
men eines Elters oder bei geschlechtlicher Fortpflanzung eines 
Elternpaarcs dem bzw. den Ehern gleichen. 

Nachkommenschaft kann bei vielzelligen Lebewesen ent- 
stehen : 
i . durch Lostrennung und selbständige Weiterentwicklung 
einer einzelnen Zelle oder bei Lebewesen mit vielkernigen 
Zellen sogar eines Teiles einer Zelle : 

2. durch Lostrennung und selbständige Weiterentwicklung 
von ganzen Zeilgruppen und Organen ; 

3. durch Lostrennung zweier Zellen von einem Individuum 
oder von zwei Individuen und weiterhin Vereinigung je 
zweier solcher Zellen („Eizelle" und „Samenzelle" (Sper- 
matozoid) zu einer Zelle, aus der dann ein neues Indivi- 
duum hervorgeht. 

Die ersten beiden Fälle bezeichnet man als ungeschlecht- 
liche (vegetative), den dritten Fall als geschlechtliche 
(sexuelle) Fortpflanzung. 

Bei sehr vielen, besonders bei vielen pflanzlichen Lebe- 
wesen kann man jede beliebige Zelle oder doch Zellgruppe aus 
ihrem bisherigen Verband lostrennen. Sie fängt dann selbstän- 
dig zu wachsen an und läßt so ein neues Individuum 1 ) aus sich 
hervorgehen. Bei vielen anderen Organismen sind nur wenige 
Zellen in dieser Weise „allseitig regenerationsfähig". Bei noch 
anderen Organismen, so besonders bei den höheren Tieren sind 
im allgemeinen nur ganz bestimmte Zellen — die Geschlechts- 
zellen — zur Erzeugung neuer Individuen befähigt 2 ). 

Bei den Organismen der ersten beiden Gruppen muß also 
in jeder von diesen allseitig regenerationsfähigen Körperzel- 

*) Daß der Begriff Individuum bei diesen Lebewesen genau besehen 
gar nicht durchführbar ist, braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden. 

2 ) Etwas der ungeschlechtlichen Fortpflanzung der niederen Tiere Ent- 
sprechendes finden wir bei höheren Tieren im allgemeinen nur darin, daß. 
Embryonen in den ersten Entwicklungsstufen sich teilen können, so daß 
zwei oder mehr Individuen aus einem befruchteten Ei entstehen. Das führt 
dann zu eineiigen Zwillingen, Drillingen usw. Dieser Vorgang, der beim 
Menschen nur ausnahmsweise vorkommt, ist bei manchen Tieren — Gürtel- 
tieren — die Regel. 



4 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEIIRE. 



Jen, bei den Organismen der letzten Gruppe muß mindestens 
in jeder Geschlechtszelle alles darin stecken, was für 
die betreffende Art wesentlich ist. Im feineren Bau der Eizellen 
eines Orang-Utans und eines Menschen muß in irgend einer 
Weise der ganze Unterschied zwischen einem Orang-Utan und 
einem Menschen begründet sein. Man. darf sich das freilich 
nicht in der kindlichen Weise der Präformations-Theorie so 
vorstellen, daß in der Eizelle alle im späteren Organismus auf- 
tretenden Unterschiede schon vorhanden wären. Jeder fertige 
Organismus ist erst das Endergebnis einer langen indivi- 
duellen Entwicklung, winzige Unterschiede im Anfangs- 
stadium können tiefgehende Unterschiede auf den späteren 
Stadien bedingen — kleine Ursachen, große Wirkungen. — 
Es ist ganz leicht vorstellbar, daß kleine Unterschiede im 
Gefüge zweier äußerlich überhaupt nicht unterscheidbarer Ei- 
zellen, z. B. kleine chemische Verschiedenheiten, bedingen, daß 
aus der einen ein Europäer, aus der anderen ein Hottentotte 
wird. Es ist auch gar nicht gesagt, daß zwischen der Größe 
der Unterschiede zweier Keimzellen und der Größe der Unter- 
schiede der fertigen Organismen eine bestimmte Beziehung 
besteht. 

Im allgemeinen stellt sich der Laie den Bau einer einzelnen 
Zelle, etwa einer menschlichen Eizelle, viel zu einfach vor. Eine 
Zelle ist selbst schon aus Tausenden von Einzelorganen zusam- 
mengesetzt, deren jedes eine ganz bestimmte Sonderaufgabe so- 
wohl für die Zehphysiologie wie für die Vererbung zu erfüllen 
hat. Einer Zellteilung geht eine Teilung aller dieser Einzelor- 
gane voraus. Diese Einzelbestandteile einer Zelle sind ebenso 
sehr „autonome" Gebilde wie eine Zelle selbst und entstehen 
nur durch Teilung aus ihresgleichen. Es ist also völlig irrefüh- 
rend, wenn man die Zelle als den Elementarb au stein eines Or- 
ganismus bezeichnet. 

Wir wollen nun weiterhin, ohne damit zunächst irgend- 
welche zytologische Vorstellungen zu verbinden, den Teil einer 
Zelle, in dem in uns vorläufig noch unbekannter Weise ihre 
Arteigenheit begründet ist, mit einem von Naegeli einge- 
führten Ausdruck als Idioplasma bezeichnen. Es beruhen 
nach dieser Begriffsbestimmung alle erblichen 
Unterschiede zwischen zwei fertigen Individuen 
entwicklungsmechanisch in letzter Linie auf U n - 
terschiedenimBauoderChemismusdesIdioplas- 
mas. Diese Idioplasrna-Unterschiede sind das Primäre, die 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



5 



äußer lieh an den ausge wachs enen Organismen erkenn- 
baren Unterschiede sind etwas ganz Sekundäres. Irgend 
ein kleiner Unterschied zwischen den Idioplasmen zweier Ei- 
zellen ist meistens die entwicklungsmechanische Ursache einer 
ganzen Reihe von Unterschieden in den verschiedensten 
Teilen des fertigen Organismus. 

Vcrerbungvon einemElterbzw. einemEItern- 
p aarauf dieNac h k o m m enberuhtda r a. u f , daß die 
Nachkommen ganz oder teilweise das gleiche 
Idioplasma haben wie der Elter oder bei ge- 
schlechtlicher Fortpflanzung wie die Eltern. 



2. Die Variationserscheinungen. 

Die Vererbung ist fast nie eine vollkommene, d. h. die 
Nachkommen sind fast nie dem Elter bzw. den Eltern völlig 
gleich, und ebenso sind fast immer die Geschwister untereinan- 
der verschieden. Man sagt, die Nachkommen „variieren". 
Es ist die wichtigste Aufgabe der Vererbungs- 
Wissenschaft, die Gesetzmäßigkeiten klarzule- 
gen, nach denen dies Verschiedensein, diese Va- 
riation vor sich geht. 

Ursache des Verschiedenseins der Kinder von den Eltern 
und der Kinder voneinander, d. h. Ursachen des Variierens 
kennen wir im wesentlichen dreierlei, und so lassen sich auch 
drei Gruppen von Variationen unterscheiden : 

i. Die eine von diesen drei Hauptursachen besteht darin, daß 
auch der erblichen Anlage nach, d. h. idioplasmatisch völlig 
gleiche Individuen je nach den äußeren Verhält- 
nissen, unter denen sie aufgewachsen sind, 
je nach ihrer „Umwelt", sehr verschieden sein können. 
Wir bezeichnen diese Art der Variation als Modifikation 
oder Paravariation. 

2. Eine zweite Ursache des Variierens besteht darin, daß bei 
der geschlechtlichen Fortpflanzung ein neues Individuum 
fast immer dadurch entsteht, daß zwei Zellen sich vereini- 
gen, die ihrer erblichen Anlage nach, d.h. im 
Idioplasma verschieden sind, und daß so eine 
Vermischung, eine Kombination zweier Verer- 
bung s r i c h t u n g e n erfolgt. Man spricht dann von Kom- 
binationen oder Mixovariationen. 



6 ERWIN BAÜR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 

3. Eine dritte Ursache des Variierens besteht darin, daß aus 
irgendwelchen Gründen und zu irgendwelchem Zeitpunkt 
eine Änderung im G e f ü g e des, im allgeraei 11 e 11 
freilich ziemlich stabilen, Idioplasmas erfolgt 
und daß so Zellen und daraus Individuen mit verändertem 
Idioplasma hervorgehen, die entsprechend auch in ihren 
sekundären äußeren Eigenschaften verändert sind. Varia- 
tionen, die auf einer solchen Änderung des Idioplasmas be- 
ruhen, bezeichnet man als Mutationen oder als Idiovarla- 
tionen, 

a) Die Modifikation (Paravariation). 

Um die Gesetze der Modifikationen zu untersuchen, muß 
man ausgehen von Fällen, wo nicht gleichzeitig die verschiede- 
nen Ursachen des Variierens mitspielen, wo vor allem die Wir- 
kungen der geschlechtlichen Vermischung zweier Vererbungs- 
tendenzen ausgeschaltet sind. Wir wählen deshalb zur Ablei- 
tung der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten am besten einen Orga- 
nismus, der dauernd oder doch zeitweilig Fortpflanzung ohne 
geschlechtliche Vereinigung verschiedener Idioplasmen. aufweist. 

Eine Gruppe von Organismen, die alle durch vegetative 
Vermehrung aus einem Ausgangsindividuum entstanden sind, 
heißt man einen ,,Kton u und wir wollen hier als Schulbeispiel 
etwa einen „Klon" von Paramaecium caudatum, einem 
in allen Pfützen und Tümpeln häufigen kleinen einzelligen In- 
fusor nehmen, das sich in kleinen Glasgefäßen eine lange Reihe 
von Generationen hindurch rein vegetativ einfach durch Zwei- 
teilung fortpflanzt. Man bekommt so, wenn man mit einem 
Ausgangstier ein Aquarium beschickt, rasch einen großen 
Schwärm von Tieren, die alle ihrer erblichen Anlage nach 
d. h. idio plastisch gleich sind. Äußerlich sind aber die 
einzelnen Tiere eines solchen Klons trotzdem stark verschie- 
den, weil sie im einzelnen immer unter etwas anderen Bedin- 
gungen sich entwickelt haben. Das eine hat z. B. immer genug 
Nahrung bekommen, das andere hat zeitweilig gehungert, das 
eine hat sich verletzt, das andere nicht, das eine befand sich 
an einer besonders stark belichteten oder an einer besonders 
warmen Stelle des Kulturgefäßes usw. 

Für dieses Verschiedensein erblich gleicher Organismen, 
das bedingt ist durch die ungleichen Außeneinflüsse, die auf 
die Tiere einwirken, gelten ganz bestimmte Gesetzmäßigkeiten : 
Untersucht man irgendeine beliebige Eigenschaft aller Tiere 



2. DIE VARIATIONSERSCNEINUNGEN. 



7 



eines solchen Schwarmes statistisch, so findet man meist, daß 
weit nach der einen Seite abweichende Individuen selten sind, 
ebenso auch weit nach der anderen Seite abweichende. Je mehr 
sich aber die Eigenschafts-Ausbildung dem Mittel nähert, desto 
häufiger sind die betreffenden Individuen. Das zeigt sehr 
schön die Tabelle I, in der von einem Klon von Paramae- 
cium die Körperlänge statistisch aufgenommen ist. Figur 1 
zeigt das gleiche Zahlenmaterial in Form einer Variationskurve. 















Tabelle I 




















Länge in jt 


136 140 144 H8 152 156 160 I64 16« 172 176 180 184 188 192 196 


200 


Zalil der Tiere 

mit 
dieser Länge 


2 5 5 14 26 27 40 52 39 32 26 14 12 3 2 i 




136 W M ffl m 15b 



196 200 



Fis:. 1. 



Weshalb die Variationskurven so häufig gerade diese Form 
haben, d. h. mehr oder weniger der B i n mialku r ve glei- 
chen, ist leicht einzusehen: Die Größe der Paramaecien wird, 
um bei diesem Beispiel zu bleiben, durch alle möglichen ver- 



8 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



schieclenen Faktoren beeinflußt. Ganz besonders groß wird z.B. 
ein Tier nur dann, wenn es dauernd sehr gut genährt wurde, 
nie verletzt wurde, immer im genügend sauerstoffreichen Wasser 
war, nie durch zu grelles Licht, oder zu hohe Temperatur, oder 
zu niedere Temperatur geschädigt wurde usw. Nur ein Tier, 
das in allen diesen Dingen Glück hat, wird beson- 
ders groß, und ebenso wird nur ein Tier, das in allen die- 
sen Dingen Unglück hat, besonders klein. Meist 
wird es sich aber treffen, daß ein Tier teils 
Glück, teils Unglück hat, d. h. e s w i r d meist eine 
mittlere Größe haben. 

Immerhin ist diese ganze Frage doch so wichtig, daß es sich lohnt, ab- 
zuleiten, weshalb gerade diese bestimmte Form der Kurve zustande kommt. 
Faktoren, die alle die Größe eines Paramaeciums in einem Aquarium be- 
einflussen, gibt es zahllose. Wir wollen einmal nur die fünf vorhin genannten 
herausgreifen und wollen auch die Annahme machen, es gäbe für diese 5 
Faktoren immer nur je zwei Alternativen, eine die Größe fördernde und eine 
die Größe hemmende. Wir wollen ferner die fördernden Alternativen mit 
einem großen, die hemmenden mit dem entsprechenden kleinen Buchstaben 
bezeichnen. Das gäbe folgendes: 



Fördernde Alternativen 
A Ernährung gut 
B genügend Sauerstoff 
C günstige Belichtung 
D keine Schädigung durch Kälte 
E keine Schädigung durch Flitze 



Hemmende Alternativen 
a Ernährung schlecht 
b nicht genügend Sauerstoff 
c zu grelles Licht 

(/zeitweilige Schädigung durch Kälte 
e zeitweilige Schädigung durch Hitze. 



Auch wenn wir nur diese fünf voneinander unabhängigen Faktoren in 
Rechnung stellen, können die einzelnen Tiere einer Kultur schon sich unter 
32 verschiedenen Bedingungen entwickeln. Ein Tier, das unter der ausschließ- 
lich günstigen Bedingung ABCDE aufwächst, wird besonders groß, ein Tier, 
das unter der nur teilweise günstigen Bedingung AbcDe aufwächst, das also 
zwar gut genährt ist, auch nicht unter Kälte leidet, das aber durch Sauerstoff- 
mangel, zu grelles Licht und Hitze geschädigt wird, wird wesentlich kleiner 
sein. Nehmen wir der Einfachheit halber an, daß jeweils ein fördernder Faktor 
ein Tier um eine Längeneinheit größer werden lasse, so haben wir folgendes : 





Maß 


der 


Ver- 




Maß der Ver- 


Mögliche Kom- 


große rang 


, die 


Mögliche Kom- 


größerung, die 


bination der fünf 


ein unter 


lieser 


bination der fünf 


ein unter dieser 


voneinander un- 


Kon; 


teilatioii 


voneinander un- 


Konstellation 


abhängigen .Fak- 


auf gewachsenes 


abhängigen Fak- 


aufgewachsenes 


toren 


Tier 


erf 


ihrt 


toren 


Tier erfährt 


A B C D E . 




5 




AbCDE . 


... 4 


A BCDe . 




4 




AbCDe 


■ ■ ■ 3 


ABCclE . 




4 




AbCdE . 


■ - ■ 3 


ABCde . 




3 




AfaCde 


... 2 


ABcDE . 




4 




AbcDE . 


■ ■ ■ 3 


ABcDc 




3 




Abc De 


2 


ABcdE 




3 




AbcdE 


2 


ABede 




2 




A b c d e 


. . . i 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



Mögliehe Kom- 
bination der fünf 
voneinander un- 
abhängigen Fak- 
toren 

aBCDE 

aBCDe 

aBCdE 

aBCde 

aBcDE 

aBcDe 

aBcdE 

aBede 



Maß der Ver- 
größerung, die 
ein unter dieser 

Konstellation 
aufgewachsenes 

Tier erfährt 

- ■ 4 

■ ■ 3 

■ ■ 3 



Mögliche Kom- 
bination der fünf 
voneinander un- 
abhängigen Fak- 
toren 

abCDE 
abCDc 
abCdE 
a b C d e 
abcDE 
abcDe 
abcdE 
a b c d c 



Maß der Ver- 
größerung, die 
ein unter dieser 

Konstellation 

aufgewachsenes 

Tier erfährt 

3 

2 



Alle diese 32 überhaupt möglichen Konstellationen haben die gleiche 
Wahrscheinlichkeit, m a 11 k a 11 11 also erwarten, daß von eine r 
g r o ß e n Anzahl v o n T i e r e 11 eines Aquariums sich je j.j u n - 
t e r einer von diesen Konstellationen entwickelt. Nun 
geben aber, wie ein Blick auf die Tabelle zeigt: 

1 Konstellation eine Vergrößerung um 5 
5 Konstellationen ., ,, ,, 4 

10 „ ',. ,, „ 3 

10 „ ,, ,. „ 2 

5 „ „ ., ., 1 

/ Konstellation ,, „ ,, o. 

Mit andern Worten: wir werden erwarten müssen, daß von einer gro- 
ßen Zahl von Tieren 

■$.;- eine Vergrößerung um -!- 5 

[ h „ „ „ -f 4 

tt , „ „ -!- 3 

1 11 \ n 

Tri jj >.- >, ~r A 



zeigen werden, in Form einer Kurve ergibt sich das in Fig. 2 dargestellte Bild 



Großenzunahme 
Häufigkeit 




Fig. 2. 



10 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Hätten wir in dem Beispiel statt 5 Faktoren eine größere Zahl, etwa 6 
gewählt, so hätten wir die Zahlenreihe E 6- 15-20- 15-6-1 erhalten und jede be- 
liebige größere Zahl von Faktoren würde ebenfalls Zahlenreihen ergeben, die wie 

1 
1 2 1 

13 3 1 

14641 

1 5 10 10 5 1 

usw. übereinstimmen mit den Koeffizientenwerten von (a -|- b) n > d. h. der 

G a u ß 5 c li e 11 W a h r s c h c i n 1 i c h k e i t s k u r v c entsprechen. 

Die bezeichnende Form der M o d i f i k a t i o n s k u r v e 
rührt also nur daher, daß sehr viele Faktoren ganz un- 
abhängig voneinander die Modifikation beeinflussen. 

Die Variationskurven, die man findet, wenn man statistisch 
irgendeine Eigenschaft untersucht, zeigen zwar sehr häufig ein 
mehr oder weniger getreues Spiegelbild der Zufallskurve, aber 
durchaus nicht immer. Es gibt auch einschenkelige, mehrgipfe- 
lige u. a. Kurven. Das hängt damit zusammen, daß eben 
nicht notwendigerweise die Änderung einer Eigenschaft genau 




l ? ig- 3- 

Zwei Wurfgeschwister einer sonst einheitlichen Schweinerasse (Berkshire). 

Das Tier links nur gerade eben notdürftig, das Tier rechts reichlich ernährt. 

Nicht erbliche Modifikation (nach S. v. Nathusius). 



parallel den sich ändernden Bedingungen gehen muß. Es 
würde aber zu weit führen, näher auf diese Fragen einzugehen. 
Wie auffällig große Verschiedenheiten zwischen erblich ge- 
nau gleichen Individuen zustande kommen, wie ungemein groß 
das Ausmaß einer Modifikation sein kann, ist zwar für Pflan- 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



11 



zen an sehr vielen Versuchen festgestellt, für Tiere aber und 
vor allem für höhere Tiere .ist hierüber wenig zuverlässiges 
Material bekannt. Erblich ganz einheitliches Material ist hier 
sehr schwer heranzuziehen, weil wegen der Geschlechtstrennung 
Nachkommenschaft nur von zwei Individuen erhalten werden 
kann. Ein sehr lehrreicher Versuch dieser Art mit höheren Tie- 
ren ist in Figur 3 dargestellt. 



Genau so wie die einzelnen Individuen eines Klons von Pa- 
ramaecium — abgesehen von Mutationen — erblich unter- 
einander gleich sind, stimmen auch eineiige, d. h. aus einem 
befruchteten Ei entstandene Zwillinge in ihrer erblichen Ver- 
anlagung völlig überein. Dieser Umstand ist für die Erforschung 
der Vererbungsgesetze beim 
Menschen sehr wichtig. Der- 
artige Zwillinge sind vom 
Standpunkt der Genetik be- 
trachtet ein Klo n. Unter- 
schiede zwischen eineiigen 
Zwillingen sind also im allge- 
meinen als Modifikatio- 
nen zu deuten. 

Wenn die beiden Zwil- 
linge unter verschieden- 
artigen Umweltsbedingun- 
gen heranwachsen und trotz- 
dem beide klar und deutlich 
eine bestimmte Eigenschaft zei- 
gen, etwa eine Lungentuberku- 
lose oder eine bestimmte ver- 
brecherische Neigung, so kann 
man daraus sichere Schlußfol- 
gerungen für die Bedeutung 
der erblichen Anlage für diese 
Eigenschaften ziehen. 

Wenn ein Organis- 
mus durch den Einfluß 
der Umwelt, durch seine c , + . , ., f !, g ' 4 ' . , , „ 

. i Schematische Darstellung eines Auslese- Ver- 

„PcriS t 3 SC" eine TVl O d i - suches innerhalb eines Klons von Paramae- 

£•■>,• r ■■ t . cium. Das größte sowohl wie das kleinste 

tlKatlOn erfahrt, SO Wird Tier der Ausgangskullur geben die gleiche Hach- 

1 :t 1 ■ t 1 ' 1 konimenscliafi. Die gleich großen Tiere sind 

U et (1 111 C I] Seill 1 CllOplaS- innerhalb jeder Kultur übereinander gezeichnet 

m a S P i n p nrlilirliP V r> v zur Darstellung der Häufigkeit der einzelnen 

in cl , seilte LlüllCne V C 1 - Grüßenklassen. 




12 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



a 11 1 a g u n g i m allgemeinen nicht b e r ü h r t. Wir grei- 
fen wohl, um das zu zeigen, am besten wieder auf unser Pa- 
r a m a e c i u m beispiei zurück : 

Ziehen wir von Paramaecium in einem Aquarium einen Klon 
heran, so sind die Einzeltiere sehr verschieden groß, aber die 
kleinsten sowohl wie die größten Tiere sind erb- 
lich, „idioplasraatisch" trotzdem völlig gleich, 
sie haben beide die gleiche Nachkommenschaft, die wiederum 
aus großen und aus kleinen Tieren besteht (Figur 4). 

Auch wenn man eine solche Auslese nach „groß oder 
klein" viele Generationen lang durchführt, bleibt das Ergebnis 
das gleiche, die besondere Beschaffenheit des Ein- 
zelneres wird nicht vererbt, sondern jedes Tier dieser Sippe 
vererbt immer nur die ganz bestimmte, charakteristische Mo- 
difizierbarkeit seiner Sippe. 

Man kann auch — in einer etwas anderen Versuchsanord- 
nung — von einem Klon ein Tier in ein nährstoffreiches, ein 
anderes Tier in ein nährstoffarmes Aquarium bringen. Es wer- 
den dann in den beiden Aquarien Schwärme entstehen, die 
sehr verschieden sind. Der gutgenährte Schwärm wird im 
Durchschnitt größere Tiere aufweisen als der schlecht ge- 
nährte. Die beiden Schwärme werden sehr verschieden sein, ob- 
wohl sie erblich gleich sind. Man kann diese Zuchten in den 
beiden verschiedenen Aquarien eine lange Reihe von Generatio- 
nen fortsetzen, und wenn man dann aus der „fetten" und aus 
der „mageren" Zucht je ein Tier herausgreift, und diese beiden 
Tiere in ganz gleich bescli äffe 11 e Aquarien bringt, gehen 
aus beiden Schwärme hervor, die ganz gleich beschaffen sind. 
Das Idiopiasma des Klons ist also durch diese sehr verschieden- 
artigen Kulturbedingungen nicht verändert worden, so sehr ver- 
schieden auch die beiden Zuchten während vieler Generationen 
waren; 

Von P a r a m aecium c a u d a t u in lassen sich aus jedem 
Tümpel leicht eine ganze Menge verschiedener Sippen her- 
ausfischen, jede davon hat ihre eigene bestimmte Modifizierbar- 
keit, die sie ganz getreu vererbt, stellt einen ganz be- 
stimmten Idiotypus dar. 



Genau die gleiche Gesetzmäßigkeit finden wir auch bei ge- 
schlechtlicher Fortpflanzung. Klar erkennbar wird sie hier aber 
nur, wenn wir mit Organismen arbeiten, die sich „autogam" 
fortpflanzen; das ist bei vielen Pflanzen, z. B. im allgemeinen 



2. DIE V AR! AT IONSERSCH EI NU NGEN . 



13 



bei den Bohnen (Phaseolus vulgaris), bei Hafer (Avcna 
sativa) u. a. der Fall. Hier sind die Blüten z w i 1 1 e r i g und >es 
gelangt meist nur Blütenstaub der eigenen Blüte auf die 
Narbe und vollzieht die Befruchtung. Ein Bestand von Pflan- 
zen der durch Selbstbefruchtung eines Individuums bei einer 
normalerweise autogamen Pflanze entstanden ist, heißt eine 
„reine Linie". 

Innerhalb einer reinen Linie haben wir die gleiche Verer- 
bungsweise wie innerhalb eines Klons (S. 6). Auch hier er- 
weisen sich die Modifikationen als nicht erblich, wie beson- 
ders leicht an Versuchen mit höheren Pflanzen gezeigt werden 
kann : Von der gewöhnlichen chinesischen Primel — der allbe- 
kannten Zierpflanze — gibt es viele Farbenrassen, unter an- 
dern! eine rote und eine weiße, die wir als Primulasincn- 
sis rubra und als P r i m u 1 a sinensis alba bezeichnen wol- 
len. Wie alle Eigenschaften unterliegt auch die Blütenfarbe 
einer sehr starken Modifikation durch allerhand Außeneinflüsse 
z. B. durch die Temperatur. Zieht man Pflanzen einer ein- 
heitlichen „roten" Sippe in einem warmen etwas schattigen Ge- 
wächshaus von rund 35 ° C, so blühen sie weiß, während die 
bei etwa 10 bis 15 G herangezogenen Geschwister rot sind. 
Nachkommen solcher im Warmhaus weißblütig gewordener und 
von einer Primula sinensis alba ununterscheidbaren Pflan- 
zen sind, wenn man sie unter den normalen Verhältnissen, d. h. 
bei 10 bis 1.5 C großzieht, rot blutig. Der erbliche, idioplas- 
matische Unterschied zwischen den beiden Rassen ist also nicht 
der, daß die eine „weiße", die andere ,,rotc" Blüten hat, son- 
dern, daß die beiden Sippen in verschiedener 
Weise auf die Temperatur reagieren. 

P a r a f f i 11 u m d u r u m und Paraffin u rali q u i d u rn 
unterscheiden sich für den Laien dadurch, daß das eine bei 
gewöhnlicher Temperatur eine feste weiße Masse, das andere 
eine ölartige Flüssigkeit ist. Führt man aber die beiden Paraf- 
fine bei einer Temperatur von 6o° C vor, dann kann man sie 
ebensowenig äußerlich unterscheiden, wie die beiden Pri- 
melrassen im Warmhaus. Trotzdem sind natürlich die beiden er- 
wärmten und äußerlich ununterscheidbaren Paraffine ebenso 
verschieden, wie die beiden Primelrasscn im Warmhaus. Der 
Unterschied zwischen den beiden Paraffinen ist eben der, daß 
sie verschiedene Schmelzpunkte haben, d. h. auf 
Temperatureinflüsse verschieden reagieren. So wenig wie 
ein „P ar af f in um durum", das man auf 60 ° e rwarmt, 



14 



ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE ERBLEURE. 



nun dadurch einen niedrigeren Schmelzpunkt be- 
kommt, d.h. zu „Paraffinum liquidum" wird, eben- 
sowenig" wird eine im Warmhaus weiß blühende 

Primiila sinensis 
rubra zu einer 
Primula sinensis 
alba. 

Erblicher, 
eine Sippe be- 
zeichnende r 
Unterschied 
ist, um es noch 
einmal zu betonen, 
nicht eine be- 
stimmte Aus- 
bildung eines 
Merkmals, son- 
dern immer nur 




i& 



Fig. 5- 
Russenkaninchen. 



eine bestimmte „Reaktionsweise". Wie ein Organis- 
mus aussieht, hängt also immer ab von zwei Dingen: er- 
stens von seiner ererbten Reaktionsweise oder man kann auch 
sagen von seiner 
idioplasmatischcn 

Beschaffenheit 
und zweitens 







ft'tfSO 



von seiner Um- 
welt, d. h. von den 
Außeneinflüssen, 
denen e r gerade 
während seiner 
Entwicklung un- 
terworfen war. 

Es ist ganz 
merkwürdig, wie- 
viele unklare Vor- 
stellungen hier- 
über verbreitet 
sind. 

Völlig analoge Versuche lassen sich übrigens auch mit höhe- 
ren Tieren anstellen. So kennen wir von den Kaninchen unter 
anderen eine rein weiße rotäugige Rasse und eine andere, welche 
weiß und rotäugig ist, bei der aber Ohren, Pfoten, Schwanz 



Fig. 6. 

Russenkaninchen, bei dem ein Stück Rückenhaut 

durch Rasieren gekühlt war und wo alle hier neu 

zugewachsenen Haare dunkel gefärbt sind. 



2. DIE VARfATlONSERSCtiEINUNGEN. 



15 



und Nase dunkel gefärbt sind (Fig. 5). Die Färbung dieser zwei- 
ten Rasse ist sehr stark durch die Temperatur modifizier- 
bar, kühlt man einzelne Hautstcllcn stark ab, was man schon 
einfach durch Abrasieren der Haare erreichen kann, so sind 
alle hier neu zuwachsenden Haare dunkel gefärbt. Fig. 6 zeigt 
einen solchen mit dunkeln Haaren bedeckten Rasurfleck. Die 
später unter dem Schutze der Behaarung nachwachsenden 
Haare sind dann wieder weiß, d. h. diese Rasurfleckc verschwin- 
den später wieder. Man kann leicht auf diese Weise auch ein- 
heitlich ganz dunkel gefärbte Tiere machen, und umgekehrt 
ist es möglich, Tiere rein weiß (also auch an Ohren, Pfoten 
usw.) zu machen, wenn man sie bei genügend hoher Tempe- 
ratur hält. 



Die Auffassung, als ob die V e r ä n d e r u n g , die M o d i - 
f i k a t i o 11 e i n e r A u ß e n e i g e 11 s c h a f t, etwa der Farbe der 
Primel, auch die erbliche R e ak t i o ns w eis c der Sippe 
ohne weiteres ändere, spukt auf Grund falsch gedeuteter Be- 
obachtungen unter dem Schlagwort von der ,,V ererbung er- 
worbener Eigenschaften" noch immer in vielen Köpfen. 

Hier hilft nur eine völlig klare Begriffsbestimmung. Ver- 
erbbare Eigenschaft ist immer nur „vererbbare bestimmte Reak- 
tionsweise" auf Außeneinflüsse. Das Entstehen einer neuen 
Eigenschaft beruht also darauf, daß diese frühere Reak- 
tion s w e i s e v e r ä 11 d e r t w i r d. Wenn man ein Paraff inum 
durum nicht bloß auf 60 ° erwärmt, d. h. nicht bloß schmilzt, 
sondern es etwa unter Druck sehr hohen Temperaturen aussetzt, 
dann ändert sich seine chemische Konstitution, es kann 
dann aus ihm unter Umständen ein Paraffin mit niedrigerem 
Schmelzpunkte entstehen. Ganz entsprechend kann auch durch 
irgendwelche außergewöhnliche Einwirkung etwa Radiumbe- 
strahlung, Dauerkultur bei eben noch ertragener hoher Tempe- 
ratur u. a. aus einer Primula sinensis rubra eine Nach- 
kommenschaft entstehen, die anders als die Ausgangs- 
rasse mit ihrer Blütenfarbe auf die Temperatur reagiert. 

Ebenso wie aber eine durch Veränderung der chemischen 
Konstitution und Schmelzpunktcrniedrigung bewirkte 
Verflüssigung eines Paraffinum durum etwas ganz anderes ist, 
als ein bloßes Schmelzen, ebenso ist auch die Entstehung 
einer solchen neuen Primelrasse grundsätzlich ganz etwas 
anderes, als die durch Kultur im Warmhaus erzielte einfache 
Modifikation der Farbe. 



16 



F.RWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLE11RE. 



Man bezeichnet, wie wir schon vorhin gehört haben, eine 
Veränderung" dieser letzteren Art als Mutation. 

D er Ausdruck „Erwerbung einer neuen E i g e n - 

schaff wird nun aber leider noch immer von vielen Biologen 

x für diese zweierlei 

ganz verschiedene n 

Dinge ange wende t. 

Wenn wir also zu der 

heiklen Frage nach der 

Vererbung erworbener 

Eigenschaften Stellung 

nehmen wollen, werden 

wir sagen müssen : 

Neu entstandene Ei- 
genschaften, auch infol- 
ge irgendwelcher Außen- 
einflüsse erzeugte Eigen- 
schaften, die wirk- 
lich neue Eigenschaf- 
ten in dem eben ge- 
nannten Sinn sind, 
sind erblich, oder kön- 
nen doch erblich sein, 
dagegen entsteht dadurch, 
daß irgendein Organis- 




Fig. 7- 



S verschiedene Klone von Paramaecium. Die I.inie X — X . ,.,,, 

bezeichnet düs Mittel der Größe aller S Klone. Durch 1T1US eine IVi OU.lIlKatl.OIl <tV- 

-f ist für jeden einzelnen Klon die mittlere Größe be- . . , , , ,_■ -]_,,. 

^ zeichnet (nach Je.mings). leidet, durchaus nicht 

ohne weiteres auch eine 
Mutation. Daß die Vorstellung so fest in vielen Köpfen sitzt, 
eine Modifikation löse immer oder doch meist eine mehr 
oder weniger gleich sinnigeMutation aus, rührt von feh- 
lerhaft angestellten Versuchen und von Fehlschlüssen her. 

Die größte Fehlerquelle liegt in erblich unein- 
heitlichem Versuchsmaterial. Der Fehler liegt so 
nahe, und wird so oft gemacht, daß er wohl auch hier an einem 
Beispiel besprochen werden muß : Wie schon früher gesagt, 
gibt es von Paramaecium caudatum eine Menge von ver- 
schiedenen Sippen, deren jede erblich konstant ist. Eine An- 
zahl solcher Paramaccium-Sippen ist in Fig. y abgebildet. Für 
jede von diesen acht Sippen gilt die in Fig. 4 abgebildete Ge- 
setzmäßigkeit: Jedes einzelne Individuum vererbt nicht seine 
eigene Größe, sondern seinen Sippencharakter. Wie ein 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNOEN. 



1.7 



Blick auf die Figur 7 zeigt, greifen die Modifikations-Kurven 
der verschiedenen Sippen übereinander. Wenn man also diese 
verschiedenen Paramaecium- Sippen durcheinander im glei- 
chen Aquarium hat, dann findet man von ganz großen bis zu 
ganz kleinen Tieren eine völlig fließende Reihe, man be- 
ul e r k t nichts davon, daß in dem Aqua r i um acht 
erblich verschiedene Sippen (Klone) sin d. Auch 
wenn man das wüßte, könnte man einem beliebigen Einzelner 
von mittlerer Größe gar nicht ansehen, zu welchem 
Klone es gehört. Tiere von dieser Größe kommen in allen 
acht Klonen vor. Daß zwei Tiere äußerlich, „p a r a t y p i s c h", 
gleich sind, sagt nicht, daß sie auch nach ihrer erblichen Anlage, 
,,icliotypisch", gleich seien. Macht man mit einem solchen Ge- 
misch einen Auslcscvcrsuch, wie den in Figur 4 abgebildeten, 
greift man hier das kleinste und anderseits das größte Tier 
heraus, dann w i r d man allerdings finden, daß das 
größte Tier e i 11 e i m D u r c h s c h 11 i 1 1 größere Nach- 
kommenschaft hat, als das kleinste Tier. D äs 
größte Tier ist eben, wie ein Blick auf Figur 7 zeigt, sicher ein 
Tier der zu oberst abgebildeten Sippe und vererbt zwar nicht 
seine individuelle G röße, wohl aber seinen S i p p e n c h a - 
rakter, d. h. es wird eine Nachzucht geben, die durchschnitt- 
lich größer ist, als das Ausgangs g e m i s c h. Ganz entsprechend 
wird das kleinste Tier ein Tier der zu unterst abgebildeten 
Sippe sein und deren durchschnittliche Kleinheit weiter ver- 
erben. Wenn also hier die Auswahl von weit vom Durchschnitt 
abweichenden Tieren eine Verschiebung der Durch- 
schnitt s g r ö ß e in der Richtung der ausgeübten 
Auslese ergibt, so ist das kein Beweis dafür, daß die Modifi- 
kation irgendwie erblich sei, sondern nur die Folge davon, daß 
uneinheitliches Ausgangsmatcrial vorlag. Die 
stark abweichenden Tiere vererben auch hier nicht eine erwor- 
bene Modifikation, sondern nur ihren a 1 1 e r e r b t e n Sippen- 
charakter. Diese Fehlerquelle spielt in der Literatur über 
Vererbung erworbener Eigenschaften eine sehr verhängnisvolle 
Rolle. 

Eine zweite Fehlerquelle in dieser Diskussion ist die, 
daß sehr häufig Außeneinflüsse, die auf ein Individuum einge- 
wirkt haben, auch noch mehr oder w e n i g e r unmittel- 
bar dessen Nachkommen beeinflussen. 

Solche Nachwirkungen kann man sehr oft beobachten. 
Zieht man von einer reinen Linie von Bohnen eine große Zahl 

B a u r - 1* i s c li e r - 1. c 11 t, I. 2 



18 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEIT SLEH RE. 



von Pflanzen heran, so sind die einzelnen Pflanzen je nach den 
Ernähnmgs Verhältnissen usw. ungleich groß und kräftig. Ver- 
erbt wird aber auch hier immer nur der Sippencharakter, d. h. 
Auswahl von großen oder kleinen Pflanzen innerhalb einer 
solchen reinen Linie hat keine Veränderung der durchschnitt- 
lichen Größe zur Folge. 

Was für die in Figur 4 abgebildeten Paramaecien gilt, gilt 
auch für diesen Bohnenversuch. Man kann nun aber eine Boh- 
nenpflanze halb verhungern und vertrocknen lassen, so daß sie 
gerade eben noch einige runzelige und kleine Samen entwickelt. 
Die Samen werden dann Keimpflanzen geben, die in der ersten 
Zeit ihrer Entwicklung, wo sie nur von den von der Mut- 
ter mitbekom m enen Vorräten leben, sehr schlecht er- 
nährt sind. Sie entwickein sich infolgedessen zu deutlich schwä- 
cheren Bohnenpflanzen als die unter sonst gleichen Verhält- 
nissen großgezogenen Nachkommen einer nicht mißhandelten 
Pflanze der gleichen Linie. Daß also hier keine „Vererbung 
der individuellen Modifikation" der Mutterpflanze vorliegt, ist 
klar, es haben nur die gleichen ungünstigen Ernäh- 
rungsverhältnisse, welche die Mutter schon be- 
einflußt haben, auch noch auf deren Kinder in 
ihrem ersten Entwicklungsstadium eingewirkt. 
Eine Generation später ist bei den Bohnen die Nachwirkung 
ausgeglichen. 

Sehr viel auffälliger sind ähnliche Nachwirkungen von 
Außeneinflüssen bei den höheren Tieren. Das ist verständlich, 
wenn man daran denkt, daß zunächst bei allen lebend gebären- 
den Tieren die Embryonen den wesentlichstenTeilihrer 
Entwicklung im Mutterleibe durchlaufen. Ferner 
sind aber auch bei vielen Tieren schon die Eier selbst quasi 
„vorgreifend" sehr weit entwickelt, viele Entwicklungsvorgänge 
sind schon eingeleitet, es sind bestimmte „Organ bildende Sub- 
stanzen", „Organ bildende Bezirke" im Eiplasma ausgebildet. 
Es geht also auch hier ein großer Teil der Entwicklung im 
Mutterleibe und damit auch unter dem Einfluß von Außen- 
bedingungen vor sich, die auf die Mutter einwirken. 

Gerade diese Fehlerquelle hat eine große Rolle in den 
früher viel genannten Versuchen von Kammerer gespielt, 
von denen auch nicht ein einziger .einigermaßen einwand- 
frei ist. 

Alle Versuche über die Vererbbarkeit von Modifikationen, 
in denen diese und alle anderen Fehlerquellen vermieden sind, 



2. DIE VARIATIONSER5CI1E1NUNGEN. 



1.9 



haben eindeutig das Ergebnis, daß eine solche Vererbung nicht 
stattfindet. 

Es ist natürlich möglich, daß es einmal der Zufall fügt, daß 
eine und dieselbe Ursache eine bestimmte Modifikation und 
auch eine gleichsinnige Mutation auslöst, es wäre also z. B. 
möglich, daß die Kultur einer Primula sinensis rubra 
in einem sehr warmen Gewächshaus sowohl eine Modifika- 
tion der Blüte hervorruft, wie auch eine Veränderung des Idio- 
plasmas bewirkt. Es ist auch möglich, daß zufällig einmal 
das Ergebnis dieser Mutation eine Rasse ist, die auch bei niede- 
rer Temperatur weiße Blüten bildet. Bekannt ist aber noch 1 kein 
einziger Fall eines derartigen Zusammentreffens, und daß die 
Wahrscheinlichkeit sehr klein ist, daß einmal dieser Fall ge- 
funden wird, ist wohl ohne weiteres klar. Jedenfalls ist gar keine 
Rede davon, daß dieser Zusammenhang zwischen Modifikation 
und Mutation häufig vorkäme oder gar die Regel seil 

Wie völlig unbeeinflußbar durch den Körper das Idioplasma 
der Fortpflanzungszellen ist, zeigen besonders schön Pfropf- 
versuche: Blüten einer Pflanzenart, die man auf eine andere 
Art oder Rasse .aufgepfropft hat, etwa eine Levkojenblüte auf 
einem Rosenkohlstock oder eine weiße Rose 1 ) auf einem roten 
Rosenstock, geben nur Nachkommen ihrer eigenen Rasse. 
Das gilt auch für Tiere. Man kann aus einer jungen Raupe des 
Schwammspinners (Ocneria dispar) die Ovarien herausnehmen 
und in eine Raupe einer andern Schwammspinner-Rasse über- 
tragen. Sie heilen dort ein und geben später im geschlechts- 
reifen Schmetterling nur Eier ganz rein von der Rasse des 
Tieres, von dem sie herstammen. Der Körper der andern Rasse, 
in dem sie monatelang eingeheilt waren und in dem sie sich 
überhaupt erst fertig, entwickelt haben, übt keinerlei Einfluß 
auf sie und die aus ihnen entstehenden Tiere aus. 



Die vorstehenden Gesetzmäßigkeiten gelten für alle 
daraufhin untersuchten Organismen, auch für alle h Ö h e - 
renTicre. Wir müssen erwarten, daß auch der Mensch keine 
Ausnahme macht. Auch nur einigermaßen sicheres Beobach- 
tungsmaterial hierüber gibt es aber für den Menschen nicht. 

Daß auch die körperlichen und geistigen Eigenschaften 
eines fertig entwickelten Menschen das Ergebnis zweier Dinge 

x ) Man kann leicht einzelne Blutenknospen, ja sogar Teile einer Blüte 
auf Individuen einer anderen Rasse oder einer anderen Art aufpfropfen und 
zum Anwachsen bringen. 



20 



ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



sind : erstens seiner ererbten Veranlagung, d. h. seiner ererbten 
idioplasmatischen Beschaffenheit und zweitens derjenigen 
Außeneinflüsse, wie Ernährung, Erziehung usw., unter denen 
er sich gerade entwickelt hat, zeigen aber alle Beobachtungen 
des täglichen Lebens. Daß klimatische Einflüsse im weitesten 
Sinne des Wortes auch bei Menschen Modifikationen auslösen, 
ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Daß die Men- 
schen eines Volkes, das zwar ein sehr buntes Rassengemisch 
darstellt, das aber in einem bestimmten Gebiet zusammen 
wohnt, häufig so manche schwer beschreibbare gemeinsame 
körperliche und geistige Eigenschaften aufweisen, hängt wohl 
zum Teil hiermit zusammen. 

Auch bei allen Untersuchungen über Vererbung bei Men- 
schen müssen wir uns immer darüber klar sein, daß ein Indivi- 
duum nicht seine persönliche Eigenschaftsausbildung vererbt, 
sondern seineselbst schon ererbte Veranlagung. 
Vererbt wird also z. B. nicht ein Leistenbruch, sondern „eine 
gewisse Veranlagung, einen Leistenbruch zu bekommen". Ob 
ein Mensch mit dieser Veranlagung den Leistenbruch auch 
wirklich bekommt, hängt noch von anderen Dingen 
ab . Für die weitere Vererbung ist es a b e r ganz un- 
wesentlich, ob ein solcher erblich belasteter 
Mensch den Leistenbruch — etwa infolge einer 
starken Anstrengung oder d g 1. bekommt oder 
n i c h t. Auch ein äußerlich gesund gebliebener Mensch 
vererbt die Anlage weiter. Bei erblicher Veranlagung zu 
einer Krankheit, wo das Auftreten des Krankheitsbildes nur 
durch ein nicht allzu häufiges Zusammentreffen von Außen- 
bedingungen bewirkt wird, ist es dem eben Gesagten entspre- 
chend sehr schwierig, den Erbgang genau zu verfolgen. Ist 
z. B. in einer Familie eine mäßige Veranlagung zum Leisten- 
bruch erblich, so werden nur die wenigen von den mit diesem 
Erbübel behafteten Individuen auch wirklich einen Leisten- 
bruch bekommen, die irgendwelchen besonderen Anstren- 
gungen oder clergl. sich aussetzen. Man wird bei der Betrach- 
tung eines Stammbaumes einer solchen Familie sehr oft den Ein- 
druck einer ganz unregelmäßigen, .launischen" Vererbung bekom- 
men, auch wenn es sich in Wirklichkeit um eine sehr regelmäßige 
Vererbung handelt — aber eben nicht um eine Vererbung 
der persönlich en Beschaffenheit, sondern der „Anlage" ! 

Es muß ferner im Auge behalten werden, daß auch jeder 
Mensch einen sehr großen Teil seiner Entwicklung im Mutter- 



2. DIE V ARI ATION SERSCI1 EINÜ NGEN . 



21 



leibe durchmacht, und daß daher Umwelts-Einflüsse, die auf 
die Mutter wirken, auch noch für die nächste Generation folgen- 
schwer sein können. Man wird also mit „Nachwirkungen", vgl. 
Seite 18, immer zu rechnen haben. 

Das Kind einer erblich nicht mit Tuberkulose-Veranlagung 1 ) 
belasteten Frau, die aber eine schwere Tuberkulose etwa infolge 
ihres Berufes erworben hat und die durch ihre Tuberkulose in 
denkbar schlechtestem Ernährungszustand ist, wird sehr häufig 
schon von Geburt an schwächlich und weniger widerstandsfähig 
sein und deshalb nun besonders leicht auch Tuberkulose be- 
kommen. So kann also eine Vererbung vorgetäuscht 
werden, wo es sich nur um eine reine Nachwirkung handelt. 
In einem äußerlich durchaus ähnlichen Fall, wo eine Frau mit 
erblicher Veranlagung für Tuberkulose — bedingt durch eine 
bestimmte Thoraxform, eine gewisse Mangelhaftigkeit der 
Lymphdrüsen oder irgend etwas anders — tuberkulös wird und 
dann auch tuberkulöse Kinder bekommt, liegt neben der Nach- 
wirkung auch noch eine Vererbung vor. In einem solchen 
Fall zu unterscheiden, was vorliegt, ist sehr schwierig und sehr 
oft völlig unmöglich. Jedenfalls ist größte Vorsicht in allen 
Schlußfolgerungen und schärfste kritische Betrachtung des 
Materials in allen solchen Untersuchungen unerläßlich. 

Ebensowenig wie bei allen anderen Organismen Modifika- 
tionen erblich sind, ebensowenig sind sie es auch bei Menschen. 
Man findet freilich auch hier die absonderlichsten Vorstellun- 
gen weit verbreitet. Man kann zwar ein nicht musikalisch ver- 
anlagtes Kind durch sorgfältige Erziehung zu einem gewissen 
Musikverständnis und zu einer gewissen Ausübung von Musik 
bringen, aber die in populären Schriften verbreitete Ansicht, 
daß Nachkommen von solchen musikalisch ausgebildeten 
Menschen nun schon von vorneherein eine bessere musika- 
lische Veranlagung mit auf die Welt brächten, als die Eltern, 
daß es also möglich sei, einfachauf demWege der Er- 
ziehung die erbliche Veranlagung zu steigern, 
ist völlig unbegründet. Durch die Erziehung wird 
zwar das Einzel-Individuum stark beeinflußt, aber nicht 
die erbliche Veranlagung der Nachkommen. Ein nach 
seiner erblichen Veranlagung minderwertiges 
Volk oder eine Volksschicht — etwa die Neger 
in den Vereinigten Staaten von N o r d - A m e r i k a. 
— w i r d durch dicErziehung u n d d c n Ei n f 1 u.ß d e r 

1 ) D. h. geringer Widerstandsfähigkeit, gegen die Infektion. 



22 



ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE EE<BLICH REIT SLEI IRE. 



Kultur zwar in seinen E i n z e 1 - 1 n d i v i d u e n geho- 
ben, aber damit wird die Rasse als solche nicht 
verändert. 

Die Erkenntnis> daß wir mit einer gegebenen erblichen 
Veranlagung eines Individuums als etwas fast unveränder- 
lichem rechnen müssen, und daß zwischen den einzelnen Indi- 
viduen und Rassen beim Menschen genau ebenso wie bei Pflan- 
zen und Tieren sehr beträchtliche erbliche Unterschiede be- 
stehen, die wir durch Aufzucht und Erziehung nicht ändern, 
nicht ausgleichen können, steht mit weit verbreiteten vorgefaß- 
ten Meinungen im Widerspruch. Der Biologe und Arzt 
darf sich aber den Blick durch derartige poli- 
tische oder religiöse Vorurteile nicht trüben 
lassen! 

Die Menschen sind nun eben einmal untereinander nicht 
gleich. Vom Standpunkt der Genetik betrachtet sind die einzel- 
nen Menschen und die verschiedenen Rassen sehr verschieden 
wertvoll. 

Ganz selbstverständlich wird man die zeitliche Beschaffen- 
heit eines Volkes auf beiden Wegen zu verbessern suchen; 
Durch möglichst gute Aufzucht, Erziehung und hygienische 
Lebensweise, d. h. durch „Individualhygiene" einerseits 
und durch Verbesserung der Rasse andererseits, d. h. durch 
die in den späteren Abschnitten dieses Buches zu schildernden 
Methoden der „R a s s e n h y g i e n e". Genau ebenso sucht auch 
der Landwirt Höchstleistungen der Kulturpflanzen auf beiden 
Wegen zu erzielen, einmal durch beste Düngung und beste 
Pflege und andererseits durch zielbewußte Steigerung der Lei- 
stungsfähigkeit, d. h. durch Züchtung. 



b) Die Kombination (Mixovariation) 

Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung wird meistens 
die erbliche Beschaffenheit der beiden Eltern mehr oder weniger 
verschieden sein. Der Fah, daß die beiden zur Vereinigung ge- 
langenden Geschlechtszellen erblich völlig gleich sind, dürfte 
fast ausschließlich bei den Selbstbefruchtern vorkommen, d. h. 
denjenigen zwitterigen Pflanzen und Tieren, wo sich immer die 
beiderlei Geschlechtszellen desselben Individuums vereini- 
gen. Sind aber die beiden sich vereinigenden Geschlechtszellen 
erblich nicht gleich, so ergibt das eine sehr große Verwickelung 
des Vererbungsverlaufes und ist die Quelle derjenigen Varia- 
tionserscheinungen, die wir als Kombinationen bezeichnen. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



23 



Um die hier geltenden Gesetzmäßigkeiten kennen zu ler- 
nen, gehen wir ebenfalls wieder aus von einem einfachen Fall. 
Wir kreuzen etwa zwei Pflanzen von Antirrhinum majus 
(dem Gartenlöwenmaul), und zwar ein elfenbeinfarbiges (Fig. 8a) 
aus einer reinen elfenbeinfarbigen Rasse und ein rotes (Fig. 8b) 
aus einer reinen roten Rasse. Für diese beiden Pflanzen führen 
wir eine bestimmte Bezeichnung mit Buchstaben ein : Jede 




,3 



Fig. 



Kreuzung einer clfenbciufarbigcu (a) mit. einer roten (b) Rasse des Gartenlöwcnmauls (Antirrhimtii: 
Majus). Der Bastard (c] ist blaßrot, die Nachkommenschaft des Bastardes, gewonnen durch Selbstbe- 
fruchtung oder gegenseitige Befruchtung zweier solcher Bastarde besteht aus rein roten (d), blaß- 
roten (e) und elfenbeinfarbigen Pflanzen (f) in der Häufigkeit von l rot : 2 blaßrot : 1 dfenbein. 



24 



ERWIN BAVR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Pflanze entsteht aus der Vereinigung zweier Geschlechtszellen. 
Eine Geschlechtszelle einer reinen roten Rasse wollen wir mit 
Ine und die durch die Vereinigung zweier solcher Zellen ent- 
standene rote Pflanze mit Ine Ine bezeichnen. Ganz entsprechend 
sollen die Geschlechtszellen der elfcnbeinfarbigen Pflanze ine 
und sie selbst ine ine heißen. Wenn wir einen Bastard zwischen 
einer roten Pflanze Ine Ine und einer elfcnbeinfarbigen ine ine 
erzeugen, indem wir etwa eine weibliche Geschlechtszelle Ine 
sich vereinigen lassen mit einer männlichen ine, oder was ganz 
einerlei ist, eine weibliche Geschlechtszelle ine mit einer männ- 
lichen Ine, so erhalten wir eine Pflanze mit der Bezeichnung 
Ine ine, oder ine Ine, d. h. einen Bastard, oder wie der Facl> 
ausdruck heißt, ein heterozy gotisch es, „ungleicherbiges" 
(durch Vereinigung ungleichartiger Geschlechtszellen entstande- 
nes) Individuum. Im Gegensatz dazu heißt man ein Lebewesen, 
das durch die Vereinigung zweier gleichartiger Geschlechtszellen 
entstanden ist, homozygotisch, „gleicherbig"". Ein solcher 
An t i r rh i n u m - Bastard wird, nun weder elf enbeinf arbig" wie 
der eine Eher, noch rot wie der andere, sondern b 1 a ß r o t blü- 
hen (Fig. 8c). Er hat nur von dem einen. — dem roten — Elter 
die „Fähigkeit zur Bildung roter Blütenfarbe" geerbt, und das 
äußert sich darin, daß er eine wesentlich blassere Farbe auf- 
weist. Soweit ist an dem nichts Unerwartetes, um so auffälliger 
ist aber das Verhalten der Nachkommenschaft eines solchen Ba- 
stards : Wenn wir eine Anzahl Bastarde sich untereinander be- 
fruchten lassen, oder wenn wir, was ohne Schaden, ausführbar 
ist, einen davon mit seinem eigenen Blütenstaub befruchten, 
dann erhalten wir eine Nachkommenschaft, die aus dreierlei 
verschiedenen Pflanzen besteht. Ein Teil dieser Bastardkinder 
hat rote Blüten, genau wie die eine Ausgangsrasse, ein zweiter 
Teil hat elfcnbeinfarbige Blüten wie die andere Ausgangs- 
rasse und ein dritter Teil hat b 1 a ß r o t e Blüten wie der ur- 
sprüngliche Bastard. Wenn man viele solche Enkel der ursprüng- 
lichen gekreuzten Pflanzen großzieht, dann kann man leicht fest- 
stellen, daß die drei G ruppen, die roten, blaßroten und el fenbein- 
farbigen Pflanzen untereinander im Verhältnis von 1:2:1 
stehen, d. h. von 100 Pflanzen werden etwa 25 rot, 50 blaßrot 
und 25 elfenbeinfarbig sein. Die wirklich gefundenen Zahlen 
aus einem Versuch von 97 Pflanzen sind z. B. 22 rot, 52 blaß- 
rot und 23 elfenbcinfarbig. Die auf diese Weise gewonnenen 
r o t e n Pflanzen geben ausschließlich eine rote Nachkommen- 
schaft, die e 1 f e n b e i n f a r b i g e n haben nur elfenbeinfarbige 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



25 



Nachkommen, aber die blaßroten Individuen verhalten sich 
genau wie der erste ursprüngliche Bastard Ine ine, 
d. h. spalten wieder auf in Vi rote > V± blaßrote und 1 / i elfenbein- 
farbige Nachkommen. In Form eines Stammbaumes ist der Ver- 
such folgendermaßen darstellbar : 



rot 



eli'cnbem 



?1 



blaßrol 



(Vi) rol 



(Vj) blaßrot 



(Vj) blaßrot 



(Vi) elfenb.F, 



alle ' (V 4 ) (V.) ( ] A) (7<> 
rot rot, blaßrot, blaßrot, elfcnb. 



(Vi) (7<> (V*) (7.) 

rot, blaßrot, blaßrot, cli'cnb. 



alle, 
eile nb ein 



/% 



Man bezeichnet mit den hier ebenso wie in Fig. 8 an der 
rechten Seite beigedruckten Buchstaben P 1 , F x , F 2 , F 3 folgen- 
des : P 1 ist die erste P aren t algener a t io n, d. h. die ur- 
sprünglich zur Kreuzung verwendeten Individuen, F t ist die 
erste F i lia 1 g en er a t io n, d. h. die primären Bastarde, F 2 , 
F 3 usw. sind die späteren Bastardgenerationen. Ganz entspre- 
chend ist P 2 die Elterngeneration von Pj usw. 

Ein Verständnis dieser ganz eigentümlichen Spaltungser- 
scheinungen, dieser „alternativen Vererbung", gibt die von 
Mendel aufgestellte, heute allgemein angenommene Theorie, 
daß jeder derartige Bastard zweierlei Arten von 
Geschlechtszellen bildet, nämlich 50 0/0 „väterliche" 
und 500/0 ^mütterliche". Nach dieser Theorie bildet also unser 
Antirrhinum-Bastard Ine ine zweierlei Arten von Eizellen und 
Pollenkörnern, und zwar ist die eine Hälfte davon ganz genau 
von der Art Ine, verhält sich ganz ebenso wie die Geschlechtszel- 
len einer homozygotischen //zc-Z/zc- Pflanze, und die andere Hälfte 
ist genau gleich den Geschlechtszellen Ine der -elf enb einfarbigen 
Rasse ine ine. Wenn wir den Bastard mit seinem eigenen Blüten- 
staub befruchten, oder wenn wir mehrere solcher Bastarde ein- 
ander gegenseitig befruchten lassen, dann können die beiden 



26 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEITSLEH RE. 



verschiedenen Arten — Ine und ine — von Geschlechtszellen sich 
in vier verschiedenen Weisen vereinigen: 

Eine Eizelle Ine kann treffen ein Pollenkorn Ine und gibt 

eine Pflanze Ine Ine, die rot blüht; 
eine Eizelle Ine kann treffen ein Pollenkorn ine und gibt 

eine Pflanze Ine ine, die blaßrot blüht; 
eine Eizelle ine kann treffen ein Pollenkorn Ine und gibt 

eine Pflanze ine Ine, die blaßrot blüht; 

eine Eizelle ine kann treffen ein Pollenkoni ine und gibt 
eine Pflanze ine ine, die elfenbeinfarbig blüht. 

Alle vier möglichen Vereinigungen haben die gleiche 
Wahrscheinlichkeit, wir werden darum erwarten dürfen, daß in 
der Nachkommenschaft eines solchen Bastardes alle vier gleich 
häufig verwirklicht werden, und daß dementsprechend diese 
vier Arten von Pflanzen, Ine Ine, Ine ine, ine Ine, ine ine in an- 
nähernd gleichen Verhältnissen vorkommen werden. Theoretisch 
ist daher zu erwarten, daß die 'Nachkommenschaft eines solchen 
Bastards zusammengesetzt sein wird aus : 

Vi Pflanzen, entstanden als IitcXlnc d. h. homozygotisch rot 

,. ., ,, ., fncXinc ,. ,, heterozygoHsch blaßrot 

-- ,, ■, ine X Ine ,, ,, ,, ., 

,, ,. .. ine X ine ,, .. homozygotisch elfenbein. 

Es ist möglich gewesen, auf Grund der Theorie auch das 
Ergebnis von weiteren Versuchen vorherzusagen und so die 
Theorie zu prüfen. Das gilt besonders für die Rückkreu- 
zung eines Bastardes: Wir befruchten etwa unseren Bastard 
Ine ine mit Blütenstaub der elfenbeinfarbigen Elternpflanze 
ine ine oder einer anderen clfcnbeinfarbigen Pflanze der glei- 
chen Sippe. Nach der Hypothese bildet der Bastard zweierlei 
Eizellen, die eine Hälfte der Eizellen überträgt nur das Merkmal 
rote Blütenfarbc, die andere Hälfte überträgt nur das Merkmal 
elfenbein Blütenfarbe. Wenn wir einen solchen Bastard befruch- 
teten mit einer mc-Z/zc- Pflanze, deren Pollcnkörncr sämtlich 
nur das Merkmal elfenbcinfarbigc Blüte übertragen, dann müs- 
sen 50 o/o der so entstehenden Nachkommen gebildet werden 
durch Vereinigung einer //zc-Eizelle mit einem /«c-Pollcnkorn. 
Es müssen demnach bei einer solchen Rückkreuzung entstehen : 
50 0/0 Pflanzen von der Formel Ineine, d. h. blaßrote Heterozy- 
goten und 50 0/0 Pflanzen von der 'Formel ine ine, d. h. elfcnbcin- 
farbige weiterhin rein weitervererbende Pflanzen. Das auf Grund 
der Theorie vorherzusagende Ergebnis trifft auch tatsächlich 



2, DIE V ARI AT IONSERSCH EI NU NGEN , 



ZI 



ein, man erhält in entsprechenden Versuchen zu fast gleichen 
Teilen einerseits elf enbeinf arbige weiterhin konstante, und an- 
dererseits blaßrote weiterhin aufmendelnde Pflanzen. 



In dem gebrauchten Beispiele sind die Bastarde leicht an 
ihrer blaßroten Farbe zu erkennen. Die Bastarde nehmen 
also gewissermaßen eine Art Mittelstellung zwischen den Eltern 
ein, sind „intermediäre" Bastarde. So ist die Sachlage zwar 
sehr häufig, aber durchaus nicht immer! Das Aussehen der 
Heterozygoten kann auch ein ganz anderes sein. 

Ein Fall, der ganz besonders häufig vorkommt, ist der, daß 
die Heterozygoten ganz dem einen Elter gleichen, „goneoklin" 
sind, z. B. wenn wir eine schwarze Maus kreuzen mit einer 
weißen, so erhalten wir Bastarde, die schwarz aussehen und 
äußerlich nicht von den homozy gotischen schwarzen Tieren zu 
unterscheiden sind. F 2 einer solchen Kreuzung besteht demnach, 
äußerlich betrachtet, zu 3 / 4 aus schwarzen und zu 1 / i aus weißen 
Tieren. Eine Prüfung der Nachkommenschaft der schwarzen 
Tiere zeigt .aber, daß auch hier ein Teil von ihnen homozygo- 
tisch schwarz, zwei andere Teile von ihnen aber heterozygo tisch 
schwarz sind. Man führt diese Prüfung der schwarzen F 2 -Tiere 
dadurch aus, daß man jedes einzelne Tier mit einem weißen 
Tier rückkreuzt. Zwei Drittel der schwarzen F 2 -Mäuse 
geben dabei schwarze und weiße Nachkommen im Verhältnis 
1 :i, ein Drittel gibt nur schwarze Nachkommen. Auch hier 
sind also in Wirklichkeit die Verhältnisse die gleichen wie bei 
den vorhin besprochenen Bastarden zwischen den roten und 
den elfenb einfarbigen Löwenmäulchen. 

Die Erscheinung, daß viele Bastarde äußerlich von dein 
einen Elter nicht zu unterscheiden sind, bezeichnet man mit 
dem Wort Dominanz. Man sagt, das eine Merkmal, hier 
etwa die „Fähigkeit zur Bildung schwarzer Haarfarbe" domi- 
niere über das andere Merkmal, über das Fehlen dieser Fähig- 
keit und dieses letztere Merkmal sei rezessiv gegen das erstere. 
Man hat dieser Dominanzerscheinung, die durchaus keine all- 
gemeine Regel ist, vielfach übertrieben große Bedeutung zuge- 
schrieben, von einer Dominanzregel gesprochen. Das ist ganz 
verkehrt, eine irgendwie allgemeingültige Dominanzregel gibt 
es nicht, und sehr häufig kann man bei ganz genauem Zusehen 
auch bei scheinbar völliger Dominanz die Homozygoten 
doch noch von den Heterozygoten unterscheiden. 



28 ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEMRE. 

Es kommt auch vor, daß die Dominanz einer Eigenschaft 
je nach dem Alter der Bastarde verschieden ausgesprochen ist. 



Genau die gleichen Gesetze gelten entsprechend, auch wenn 
wir Rassen kreuzen, die sich in mehr als einem Merkmal unter- 
scheiden, wenn wir also nicht bloß „Monohybriden" sondern 
„Di-, Tri- und Polyhybriden" erzeugen. Betrachten wir auch 
hier wieder einen ganz einfachen Fall. Wir kreuzen eine rote 
radiäre Löwenmaulrasse (Fig. 9 a) mit einer normalblütigen 
elfenbeinfarbigen (Fig. 9 b), der Bastard ist blaßrot und hat 
völlig normale Blutenform, nur die Oberlippe ist etwas kleiner 
als bei den homozy gotisch normalen Pflanzen. Wir haben also 
hier einen Fall fast völliger Dominanz der normalen Blüten- 
form über; die radiäre, während in der Farbe der Bastard 
ungefähr eine Mittelstellung einnimmt 1 ). Die durch Selbstbe- 
fruchtung eines solchen Bastards gewonnene F 2 -Generation 
(Fig. 9d bis g) besteht aus sechs äußerlich verschiedenen Grup- 
pen von Pflanzen, nämlich aus : 



roten normalen 
blaßroten normalen 
roten radiären 



(3) 
(6) 
(0 



blaßroten radiären .... (2) 

elfenbeinfarbigen normalen (3) 

„ radiären ( 1) 



Die Zahlenverhältnisse, in denen diese verschiedenen Kate- 
gorien, auftreten, sind in ( ) beigefügt. Wie auf Grund der 
Spaltungsgesetze diese Kategorien und diese Verhältniszahlen 
zustande kommen, leiten wir in ähnlicher Weise ab, wie in dem 
zuerst besprochenen Beispiel: Eine Geschlechtszelle oder, wie 
man in der Vererbungsliteratur meistens sagt, einen Game- 
ten der normalen ehenbeinfarbigen Rasse bezeichnen wir mit 
ine Rad, eine Geschlechtszelle der roten radiären Rasse mit 
Incrad. Dabei bedeutet: 



Ine Fähigkeil zur Bildung 
roter Blüten färbe 

Rad. Fähigkeit zur Bildung- 
normaler Blüten 



ine Fehlen dieser Fähigkeit, d. h. der so bezeich- 
nete Garnel überträgt elfcnbcin Blütenfarbe 

rad Fehlen dieser Fähigkeit, d.h. dieser Gamet 
überträgt radiäre Blutenform. 



Die aus der Vereinigung zweier Geschlechtszellen Incrad 
(rote Blütenfarbc, radiäre Blüten) entstandene eine P^-Pflanze 
bekommt also die Erbformel Ine Ine rad rad. 



*) In dei" Figur 9 sind die blaßroten und roten Individuen nicht ver- 
schieden gezeichnet. 



2. DIE VARIATIONSERSCUEINUNOEN. 



29 



Die aus der Vereinigung zweier Geschlechtszellen ine Rad 
(elfenbeinfarbige normale Blüte) entstandene andere P 1 -Pflanze 
hat dann die Formel ine ine Rad Rad. 




Fig. 9. 



Kretmnig einer roten radiären (a) mit einer e Keilbein farbigen normalen Rasse (b) von AntirrMiutm 
majus. Der Bastard, (c) wird blaßrot normal. Die F,- Generation bestellt aus roten und blauroten 
normalen (d), roten und blaßroten radiären (e) elfenb einfarbigen normalen (f) und elfenbc infarbigen 
radiären (g) Pflanzen im Verhältnis von: 

9 rot normal 3 elfenbein normal 

3 ,, radiär 1 ,. radiär 

Rein rot" und blaßrot sind in dieser Figur nicht unterschiede». 



30 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE. 



DerBastardhat dementsprechend die Formel Ine ine Radrad. 
Wenn dieser Bastard geschlechtsreif wird, bildet er nach der 
Mcndelschen Theorie viererlei verschiedene Geschlechtszel- 
len aus. nämlich 

Inc. Rad, die rote Farbe und normale Form übertragen 

Incrad, ,, ,, ,, ,, radiäre 

ine Rad, ,, elfenbein ,, ,, normale ,, 

incrad, ,, ,, ., ,, radiäre 

Diese viererlei verschiedenen Geschlechtszellen werden in 
gleicher Zahl gebildet. 

Wenn wir einen solchen Bastard Ine ine Rad rad mit sich 
selbst oder wenn wir mehrere solcher Bastarde untereinander 
befruchten, dann können sich die vier Arten von Eizellen mit 
den vier Arten von Pollenkörncrn in 16 verschiedenen Kombi- 
nationen vereinen, nämlich : 

j. eine Eizelle Ine Rad. kann treffen ein Pollenkorn Ine Rad. und gibt eine 
rote normale Pflanze Ine Ine Rad Rad. 

2. eine Eizelle Ine Rad kann treffen ein Pollenkorn Incrad und gibt eine 
rote normale Pflanze Ine Ine Rad rad. 

3. eine Eizelle Ine Rad kann treffen ein Pollcnkorn ine Rad und gibt eine 
blaßrote normale Pflanze ine ine Rad Rad. 

4. eine Eizelle Ine Rad. kann treffen ein Pollenkoni incrad und gibt eine 
blaßrote normale Pflanze Ine ine Rad rad. 

5. eine Eizelle Incrad. kann treffen ein Pollcnkorn Ine Rad und gibt eine 
rote normale Pflanze Ine Ine Rad rad. 

6. eine Eizelle Incrad kann treffen ein Pollenkorn Incrad und gibt eine 
rote radiäre Pflanze Ine Inc. rad rad. 

7. eine Eizelle Incrad kann treffen ein Pollenkorn ine Rad und gibt eine 
blaßrote normale Pflanze I nc ine Rad rad. 

8. eine Eizelle Incrad kann treffen ein Pollenkorn incrad und gibt eine 
blaßrote radiäre Pflanze Ine ine rad rad. 

9. eine Eizelle ine Rad kann treffen ein Pollenkorn Ine Rad und gibt eine 
blaßrole normale Pflanze Ine ine Rad Rad. 

10. eine Eizelle ine Rad. kann treffen ein Pollcnkorn Incrad und gibt eine 

blaßrote normale Pflanze Ine ine Rad rad. 
ii. eine Eizelle ine Rad kann treffen ein Pollenkorn ine Rad. und gibt eine 

clfenbeinfarbigc normale Pflanze ine ine Rad Rad. 

12. eine Eizelle ine Rad. kann treffen ein Pollenkoni incrad und gibt eine 

elfcnbcinfarbige normale Pflanze ine ine Rad rad. 

13. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollcnkorn Ine Rad und gibt eine 
blaßrote normale Pflanze Ine ine Rad rad. 

14. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollcnkorn Incrad und gibt eine 
blaßrote radiäre Pflanze Ine ine rad rad. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



31 



15. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollenkorn ine Rad und gibt eine 

elfenbeinfarbige normale Pflanze ine ine Rad rad. 
i6. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollenkorn incrad und gibt eine 

elfenbeinfarbige radiäre Pflanze ine ine rad rad. 

Ein Blick auf die Übersicht zeigt, daß von den 16 mög- 
lichen Vereinigungen drei (i, 2, 5) Pflanzen mit roten nor- 
malen Blüten, sechs (3, 4, 7, 9, io, 13) Pflanzen mit blaß- 
roten normalen Blüten, eine (6) Pflanze mit roten radiären 
Blüten, zwei (8, 14) Pflanzen mit blaßroten radiären Blüten, 
drei (11, 12, 15) Pflanzen mit elfenbeinfarbigen normalen 
Blüten, eine (16) Pflanze mit elfenbeinfarbigen radiären Blü- 
ten ergeben müssen. 

Wir werden demnach in F 2 dieser Kreuzung die 6 verschie- 
denen Pflanzen: „rot normal", „blaßrot normal", „rot radiär", 
„.blaßrot radiär", „elfenbein normal" und „elfenbein radiär" im 
Verhältnis 3:6:1:2:3:1 auffinden müssen. Zählt man rot und 
blaßrot zusammen 1 ), so ergibt sich das .Verhältnis 9:3:3:1. Die 
in Versuchen gefundenen Zahlen stehen damit gut in Einklang, 
eine solche Kreuzung hat z. B. die folgende F r Generation er- 
geben : 

Rot normal 39, blaßrot normal 94, rot radiär 15, blaßrot 
radiär 25, elfenbein normal 45, elfenbein radiär 13. 

Auf Grund der Theorie ist ferner zu erwarten, daß je ein 
Drittel der normal blühenden Kategorien eine ausschließlich 
normal blühende Nachkommenschaft haben wird, nämlich alle 
Pflanzen, die Rad Rad enthalten (Nr. 1, 3, 9, 1 1), ferner werden 
wir erwarten müssen, daß je zwei Drittel davon, nämlich alle, 
welche Radrad enthalten (Nr. 2, 4,5, 7, 10, 12, 13, 15), weiterhin 
aufspalten müssen in normale und radiäre Nachkommen, ebenso 
ist zu erwarten, daß alle roten //zo/«t>Pflanzcn nur rote Nach- 
kommen haben werden, daß dagegen alle blaßroten Inc-inc- 
Pflanzen in der nächsten Generation eine Spaltung in rote, blaß- 
rote und elfenbeinfarbige Pflanzen zeigen müssen. Auch diese 
theoretische Forderung zeigt sich in allen Versuchen erfüllt. 
In Form eines Stammbaumes ist dieser Versuch auf S.32 dar- 
gestellt. 

Wir sehen also, daß die verschiedenen Merkmale, durch 
welche die beiden ursprünglich gekreuzten Rassen sich unter- 
scheiden, g a n z u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r a u f d i e G e - 
schlechtszellen des Bastardes verteilt werden. 



Wie das in Fig. 9 geschehen ist. 



32 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERßLLHRE. 



rot radiär X clfenbein normal 
blaßrot normal 






rot normal 
7l« 



^ 



h .; 



_Q ti 



% 



Iilaßrol normal 
116 






Ö P< 



K O ,Ü 

5 ■* ö 









nl tu 



£ 



H 



a^ 



rot radiär 
7l6 



blaßrot radiär 

7,6 



£ 



H 






elüenb. normal 

7)6 






Ö .- 



(1 


"-< 






rC 




OJ 


£ 






11) 






rzJ 






n 


H 


Ol 






d 



z; c 



H 



clfenb. radiär f % 
7ro 



£ 



Dieses Gesetz der unabhängigen Vererbungsweise 
der einzelnen Merkmale, durch welche sich die ursprünglich ge- 
kreuzten Rassen unterscheiden, ist von der größten Wichtigkeit 
gerade auch für die Vererbungsvorgänge beim Menschen. 

Eine Kreuzung, die der eben besprochenen in jeder Hinsicht 
entspricht, bei der nur in beiden Merkmalen äußerlich völ- 
lige Dominanz vorliegt, ist in Figur io dargestellt. Die 
Kreuzung einer glatthaarigen schwarzen Meerschweinchenrasse 
mit einer andern, rauhhaarigen weißen Rasse gibt in F 1 rauh- 
haarige schwarze Tiere und in F 2 treten die vier zu erwartenden 
Kombinationen auf, d. h. viererlei verschiedene Tiere: schwarze 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



33 



rauhhaarige, weiße rauhhaarige, schwarze glatthaarige und 
weiße glatthaarige im Verhältnis 9:3:3:1. 

Man kann nun auch Rassen kreuzen, die in noch mehr Merk- 
malen verschieden sind. Wir können etwa kreuzen ein elfenbein- 
farbiges normales hochwüchsiges Löwenmaul mit einem roten 
radiären niedrigwüchsigen. F ± ist dann rot normal und hoch. 











G 






**|i*^ 




V* 








Fig. 10. 

Kreuzung einer schwarzen glatthaarigen Meerschweinchenrasse mit einer 

weißen struppigen. Die F r Tiere sind schwarz, struppig und in der F 3 Gcne- 

ration treten schwarze struppige, schwarze glatte, weiße struppige und weiße 

glatte Tiere im Verhältnis 9:33: 1 auf. 

Es dominiert hoher Wuchs ziemlich weitgehend über niedrigen 
Wuchs. 

Mit Hilfe eines Schemas, das dem Schema auf S. 29/30 
entspricht, aber nun für den Unterschied zwischen hoch und 
niedrig noch die Bezeichnung Alpi (hoch) und alpi (niedrig) ent- 
hält, läßt sich der Erbgang leicht berechnen. Eine Rasse elfen- 

Banr-Fisc her -Lenz I. 3 



34 



ERWIN BAÖR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



beinfarbig normal hochwüchsig hat die „Formel" ine ine Rad 
Rad Alpi Alpi, eine Rasse rot radiär niedrig ha.t die Formel Ine 
Ine rad rad alpi alpi. Der Bastard Ine ine Rad rad Alpi alpi bildet 
achterlei verschiedene Geschlechtszellen, zwischen denen 64 
verschiedene Kombinationen möglich und gleich wahrscheinlich 
sind. Kreuzen wir Rassen, die sich in noch mehr Merkmalen un- 
terscheiden, dann gelten dieselben Gesetzmäßigkeiten weiter. 
Was für Zahlenvcrhältnisse dabei auftreten, und welche allge- 
meine Formel für «-Merkmale aufgestellt werden kann, zeigt 
die untenstehende Tabelle. 



Zahl der 
Unter- 
schiede 

der Pi- 
Indi- 
viduen 


Zahl der 
ver- 
schiede- 
nen 
Arten von 
Geschlechts- 
zellen, 
weiche in 
Fi gebildet 
werden 


Zahl der 
möglichen 
Kombi- 
nationen 
der 
Geschlechts- 
zellen 


Höchst zahl 
d. äußerlich 

verschie- 
denen Kate- 
gorien von 
Fi -Indivi- 
duen, wenn 
überall 
völlige 
Dominanz 
vorliegt 


Die äußerlich verschiedenen Sorten von 
Fs-Individnen sind, wenn überall völlige Domi- 
nanz vorliegt, vertreten durch Individiieilzahlen, 
welche zueinander in den folgenden Verhältnissen 
stehen. {Hängt eine äußerlich sichtbare Eigen- 
schaft von mehreren heterozygolisch vor- 
kommenden Faktoren ab, dann treten hier ab- 
weichende, allerdings aus den nachstehend ge- 
nannten ableitbare Zahlenreihen auf.) 


1 


21 

= 2 


(2^ 

= 4 


2i 

= 2 


3 : 1 

"TT 


2 


2 a 

= 4 


(2*)' 

^=16 


= 4 


9 : 3 : 3 : 1 
1 T 1 


3 


2 a 

= 8 


(2»)» 

^=64 


2 3 

= a 


27 : 9 : 9 9:3:3 3:1 
T 3 3 1 


4 


2* 

= 16 


(2*) 2 
= 256 


2* 

= 16 


81:27:27:27:27:9:9:9:9:9:9:3:3:3.3:1 


14 6 4 


n 


2« 


(3") a 


2*i 


3n : 311-1 :3ti-l : 3a-l... : 3.1-2 ; 311-2 : 3»-2...usw. 




1 . . usw. = Koeffizienten d. Binoms (a\a) n . . 2 



Mit der zunehmenden Zahl von selbständig sich vererbenden 
Unterschieden zwischen zwei gekreuzten Rassen wird demnach 
die Zusammensetzung der F 2 -Generation rasch ganz ungemein 
kompliziert. Zeigen z. B. zwei Rassen zehn selbständige Unter- 
schiede, so treten in F 2 schon 2 10 = 1024 äußerlich verschie- 
dene Sorten von Individuen auf. 

Auch zahlreiche Kreuzungsergcbnissc, die zunächst sich 
durchaus nicht den Spaltungsgesetzcn zu fügen schienen, sind 
bei näherer Untersuchung doch als völlig mit ihnen in Ein- 
klang stehend erkannt worden. Freilich sind dabei sehr viele 



2. DIE V ARI AT ION SERSCl i EI NU NGEN . 



35 



Verwickelungen der Spaltungserscheinungen bekannt gewor- 
den, welche das Verständnis einer Kreuzung oft sehr erschweren 
können. Die wichtigste ist die, daß eine scheinbar einheitliche 
Eigenschaft meist abhängt von mehreren selbständig mendehi- 
den „Faktoren". Es kann z. B. die braune Farbe in den Federn 
eines Vogels dadurch zustande kommen, daß ein farbloses 
Chromogen durch die Einwirkung eines Enzyms erst die braune 
Farbe erhält. „Fähigkeit zur Bildung des Enzyms" und „Fähig- 
keit zur Bildung des Chromogens" können aber selbständig 
sich vererbende und j ede f ür sich unabhängig mendclnde 
Eigenschaften sein. Es kann z. B. einer weißen Hühnerrasse 
die Fähigkeit zur Enzymbildung fehlen, während die Fähigkeit 
zur Chromogenbildung vorhanden ist. Einer anderen weißen 
Rasse kann die Fähigkeit zur Chromogenbildung fehlen bei 
Vorhandensein der Fähigkeit zur Enzymbildung. Kreuzt man 
zwei derartige, aus verschiedenen Ursachen weiße 
Rassen, so werden Bastarde entstehen, die von dem einen Eher 
her die Fähigkeit zur Enzymbildung, vom anderen die Fähig- 
keit zur Chromogenbildung ererbt haben, und die demnach 
durch „Bastardatavismus" gefärbtes Gefieder haben. Fleißen 
wir z. B. den Erbfaktor, der die Chromogenbildung ermöglicht, A 
und den, der die Enzymbildung ermöglicht, B, so ist die eine 
weiße Rasse (welche nur das Chromogen bilden kann) 
AAbb und die andere weiße Rasse (welche nur das Enzym 
bilden kann) aaBB. Die Bastarde der beiden Rassen sind dann 
AaBb, können sowohl Chromogen wie Enzym bilden und sind 
deshalb gefärbt. Diese Bastarde AaBb bilden die folgenden 
viererlei Gameten AB, Ab, aB, ab, und zwischen diesen Gameten 
sind 16 Kombinationen möglich : Neun davon geben, wie die 
nachstellende Kombinationstabelle zeigt, Tiere mit gefärbten 
Federn und sieben geben Tiere mit weißen Federn. 



ABXAB = AABB gefärbt 

ABxAb =: AABb 

ABXaB = AaBB 

ABXab = AaBb 

AbX AB - AABb gefärbt 

AbxAb = AAbb weiß 

AbXaß = AaBb gefärbt 

AbX ab = Aabb weiß 



aBXAB 


-= AaBB 


gefärbt 


aBxAb 


= AaBb 


„ 


a B X a B 


= aaBB 


weiß 


a ÜXab 


= anlib 


» 


a b X A B 


= AaBb 


gefärbt 


ab X Ab 


= Aabb 


weiß 


abXaB 


- aaBb 


it 


ab X ab 


— aabb 


„ 



Wenn man eine Pflanze oder ein Tier in großen Versuchs- 
reihen genetisch bearbeitet, dann stößt man stets auf Fälle, wo 



36 



ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



in ganz entsprechender Weise wie in diesem. Hühnerbeispiel 
ganz ähnliche Mißbildungen genetisch ganz ver- 
schieden bedingt sein können. Diese Fälle sind gerade auch 
für die menschliche Pathologie so wichtig, daß noch einige wei- 
tere Beispiele genannt werden sollen. Fig. 1 1 a stellt die Blüte 
einer als fimbriata, Fig. iib die Blüte einer als choripetala 
bezeichneten rezessiv vererbten Defektrasse von Antirrhinum dar. 
Beide Rassen sind in sich als rezessive Rassen völlig konstant 
und jede mendelt bei Kreuzung mit der Nonnairasse monofak- 
toriell. Die Kreuzung der beiden Rassen untereinander gibt aber 
wie zu erwarten eine völlig normale F 1 -Generation (Fig. 1 1 c) 
(FimfimCho cho). In F 2 erfolgt die zu erwartende Spaltung, 



4 J 






^ 



Fig. ir. 

aj eine Blüte der Rasse fimbriata (Erbformel fim fim) 

b) eine Blüte der Rasse choripetala (Erbformel cho cho) 

c) eine Blüte des Bastardes zwischen a und b (Erbformel Fim fim Cho cho) 

Die Ähnlichkeit zweier genetisch verschiedener Defekt- 
rassen kann noch weiter gehen. Bei Antirrhinum gibt es z. B. 
über ro äußerlich überhaupt nicht unterscheid- 
bare elfenbeinfarbige Rassen, deren jede mit jeder 
andern gekreuzt eine ganz normal rot blühende F 2 -Generation 
gibt. 

Auch beim Menschen werden wir auf solche Fälle stoßen. 
Wenn es z. B. zwei genetisch verschiedene, aber klinisch 
nicht unterscheidbare rezessive Typen von Taubstumm- 
heit gibt, so wird sich das so äußern, daß .gelegentlich aus der 
Ehe von zwei Taubstummen wider alles Erwarten völlig nor- 
male Nachkommen hervorgehen. 



Von Wichtigkeit ist es auch., in diesem Zusammenhang ein- 
mal zu besprechen, wie der Erbgang ist, wenn Individuen ge- 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



37 



paart werden, deren jedes äußerlich, normal, aber heterozygo- 
tisch in einem rezessiven Defektfaktor ist. Eine Antirrhinum- 
pflanzc von der Formel Ine tnc Cho Cho (völlig normal, rotblü- 
hend, aber heterozygotisch in einem elfcnbein-Faktor) gibt bei 
der Kreuzung mit einer Pflanze von der Formel Ine Ine Cho cho 
(ebenfalls völlig normal und rot gefärbt aber heterozygotisch 
im choripctala-Factor) eine äußerlich völlig normale, einheit- 
lich rotblühende Nachkommenschaft. Aber von diesen äußerlich 
völlig normalen F 1 -Nachkommen ist : 

1 / i Ine Ine Cho Cho, also homozygotisch dominant in bei- 
den Faktoren und weiterhin konstant völlig normal. 

Vi ine ine Cho C/zo, also heterozygotisch imelfenbein-Faktor. 

1 / i Ine Ine Cho cho, also heterozygotisch im choripetala - 
Faktor. 

1 / J . Ine ine Cho cho, also heterozygotisch in b e i cl c n Defekt- 
faktoren. 

Nach diesem Schema verläuft der E r b gang 
bei zahlreichen Ehen innerhalb eines Kultur- 
volkes. Viele Menschen sind in irgendeinem mehr oder 
weniger unangenehmen rezessiven Defektfaktor heterozygo- 
tisch und nur weil im allgemeinen jeder Ehepartner in einem 
oder einigen andern Defektfaktoren heterozygotisch ist, ent- 
stehen äußerlich völlig normale Kinder. Bei Verwand- 
ten-Ehen besteht, wie später auf S. 90 noch besprochen wer- 
den soll, eine gewisse größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß 
beide Ehepartner im g 1 e i c h e n Defektfaktor heterozygotisch 
sind und daß dann auch Kinder geboren werden, die in diesem 
Faktor homozygotisch rezessiv sind und ihn deshalb auch äußer- 
lich zeigen. 



Wenn wir mit irgendeiner Pflanze oder irgendeinem Tier 
zahlreiche Kreuzungsversuche durchführen, dann kommen wir 
rasch dazu, eine gewisse Anzahl solcher Erbfaktoren festzustel- 
len, und dabei zeigt sich immer wieder, daß der scheinbar 
unübersehbaren großen Zahl von S orten- und Ras - 
senunterschieden innerhalb e i n e r „A r t" immer nur 
wieder andere Korn binationen einer verhältnismäßig 
kleinen Zahl von mendelndcn Unterschieden 
oder, wie man meist sagt, von „Erbfaktoren" zugrunde lie- 
gen. 



38 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERDLEHRE. 



Einige Pflanzen- und Tierarten sind in zahllosen Kreuzungs- 
versuchen*) schon sehr weit analysiert, und wir kennen von die- 
sen Arten heute schon Hunderte von einzelnen Erbfaktoren. 

Für die Bezeichnung dieser ^Faktoren", oder wie man in 
der englisch-amerikanischen Literatur sagt, dieser „Gene" bil- 
det sich allmählich folgende Gepflogenheit: Wird eine neue 




Fig. 12. 

b. Blutenstand einer durch Mutation entstandenen als tonsa bezeichneten 
Sippe von Antirrhlnum majas rechts neben einem Blütenstand der normalen. 
Ausgangssippe a. 

*) Von A n t i r r h i nu m wurden z. B. in den letzten Jahren allein 
im Münchebcrger Institut für Züchtungsforschung p r o J a h r 700 000 
bis 1000 000 Individuen in solchen Versuchen verarbeitet, von denen im all- 
gemeinen bis zu durchschnittlich 20 Generationen rückwärts alle Vorfah- 
ren in den Kartotheken registriert sind. Noch größer ist die Zahl der in 
der ganzen Welt pro Jahr „genetisch" verarbeiteten Taufliegen. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



39 



mendelncle Eigenschaft, ein Gen, ein Faktor erkannt, findet man 
z. B. in Löwenmaulvcrsuchen eine neue rezessive Faktormu- 
tante mit der inF.ig. 12b, S. 38 abgebildeten Blütenform, so er- 
hält sie einen lateinischen Namen. In diesem Falle wurde der 
Name tonsa gewählt, weil die Blüten, infolge Verkümmerung 
der Oberlippen „geschoren" aussehen. Die ersten drei oder vier 
Buchstaben dieses lateinischen Namens dienen als ,, Erbformel". 
Eine in diesem Fall homozygotisch dominante, also völlig nor- 
male Rasse hat die Formel Ton Ton, die neue rezessive Mutante 




Fig- 13. 

a) eine als jimbriata bezeichnete rezessive Defektrasse von Atitirrhinum 

b) die entsprechende Normalform. 

hat die Formel ton ton. Entsprechend heißt die in Fig. 1 3 a, S, 39 
abgebildete rezessive „ausgefranste" Rasse fimbriata und die 
Formelabkürzung ist Fun bzw. fim. Die in Fig. 14 b abgebildete 
Sippe, die sich durch einen rezessiven monofaktoriell mendeln- 
den Faktor für Frühreife von der in Fig. 14 a abgebildeten, im 
übrigen mit ihr gleichformcligen Sippe, unterscheidet, führt nach 
dieser Regel den Namen matura. Die Pflanze in Fig. 14 a ist 
Med Mai. Die Pflanze in Fig. 14 b ist matmat. 

Neue, der normalen Wildform gegenüber dominante 
Rassen erhalten einen gewissermaßen negativen Namen, z. B. 



40 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



eine dominante Zwergrasse heißt Apygmaea, die homozygoten 
Zwerge haben die Formel Apy Apy, die normalen, nicht zwer- 
gigen Pflanzen haben die Formel apy apy. 



Die verschiedenen Kombinationen dieser vielen einzelnen 
Erbfaktoren oder Gene sind das, was wir jeweils eine „Rasse" 
heißen. Mit den rund 300 bisher bekannten Erbfaktoren von 








Jttr*. _• 1- 



Fig. 14. 
Zwei im übrigen völtig gleiche und genau gleich alte und völlig gleich 
behandelte Pflanzen, von denen die eine (b) mat mat, die andere (a) Mat 
Mat ist. Der rezessive Factor matura bedingt einen um etwa 1 3 — 4 Wochen 

früheren Blühbcginn. 

Antirrhinum majus kann man sich also 2 3Ü0 (d. h. eine Zahl 
mit 91 Nullen) Rassen jederzeit willkürlich erzeugen. 

Hergestellt und als Zuchtrassen gezogen sind davon nur 
verhältnismäßig wenige, es ist sehr leicht, sich irgendeine 
heute im Handel nicht aufzutreibende, vielleicht überhaupt 
noch nie vorhanden gewesene bestimmte Kombination herzu- 
stellen und als „Rasse" rein herauszuzüchten. M an k ann also 
mit einer erst einmal genügend analysierten 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



41 



Spezies ganz ähnlich wie ei n C h e m i k e r s y 11 1 h e - 
t i s c h und ganz z i c 1 b e w u ß t b c s t i m m t e, gewünschte 
Eigenschaftskombinationen d.h. bestimmte neue 
Rassen her st eilen. 



Was wir an einem fertigen Organismus als eine einheitliche 
Eigenschaft sehen, etwa eine bestimmte Färbung der Haare, 
wird, wie wir bisher schon an einer ganzen Reihe von Beispielen 
kennen gelernt haben, stets bedingt durch (eine große Anzahl von 
Erbfaktoren. Es kommt ferner auch häufig vor, daß ganz ver- 
schiedene und unabhängig voneinander sich ver- 
erbende Faktoren in ganz gleicher Weise sich 
äußern. Ein schematisches Beispiel macht es wohl am rasche- 
sten klar: Daß eine Weizenrasse ziemlich widerstandsfähig ge- 
gen einen parasitischen Pilz ist, kann dadurch bedingt sein, 
daß sie durch den Bau ihrer Zellwände besonders gut 
gegen das Eindringen der Pilze geschützt ist. Eine andere 
Weizenrasse kann genau denselben Grad der Widerstandsfähig- 
keit zeigen, aber hier beruht die Widerstandsfähigkeit etwa auf 
dem Vorhandensein von bestimmten Schutzstoffe 11 im 
Zellsaft. Kreuzt man die beiden gleich stark widerstands- 
fähigen und vielleicht auch sonst äußerlich nicht verschiedenen 
Rassen, so wird man einen Bastard bekommen, der jetzt die 
beiden Ursachen der Resistenz ererbt hat, aber jede nur 
heterozygotisch enthält und deshalb — wenn nur teilweise 
Dominanz vorliegt — ebenfalls nur ungefähr ebensogut resi- 
stent ist, wie jede der beiden Ausgangsrassen. In der F 2 -Gcne- 
ration dieser Bastarde müssen nun aber auch Pflanzen auftre- 
ten, die h o m o zygotisch, beide Ursachen der Resistenz er- 
erbt haben, also doppelt so stark widerstandsfähig 
gegen die Ansteckung sind, als die Äusgangsrassen es 
waren, es müssen ferner — ■ als die ganz rezessiven Kombinatio- 
nen — Pflanzen auftreten, die keine von den beiden Ursachen 
ererbt haben, infolgedessen überhaupt nicht resistent 
sind, und endlich muß eine Reihe von Zwischentypen entstehen, 
deren Resistenz ungefähr derjenigen der Ausgangsrassen ent- 
spricht. Ein sehr lehrreicher Fall dieser Art sei nach N i 1 s s o n - 
Ehle, dem wir die Aufklärung dieser zunächst unverständli- 
chen Vererbungserscheinungen verdanken, genauer besprochen. 
Es ist wahrscheinlich, daß ähnliche Verhältnisse sich bei Men- 
schen sehr häufig finden. Beim Weizen wird rote Kornfarbe 



42 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLL11RE. 



bedingt durch mindestens drei unabhängig voneinander men- 
delnde Faktoren, R, S und T. Eine Pflanze, die nur einen von 
diesen Faktoren heterozygotisch enthält, etwa Rrsstt oder rr 
S s tt usw., ist ganz b 1 a ß r o t , eine Pflanze, die einen von die- 
sen Faktoren h o m o zyg~otisch enthält, also etwa RR ss tt oder 
/'/' 55 tt usw. ist, hat ein etwas dunkleres Rot, und endlich, am 
anderen. Ende der Reihe, Pflanzen, die alle drei Faktoren homo- 
zygotisch enthalten — RR SS TT — sind am dunkelsten rot. 

Kreuzt man eine weiße Rasse, die keine von diesen Faktoren 
enthält (rr ss tt) an.it einer homozy gotisch dunkelroten (RR 
$S TT), so bekommt man einen Bastard Rr Ss Tt, der in der 
Farbe eine Mittelstellung einnimmt, b 1 a ß r o t gefärbt ist. 
Dieser Bastard bildet die acht Geschlechtszellen: RST, RSt, 
RsT, Rst, rST, rSt, rsT, rst, und diese achterlei Geschlechts- 
zellen können sich in den (S. 43) in Tabellenform dargestellten 
Kombinationen vereinigen. 

In der zweiten Spalte ist angegeben, welche Kornfarbe die 
einzelnen Kategorien haben, dabei ist das durch die drei homo- 
zygotisch vorhandenen Faktoren bedingte dunkelste Rot als 
rot VI, Weiß als rot o und das nur durch einen heterozygot 
tischen Faktor bedingte hellste Rot als rot I bezeichnet, und 
entsprechend ist die Bezeichnung der übrigen Abstufung der 
Farbe. 

Die Tabelle zeigt, daß in der F 2 -Generation der Kreuzung 
neben ganz seltenen Pflanzen, welche genau die Färbung der 
Elternrassen zeigen, eine lange Reihe von verschieden gefärbten 
Zwischenstufen auftreten müssen, nämlich mehr oder 
weniger dunkelrot gefärbte Pflanzen mit den Färbungsabstu- 
fungen rot I bis rot V. 

Wenn wir die Tabelle daraufhin ansehen, wie häufig die ein- 
zelnen Färbungen in F 2 vertreten, sein müssen, so ergibt eine 
Auszählung folgendes : 

Von den 64 möglichen Kombinationen ergeben : 

/ Kombination Pflanzen mit der Farbe rot VI (wie die eine P 1 -Pflanze) 

6 Kombinationen ,, ,, ,, ,, ,, V 

15 „ „ „ „ „ „ IV 

20 „ „ „ „ „ „ III 

15 „ „ „ „ „ „ II 

6 „ „ „ „ ., „ I 

/ Kombination ,, ,, ,, ,, ,, o (weiß, wiedieandereP^Pflanze). 

Es ist danach zu erwarten, daß F 2 einer solchen Kreuzung 
besteht aus sehr zahlreichen Pflanzen, welche eine m i 1 1 - 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



43 



Mögliche 
K om bi na l i o neu 
der 
Geschlechts- 
zellen 



Mögliche 
Kombinationen 
der 
Geschlechts- 
zellen 



Fa 



') RST X RST 
'*) RST X RSt 
"} RST X RsT 
*) RST X KHt 
5 ) RST x'rST 
(i ) RST X rSt 
; ) RST X rsT 
*j RST X rst 



rot VI 

„ v 

, V 

., IV 

» v 

,, iv 

,. IV 



") RSt 


X 


RST 


,, V 


i«) RSt 


X 


RSl 


„ IV 


")RSt 


X 


RsT 


„ iv 


>' ! ) RSt 


X 


RSt 


,, III 


>"') RSt 


X 


rST 


„ iv 


'■') RSt 


X 


rSt 


„ III 


'■"■) RSt 


X 


rsT 


„ ITI 


ifi ) RSt 


X. 


rst 


„ II 


,; 1 KsT 


X RST 


.. v 


'«) RsT 


X 


RSt 


„ iv 


>•-') RsT 


X 


RsT 


.. iv 


'") RsT 


X 


Rst 


„ III 


- E ) RsT 


X 


rST 


„ iv 


2i ) RsT 


X 


rSt 


„ III 


= ') RsT 


X 


rsT 


„ III 


al ) RsT 


X 


rst 


„ I[ 


? "') Rst 


X 


RST 


,, iv 


-*") Rst 


X 


RSt 


„ III 


!1 ) Rst 


X 


RsT 


,, III 


-'*; Rst 


X 


Est 


„ II 


'"•) Rst 


X 


rST 


„ III 


?l >) Rst 


X 


rSt 


,. II 


: ") RSt 


X 


rsT 


>, II 


3! ) RSt 


X 


rst 


I 



III [Spaltend in 63 rot : t weiß 



rot 



spaltend in 63 rot : 1 weiß 

„ 15 „ :1 „ 

rot 



spaltend in 63 rot : 3 weiO 

rot 
spaltend in Li rot : 1. weiß 

rot 



spaltend in 63 rot : I weiß 
„ 15 „ : 1 „ 

„ 15 ., : 1 ,. 
„ 3 „ ; 1 ., 



M) rST X RST 

'■') rST X RSt 

K) rST x RsT 

3li ) rST x Rst 

s ') rST X rST 

3S ) rST X rSt 

W) rST x rsT 

™) rST x rst 

4l ) rSt x RST" 

45 i rSt X RSt 

4i ) rSt X RsT 

44 ) rSt X Rst 

45 ) rSt x rST 
4G ) rSt X rSt 
«) rSt X isT 
4a ) rSt X rst 

49 ) rsT X RST 

■«) rsT X RSt 

5I ) rsT X RsT 

W) rsT X Rst 

ss) ra x x rST 

*>) rsT X rSt 

■'>■"•) rsT x rsT 

°") rsT X rst 



spaltend in 63 rot : 1 weiß 
rot 



") rst 

<*) rst 

«■) rst 

m ) rst 

"i) rst 

™) rst 

<■•■■') rst 

<") rst 



X RST 
x RSt 
X KsT 
X Rst 
X rST 
X rSt 
X rsT 
X rst 



rot V rot 

IV 
IV 
III 
IV 
III 
HI ] 

II I spaltend in 15 rot : I weiß 
1 
IV j rot 

III 

III spaltend in 63 rot : 1. weiß 
II „ „ 15 „ :1 „ 

III rot 
II ,, 
II spaltend in 15 rot : 1 weiß 

I , „ 3 „ :1 „ 

IV rot 
III spaltend in 63 rot : 1 weiö 
III rot 

II spaltend in 15 rot : 1 weit'. 
III rot 

II spaltend in 15 rot : 1 weiß 
II rot 

I spaltend in 3 rot : 1 weiß 

III spaltend in 63 rot : 1 wei B 

II „ „ IS „ : t „ 

II „ „ 15 „ :1 „ 

I „ „ 3 „ :1 „ 

II „ „ 15 „ :1 „ 

I „ „ 3 „ ;1 „ 

I „ „ 3 „ :1 „ 

weiß 



lere Stärke der roten Färbung zeigen, und aus sehr weni- 
gen, welche sehr dunkel und ebenso ganz wenigen, welche 
sehr hell sind. Ferner zeigt ein Blick auf die Zahlenreihe 
i, 6, 15, 20, 15, 6, 1, welche die Häufigkeit der einzelnen Inten- 
sitäten angibt, daß diese Zahlenreihe der ZufaUskurve 
entspricht. 

Also wenn, so wie in unserem Beispiel, die Kornfarbe von 
einer Anzahl Faktoren beeinflußt wird, die unabhängig men- 
deln, und auch unabhängig voneinander sich äußern, die sich 

*) „Rot" heißt hier, daß keine weißen Pflanzen herausspalten, das 
Rot ist aber zum Teil ungleich, spaltet je nach Formel der betreffenden 
Kategorie in heller und dunkler Rot. 



44 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



$ 



aber in ihrer Wirkung summieren, dann wird eine in mehre- 
ren von diesen Faktoren heterozygotische Pflanze Nachkom- 
men geben, die eine ganze Reihe von Färbungsabstufungen 
aufweisen; dabei werden Pflanzen mit einer mittleren Stärke 
der Färbung sehr häufig sein, ganz helle und ganz dunkle Pflan- 
zen dagegen seltener, und zwar der Zufalls kurve ent- 
sprechend immer seltener, je heller und je dunkler sie sind. 

Auf diese Weise sind 
wahrscheinlich die meisten 
Kreuzungsfälle zu verstehen, 
für welche in der Literatur an- 
gegeben wird, daß diel3a5tarde 
eine Mittelstellung zwischen 
ihren Eltern zeigen und dann 
nicht spalten, sondern diese 
Mittelstellung konstant verer- 
ben. Es wird z. B. für die Ver- 
erbung der Hautfarbe bei der 
Kreuzung Neger X Europäer 
behauptet, daß die so entste- 
henden Mulatten eine in der 
Hautfarbe weiterhin konstante 
Nachkommenschaft hätten. 
Das ist aber nach sorgfältigen 
neueren Untersuchungen nicht 
der Fall. Aus der Ehe von zwei 
F 1 -Mulattcn gehen — aller- 
dings ganz selten nur — auch 
rein weißhäutige und ebenso 
auch rein negerfarbige Kinder 
hervor, aber die übergroße 
Mehrzahl der Kinder aus sol- 
chen Ehen hat ungefähr die 
Hautfarbe wie P^-Mulatten. 
Nimmt man an, daß der Un- 
terschied in der Flautfarbe zwi- 
schen Neger und Europäer — ganz ähnlich wie die Kornfarbe in 
dem oben besprochenen Weizen-Beispiel — durch mehrere selb- 
ständig mendelndc gleichsinnige Faktoren bedingt sei, so ist 
der Befund : „ganz vereinzelte Kinder, wie die Ausgangsrassen, 
übergroße Mehrzahl der Kinder ungefähr so wie die F^Mu- 
latten", ohne weiteres verständlich. 



Fig. 15. 

Älirenform von Weizen. 

a) Compactum-Weizen. 

b) Squarehead -Weizen. 

c) Lockerähriger Landweizen. 



2. DIE VARIATIONSERSCIiEINUNGEN. 



45 



Besonders häufig findet man gleichsinnig wirkende Fakto- 
ren, wenn man Vererbung von Größenmaßen u. dgl. unter- 
sucht. Was für eigenartige Vererbungserscheinungen sich hier 
ergeben können, sei kurz ebenfalls an einem Vererbungsversuch 
mit Weizen gezeigt. Die Ährenlänge des Weizens wird von einer 
ganzen Anzahl von Erbfaktoren beeinflußt. Zunächst kennen 
wir mindestens zwei gleichsinnig wirkende Faktoren, welche die 
Ähren lang und locker machen, heißen wir diese beiden Fakto- 
ren L und M. Eine Pflanze von der Formel LLMM ist sehr 
lang und lockerährig (Fig. 15 c), alle Pflanzen mit je einem von 
diesen Faktoren, ///M/W oder LLmm sind mittellangährigc Wei- 
zen und endlich eine //mm-Pflanze ist eine „Squarehead" 
(Fig. 1 5 b). Ein weiterer wesentlicher Faktor C macht die Ähren 
ganz kurz und gedrungen (Fig. 15 a). C ist dominant über L 
und A4, es sind also Pflanzen von der Formel CC LL MM, 
CCU A4 A4, CCU mm, Cc LLMM usw. alle äußerlich nicht unter- 
scheidbarc „Compactum"-Weizcn. Auf Grund dieser Erkennt- 
nis sind sehr viele eigentümliche Kreuzungsergebnisse glatt ver- 
ständlich. So z. B. gibt unter Umständen die Kreuzung zweier 
mittellangähriger Sorten einen ebenfalls mittellangen Bastard, 
aber in der F 2 -Generation mendeln nun neben vielen mittel- 
langen Pflanzen auch sehr lang- und lockerährige und ferner 
ganz kurzährige (Squarehead-) Weizen heraus. Die Kreuzung 
war dann verlaufen nach dem Schema: 

c c LL mm. X c c 11 A4 M P t 

mittellang mittel lang 

c c LI M m F i 

mittellang 

Daraus müssen in F 2 u. a. auch cc LLMM ----- (lang locker- 
ährig) und cell mm — (Squarehead-) Pflanzen herausmendcln. 

Ferner die Kreuzung CC LLMM (compactum)Xcc//mm 
(Squarehead) muß in Fj_ lauter Compactum-Pflanzen (Cc LI Mm) 
geben und in F 2 erfolgt dann eine Spaltung in compactum, ganz 
lang, mittellang und Squarehead. 

Wenn man über die Vererbungsgesetze von Rassenunter- 
schieden bei Menschen, etwa über die Vererbungs weise der 
Schädelform u. dgl., Untersuchungen anstellt, muß man immer 
wieder sich an diese klaren und durchsichtigen Beispiele aus 
dem Pflanzenreich erinnern. Der Fall, daß bei der Kreuzung 
zweier Rassen F t mehr oder weniger deutlich eine Dominanz 
des einen Elters zeigt, und daß in F g eine reinliche ganz ein- 



46 



ERWIN DÄUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



fache Spaltung erfolgt, d. h. Spaltung nach dem Ein-Faktor- 
Schema, wir d s elt eng ef undtn. Einzelne auffällige Miß- 
bildungen, z. B. radiäre Blüten beim Löwenmäulchen (An- 
tirrhinum), Figur 9. Kurzfingerigkeit (Brachydactylie) beim 
Menschen, völlige Pigmentlosigkeit (Albinismus) beim Men- 
schen und vielen Tieren, Dackelbeinigkeit bei vielen Säugetieren 
usw. werden im allgemeinen nach dem Ein-Faktor-Schema ver- 
erbt, d. h. sind „unifaktoriell bedingt", aber die Unterschiede 
zwischen den natürlichen Rassen, bei Pflanzen und Tieren 
beruhen meist auf mehreren, oft auf erstaunlich vielen 
Erbfaktoren. Für den Menschen gilt die gleiche Regel. Weit- 
aus die meisten erblichen auffälligen Mißbildungen 
beruhen auf je einem Erbfaktor und sind dementsprechend 
in ihrem Erbgang auch einigermaßen leicht verfolgbar. Da- 
gegen beruhen die Unterschiede z. B, in Schädelform, Flirn- 
bau, Nasenform, Zahnbau, Augenfarbe, Flautfarbe usw., usw., 
kurz alle die zahllosen morphologischen und physiologischen 
Unterschiede der einzelnen Menschenrassen durchweg auf sehr 
vielen einzelnen Erbfaktoren, und über ihren Erbgang weiß 
man noch immer sehr wenig. 



Letalfaktoren. 

Eine Komplikation, die gerade auch für die menschliche 
Genetik von großem Interesse ist, ergibt sich daraus, daß ein- 
zelne Faktoren die Lebensfähigkeit stark beeinträchtigen. Man 
heißt diese Faktoren Letalfaktoren. 

Bei den Mäusen z. B. kennen wir einen Faktor, der eine do- 
minante gelbliche Fellfarbe bedingt. Homo zygotisch gelbe 
Mäuse dieser Art sind nicht lebensfähig, kommen nicht 
über die ersten Embryonalstadien hinweg. Die Paarung zweier 
gelber Mäuse gibt deshalb eine Nachkommenschaft von der 
Zusammensetzung 2 gelb: / nicht gelb (wildfarbig, schwarz 
oder dergl. je nach der übrigen Erbformel der betreffenden 
Tiere) . 

Ein weiterer analoger Fall ist z. B. bei Kanarienvögeln be- 
kannt. Hier sind die ,, Haubenvögel" stets heterozygotisch, die 
Paarung zweier Haubenvögel gibt ,,FIaubenvögei" und „Glatt- 
köpfe" im Verhältnis 2 : t. Die theoretisch zu erwartenden hö- 
rn zygotischen Flaubenvögel sterben teils schon im Ei, teils 
kurz nach dem Ausschlüpfen. Die Paarung von Flaubenvögeln 
mit Glattköpfen gibt, wie zu erwarten, eine Nachkommenschaft 



2. DIE V AR1 ATIONSERSCH El NU NOEN . 



47 



von 500/0 heterozygotischen Haubenvögeln und 500/0 Glatt- 
köpfen. 

Ein weiterer interessanter Fall ist der des Dcxtcr-Rin- 
d e s , einer auffällig kurzbeinigen „Rasse" des englischen Kerry- 
Rindes. Alle kurzbeinigen Tiere sind heterozygotisch in einem 
Letalfaktor, der homozygotisch vorhanden eine schwere Miß- 







Fig. 16. 
Mißgeburt des Hausrindes homozygoüsch im Dextcr-Faktor (nach Cre\ 



bildung (Fig. 16) hervorruft. Diese Mißgeburten werden, regel- 
mäßig tot geboren, 

Rezessive Letalfaktoren äußern sich sehr häufig auch so, 
daß das Absterben der Homozygoten schon in den ersten Em- 
bryonalstadien erfolgt, während die Fleterozygoten als solche 
nicht erkennbar und voll lebensfähig sind. Derartige Letal- 
faktoren machen sich also, wenn überhaupt, nur durch eine ve r- 
minderte Fruchtbarkeit bemerkbar. Genauer unter- 
sucht können sie nur mit Hilfe von Koppclungsanalysen (s.u.) 
werden. 



48 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEIfRL. 



Bei den genetisch gut bekannten Organismen, Droso- 
phila, A n t i r r h i n u m und Mais z. B. kennt man heute schon 
Hunderte von Letalfaktoren. Auch beim Menschen spielen sie 
eine verhängnisvolle Rolle. 



Faktoren-Koppelung. 

Führt man Kreuzungsversuche in größerem Umfange mit 
irgendeinem Organismus durch, so stößt man immer früher 
oder später auf eine Erscheinung, die man als Faktoren-, 
Koppelung bezeichnet. 

Gehen wir auch hier wieder von einem ''einfachen Beispiel 
aus: Die kleine Obstfliege Drosophila melanogaster 
ist heute wohl das weitaus am besten auf seine Erbfaktoren 
hin durchforschte Tier. Man hat mehrere hundert Erbfak- 
toren bereits klar herausgearbeitet. Wir wollen aber nur mit 
zweien davon zunächst rechnen, nämlich mit den beiden Fak- 
toren B und V. 

Eine Rasse, welche diese beiden Faktoren und ebenso alle 
andern Faktoren für normalen Körperbau enthält, sieht aus 
wie eine gewöhnliche wilde Drosophila. Eine Rasse, mit im 
übrigen der gleichen Formel, aber bb ist rein s c h wa r z 
(Fig. iy, oben links), eine Rasse mit vv hat Stummclflügel 
(Fig. 17, oben rechts). Die Kreuzung der beiden Rassen 
ergibt in F i Tiere von der Formel Bb Vv, die wildfarbig und 
normalflüglig sind (Fig. 17, F x ). 

Derartige Bastarde Bb Vv sollten nach dem, was wir bisher 
gehört hatten, viererlei Geschlechtszellen bilden, BV , Bv, 
bV , bv, und zwar alle in gleiche r Häufigkeit. 

Man sollte also nach dem, was wir S. 26 gelernt haben, er- 
warten, daß, wenn man z. B. ein solches Bastardwcibchen. 
Bb Vv rückkreuzt mit einem doppelt rezessiven Männchen 
bb vv (schwarz stummelflügclig), dann die viererlei Tiere: 
1. wildfarbig normalflügelig, 2. schwarz normal flu gel ig, 3. wild- 
farbig stumm elf lügelig und 4. schwarz stummelflügelig in der 
Häufigkeit 1 : 1 : 1 : 1 auftreten, wie aus dem nachstehenden 
Schema ersichtlich ist: 

Eizelle BV trifft Spermaloz. bv ergibt BbVv == wildfarb. normalfl. 

Bv ,, ,, bv ,, Bbvv = ,, stummel fl. 

bV ,, ,, bv ,. bbVv = schwarz normalfl. 

bv „ ,, bv ,, bbvv = ,, stummelfl. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



49 



Diese vier Typen von Tieren (Fig. 17, F 2 ) treten auch 
im Versuch auf, aber nicht in der erwarteten gleichen Häu- 
figkeit. Man findet stets statt dessen ungefähr folgendes Ver- 
hältnis : 



Wildfarbig normal 1 

,, stummelflügelig 5 



schwarz normal 5 

„ stummelflügelig 1 







F. 



cf 






c? 




Fig. 17. 



Daraus muß geschlossen werden, daß die F ± -Weibchen 
ihre vier Kategorien von Eizellen BV, Bv bV bv in diesem 
Verhältnis 1:5:5:1 ausbilden. Mit anderen Worten : Diese 
1 H \ -Weibchen bilden die Gametentypen, aus deren Vereinigung 
sie selbst entstanden sind (in unserem Falle Bv und bV ), häu- 
figer, als die beiden Gametentypen, in welchen die Erbfäh- 



ig a u r - 1'" i s c h e i- - 1, e n t. I. 



50 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



toren in den neuen Kombinationen enthalten sind (in imserm 
Beispiel BV und bv). 

Diese Regel gilt auch, wenn wir einen Bastard Bb Vv auf 
dem andern möglichen Wege (Fig. 18) herstellen. Unser erster 
Bastard war entstanden aus der Kreuzung schwarz-normalflüge- 
lig mit wildfarbig-stummelflügelig. Wir können einen ebensol- 
chen Bastard aber auch bekommen aus der Kreuzung bb vv und 





d 




i' r i 



BBVV (Fig. 18). F t ist dann ebenfalls wildfarbig normalflüge- 
lig, und wenn wir auch hier einF r Weibchen mit einem doppelt 
rezessiven Männchen bb vv rückkreuzen, bekommen wir eine 
Nachkommenschaft, in der die erwarteten vier Typen auf- 
treten, aber jetzt im Verhältnis : 

wildfarbig normalflügelig 5 



stummelf iügeli 
schwarz normalflügelig 
„ stummelf lügelig 



2* 1 



5 



Es müssen also auch diesmal von den Bastardweibchen 
die Eizellen mit der Ausgangszusammenstellung der Faktoren 
(hier BV und bv) fünfmal so häufig gebildet worden sein, 
als die Eizellen mit den neuen Zusammenstellungen (hier Bv 
und bV). 

Solche Fälle von Faktorenkoppelung sind sehr häufig gefun- 
den worden, bei Pflanzen und Tieren. Und diese Sache hat 
auch für die menschliche Vererbung ein großes Interesse und 
ist von der allergrößten theoretischenWichtig- 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN, 



51 



k e i t für unsere ganze Vorstellungsweise von der 
zytologischen Grundlage der Mendel Spaltung 
und der Rassenunterschiede überhaupt. 

Den Schlüsse] zum Verständnis der ganzen Zusammenhänge 
hat die Beobachtung geliefert, daß bei allen genau untersuchten 
Organismen man Gruppen von j e w e ils untereinander 
gekoppelten Faktoren erkennen kann und daß die Zahl 
dieser Kop p elungs grup p en identisch ist mit der Zahl 
der Chromosomen der betreffenden Spezies. 

Wir müssen deshalb hier ganz kurz auf diese 
zytologischen Fragen der Genetik eingehen. 

Wir können heute mit aller Sicherheit schon 
sagen, daß zum größten Teil das Idioplasma — 
vorläufig ein rein theoretischer, aus der Ver- 
erbungslehre gewonnener Begriff — lokalisiert 
sein muß im Zellkern, und die Arbeiten der 
letzten Jahre lassen keinen Zweifel mehr daran, 
daß je ein mendelnder Unterschied 
zurückzuführen ist auf einen Unter- 
schied zwischen zwei homologen 
Chromosomen. Es darf wohl hier als be- 
kannt vorausgesetzt werden, daß bei allen sich 
geschlechtlich fortpflanzenden Organismen jede 
Geschlechtszelle einen einfachen „haploiden" 
bestimmten „Satz" von Chromosomen hat (bei 
Antirrhinum 8, bei Drosophila 4, beim 
Frosch, Rana fusca 12, beim Meerschwein- 
chen 8, beim Kaninchen 22, beim Menschen 24) 
und die aus der Vereinigung zweier Geschlechts- 
zellen entstandene befruchtete Eizelle hat einen 
doppelten „diploiden" Chromosomen-Satz, 
bei Antirrhinum also 16, bei Drosophila 8, beim Frosch 24, 
beim Meerschweinchen 16, beim Kaninchen 44, beim Menschen 
48 Chromosomen. Die einzelnen Chromosomen haben häufig 
verschiedene Formen, so daß man in den diploiden Zellen die 
einzelnen zusammengehörenden Chromosomenpaare ganz gut 
erkennen kann (vgl. Fig. 19). 

Zu irgendeinem Zeitpunkt entstehen aus den diploiden Zellen 
durch eine „Reduktionsteilung" Zellen mit nur wieder je 
einem haploiden Chromosomensatz, wobei die väterlichen 
und die mütterlichen Chromosomen durcheinander verteilt wer- 
den. Diese so entstandenen Zellen können — so bei allen 




Fig. 



Chromosom eil diploklcr 
Zellen des Weibchens 
einer Wanze Anasa oben 
in natürlicher An Ord- 
nung, unten paarweise 
nebeneinander. {Nach 
Wilson.) 



52 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



höheren Tieren — unmittelbar als Geschlechtszellen dienen oder 
aber — so vor allem bei den meisten Pflanzen — - nach mehr 
oder weniger weiteren, den Chromosomen-Bestand aber nicht 
ändernden, Teilungen erst später die Geschlechtszellen aus sich 
hervorgehen lassen. 

Aus der Zusammenarbeit von Zytologie und genetischem 
Experiment sind wir rasch zu ganz konkreten Vorstellungen über 
den Mechanismus gekommen, der dem M endein zu Grunde liegt. 
Diese Vorstellungen, mit denen heute die Genetik arbeitet, sind 
folgende : 

i. Die Chromosomen bestehen aus kettenartig zusammen- 
hängenden Elementarorganen. Die einzelnen. Glieder der Kette 
wollen wir weiterhin als Genomcre n 1 ) bezeichnen. Diese Ge- 



Fig. zo. 

Schematische Darstellung des Genomerena tistauschcs zwischen zwei homologen Chromosomen a, ai, hj 

Entstehung gemischter Chromosomen (a?) durch eine einmalige Zerreißung der Genomerenkctte 

(siugle crossing over der amerikanischen Autoren)- b, bi Entstehung gemischter Chromosomen durch 

einen doppelten Austausch (double crossing over der amerikanischen Autoren). 

nomeren sitzen im Chromosom in einer ganz bestimmten Rei- 
henfolge angeordnet. Vor der Reduktionsteilung legen sich 
jeweils die beiden einander homologen Chromosomen der beiden 
Chromosomensätze dicht aneinander und es findet dabei ein Aus- 
tausch von größeren und kleineren Stücken der Chromosomen- 



r ) In der amerikanisch-englischen Literatur wird für diese Elemcntar- 
bestandteilc eines Chromosoms der Ausdruck ,,gen&" benutzt. Vielfach ge- 
braucht man dort auch den Terminus „locus" für diese Gebilde. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



53 



kette statt (crossing over der amerikanischen Autoren), so wie 
es schematisch in Fig. 20 dargestellt ist. Es entstehen auf diese 
Weise Chromosomen, die aus Stücken der beiden Ausgangs- 
chromosomen zusammengesetzt sind. 

2. Die anatomische Grundlage (entwicklungsmcchanische 
Ursache) eines mendelnden Erbfaktors ist eine chemische oder 
physikalische Verschiedenheit im Bau zweier einander entspre- 
chender Genomeren. Um ein ganz einfaches, früher schon ein- 
mal gebrauchtes schematisches Beispiel zu geben, beruhe etwa 
der Unterschied zwischen einer radiären (radrad) und einer 
zygomorphen (Rad Rad) Löwenmaulsippe darauf, daß das Ge- 
nomer Nr. 127 des Chromosoms Nr. III der Rad-Sippe etwas 
anders gebaut ist als das Genomer Nr. 127 des Chromosoms 
Nr. III der rad-Sippe. 

3. Das „Mendeln", d. h. die Verteilung der einzelnen Unter- 
schiede in den überhaupt möglichen Kombinationen auf die Se- 
xualzellen, beruht auf zweierlei Dingen: 1. darauf, daß vor 
der Reduktionsteilung zwischen zwei homologen Chromosomen 
der in Fig. 20 abgebildete Genomerenaustausch stattfindet und 
2. darauf, daß die beiden verschiedenen Chromosomensätze bei 
der Reduktionsteilung auf die Tochterzellen verteilt werden. 

4. Aus 3. folgt, wenn man sich daran erinnert, daß immer 
größere oder kleinere Stück« der Genomerenkctte und nicht 
etwa jedes einzelne Genomer frei für sich vertauscht wer- 
den, daß zwei Faktoren, die in zwei verschiedenen Chromo- 
somen lokalisiert sind, frei voneinander mendeln müssen, daß 
dagegen zwei Faktoren, die im gleichen Chromosom liegen, zwar 
auch ,, mendeln", aber Koppelung zeigen müssen. Es folgt 
daraus ferner, daß wir bei jeder Pflanzen- und Tierart soviele 
Gruppen von untereinander gekoppelten Erbfaktoren müssen 
erkennen können, wie diese Spezies haploid Chromo- 
so m e n h a t. 

5. Der Genomerenaustausch erfolgt im allgemeinen so, wie 
es in Fig. 20 schematisch dargestellt ist, d. h. ein Chromosom 
zerreißt nur in wenige Stücke. Daraus folgt, daß je weiter 
zwei Faktoren in den Chromosomen ausein an der liegen, 
desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß 
zwischen ihnen der Riß durchgeht. Sie werden also 
häufiger auseinander kommen — d. h, eine schwächere Koppe- 
lung zeigen — als Faktoren, die in zwei nahe beisammen liegen- 
den Genomeren lokalisiert sind. Umgekehrt muß der G r a d der 
Koppelung, den zwei Faktoren zeigen, gewissermaßen einen 



54 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Maßstab abgeben für den Abstand der beiden Genomeren, in 
denen die beiden Faktoren lokalisiert sind. 

Betrachten wir nun einmal im Lichte dieser Vorstellungs- 
weise eine Anzahl Kreuzungsversuche mit Drosophila. 

Wie gesagt, kennen wir für diese Fliege rund 300 Erbfak- 
toren. Fünf von diesen Faktoren, Y, W, V, M, R, die alle un- 
tereinander eine Koppelung zeigen, d. h. also nach der Theorie 
im gleichen Chromosom liegen müssen, sind in der nachstehen- 
den Tabelle mit ihren Wirkungsweisen zusammengestellt. Die 
wilden Drosophila sind, das sei nebenbei bemerkt, alle YYWW 
V VMM RR. 



Y 



W 



M 
R 

fünf 



W i r k u n e- s w e i s e 



Y ist Voraussetzung für die Ausbildung dunkler Körperfarbe, alle 
j'j;-Ticre haben gelbe Körperfarbe. 

W ist Voraussetzung für dunkle Augenfarbe, alle wte-Tiere haben 
weiße Augen. 



V ist ebenfalls Voraussetzung für die dunkle Augenfarbc, alle vv- 
Tiere haben die von Morgan als ,,Vermilion" (ein scharlach- 
ähnliches Rot) bezeiehnete Färbung. 



M ist Voraussetzung für richtig ausgebildete Flügel, alle /«/«-Tiere 
haben kurze ,,Mimatur"-Flügel. 



R ist ebenfalls Voraussetzung für richtig ausgebildete Flügel, alle 
/•/--Tiere haben verkümmerte ,, rudimentäre" Flügel. 

Die nächste Tabelle gibt an, welche Koppelungen diese 
Faktoren untereinander zeigen. 



1 


2 


3 




zeigt für 1 : n 


dieser Wert, 


Faktoren paar 


in den Versuchen 


als Dezimalbruch 




den empirischen 


ausgedrückt, ist 




Wert 




YW 


354/3221 8 


0,01 1 


YV 


2117/6221 


0,340 


YM 


1054/3063 


0,344 


YR 


605/1420 


0,426 


WV 


4336/13395 


0,324 


WM 


7591/22910 


0,331 


WR 


894/21 36 


0,419 


VM 


50/1640 


0,030 


V R 


183/850 


0,215 


MR 


1562/9295 


0,168 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



55 



AufGvund de r v orliin g e h ö r t e n theo- 



Ooit 



Ö,m 



Vy 
w 



Der Grad der Koppelung ist dabei folgendermaßen ausge- 
drückt: Wenn ein aus der Kreuzung Yw x yW entstandener Ba- 
stard FvlVw keinen Gcnomerenaus tausch hätte, dann würde 
er — weil Y und w im gleichen Chromosom liegen 
— nur die zweierlei Gameten Yw und yW bilden. 
Findet aber ein Genomcrenaustausch statt, dann bil- 
det er die viererlei Gameten YW, Yw, yW, yu> im 
Verhältnis 1 : n. : n : 1 aus. Dieses Verhältnis 1 : n, d. h. 
die relative Häufigkeit des Geno m eren- 
austausche 5 (crossing over) gibt unmittelbar 
einen Gradmesser für die Stärke der Koppelung. 
In der Tabelle ist in Spalte 2 jeweils der durch 
Rückkreuzungen gefundene empirische Wert 
für 1 : n und in Spalte 3, der besseren Vergleichbar- 
keit halber, der Wert d i e s e s B r u c h e 5 als D e z i - 
malbruch angegeben. Eingesetzt sind hier noch 
die Werte, wie sie auf Grund der Versuche bis zum 
Jahre 1920 sich ergaben. Inzwischen sind durch 
noch viel eingehendere Arbeiten die Zahlen etwas 
geändert. 

Es zeigt also der Faktor Y eine sehr schwa- 
che Koppelung mit dem Faktor R, d. h, es findet 
Genomereriaus tausch fast in der Hälfte der Fälle 
statt. Schon stärker ist die Koppelung YM, noch 
stärker YV und am stärksten die Koppelung YW. 
Hier findet ein Genomercnaustausch nur in 1,1 °/o 
aller Fälle statt. 






-/? 



Fig. 21. 

Räumliche 
Verteilung 
einer Anzahl 
v Erbfaktoren 
auf einem 
Chromosom 
von 
U rosoplii 1 a 



r e t i s c h e 11 Vorstcllungswcisc der Mor- 
ganschen Schule müssen w i r d e m nach 
annehmen, daß in dem Chromoso m die 
Faktoren in der Reihenfolge YWVMR 
liegen. 

Zeichnen wir diese fünf Faktoren auf einer 
Streckc, die das Chromosom darstellen soll, ein, 
und zwar gleich mit Abständen, die den Koppelungs- 
werten entsprechen, die wir zwischen je zwei von diesen Fakto- 
ren finden, so bekommen wir folgendes Bild (Fig. 21) von der 
Verteilung der Faktoren auf dem Chromosom. 

Aus der ganzen theoretischen Vorstellung folgt selbstver- 
ständlich, daß, wenn z. B. zwischen Y und W die Koppelungs- 
zahl, d. h. in der Theorie die Entfernung, x und zwischen IV und V 



56 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



die Koppelungszahl, d. h. die Entfernung, y gefunden wird, 
daß dann die Koppelungszahl YV =- x + y seinmuß! 
Würde diese Gesetzmäßigkeit nicht ganz allgemein in den 
Versuchen bestätigt gefunden, d. h. ergäbe die Berechnung der 
Lage eines Faktors aus seinen verschiedenen Koppelungen 
mit anderen Faktoren nicht immer den gleichen Punkt auf 
dem als Strecke gedachten Chromosom, dann könnte die ganze 
Theorie nicht stimmen. Aber gerade dieser Forderung 
genügen sämtliche V e r s u c h s e r g e b n i s s c , und das 
gibt der ganzen Theorie ihre heutige feste Be- 
grün düng. 

Ein Blick auf die Tabelle S. 54 zeigt, daß tatsächlich die 
für die Faktoren Y und V gefundene Koppelungszahl 0,340 un- 
gefähr gleich der Summe der Koppelungszahlen YW (0,011) 
und WV (0,324) ist, auch sonst ist diese Forderung in der Ta- 
belle mit großer Annäherung erfüllt, mit einer Ausnahme, die 
aber gerade die Regel bestätigt. Diese Ausnahme besteht 
darin, daß die für zwei Faktoren unmittelbar empirisch gefunde- 
nen Koppelungswerte (z. B. der für Y R gefundene Wert 0,426) 
immer kleiner sind, als die für die gleichen Faktoren aus ihrer 
Koppelung mit dazwischenliegenden Faktoren errech- 
nete Zahl (für YR die Zahl 0,011+0,324 + 0,030 + 0,168=-- 
0,533). Daß die unmittelbar gefundene Koppelungszahl kleiner 
sein muß als die auf dem angegebenen Wege errechnete, folgt 
auch aus der Theorie. Aus ihr folgt sogar noch weiterhin, 
daß diese Differenz zwischen der gefundenen und durch Sum- 
mierung errechneten Zahl um so größer sein muß, je größer 
absolut genommen die Koppelungszahl ist, d. h. je weiter die 
beiden Faktoren im Chromosom auseinanderliegen. Diese Dif- 
ferenz ist die Folge davon, daß, wenn in einem Chromosom, 
ein doppelter Austausch von Teilstücken erfolgt — nach 
dem Schema von Fig. 20b — , daß dann die ganz weit aus- 
einanderliegenden Faktoren wieder wie ursprünglich ins glei- 
che Chromosom zu liegen kommen. Dieser doppelte Austausch 
von Teilstücken („double crossing over") bedingt also, daß sehr 
weit auseinanderbiegende Faktoren kleinere Koppelungszahlen 
aufweisen, als man zunächst erwarten würde. 

Mit Hilfe einer sorgfältigen Durcharbeitung der Koppe- 
lungserscheinungen ist es der M o rganschen Schule gelungen, 
für die Chromosomen von Drosophila genaue topographi- 
sche Karten anzufertigen. In Fig. 22 ist für alle Chromosomen 
die Lage der wichtigsten und besonders genau bearbeiteten Erb- 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



57 



faktoren dargestellt. Entsprechende Chromosomcnkarten haben 
wir auch für Antirrhinum, für Mais, für Erbsen und eine Reihe 
anderer Objekte, 







0,0 y gelb IK) 
0,t Hm haariger Flügel IF) 
. 0,+ sc Schild (B) 
0,3 i-7 letahl 
\l0,6br breit (F) 
4J/jßpn pflaumenarlig IA) 
. >!,5 w weiß (A) 
■ ]j3,0 fa Facetten (A) 
-\i£H Kerbe (A) 
%I,SA anomal (K) 
\5,5ec stachelig (Al 
^6,3bigespalfen(F) 
. -\j,5rbrubin farbig iA) 
\J3,7a> queraderlos (F) 
■xt&i cl Klumpflügel (F) 
\\m dx deliaartig (F) 
WO et abgeschnitten (F) 
"i\Z1ßsn gesengt (B) 
\27,S ( gelbbraun (Kl 
- ->,7 lz Pille IA) 
33,0 v zinnoberrot (A) 
= \~3ff,7nt miniatur flügelig'*' 
'\36,2 dg düster ff) (F) 
\&,±fm gefurcht (A) 
" ~>13ßszobelfarben(H) 
11,'lg granaf Farben (A) 
5%2sl kleinflügetig IF) 
J5%5r rudimentär (F) ■ 
. J/SS,5f gegabelt (B) 
_ J,5i,0 B bandförmig (A) 
-_-58,5sy kleinäugig (A) 
'^53,0 fn verschmolzen (F) 
'-.53,6 bx perlenartig (F) 
\B2,0M~n Minuta-nfB) 

65,0cf Spalt (Fj 
- -70,0 bb kurzborstig (B) 



-0,0 tg Telegraph (F) 
-2,0 S Stern (A) 
'"-<!,+ al arlsialos (K) 
~6,+ ex ausgebreitet (F) 
1 12 + G Möwe (Fj 
1/,13,0 T abgestutzt IF) 
p-l%£ ds dackelarlig (K) 
-16,0 5k streifig (K) 



~0ß ru rauhig (A) 



dl gebogen (F) 
sv rasiert (K) 
ey augenlos IA) 
rot rotiert (K) 
MMMinufa-Wlb 



-f-— 20,0 du divergierend (F) 

26,1se sep/'a färben IA) 
^f 26,5 h haarig (K) 
" 35,0r Hosenfarbe (A) 
J3Bß cr-M Kreme-J/FfA) 
'190,1 M-hMinuie-h(B) 
'J10,1 il Zelt IF) 
l<40,1 D gespreizt IB) 
'»2,2 th Faden (K) 
f'fiifßst scharlaclirof (A) 
r V6,± mp verzogen (F) 

.16,5 sl-M Ski-M (Fl *- 

\~ 11,5 Df deformiert ' (A) 
-\}vB,0p rosa(A) 
-51,6 pr purpiir/A) V\19,7 ma. kastanienbraun (A) 

-57,5cn helfrot (A) \& 50 * dw Zmr 3 M 

SOJ sfsafranin färben fAlYyOßca gerollt (F) 

~~\V.Sl,8Hnj-sup Unterdrücker Y.haangen 
-SU p/v Auge-Flügel '(AF) X%S8,Z-Sb stoppelig (B) [ftügein(F) 

\r-6%0 vg sfummeiflügelig \ F \%$3,5 sz borsfenios SB) 



\-~31,0d dackelbeinig(K) 
j-35,0 Si-lSki-Ä (Fl 

-1-11,0 J gedrängt (F) 

~ W/ M-e rlinu/a-e (B) 

-18,Sb schwarzfK! ^ 

"18,7 j aufgebogen (F) 



i-S 



-6B,ttoTeleskop(F) 
-72,0t, Lappen(A) 
-71,+ gp Lücke (F) 
-75,5c gekrümmt IF) 



*<n\ 



\-~83,5fr gefranst (F) 
1 90,0 hg bucklig (K) 
I j 33,5a- Bogen (Fl 
\ bO0,5 px neizig (F) 

M02,± L-Jla Lefal-Ia. 

\\\f05,0bw braun (A) 
Jjbo5,t bs blasig (F) 
TJ f06,t pdpurpurartig(A) 
~\Vh07± mr Maulbeere (A) 
■ H\W 1,0 sp Fleck IK) 

^-107,5 ba. Ballon (F) 



158,7 bx bithorakal (K) 
,%5,5&r-i biihorakal-b (K) 
' m.osr Streifen IK) 
163,1 gl glasig (A) 
t&5,lA Delta (F) 
69,5 H haarlos (B) 
[70,7 e Ebenholz (K) 
#2,0 bn bandartig (K) 
J5,7 cd hochrot '(A) 
76,2 wo weiße Ocellen (A) 
,91,9 ro rauh (A) 
' ,33,0 cm zerknittert (F) 
\93,Bbä,perliq(F) 
91,1P:o zugespitzt (F) 
.700,7 ca, rötlich (A) 
-101,0 M Minuta (B) 



-106,2 M-g Minula-g(B) 



Flg. 22. 
C li rora oso me n karte von Drosophila nach Stern. 



58 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



:0 



Temperatur 
9° 
13 

17: 5 ( 
29 c 

3' ( 

32 C 



rO 



Eine besondere Schwierigkeit für die genaue Feststellung 
der Austauschprozeß' ergibt sich daraus, daß dieser Wert be- 
einflußt wird durch Außeneinflüsse. Eine große Rolle spielt 
besonders die Temperatur, bei der man die Fliegen hält. Das 
sei an einem Versuch gezeigt: Für zwei Erbfaktoren „black" 
und „purple", die bei einer normalen Zimmertemperatur von 
etwa 17 C den Austauschwert 8,3 haben, ergaben sich in Flie- 
genkulturcn, die bei anderen Temperaturen erhalten wurden, 
die folgenden Werte : 

Austauschweise: 

13. 5 
8-3 
6 

S,8 
14 
15,7 
Die Temperatur muß also offenbar den ganzen Mechanis- 
mus des Genomerenaustausches stark beeinflussen. Daraus folgt, 
daß es sehr wesentlich ist, bei der Ausarbeitung einer Chromo- 
somentopographie nur Zuchten zu benutzen, die unter glei- 
chen Kulturbedingungcn gehalten werden. 

Vielleicht hängt es mit diesem Temperatureinfluß auf die 
Häufigkeit des Faktorenaustausches zusammen, daß bei Pflan- 
zen die Austauschwerte stärker variabel sind als bei Droso- 
p h i 1 a. Exakte Versuche über den Temperatureinfluß bei Pflan- 
zen liegen aber noch nicht vor. 

Einen gewissen Einfluß auf den Grad der Koppelung 
scheint auch das individuelle Alter der Elterntiere zu 
haben. Ferner scheint zwischen den Chromosomen zweier zwar 
noch miteinander „mendelnden" aber doch immerhin schon stark 
verschiedenen Arten in den betreffenden Artbastarden der Aus- 
tausch stark erschwert (vgl. hierüber auch S. 72). 

Die bisher besprochenen Fälle von Faktorenkoppelung 
waren durchweg partielle Koppelungen. Durch Faktoren- 
austausch können hier, je nach dem 'Grade der Koppelung, mehr 
oder weniger häufig auch die beiden 'Neukombinationen der ge- 
koppelten Faktoren entstehen. 

Unilokale Serien (multipler Allelomorphisrnus). 

Es gibt noch eine andere, gewissermaßen „absolute" Kop- 
pelung, die man meist als „multiplen Allelomorphis- 
rnus" bezeichnet. Dieses etwas mühsame Wort hat folgende 
Entstehungsgeschichte : Man sagt, besonders in der englischen 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



59 



Literatur, zwei miteinander einfach mcndelnde Eigenschaften 
seien „allelomorph" zueinander. Als man nun weiterhin 
fand, daß in gewissen Fällen nicht so wie sonst zwei, sondern 
m ehrerc Eigenschaften jede mit jeder mono faktoriell 
mendelten, hieß man das einen „multiplen" Allelomorphisrnus. 

Wir deuten heute diese Fälle durch die Annahme, daß es 
von einem Genomer (locus in der D r o s o p h i 1 a - Termino- 
logie) nicht bloß zwei, sondern viele „Varianten" geben kann. 
Das sei gleich an einem konkreten Falle demonstriert : Bei A 11 - 
t i r r h i n u m m a j u s kenne ich eine Anzahl von Farbenrassen, 
die eine Reihe von elfenbeinfarbig bis dunkelrot bilden. In 
Fig. 23 sind diese verschiedenen Farbenrassen abgebildet. Die 
Intensität und Verteilung der schwarzen Tönung in den Figuren 
entspricht der Intensität und der Verteilung des Anthocyans in 
den Blüten. 

Bei der Kreuzung von jeder dieser Sippen mit jeder an- 
dern dieser Reihe „dominiert" die dunklere und in F 2 erfolgt 
eine einfache m 0110 faktorielle Spaltung. 

Alle diese Farbensippen zeigen ferner die gleiche Kop- 
pelung mit den andern in demselben Chromosom lokalisierten 
Faktoren, so mit den Faktoren Uni und Ros. Das heißt aber 
nach unsern theoretischen Vorstellungen, daß sie alle im 
selben „locus" liegen, oder mit andern Worten, daß sie 
durch acht „Varianten" des gleichen Genomers bedingt sind. 

Man bezeichnet heute ziemlich allgemein derartige Serien 
von im gleichen Genomer liegenden Faktoren durch ein „S y m- 
b 1 mit Suffixen". Diese Färbungsreihe bei A n t i r r h i n u m 
heißt Pallida-Serie, und die einzelnen Abstufungen heißen: 

Pal Faktor für das normale ,,rot". 

paltub blaßrot (rubescens). 

palcar fleischfarbig (carnea). 

palrhod blaßfleischfarbig' (rlwdos). 

palnial ..apfelblütcnfarbig" (malacea). Diese Pflanzen haben eine zarte 
rötliche Tönung auf der Innenseite der Lippe. 

palmac gefleckt (maculosa). Die Fleckchen sind im Unterschied von ge- 
streift (striata) nicht scharf begrenzt, sondern , .verwaschen". 

paltub ,,rot an Röhre" ((tibocoloratd). Diese Pflanzen haben nur am 
Grunde der Röhre eine zarte rötliche Färbung. 

paltiu ,,elfenbein mit Tönung" (t'uicta). Diese Pflanzen sind meist rein 
elfenbeinfarbig, nur wenn sie gleichzeitig homozygotisch gehörnt 
(cornuta) (cor cor) sind, zeigt sich in der Basis des durch den 
Faktor cor bedingten „Hörnchen" eine leichte Tönung. Ob eine 
elfenbeinfarbige Pflanze ine ine oder paltin paltiu ist, kann man 
äußerlich nur an cornata-Vi\s.nzca. erkennen. 

palrec roigestreift (recurrens). 



60 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Es ist z. B. eine Pflanze von der Formel: 
paJmb palrub blaßrot konstant. 

palmb palmal blaßrot, spaltend nach 3 blaßrot : 1 malacea. 
palmb palmac blaßrot, spaltend nach 3 blaßrot : 1 maculosa. 

Ferner ist z. B.: 
palriiod palmac blaßfleischfarbig- und da ruber maculosa. Eine .solche 
Pflanze spaltet in 1 blaßfleischfarbig : 2 blaßfleischfarbig- 
-\- maculosa : 1 maculosa. 



Fie. 2 



Falben rassc 11 von Anlirrhiuum, die alle eine uuilokale Serie bilden, d. h. jeweils durch eine andere 
Variante ein und desselben Genomers verursacht werden. 1. rot (Pal) 2. blaßrot, rubescens (pal/rnb), 
3. fleischfarbig, tarnen (pal/car), 4. bla QU ei seh farbig, rhodos (pal/rhod) 5. leichte Tönung der 
Lippen, malacea (pal/mal) G. gefleckt, maculosa (pal/mac) 7. „rot an Röhre" iubocolorala (pal/tub) 
S. gehörnt tineta (pal/tin), 9. rot gestreift recurrens (pai/rec. 

Auswirkung von gekoppelten Letalfaktoren. 

Durch Zusammentreffen zweier Letalfaktoren kann ein 
sehr eigenartiger Erbgang zustande kommen, den man lange 
Zeit nicht hat deuten können. Es können sich zwei Letalfaktoren 
gewissermaßen „ausbalancieren". Den ersten Fall dieser 
Art hat H. J. Muller aufgeklärt: Bei Drosophila ist der 
Faktor beaded dominant und homozygotisch letal. Die Bdbd- 
Tiere haben stark mißbildete (geperlte) Flügel. Alle bcaded- 
Tiere sind (wie die aurea-Antirrhinum) hetcrozygotisch 
und spalten bei Paarung untereinander auf in 2 beaded : 1 nicht 
beaded (d. h. normalflügelig), weil die homozygotische Kombi- 
nation BdBd ausfällt. Nun gibt es aber im gleichen Chro- 
mosom (Nr. III) auch einen rez es siv en Letalfaktor L. Tiere, 
bei denen das eine Chromosom III die Formel BdL und das an- 
dere die Formel bdl hat, müssen bei Paarung untereinander fol- 
gendes ergeben: 



61 




Pl 






Bd E 
bd 1 


$ 


X 






Bd L 
bd" i" 


Eizellen 




;/. 


BdL 


Samenzellen 




/ 


BdL 






/ 


Bd I 


(Spcrmato 


zoiden} 1 ) 


/ 


bd 1 






/ 


bd L 
















n 


bd 1 












Kombina- 
tionen in Fj 


n 


BdL 
Bd L 


letal 






/ 


bd L 
Bd L 






ii. 


Bd L 
bd 1 


beaded 






/ 


bd L 
bd 1 






I 


Bd 1 
Bd L 


letal 






n 


bd I 

Bd L 






I 


Bd 1 
bTT 


letal 






ii 


bd 1 
bdT 



c? 



beaded 

normalflügelig 
beaded 
letal 



Wir bekommen also eine Nachkommenschaft von n -|- 1 -\- n 
beaded und nur eine nicht beaded (normalflügelig). 

Wenn die beiden Letalfaktoren nahe zusammenliegen, so 
daß wenig Austauschtiere entstehen, ergibt sich, daß fast nur 
die in beide n Faktoren heterozygotischen Tiere gefun- 
den werden. Man hat also einen zwar in einem dominanten Merk- 
mal heterozygotischen ( Bd bd )-Sta.mm, der aber rein züchtet 
und nur ganz ausnahmsweise einmal ein n i c h t beadcd-Tier ab- 
spaltet. Solche Fälle von balancierten Letalfaktoren können des- 
halb leicht mit Mutationsvorgängen verwechselt werden. 

Komplex- Vererbung. 

Eine gewisse Störung der Mendelspaltung kann auch da- 
durch bewirkt werden, daß mehrere, oft sogar alle Chromoso- 
men eines Genoms (Chromosomensatzes) untereinander ketten- 
förmig zusammenhängen. Es bleiben dementsprechend im. Erb- 
gang immer ganze Eigenschaf tskomplexc beisammen. 
Ob beim Menschen etwas Ähnliches vorkommt, ist nicht bekannt. 
Es kann deswegen auch eine eingehende Besprechung dieser 
Fälle hier unterbleiben. 

Die Vererbung des Geschlechts. 

Schon durch die grundlegenden Versuche von Correns 
war sichergestellt worden, daß bei den zweigeschlechtlichcn Or- 
ganismen der Gcschlechtsunterschied selbst, auch nach den 
Spaltungsgesetzen vererbt wird. Das eine Geschlecht verhält 

l ) Im M ä n n c h c n Endet bei Drosophila kein Faktorenaustausch 
stall, deshalb bekommen wir nur zweierlei Samenzellen (Spermatozoiden). 



62 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



sich dabei stets wie ein Homozygot, ist „homo gametisch", 
das andere verhält sich wie ein Heterozygot, ist „heteroga- 
m et is ch". 

Z.B. bei der Obstfliege D rosophila ist der Geschlechts- 
unterschied bedingt durch einen „Erbfaktor", den wir einmal X 
heißen wollen. Alle Weibchen sind XX, alle Männchen sind 
Xx. Jede Paarung ist also eine Rückkreuzung nach dem fol- 
genden Schema : 



XX X Xx 

50 o/ XX, 50 0/0 Xx 



P 

F 1 



i> 



Diese einfache Annahme erklärt ohne weiteres die Tat- 
sache, daß bei jeder Fortpflanzung ungefähr zu gleichen Teilen 
Männchen und Weibchen entstehen. 

Wenn wir hier den Geschlechtsunterschied auch in der üb- 
lichen Mendel-Formulierung dargestellt haben, so soll das aber 
nicht heißen, daß ihm ein„Erbfaktor" zu Grunde läge, etwa so wie 
der Erbfaktor Rad, der den Unterschied zwischen einer normal- 
blütigen und einer radiären Antirrhinumrasse bedingt. Man hat 
vielmehr feststellen können, daß ein bestimmtes ganzes Chro- 
m o s m für den Geschlechtsunterschied maßgebend ist. D roso- 
phila hat normalerweise in den Körperzellen, wie vorhin schon 
gesagt worden ist, vier Chromosomenpaare. Von diesen 
vier Chromosomenpaaren bestehen drei sowohl in den Männ- 
chen wie auch in den Weibchen aus je zwei gleichen Part- 
nern, das vierte Chromosomcnpaar besteht nur in den Weib- 
chen aus zwei gleichen Partnern, bei den Männchen aber 
sind die beiden Partner verschieden, wie das F i - 
gur 24 deutlich zeigt, Man sagt, das Weibchen hat zwei 
X-Chromosomen, das Männchen dagegen hat ein X- und ein 
V-Chromosom. 

Bei der Eircifung (Fig. 24 untere Reihe links) entsteht in 
den Weibchen nur eine Sorte Eizellen, die alle je einen Chro- 
mosomensatz einmal, alle also auch einmal das X-Chromosom 
enthalten. 

Bei der Spermatogenese (Fig. 24 untere Reihe rechts) ent- 
stehen dagegen zweierlei Samenzellen, solche, welche den 
einfachen Chromosomensatz mit X und solche, welche den ein- 
fachen Chromosomensatz mit Y führen. Daraus folgt, daß bei 
der Befruchtung der Eizelle durch die zweierlei Sorten von 
Samenzellen sich auch zweierlei Sorten von Tieren erge- 
ben müssen, erstens solche, welche zwei X-Chromosomen 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



63 



haben, d. h. Weibchen ! und zweitens solche, welche einX- 
und ein F-Chromosom haben, d. h. M ännchen! 

Auch bei sehr vielen anderen Organismen — Tieren und 
Pflanzen — ist in entsprechender Weise nachgewiesen, daß ein 
bestimmtes Chromosom für das Geschlecht maßgeblich ist. 
Merkwürdig ist dabei, daß bald das eine, bald das andere Ge- 
schlecht homogametisch ist. Bei Drosophilaund ebenso bei allen 
bisher untersuchten Pflanzen, bei allen Säugetieren und auch 
beim Menschen sind die Männchen XY, die Weibchen XX. Da- 
gegen bei allen bisher untersuchten Schmetterlingen und Vögeln 



Körperteilen der Weibchen 



Körperzellen der Männchen 





x x- 



Eizellen 
1 00 0/0 



x y 

Spermatozoiden 

50 0/0 5o<>'o 






X 



y 



x 



Fig. 24. Chromosomensätze bei Männchen und Weibchen von Drosophila. 

sind die Weibchen XY und die Männchen XX. Bei den Schmet- 
l e r 1 i n g e n und Vögeln werden also einerlei S p e r - 
matozoiden (alle X), aber zweierlei Eizellen (500/0 
X und 50 0/0 Y) gebildet. 

Bei Drosophila und ebenso bei vielen anderen Organismen 
sind die X- und V-Chromosomen deutlich in der Form ver- 
schieden, die V-Chromosomen sind hakenförmig gebogen, die 
X-Chromosomen gerade. Bei anderen Organismen sind die Y- 



64 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Chromosomen deutlich kleiner, bei wieder anderen fehlen 
sie völlig. Hier hat also das homogametische Geschlecht «-Chro- 
mosomen, das hetcrogametische n — i. Das ist z. B. der Fall bei 
der Wanze Anasa tristis. Hier haben die Männchen 2 1, die Weib- 
chen 22 (Fig. 19) Chromosomen in den Körperzellen. Von den 
Spermatozoiden hat die eine Hälfte /ö, die andere //Chromo- 
somen, alle Eier haben n Chromosomen. Die Vereinigung 
eines Eies (1 1 -chromosomig) mit einem 10-chromosomigenSper- 
matozoid gibt ein Tier mit 21 Chromosomen d. h. ein Männ- 
chen, die Vereinigung eines Eies (//-Chromosomen) mit einem 
/ /-chromosomigen Spermatozoid gibt ein 22 -chromosomiges 
Tier, d. h. ein Weibchen. 

Die Geschlechtschromosomen sind aber nicht bei allen 
Organismen als solche leicht erkennbar, d. h. X- und K-Chro- 
mosomen können offenbar auch morphologisch sehr ähn- 
lich oder gleich sein, das ist wahrscheinlich auch gerade 
beim Menschen der Fall. Nach den ganz eindeutigen Befunden 
bei denjenigen Pflanzen und Tieren, wo die Geschlechtschromo- 
somen unterscheidbar sind, ist aber kein Zweifel mehr berech- 
tigt, daß ganz allgemein der Unterschied zwischen Männchen 
und Weibchen durch ein bestimmtes Chromosomenpaar, eben 
die G e s c h 1 e c h t s c h r o m o s o m e 11 bedingt ist. 

Die Geschlechtschromosomen haben nun eine sehr wichtige 
Eigentümlichkeit: Bei den meisten Organismen sind die Y- 
Chromosomen völlig wirkungslos, d. h. in ihnen liegende 
„Erbfaktoren" äußern sich nicht. 

Das hat sehr wichtige Konsequenzen für den Erbgang 
von Eigenschaften, che von Erbfaktoren beeinflußt werden, 
welche im Geschlechtschromosom liegen. Wir finden dann die 
zunächst schwer verständliche Erscheinung der „Geschlechts- 
gebundenen Vererbung", die auch gerade beim Men- 
schen eine große Rolle spielt. Wir lernen die Gesetzmäßigkeit 
der geschlechtsgebundenen Vererbung am besten an einem über- 
sichtlichen Beispiel von Drosophila kennen. Hier liegt z. B. der 
Faktor W, der die dunkle Augenfarbe ermöglicht — alle ww- 
Tiere sind w e i ß äugig — im Geschlechtschromosom. 

Kreuzt man ein normales rotäugiges Weibchen mit einem 
weißäugigen Männchen, so bestellt die F r Gcneration aus rot- 
äugigen Männchen und aus rotäugigen Weibchen. Die F ä -Gene- 
ration, erhalten durch gegenseitige Paarung der F 1 Tierc, besteht 
aus rotäugigen Weibchen und aus rotäugigen und aus weiß- 
äugigen Männchen. 



2. DIE VARfAT/ONSERSC/iEINUNGEN. 



65 



Ziemlich genau die Hälfte der Männchen ist rotäugig, die 
andere weißäugig. Der weißäugige Großvater hat also seine 
Augenfarbe vererbt auf die Hälfte seiner Enkel, aber 
auf keine Enkelin. Diese Vererbungsweise wird mit Hilfe des 
nachstehenden schematischen Stammbaumes (Fig. 25) wohl 
ohne weiteres verständlich. 



dunkeläugiges Weibchen X weißäligigcs Männchei 



P t -Tiere 



alle Eizellen 



Spermatozoiden lCÜS ö 1 deren 

8 teils § /Gameten 

Bei. der Befruchtung sind folgende Kombinationen möglich; 
Eizelle | trifft Jj ergibt dunkeläugiges Weibchen I fj | 

| .. ß 1 » „ „ Männchen | ß> f F i-Tiere 

Bei der Befruchtung der F r Ticre untereinander sind folgende 
Kombinationen möglich ; 

Fi -Weibchen 



X 



Fi-Männchen 



5o n /'ti Eizellen g 
5°°/o ,. [} 

Eizelle I trifft 



500/0 Spermatozoiden 

50% 

ergibt dunkeläug. Weibchen § 

,, ,, Männchen I 

Weibchen | 

weißäugig. Männchen fj 



Gameten 
d. F r Tiere 

F 2 - 
' Kombina- 
tionen 



Fig. 25. Sclicma einlacher geschlechtsgebundener Vererbung. 1 be- 
deutet X-Chromosom mit dem Faktor W, [} bedeutet A'- Chromosom mit w, 
^ bedeutet K- Chromosom mit W, ^ bedeutet V-Chromosom mit w. Man 
erinnere sich daran, daß W im K- Chromosom unwirksam ist. 

Die eigentümliche Vererbungsweise der Augenfarbe ist also 
auf Grund der Koppelung ohne weiteres zu verstehen. 

In F 2 dieser Kreuzung treten keine weißäugigen Weibchen 
auf, aber es ist möglich, weißäugige Weibchen auf einem 
anderen Wege zu erhalten. Kreuzt man nämlich eine Anzahl 
der inF 2 der eben besprochenen Kreuzung erhaltenen dunkel- 
äugigen Weibchen mit w e i ß ä u g i g e n M ä n n c h e n, so 
werden in der FI ä 1 f t e dieser Paarungen dunkeläugige 
und weißäugige Weibchen und dunkeläugige un d weißäugige 
Mannchen zu gleichen Teilen entstehen. Das hängt folgender- 

Biiur-Fiselicr- I, enz I. 5 



66 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



67 



maßen zusammen. Die Hälfte der F 2 -Weibcben. des erstbe- 
sprochenen Versuches hat den Chromosomensatz § [] , und 
diese Tiere, gepaart mit Q ff -Männchen, werden folgende 
Kombinationen ergeben : 

| trifft ß ergibt dunkeläugige Weibchen, 
| „ § „ „ Männchen 

Q „ (] „ weißäugige Weibchen, 
Ö „ § „ „ Männchen. 

Es müssen also auf Grund dieser theoretischen Vorstellun- 
gen hier beiderlei Männchen und beiderlei Weibchen zu 
gleichen Teilen gebildet werden, ganz so, wie es im Versuch 
auch gefunden wird. 

Die reziproke Kreuzung zu unserem ersten Versuch (Fig. 25 ), 
d.h. weißäugiges Weibchen X dunkeläugiges Männchen ergibt 
in F 1 nur dunkeläugige Weibchen und weißäugige Männchen. 
In F g treten beiderlei Weibchen und beiderlei Männ- 
chen in gleicher Häufigkeit auf. Das sei ebenfalls an einem 
Schema abgeleitet (Fig. 26) : 



weißäugiges Weibchen 



X 



dunkeläugiges Männchen 



P r Tiere 



alle Eizellen 



Spermatozoiden 



teils 



teils 



deren 
(Gameten 

Bei der Befruchtung sind folgende Kombinationen möglich: 
Eizelle fl trifft g ergibt dunkeläug. Weibchen f] 

II „ |> „ weißäugig. Männchen*) fl 

Bei der Befruchtung dieser F,-Tiere untereinander sind folgende 
Kombinationen möglich: 

Fj-Weibchen X Fj-Männchen 



F t -Tiere 



500/ü Spermatozoiden fj I Gameten 

50% ,. fl jdF 1 -Tierc 

Eizelle fl trifft Spermatozoid fl ergibt weißäugig, Weibch. fj fl 
II .. * .. .. Mannen, fl 



50% Eizellen fl 

50°/« „ 3 



fl „ dunkeläug. Weibch. | fj 
S* ,, ,, Männch. I §? 



F2- Kombi- 
nationen 



Fig. 26. Geschlechtsgebundene Vererbung. Ausgangskreuzung rezi- 
prok zu der in Fig. 25 dargestellten. Zeichen wie in Fig. 25. 

*) W in K- Chromosom ist unwirksam! 



Genau nach diesem Schema verläuft auch beim Menschen 
der Erbgang zahlreicher geschlechtsgebundener Eigenschaften. 
Das sei in der gleichen schematischen Weise z.B. für die Rot - 
Gr üii -B 1 indhe i t gezeigt. Diese Störung des Farbensehens 
beruht auf einem rezessiven, im Geschlechtschromosom liegen- 
den Faktor R. Alle /r-Menschen sind rotgrünblind. 

Die möglichen Kreuzungen sind in der nachstehenden 
Figur 27 dargestellt: 



X 



Pi 



Gameten 
Fi 



norrmüsichtige Frau rotgrünblinder Mann 

alle Eizellen g 50 0/0 Spermatozoiden fj j deren 

50°/" » (f 

Das muß in F x ergeben: 

50% | [j 500/0 | g> 

nonnalsichtige Töchter normalsichtige Söhne 

Heiratet" nun eine von diesen normal sichtigen, aber he terozy go- 
tischen Töchtern einen normalsichtigen Mann, so haben wir folgendes: 

nonnalsichtige Frau normalsichtiger Mann 

50 0/0 der Eizellen | 500/0 der Spermatozoiden | 1 deren 

50% ,. „ [) 50% „ „ fl I Gameten 

Diese viererlei Gameten können sich in dezi folgenden vier Kom- 
binationen vereinigen: 
Eizelle g trifft Spermatozoid I ergibt (homozygot.) normal sich t.To cht. g | 

j] ,, | ,. heterozygot. ,, Tocht. g [1 

(1 „ $ „ rotgrünblinden 1 ) Sohn (1 & 



Fig. 27. Erklärung im Text. 
Bringen wir das Ganze in Stammbaumform, so haben wir 

normalsichlige Frau X rotgrünblinder Mann 

Söhne und Töchter alle normalsichtig 

4- 

Tochter ans dieser Ehe X normalsichtiger Mann 



alle Töchter normalsichtig, aber die 
Hälfte der Söhne rotgrünblind 

Hier wird also die krankhafte Veranlagung des Mannes 
bei seiner Ehe mit einer homozygotisch-gesunden Frau an den 

1 ) Weil R im F-Chromosom wirkungslos istl 

5"* 



68 



ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



69 



Kindern sich n i c h t äußern, aber alle äußerlich ganz gesunden 
Töchter aus dieser Ehe übertragen die Krankheit auf die Hälfte 
ihrer Söhne aus Ehen mit gesunden Männern. Man kann das 
auch so formulieren: Äußerlich gesunde Töchter eines ge- 
schlechtsgebunden erblich kranken Mannes bekommen auch 
von völlig gesunden Ehemännern stets 50 o/o Söhne, welche die 
Krankheit ihres Großvaters zeigen. Von ihren Töchtern (den 
Enkelinnen des kranken Großvaters) übertragen 50 0/0 die 
Krankheit wieder auf die Hälfte ihrer Söhne usw. 

Man hat diesen Erbgang beim Menschen in vielen Fällen 
durch mehrere Generationen verfolgen können. 

Heiratet eine — äußerlich normalsichtige — Tochter eines 
rotgrünblinden Vaters einen rotgrünblinden Mann, dann 
treten auch rotgrünblinde weibliche Nachkommen auf, wie 
Fig. 28 ergibt: 



normal sichtige helerozygotische Frau 



rotgrünblinder Mann 



Eizellen 50 0/0 | Sperma tozoiden 50 /o j] 

50 0/0 j „ 5°% (J 

Eizelle I trifft Spcrrnatozoicl fl ergibt normal sichtige Tochter | 

1 ri R> „ normalsichtigcn Sohn I 

fl "0 " rotgrünblinde Tochter jj 

\\ it ,, {$ ,, rotgrünblinden Sohn fl 



Fig. 28. 

Heiratet eine von diesen rotgrünblinden Töchtern einen 
normalsichtigen Mann, so haben wir folgendes (Fig. 29) : 



rotgrünblinde Frau 



Eizellen 



X 



normalsichtigcr Mann 



Spermatozoiden 



50% 
50 °/o 



Eizelle fj trifft Spermatozoid g ergibt normal sichtige Tochter 
n ,, f 1 i> rotgrünblinden Sohn 



Fig. 29. \ 

Hier vererbt also die Mutter die Mißbildung auf alle ihre } 

Söhne, während alle Töchter (freilich alle nur heterozygo- ~ 

tisch!) normalsichtig sind. ! 



Auch solche Fälle des Erbganges kennen wir beim Men- 
schen (vgl. Abschnitt Lenz). Überhaupt waren Falle geschlechts- 
gebundener Vererbung beim Menschen gut bekannt, lange 
ehe der eigenartige Erbgang durch die Tier-Experimente ver- 
ständlich gemacht wurde. 

Der Geschlcchtsuntcrschied hat auch einen starken Einfluß 
auf den Faktorenaustausch (Crossing over) (S. 53). Bei 
vielen Organismen, z. B. bei Drosophila findet ein Faktorenaus- 
tausch nur im weiblichen Geschlecht, d. h. bei der Bildung 
der Eizellen statt, im männlichen Geschlecht, d. h. bei der Bil- 
dung der Spermatozoiden, unterbleibt er völlig, hier zeigen alle 
im gleichen Chromosom lokalisierten Faktoren untereinander 
eine absolute Koppelung. Das zeigt sich in dem auf S. 48 
besprochenen Falle z.B. sehr deutlich. Wir hatten dort eine Kreu- 
zung vorgenommen zwischen einer Rasse bbVV schwarz normal- 
flügelig und einer anderen BBvv wildfarbig stummelflügclig. Die 
beiden Faktoren B und V liegen im gleichen Chromosom und 
zeigen dementsprechend Koppelung. Wenn wir ein Bastard- 
weibchen aus dieser Kreuzung mit einem doppeltrezessiven 
Männchen bbvv rückkreuzen, dann ergibt sich aus der Zusam- 
mensetzung der Nachkommenschaft, daß diese Weibchen vie- 
rerlei Eizellen BV , Bv, bV , bv . im Verhältnis 1 : 5 : 5 : 1 bil- 
den. Ganz anders liegen die Dinge bei elenMänncheiv- Kreuzen 
wir ein Fj -Männchen mit einem doppeltrezessiven Weibchen, 
dann bekommen wir nur zweierlei Typen in der Nachkom- 
menschaft, nur wildfarbige stummelflügelige und schwarze nor- 
malflügelige. Daraus folgt, daß die F 1 -Männchen nicht die 
viererlei Gameten BV, Bv, bV, bv bilden, sondern nur die 
beiden Gametensorten Bv und bV. Diejenigen Gameten - 
typen, die nur durch Faktorenaustausch entstehen können 
(BV und bv), fehlen hier völlig, d. h. es findet im männlichen 
Geschlecht kein Faktorenaustausch statt. 

Das gilt aber nicht für alle Organismen. Zunächst haben 
wir bei dem Seidenspinner einen Faktorentausch nur im Männ- 
chen, aber nicht im Weibchen. Das ist insofern nicht unerwartet, 
als beim Seidenspinner das Männchen homogametisch, das 
Weibchen heterogametisch ist. Ferner wissen wir, daß bei den 
Ratten in beiden Geschlechtern ein Faktorenaustausch statt- 
findet, aber im Männchen weniger häufig als im Weibchen. 
Wie sich in dieser Hinsicht der Mensch verhält, ist noch nicht 
bekannt. 



70 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERDLEHRE. 



Außer durch Koppelung mancher Erbfaktoren mit dem Ge- 
schlcchtsfaktor kann auch sonst noch die Geschlechtsvererbung 
Verwicklungen mit sich bringen. So kann z. B. die Dominanz 
einer Eigenschaft in den beiden Geschlechtern verschieden sein, 
oder es kann irgendein Erbfaktor sich nur in dem einen Ge- 
schlecht äußern, im anderen aber wirkungslos bleiben, das hat 
dann zur Folge, daß z. B. zweierlei Rassen von Weibchen unter- 
scheidbar sind, daß aber die zugehörigen beiden Männchen 
äußerlich nicht verschieden sind, trotzdem aber die Rassen- 
merkmale der Weibchen ihrer Rasse vererben. Es würde aber 
zu weit fähren, diese Fälle hier alle zu besprechen, es muß 
hierfür auf die besondere Fachliteratur verwiesen werden. 



Daraus, daß das Geschlecht nach den Spaltungsgesetzen 
vererbt wird, geht auch hervor, daß es für jedes einzelne 
Individuum im Augenblick der Befruchtung b e - 
s t i m m twircl. Alle Eizellen sind beim Menschen geschlecht- 
lich gleich veranlagt, von den Spcrmatozoiden überträgt die 
eine Hälfte die Veranlagung für männlich, die 
a n d e r e d i e V e r a n 1 a g u n g f ü r w e i b 1 i c h. Danach müßte 
regelmäßig das Geschlechtsverhältnis i : i erwartet werden. Es 
ist aber bekannt, daß das Verhältnis von Mädchengeburten zu 
Knabengeburten durchaus nicht i : i, sondern z. B. in Deutsch- 
land loo : 105,2 ist. Nimmt man nicht bloß das Verhältnis der 
lebendgeborenen Kinder, sondern berücksichtigt man alle 
Totgeburte n und alle Aborte, bei denen das Geschlecht 
schon bestimmbar ist, so bekommt man sogar schon das Ver- 
hältnis iooMädchengeburten : fast 150 Knabengeburten. Woher 
diese Verschiebung des Gescblcchtsverhältnisses rührt, wissen 
wir nicht. Sic kann z. 13. dadurch bedingt sein, daß von den 
beiderlei Spermatozoiden, die jeder Mann erzeugt, die männlich 
bestimmten besser geeignet sind,- den. langen Weg von der 
Scheide zum Ovidukt zurückzulegen, d. h. daß hier eine Art 
Auslese stattfindet. Eine gründliche experimentelle Untersu- 
chung dieser Frage wäre auch praktisch von der größten Wich- 
tigkeit, weil nach allem, was wir heute über che Gcschlechtsver- 
erbung wissen, beim Menschen nur hier sich Möglichkeiten 
finden lassen, das Geschlechtsverhältnis willkürlich zu ver- 
ändern, d. h. mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Ge- 
schlecht eines zu zeugenden Kindes zu beeinflussen. 

Wir wissen jedenfalls aus denUntersuchungen vonA.Bluhm, 
daß bei Mäusen aus Paarung chronisch alkoholisierter Mann- 



'2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



71 



eben mit nicht alkoholisierten Weibchen wesentlich mehr Männ- 
chen hervorgehen, als wenn die Väter nicht alkoholisiert waren. 
Wahrscheinlich sind also die beiderlei. Sorten von Spermato- 
zoiden ungleich alkoholempfindlich. 

Daß es gelingt, nach der Befruchtung noch das Geschlecht 
eines Embryos beim Menschen umzuändern, ist wenig wahr-- 
scheinlich. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, daß wenn man bei 
ganz jungen Embryonen mit noch nicht erkennbarer Ge- 
schlechtsdifferenzierung Hormone der ausgebildeten Geschlechts- 
drüsen in die Blutbahn bringt, eine gewisse teilweise Umstim- 
mung möglich ist, aber es dürften doch wohl nur mehr oder 
weniger ausgesprochene Hennaphroditen auf diese Weise ent- 
stehen, ähnlich wie die Zwicken beim Rind. Es würde jedoch 
zu weit von unserem Thema abführen, wenn wir diese Fragen 
hier ausführlich besprechen würden, ich muß deshalb auch 
hier auf die engere Fachliteratur verweisen. 

Wieder eine andere Frage ist es, wie weit man bei höheren 
Säugetieren und beim Menschen die „sekundären" Geschlechts- 
merkmale und die Geschlechtsinstinkte nachträglich verändern 
kann. Allgemein bekannt ist zunächst der Einfluß der Ka- 
stration. Ebenso wie durch frühzeitige Entfernung der Ge- 
schlechtsdrüsen bei den Wirbeltieren ganz allgemein eine starke 
Veränderung des Körperbaues und des Charakters bewirkt wird 
--Bulle: Ochs, Hengst: Wallach, Eber : Pork, Hahn: Kapaun, 
Huhn : Poularde — so bewirkt auch beim Menschen die Ka- 
stration des Mannes den Eunuchentyp und -Charakter. Durch 
Entfernung der Geschlechtsdrüsen und Einheilung der Drüsen 
des anderen Geschlechts, also z. B.- Kastration eines männli- 
chen Meerschweinchens und Implantation eines Ovars in die 
Bauchhöhle kommen die andersartigen Geschlechtshormone in 
die Blutbahn und das Tier wird in seinem Körperbau und seinen 
Geschlcchtsinstinkten deutlich umgestimmt. Derartige „ver- 
weiblichte" Meerschweinchenmännchcn entwickeln Milchdrü- 
sen, beginnen zu säugen und zeigen auch sonst deutlich weib- 
liche Eigenschaften. 



Nur d i e j e n i g e 11 R a s s e n u n t e r s c fi i e d e vererben 
sich nach den S p a 1 1 u n g s g e s c t z e n, deren entwick- 
1 u n g smechanische U rsac h e kleine Unterschiede 
im Bau homologer Genomeren sind. Eine Mendel- 
Spaltung erfolgt auch nur da, wo der ganze verwickelte Appa- 
rat des Genomerenaustausches, der Chromosomenverteilung 



72 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



usw., d. h. der ganzeMcchanismus der R c cl u k t i o n s - 
t eilung ungestört arbeitet. Sobald aber Rassen gekreuzt 
werden, die so große Unterschiede im Kernbau, in der Chro- 
mosomenzahl usw. aufweisen, daß dieser Mechanis- 
mus irgendwie gestört ist, wird auch die Mendelspal- 
tung gestört. Wir finden deshalb, daß stark verschiedene 
Spezies sich zwar häufig noch kreuzen lassen, auch noch frucht- 
bare Bastarde geben, aber die weitere Vererbung erfolgt nach 
völlig anderen, je nach dem Einzelfall immer 
wieder verschiedenen G e s e t z m ä ß i g k e i t e n. 

Dementsprechend finden wir bei Kreuzung nahe verwandter 
Arten, welche in der Chromosomenzahl übereinstimmen und wo 
die Artunterschiede nur im Chromosomenbau bedingt 
sind, in F 2 -Spaltungen, die ganz denen bei komplizierten Rassen- 
kreuzungen gleichen. Im allgemeinen ist aber die Aufspaltung 
so ungeheuer bunt, daß unter Tausenden von F L ,-Typen keine 
zwei völlig gleiche gefunden werden. Eine Faktorenanalyse 
im einzelnen ist nicht möglich. 

Es ist daher die Feststellung von Interesse, daß auch 
bei Kreuzung von Arten, deren jede einen in sich ausgegli- 
chenen anatomisch und physiologisch völlig normalen, gut 
lebensfähigen Typ darstellt, in F ä sehr viele Kombinations - 
typen auftreten, die völlig unlia r moni.se h sind. Eine in den 
spanischen Gebirgen in Felsritzen wachsende Löwenmaulart hat 
z. B. eine ganz schwach entwickelte Hauptachse, und die sehr 
langen Seitenäste wachsen vom Licht weg und pressen sich 
deshalb in höchst zweckmäßiger Weise dicht an die Felswand 
an. Eine andere Art wächst in Erde, an Böschungen u. clgl., sie 
hat eine deutliche, kräftige, etwa i m hohe aufrechte Haupt- 
achse und relativ kurze Scitenäste, die ebenfalls aufwärts 
wachsen. Aus der Kreuzung dieser beiden Arten treten nun in 
F 2 alle erdenklichen sonderbaren Kombinationstypen auf. Z. J3. 
ein Typ mit einer langen aufrechten Hauptachse, und dazu 
langen, vom Licht weg, d. h. abwärts wachsenden, sich 
dicht an die Hauptachse anlegenden Scitenästen. Diese Pflan- 
zen stehen, wie einmal im Scherz gesagt wurde, da wie ein vicl- 
armiger Buddha, der mit den Händen an der Hosennaht stramm 
steht, Die Äste und Blätter ersticken sich gegenseitig, diese 
Pflanzen sind also denkbar unzweckmäßig gebaut. 

Weiter ist für die menschliche Erblehre wichtig, daß es oft 
gelingt, aus der Kreuzung einer geographischen Rasse x mit 
einer andern geographischen Rasse y in F 2 Typen zu bekom- 



'2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



73 



men, welche mit einer dritten geographischen Rasse z fast völ- 
lig übereinstimmen. 

Entsprechend ist zu erwarten, daß aus der Kreuzung ge- 
wisser Menschenrassen Kombinationstypen entstehen können, die 
in einigen Eigenschaften völlig einer dritten Rasse gleichen. 
Wenn man z. B. eine Menschenrasse, die etwa dem Idealbild 
der „westischen" Rasse entspricht, mit einer anderen vom 
Typus der „fälischen" Rasse kreuzt, dann wären in F 2 
Kombinationstypen zu erwarten, welche in ganz bestimmten 
Merkmalen mit dem Idealbild der nordischen Rasse überein- 
stimmen. Damit soll aber nicht etwa gesagt sein, daß der als 
nordische Rasse bezeichnete Bestandteil unseres Volkes aus 
einer solchen Kreuzung entstanden sei. 

Kreuzungen zweier stark verschiedener Menschenrassen, 
etwa Europäer und Hottentotten, oder Mongolen und Neger, 
verlaufen, soweit man nach dem recht spärlichen bisherigen Be- 
obachtungsmaterial urteilen kann, ungefähr so, wie Kreuzungen 
zwischen zwei miteinander völlig fruchtbaren, nahe verwandten 
Spezies. 

Beobachtungen an entsprechenden Kreuzungen, z. B. zwi- 
schen zwei nahe verwandten Arten der Gattung Antirrhinum, zei- 
gen nun, daß hier Störungsmomente in Betracht kommen, die 
wir von Rassenkreuzungen innerhalb einer ,, Spezies" nicht ken- 
nen. Zunächst scheint zwischen artfremden Chromosomen der 
Faktorenaustausch (das crossing-over) erschwert, d. h. die Kop- 
pelungen sind enger. Noch wichtiger ist aber die Beobachtung, 
daß das Nebeneinanderlicgen zweier artfremder Chromosomen 
anscheinend mutationsauslösend wirken kann (vgl. S. 8i). 
In der Nachkommenschaft von solchen Bastarden treten nicht- 
bloß Neukombinationen der ursprünglichen P r Eigenschaftcn 
auf, sondern es finden sich sehr viele neue rezessive Faktoren, 
in denen beide P r Arten homozygotisch dominant sind. D i e 
meisten dieser neuen Faktoren bedingen homo- 
zygotisch je eine neuartige Mißbildung. 

Alles dies gilt, wie vorhin schon gesagt, nur für Kreuzung 
zweier einander sehr nahe stehender Arten. Die M ehr- 
zahl der Artbastarde verhält sich aber anders. 

Die Besprechung der ganzen Frage der Art-Bastarde dieser 
zweiten Gruppe kann aber an dieser Stelle schon aus dem 
Grunde unterbleiben, weil bei der Kreuzung der verschiedenen 
Menschenrassen, nach allem was wir wissen, Im wesentli- 
chen eine Vererbung nach den Spaltungsgesetzen er- 



74 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



folgt. Über Kreuzungen von Menschen mit ferne rs teilenden 
Arten, etwa den nächstverwandten Menschenaffen ist nichts be- 
kannt. Dahinziclcnde Experimente wären mit Hilfe künstlicher 
Befruchtung wohl möglich, es ist aber sehr wenig wahrschein- 
lich, daß eine solche Kreuzung ein lebensfähiges Erzeugnis er- 
geben würde, trotzdem wäre die Durchführung entsprechender 
Versuche erwünscht, ehe die Menschenaffen völlig ausgerottet 
sind. 

Eine Vererbung nach anderen Gesetzen als den Mendcl- 
schen ist auf Grund der hier vorgeführten, theoretischen Vor- 
stellungen über die zytologische Ursache der Mendelspaltung 
auch hei Rassenkreuzungen innerhalb einer ,,Art" zu erwar- 
ten für alle Rassenunterschiede, die nicht in den Chromosomen, 
sondern irgendwo anders im Idioplasma ihre Grund- 
lage haben. Verschiedenheiten im Bau des Faclengerüstcs des 
Zellkerns, im Bau der Zentrosomen usw. müssen ja auch irgend- 
welche Verschiedenheiten an den fertigen Organismen mit sich 
bringen. Nun kennen wir allerdings bei vielen Pflanzen ein- 
zelne Rassenverschiedenheiten, die ganz bestimmt nicht men- 
cleln, auch wenn alle anderen Unterschiede der betreffenden 
Rassen den Spaltungsgcsctzcn unterliegen. Wir haben auch ge- 
wisse Anhaltspunkte dafür, daß z. B. einige solche nicht men- 
delnde Verschiedenheiten durch den Bau der Chromatophoren 
(Farbstoffträger) bedingt sein müssen. Sehr viele Beobachtun- 
gen an Pflanzen weisen darauf hin, daß erbliche Unterschiede 
in der Vitalität nach derartigen anderen Gesetzmäßig- 
keiten vererbt werden, d. h daß hier die entwicklungsmechani- 
sche letzte Ursache der betreffenden Verschiedenheiten irgend- 
wo außerhalb des Zellkerns zu suchen ist. Im großen und 
ganzen weiß man hierüber heute noch so wenig Sicheres, 
daß hier die eingehende Besprechung auch dieser Frage wohl 
unterbleiben kann. Das ist um so eher möglich, als man beim 
Menschen über sicher nicht mendelnde Rassenunterschiede 
überhaupt nichts weiß. Es genügt wohl, wenn man sich immer 
daran erinnert, daß die Mendels chen Spaltungsge- 
setze nicht ausnahmslos gelten, und daß man 
früher oder später auch beim Menschen auf V e r - 
erbungserscheinungenstoßenwird, d i e s i c h d i e - 
se n Gesetze n nie htfü gen. 

Fassen wir das über die Kombinationen Besprochene noch 
einmal kurz zusammen: Eine zweite Hauptursache dafür, daß 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



15 



die Kinder eines Elternpaarcs verschieden sind von den Eltern 
und auch unter sich, besteht darin, daß bei der geschlechtlichen 
Fortpflanzung meistens zwei verschiedene Idioplasmen, Ver- 
erbungscinrichtungen oder, wie man das sonst heißen will, sich 
vereinigen, und daß bei der Geschlechtszcllbildung der Bastarde 
diese verschiedenen Vererbungseinrichtungen sich nach sehr ver- 
wickelten Gesetzen und Regeln auf die einzelnen Zellen ver- 
teilen. Es entstehen in der Nachkommenschaft zweier gekreuz- 
ter Individuen alle möglichen Neukombination e n der 
ursp dinglichen Unterschiede. 

Die Neukombination verläuft für die große Mehrzahl aller 
Rassenunterschiede nach den von G r e g o r M e n. d e 1 entdeck- 
ten Regeln, die freilich im Laufe der letzten Jahre eine sehr 
starke Ausgestaltung erfahren haben. Einzelne Rassenunter- 
schiede und sehr viele Artunterschiede vererben und kombi- 
nieren sich aber nach anderen zum Teil sehr wenig bekannten 
Gesetzen. 

Das ständige kaleidoskopartige Entstehen 
und Vergehen von Neukombinationeri einer g e - 
w i s s e n Z ah 1 von ursprünglichen Rassenunter- 
schieden ist die Hauptursache für d a s erbliche 
Variieren bei den sich geschlechtlich f o r t p f 1 a u- 
z e n d e n O r g a n i s m c n. D a s g i 1 1 a u c h g crade f ü r d c n 
M ensche n. 



c) Die Mutation (Idiovariation). 

Durch die immer wieder andere Kombinierung einer ge- 
wissen Zahl von Erbfaktoren ist, wie wir im vorhergehenden 
Kapitel gehört haben, eine ungeheure Variationsmöglichkeit ge- 
geben, und es ist von mehreren Biologen allen Ernstes die An- 
sicht vertreten worden, daß überhaupt alle erblichen Variatio- 
nen im Grunde genommen Kombinationen seien. Das ist aber 
gewiß nicht der Fall. Es gibt große Klassen von Orga- 
nismen, so die Bakterien, die blaugrünen Algen (Cyanophy- 
ceen), viele Algen und sehr viele Fadenpilze, die sich überhaupt 
nur ungeschlechtlich fortpflanzen, und trotzdem findet eine 
Entstehung erblich verschiedener neuer Rassen auch hier statt. 
Ganz abgesehen davon kann aber heute gar kein Zweifel daran 
bestehen, daß auch bei den sich geschlechtlich fortpflanzenden 
Organismen fortwährend unter unseren Augen neue erbliche 
Unterschiede entstehen. 



76 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN. 



77 



Ob irgendein erblich von seinen Eltern und von seinen Ge- 
schwistern verschiedenes Individuum nicht bloß eine neue viel- 
leicht infolge von Koppelung oder aus anderen Ursachen nur 
selten vorkommende Kombination von schon vorher existieren- 
den Erbfaktoren ist, ob vielleicht eine unregelmäßige Spaltung 
vorliegt, oder ob ein neuer bisher nicht vorhandener Erbfaktor 
aufgetreten ist, kann nur entschieden werden in Stammbaumkul- 
turen von Organismen, die durch jahrzehntelange Erbanalyse 
sehr genau bekannt sind. Daß über Mutationen so viele falsche 
Vorstellungen verbreitet sind, hängt eben damit zusammen, daß 
nur sehr wenige Organismen bisher genügend genau unter- 
sucht sind. 

Sichten wir das heute bekannte Tatsachenmaterial streng 
kritisch, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Bei jeder bisher 
genügend daraufhin beobachteten Organismenart treten aus 
meist ganz unbekannten Ursachen und in sehr ungleicher Häu- 
figkeit einzelne Mutationen auf. Die große Mehrzahl davon 
beruht darauf, daß ein neuer m e n cl c 1 n d c r E r b f a k t o r , 
ein neues „Gen" entsteht. Meistens zeigt bei Kreuzung 
der neuen Sippe mit der Stammrasse die Eigenschaftsausbil- 
dung der Stammrasse mehr oder weniger ausgesprochene 
D ominanz über die neu aufgetretene Eigenschaftsausbildung, 
d. h. die meisten neu durch Mutation entstehenden Erbfaktoren 
sind rezessiv. Aber man kennt auch eine große Zahl von ein- 
wandfreien Mutationen, wo bei der Kreuzung mit der Stamm- 
rasse die neue Eigenschaft dominiert. Sehr viel seltener sind 
bisher Mutationen gefunden worden, deren Unterschiede gegen- 
über der Stammrasse nicht ,,mendeln", sondern in anderer 
Weise vererbt werden. Dieser Befund steht gut im Einklang 
damit, daß, wie wir ja gehört haben, die große Mehrzahl 
aller Rassenunterschiede mendelt, und daß Vererbung von 
Klassenunterschieden nach anderen Gesetzen nur selten ge- 
funden wird. 

Bestimmte Angaben über die Häufigkeit des Mutierens 
können heute nur für ganz wenige Organismen gemacht werden. 
Wenn nicht eine ganz besondere Versuchsanordnung getroffen 
wird, kann stets nur ein kleiner Teil der überhaupt vorkommen- 
den Fälle wirklich auch gefunden und erkannt werden, vor allem 
schon deshalb, weil sicher ein großer Teil aller Mutationen nichts 
anderes als eine Neuentstehung von rezessiven Letalfak- 
tor cn (S.47) darstellt. Man kann nur sagen, daß bei den Or- 
ganismen, die bisher daraufhin einigermaßen durchgearbeitet 



worden sind — das ist nur D rosophila und Antirrhinu m 
— wohl 111 indestens unter je 1 00 Nachkommen eines Eltern- 
paares einige Individuen mutiert sind. Mutationen sind also viel 
häufiger, als man lange Zeit 'geglaubt hat. 

Man bezeichnet heute diese Kategorie von Mutationen als 
„Faktormutationen" und nimmt an, daß der ursächliche Vor- 
gang in einer Veränderung an einem Genom er be- 
steht. Diese Veränderung kann sowohl in diploiclcn wie haploiden 
Zellen erfolgen. Erfolgt eine Faktormutation in einer cliplo- 
iden Zelle, so sind die beiden Chromosomensätze unabhängig 
voneinander, d. h. wenn in einem eine Mutation erfolgt, so 
bleibt im allgemeinen das entsprechende Chromosom im andern 
Satze davon unberührt. Jenach dem Zeitpunkt, in dem eine Fak- 
torenmutation erfolgt, unterscheidet man gametisch und soma- 
tische Mutationen. Auf somatischen Mutationen beruhen wahr- 
scheinlich beim Menschen z. B. einzelne Fälle von gescheckter 
Iris. Somatische Mutationen können bei Pflanzen oft außer- 
ordentlich zahlreich erfolgen. Z. B. beruhen die vielen roten 
Flecken der inFig. 23— 9 abgcbildetenLöwcnmaulblüteauf lauter 
einzelnen somatischen Mutationen, und zwar Rückmutationen 
zum dominanten Typ. Auch für diesen theoretisch sehr inter- 
essanten Fragenkomplex muß aber auf die Fachliteratur verwie- 
sen werden. Faktormutationen sind offenbar auch beim Men- 
schen sehr häufig. Wohl der größte Teil all der vielen erblichen 
Mißbildungen rührt ursprünglich von solchen Faktormutatio- 
nen her. 

Eine zweite Kategorie von Mutationen beruht auf 
Veränderungen im Chromosomeilbestand. Eine Rasse, die 
irgend ein bestimmtes Chromosomenpaar doppelt enthält, ist 
nach dem, was wir bei Pflanzen sicher wissen, deutlich in irgend 
einer Richtung von der Normalrasse verschieden. Dadurch, daß 
ein Chromosomenpaar, oder zwei Paare oder viele oder alle 
Paare zweimal vorhanden sind, erklären sich z.B. beim Stech- 
apfel (Datura) sehr viele neue Rassetypen, die in den Ver- 
suchskulturen entstanden sind. 

Eine dritte Kategorie von Mutationstypen stellt ge- 
wissermaßen eine Art Mittelglied zwischen Mutation und Kom- 
bination dar: Aus Spezieskreuzungen können z.B. in der Gattung 
Oenothera, weitgehend „konstante" Arten entstehen, die aber 
in einem besonders hohen Grade, wahrscheinlich mittels 
Vorgängen, die an Faktorenaustausch erinnern, neue Arten aus 
sich hervorgehen lassen. 



78 



ERWIN BAÜR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Mehr oder weniger klar umrissen können wir auch noch 
weitere Mutations typen heute erkennen, aber wir wissen so 
wenig Sicheres, daß eine ausgiebige Besprechung hier unter- 
bleiben kann. Beim Menschen wird nur ganz ausnahmsweise ein- 
mal eine Mutation als solche auch sicher erkannt werden kön- 
nen. Sehr vieles spricht aber dafür, wie oben schon gesagt 
wurde, daß die Mehrzahl der Mutationen beim Menschen „Fak- 
tormutationen" (Kategorie i) sind. 

Die große Mehrzahl der Faktormutationen ergibt mehr oder 
weniger pathologische Typen, sehr viele sind nur beschränkt le- 
bensfähig, viele können überhaupt nur hetcro zygotisch existie- 
ren (,, Letalfaktoren"). Das ist wohl fast selbstverständlich. Irgend- 
eine „blind" in einem komplizierten Mechanismus, etwa, einer 
Spieluhr, vorgenommene Änderung wird im allgemeinen ja auch 
nur zu einer Störung des Getriebes und nur äußerst selten ein- 
mal zu einer neuen Harmonie führen. 

Über die Ursachen des Mutierens haben die letzten 
Jahre uns eine Fülle von neuem Material gebracht. Vor allem an 
D r o s o p h i 1 a und A n t i r r h i n u m , also an zwei einander 
systematisch sehr fern stehenden Organismen sind im wesentli- 
chen übereinstimmende Erfahrungen gemacht worden. 

Danach haben zunächst die verschiedenartigsten starken 
Reize, Röntgenstrahlen, Temperaturschwankungen, Gifte usw. 
eine Erhöhung dcrHäufigkeit dcrFaktorniutationcn zur Folge. 

Wenn z. B. eine Anzahl junge Löwenmaulpflanzen im ersten 
Keimungsstadium so stark mit Röntgenstrahlen behandelt oder 
so lange in Giftlösungen eingetaucht werden, daß schon ein 
großer Teil der Pflanzen stirbt, dann erholen sich zwar die 
Überlebenden mehr oder weniger rasch und wachsen selber zu 
völlig normalen P flanzen heran, aber in der Nachkom- 
menschaft dieser Pflanzen, in ihrer F-j, F 3 und dann 
weiterhin wieder abklingend finden sich Faktormutanten in sehr 
viel größerer Häufigkeit als in der Nachkommenschaft entspre- 
chender ungereizter Kontrollpflanzen. Auf diese Weise entste- 
hen im wesentlichen die gleichen Mutationstypen, wie sie auch, 
aber seltener „spontan" entstehen. Einige solcher Mutations- 
typen sind in Fig. 30 und 31 abgebildet. 

Es ist im Rahmen dieser kurzen Darstellung nicht möglich, 
auf alle die vielen, heute schon bekannten Einzelheiten, z. B. bei 
Röntgenstrahlen Beziehungen zwischen Strahlenart und Bestrah- 
lungsclaucr zur Steigerung der Mutationsrate oder auf andere 
derartige Sonderfragen einzugehen. 



die v ariat ionserscheinungen. 



79 



Betont sei hier nur, daß ganz offenbar das Idio- 
plasma eben doch für derartige Reize viel emp- 
findlicher ist, als man bisher a 11 g e n o m m e n hatte. 
Für den Menschen folgt daraus, daß die ganze Keimbahn, vor 
allem aber die Sexualdrüsen mit der größten Vorsicht zu behan- 
deln sind. 




Fig, 30. Rechts und links zwei Löwenmaul pflanzen einer infolge von Röntgen- 
bestrahlung entstandenen rezessiven Zwcrgrasse. In der Mitte zum Vergleich 
eine gleich alte normale Pflanze der Ausgangsrassc. 

Eingriffe wie etwa temporäre Sterilisierung von Frauen 
durch Röntgenbestrahlung der Ovarien sind rnö gli chs t zu 
vermeiden. Nach allen Erfahrungen an Pflanzen und Tieren 
ist damit zu rechnen, daß ein großer Teil der Nachkommen 
von so behandelten Frauen heterozygotisch in einem neuen 



80 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE. 



Mißbildungsfaktor oder in einem neuen Letalfaktor ist. Daß 
die Kinder solcher Frauen äußerlich im allgemeinen ge- 
sund und normal sind, beweist gar nichts, weil eben die mei- 
sten Mutanten rezessiv sind und erst in spateren Genera- 
tionen manifest werden, wenn zwei im gleichen neuen Fak- 
tor heterozygotische Menschen sich heiraten. 



Fig. 31. 




a) Blutenstand einer durch Röntgenbestrahlung entstandenen rezessiven 
Defektrasse (scissa). 

b) eine normale Kontrollpflanze. 

Ebenso wie die Häufigkeit von Faktormutationen durch 
starke äußere Reize erhöht wird, hat sich auch für die auf Än- 
derungen der Chromosomenzahl beruhenden Mutationen nach- 
weisen lassen, daß sie durch starke Außenreize begünstigt wer- 
den. Da aber beim Menschen irgend welche Fälle von Hctero- 
ploidie, cl. h. abnormen Chromosomenzahlen nicht bekannt sind, 
darf wohl auch hierfür auf die Spezialliteratur verwiesen werden. 



3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 81 

In letzter Linie müssen die Mutationen die Grundlage 
jeder Stammesentwicklung bilden, ohne sie wäre eine 
Herausbildung neuer Sippen und Rassen und weiterhin Arten 
nicht möglich. Hier handelt es sich aber meist um Mutationen, 
die sehr wenig auffällig sind, um „Kleinmutationen". 

Die Neigung, bestimmte Mutationen häufig entstehen zu 
lassen, wird als Sippencharakter nach den Spaltungsgesetzen 
vererbt. Das könnte man sich so vorstellen, daß gewisse Geno- 
mere einen besonders labilen Bau haben und deshalb besonders 
leicht Mutationen entstehen lassen. Wir kennen z. JB. zwei 
äußerlich nicht unter sc heidbarc unilokale radiäre 
Sippen von Antirrhinum, von denen die eine bisher nie zur 
Normalform zurückmutiert hat, während die andere sehr häu- 
fig diese Rückmutation zeigt. Diese beiden Sippen mendeln 
bei Kreuzung untereinander ganz typisch monofaktoriell. 

Stark mutationsauslösend — und zwar gilt das für Faktor- 
mutationen wie auch für andere Mutationstypen — wirken fer- 
ner, wie früher (S.73) schon gesagt, Kreuzungen zwischen zwei 
sehr stark verschiedenen Rassen. 



Bei Organismen, die sich, wie der Mensch, geschlechtlich 
und durch freie Paarung ,,panmiktisch" fortpflanzen, spielen 
sich dauernd die geschilderten drei Kategorien von Variations- 
erscheinungen nebeneinander und durcheinander ab. 
Die Beurteilung, ob ein Unterschied zwischen zwei Menschen auf 
Modifikation, auf Kombination oder auf Mutation beruht, ist 
meist sehr schwierig, viel schwieriger, als der Laie zunächst 
wohl glaubt. Was vorliegt, kann — wenn überhaupt — meist 
erst durch ein sehrgründliches Studium entschie- 
den werden. Es erscheint notwendig, das am Schlüsse dieses 
Kapitels noch ganz besonders zu betonen. 



3. Der Einfluß der Variationserscheinungen auf die 

Zusammensetzung eines Volkes, die Wirkung von 

Auslesevorgängen. 

Es kann nicht scharf genug betont werden, daß das, 
was einem Volke, etwa den Deutschen oder den Engländern 
oder den Franzosen usw., gemeinsam ist und sie als Volk eint, 
nicht die „Rasse", sondern in erster Linie die gemeinsame 
Spracheund Kultur ist. Rassenunterschiede, etwa die Un- 

Baur-Fiscliet-I,enz I. 6 



82 



ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE. 



terscliiede zwischen den genannten Völkern, sind immer nur 
r e la t i v e Unterschiede insofern, als die Mengenverhält- 
nisse des Gemisches bei den verschiedenen Völ- 
kern etwas verschieden sind, in dem einen Volke sind 
diese, in dem anderen jene Rassenbestandteile zahlreicher. 
Aber auch anthropologische Volksgrenzen in diesem 
Sinne fallen durchaus nicht mit den Sprachgrenzen zu- 
sammen. 

Wenn wir finden, daß in einem großen nach vielen Milli- 
onen zählenden Volke so gut wie nie auch nur zwei Individuen 
einander gleich sind, daß vielmehr in allen Eigenschaften eine 
große „Variabilität" besteht, so beruht das zu einem Teile 
darauf, daß die Einzelindividuen ungleich modifiziert sind (S. 5), 
zum Teil auch darauf, daß ab und zu einzelne neue Mutationen 
erfolgen, in der Hauptsache aber beruht dieses Verschieden- 
sein der Einzelmenschen darauf, daß in einem solchen Misch- 
volke bei jeder Fortpflanzung immer wieder andere Kombi- 
nationen von mendelnden und nicht mendelnden Rassenunter- 
schieden entstehen. 

Da Modifikationen nicht erblich sind, wird durch sie die 
erbliche Zusammensetzung eines Volkes nicht verändert, so 
groß auch der Einfluß der Ernährungsweise, der ganzen 
Lebenshaltung usw. auf den Einzelmenschen sein mag. 

Sehr wesentlich wird dagegen durch Mutationen und 
unter gewissen Voraussetzungen (Auslesevorgänge I) auch durch 
Kombinationen ein Volle in seiner erblichen Beschaffen- 
heit verändert. 

Wenn bestimmte Mutationen, die schwere körperliche oder 
geistige Defekte bewirken, auch nur ab und zu auftreten — 
etwa auf 10 000 Geburten einmal als heterozygotisches Indi- 
viduum — und es würden die Mutanten nicht durch einen 
scharfen Auslese Vorgang ausgemerzt, d. h. vermehrten sie sich 
ebenso stark wie der Volksdurchschnitt, dann würde der 
Prozentsatz der mutierten Individuen dauernd zunehmen, 
es müßte früher oder später eine Zeit kommen, zu der das 
ganze Volk fast nur noch aus Erbkranken besteht. 
Schon die Verhinderung einer natürlichen Ausmerzung, d. h 
der zu weit gehende hygienische und soziale Schutz geistig 
oder körperlich minderwertiger Mutanten, kann zur Entartung 
eines Volkes führen, wenn nicht in irgendeiner Weise dafür ge- 
sorgt wird, daß die Fortpflanzung der Minderwertigen unter- 
bleibt, oder doch schwächer ist, als beim Volks durchschnitt. 



3. DER EINELUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 83 

In der Hauptsache beruht die erbliche Variation innerhalb 
eines Menschenvolkes aber nicht auf Mutation, sondern auf 
Kombination, d. h. auf dem wechselvollen Entstellen und Ver- 
gehen von immer wieder anderen Faktorkombinationen. Zum 
größten Teil handelt es sich wohl dabei um Kombinationen 
nach den Mendelschen Regeln. 

Es ist nun die Frage, was wird aus einer Bastard- 
population im Laufe der Zeit, wie ist sie nach einer längeren 
Reihe von Generationen zusammengesetzt ? Wir wollen diese 
Frage an einem einfachen Beispiel besprechen und einmal an- 
nehmen, wir hätten eine Anzahl F-^Bastarde zwischen einer 
schwarzen (AA) und einer weißen (aa) Kaninchenrasse. Ein 
Pärchen von diesen Bastarden (A a) stecken wir in einen großen 
Käfig und lassen sie sich unter möglichst günstigen Bedingun- 
gen vermehren. Das soll bei ganz unbeschränkter Paa- 
rung eine Reihe von Generationen so weiter gehen, wir wollen 
also auf diese Weise ein großes Volk von Kaninchen heran- 
ziehen, und die Frage ist, wie wird ein solches Kaninchenvolk 
zusammengesetzt sein. Die Antwort lautet: Es werden immer 
ziemlich genau 1 j 4c aller Tiere weiß und 3 / 4 schwarz sein. Wir 
hatten ein weibliches und ein männliches F^Tier in den großen 
Käfig gesteckt. Deren Nachkommenschaft, d. h. die Fo-Gene- 
ration, müßte aus 3 / 4 schwarzen und 1 / i weißen Tieren zusam- 
mengesetzt sein. Nehmen wir etwa an, diese Generation bestehe 
aus im ganzen acht Tieren, und zwar aus : 
einem homozygotischen schwarzen Männchen AA, weiterhin als 

Männchen I, 
zwei he terozy gotischen schwarzen Männchen Aa, weiterhin als 

Männchen II und III, 
einem homozygotischen weißen Männchen aa, weiterhin als 

Männchen IV, 
einem homozygotischen schwarzen Weibchen AA, weiterhin als 

Weibchen a, 
zwei heterozygotischen schwarzen Weibchen Aa, weiterhin als 

Weibchen ß und r, 
einem homozygotischen weißen Weibchen aa, weiterhin als 

Weibchen b 
bezeichnet. 

Zwischen den Tieren sind 16 verschiedene Paarungen 
möglich und gleich wahrscheinlich, können daher als gleich 
oft vorkommend in Rechnung gestellt werden, nämlich : 



84 ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEITSLEH RE. 



a X 


II 


a X 


III 


a X 


IV 


ß X 


I 


ß X 


n 


ß X 


III 


ß X 


IV 


T X 


I 


T X 


II 


T X 


III 


T X 


IV 


b X 


I 


h X 


II 


5 X 


III 


& X 


IV 



Weibchen a x Männchen I wird ergeben 4 / 4 n AA-Tictc 

2 /i n AA-, 2 / i rt Aa-Tierc 
„ t/inAA-y'UnAa-Tiere 
„ i / i n Aa-Tiexe 
,, 3 /i n AA-, z / i n /la-Tiere 
„ 1 / i n AA-, 2 / 4 n Aa, l j i rt aa-Ticre 
„ Vi n AA-, 2 /i n Aa, 1 / i n aa-Tiere 
„ 2 /i rt Aa-, 2 / i n aa-Tiere 
„ 2 /d n AA-, 2 / 4 n Xa-Tiere 
„ 1 / 4 n AA-, 2 / 4 n Aa, 1 / i rt aa-Tiere 
„ 1 / i ß /l/l-, 3 / 4 ß >la, Vi « aa-Tiere 
„ Vi « i4ö-, 2 / i ß aa-Tiere 

Vi" /Sa-Tiere 
„ 3 /i ß -4a-, 2 /<t n aa-Tiere 
„ Vi /z Aa-, 2 /d ß aa-Tiere 
„ 4 / 4 ß aa-Tiere 

Sa. "/ 4 n AA-, 32 /i /z /la-, ie /i « aa-Tiere 
d. h. 4 ß A4-' 8 ß Aa-: 4 ß aa-Tiere 

Die Ergebnisse aller dieser 16 einzelnen möglichen, in 
gleicher Häufigkeit zu erwartenden Paarungen sind in dieser 
Tabelle gleich mit angegeben. Es ist ferner in der Tabelle aus- 
gerechnet, was alle 16 möglichen Paarungen zusammen er- 
geben müssen, und das Ergebnis ist, daß die Nachkommen- 
schaft einer solchen durch freie Paarung sich vermehrenden 
F 2 -Generation von 1 Teil AA-, 2 Teilen Aa-, und 1 Teil aa-Ka- 
ninchen wieder ebenfalls aus 1 Teil AA- : 2 Teilen Aa- 
: 1 Teil aa-K a ninchen bestehenwird, d. h. eine auf diese 
Weise entstandene F 3 -Generation wird genau die gleiche Zu- 
sammensetzung zeigen, wie die F 2 -Generation. Das gleiche gilt 
auch für die nächsten Generationen, und gilt auch, wenn sich 
nicht bloß die Tiere einer Generation untereinander paaren, son- 
dern auch, wenn die Individuen der verschiedenen Gene- 
rationen sich paaren, was ja tatsächlich in einem solchen Ver- 
suche der Fall sein wird. Die gleiche Berechnung läßt sich 
auch anstellen, wenn die F 1 -Bastarde sich in m e h r e r e n Merk- 
malen unterscheiden und verwickelter, etwa nach 9:3:3:1 oder 
27:9:9:9:3:3:3:1 aufspalten ; auch dann werden die folgen- 
den Generationen nahezu die gleiche Zusammensetzung behal- 
ten, wie die Fg-Generation 1 ). Wenn also eine in freier 
Paarung sich vermehrende Bevölkerung aus einer 

i) Ganz konstant bleibt auch bei völliger Ausschaltung jeder Auslese 
eine solche Population nicht, es würde aber zu weit führen, hier die Berech- 
nung abzuleiten. 



3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 85 

F 2 -G eneration nach einer Kreuzung hervorgeht, 
dann wird diese Population immer ungefähr die 
Zusammensetzung zeigen, welche die ursprüng- 
liche F 2 -G eneration schon aufwies, vorausge- 
setzt, daß keinerlei Auslese vor sich geht. 

Der Fall, daß ganze Populationen — etwa die sämtlichen 
Kaninchen einer Insel — nur von einer einzigen, einheitlichen 
F 2 -Generation abstammen, wird nun freilich in der Natur selten 
vorkommen, aber dieses Gesetz gilt auch noch viel weiter. 

Wir können z. B. den eben beschriebenen Versuch etwas 
ändern, und wir wollen einmal in den großen Vermehrungs- 
käfig als Stammtiere für das neue Kaninchenvolk folgende Tiere 
nehmen: zwei homozygotisch schwarze ,4.4-Männchen (I und II 
genannt), zwei homozygotisch schwarze AA- Weibchen (a und 
ß genannt), ein heterozygotisches schwarzes Ai-Männchen (III 
genannt) und ein heterozygotisches schwarzes .4a -Weibchen (y 
genannt). Wenn wir diese sechs Tiere sich beliebig oft ganz 
regellos paaren lassen, dann bekommen wir eine nächste Gene- 
ration, die aus homozygotisch schwarzen, heterozygo tisch 
schwarzen und weißen Tieren besteht im Verhältnis 25 : 10 : 1. 

Die Berechnung gibt die folgende Tabelle : 

Das Weibchen a kann sich paaren mit dem Männchen I und wird geben: 

Vi n schwarze 44-Tiere. 
Das Weibchen et kann sich paaren mit dem Männchen II und wird geben: 

i / i n schwarze A4-Tiere. 
Das Weibchen a kann sich paaren mit dem Männchen III und wird geben: 

2 / 4 n schwarze AA-, 2 / i ll schwarze 4e-Tiere. 
Das Weibchen ß kann sich paaren mit dem Männchen I und wird geben: 

V4 ll schwarze 44-Tiere. 
Das Weibchen ß kann sich paaren mit dem Männchen II und wird geben: 

Vi n schwarze 4A-Tiere. 
Das Weibchen ß kann sich paaren mit dem Männchen III und wird geben: 

Vi n schwarze AA-, Vi >i schwarze 4a-Tiere. 
Das Weibchen y kann sich paaren mit dem Männchen I und wird geben: 

z / i n schwarze AA-, 3 /a 11 schwarze Aa-Tiere. 
Das Weibchen y kann sich paaren mit dem Männchen II und wird geben: 

Vi n schwarze AA-, s /i 11 schwarze /Sa-Tiere. 
Das Weibchen y kann sich paaren mit dem Männchen III und wird geben: 

Vi n schwarze AA-, ä / i rt schwarze Aa, Vi weiße aa-Tiere. 



Das Ergebnis aller möglichen Paarungen: £6 /i schwarze AA, I0 /4 n 
schwarze Aa, Vi " weiße aa-Tiere. 



86 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE. 



Da alle Paarungen die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, 
wird sich als Ergebnis einer sehr großen Anzahl derartiger 
Paarungen eine Population ergeben müssen, in der die Kate- 
gorien AA, Aa und aa im Verhältnis von 25 : 10: 1 stehen, d.h. 
in dem gleichen Verhältnis, das schon in dei*F 2 -Generation vorlag. 

Überlassen wir eine solche Population noch weiter einer 
freien regellosen Vermehrung, so werden auch alle folgen- 
den Generationen nahezu das gleiche Zahlenver- 
hältnis zwischen den weißen und den beiden Sor- 
ten von schwarzen Tieren aufweisen. Man kann so 
leicht für jede beliebige Ausgangsgeneration errechnen, welche 
Zusammensetzung eine daraus hervorgehende Population auf- 
weisen wird. 

■ .Voraussetzung ist dabei, daß keine „Zufuhr von 
fremdem Blut" stattfindet, und daß die verschie- 
denen Kategorien gleich lebens- und fortpflan- 
zungsfähig sind, so daß also kein Aaslesevorgang 
eingreift. 

Wie wird die Sachlage nun aber, wenn dauernd einzelne 
bestimmte Kombinationen ausgemerzt werden oder sich unter- 
durchschnittlich vermehren ? Wählen wir auch hier wieder ein 
einfaches schematisches Beispiel: Wir bringen auf eine Insel 
zwei weibliche blaue Angorakaninchen von der Formel AA XX 
BB CC dd gg vv 1 ) und zwei männliche kurzhaarige wildfarbige 

i ) Erbfaktor Aa. Alle Aß-Tiere können überhaupt keine Haar- und 
Augenfärbung ausbilden, ganz einerlei, was sie im übrigen für eine Erb- 
formcl haben, sie sind weiß mit rötend, h. farblosen Augen, „typische Albinos". 

AA und Aa-T\ere, denen aber der zweite wichtige Pigmentfaktor X 
fehlt (die also xx in der Erbformel haben), sind weiß mit blauen Augen 
(z. B. die „weißen Wiener Kaninchen"). 

Erbfaktor X x. X ist der zweite wichtige Faktor für Farbstoffbiklung, 
zusammen mit A ermöglicht er die Bildung einer gelben Haarfarbe. 

Erbfaktor B b. B ermöglicht die Umwandlung der durch A und X zu- 
wegegebrachten gelben Haarfarbe in ein helles Braun. 

Erbfaktor C c. C verändert die durch A, X und B erzielte braune 
Farbe in B 1 a u. 

Erbfaktor Dd. D macht die durch die übrigen Faktoren bewirkte 
Haarfarbe dunkler. 

AX B c d ist hellbraun. 

A X B c D ist schokoladebraun (die als ,,h a v a n n a f a r b i g" bezeich- 
neten Kaninchen haben diese Farbe). 

AXBCd ist blau (wie die „blauen Wiener"). 

AX BC D ist satt schwarz. 

Erbfaktor Gg. G bedingt, daß die Haare nicht in ihrer ganzen Länge 
gleichmäßig gefärbt sind, sondern bandartig helle und dunkle 



3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 87 



27 
9 
9 
3 
9 
3 



von der Formel AA XX BB CC DD GQ VV. Die F r Genera- 
tion besteht dann aus — 2 ) 'Dd Gg W -Tieren, die alle kurz- 
haarig und wildfarbig sind, und die F 2 -Generation besteht aus 
den nachstehenden Kategorien in den beigefügten Häufigkeits- 
verhältnissen : 

— DGV wildfarbig kurzhaarig 

— DGv „ Angora . . . 
■ — DgV schwarz kurzhaarig 

— Dgv ,, Angora . . . 

— dGV blau-wildfarbig kurzhaarig 

— dGv ,, ,, Angora . 

— dgV blau kurzhaarig 3 

— - dgv ,, Angora 1 

Ohne Auslese wird sich, wie gesagt, das so entstandene 
Kaninchenvolk in dieser bunten Zusammensetzung dauernd er- 
halten. Nehmen wir nun einmal an, es würden bestimmte Kate- 
gorien, etwa alle blau-wildfarbigen An gora-Tiere, 
d. h. alle Tiere von den Formeln — dd GG vv und — dd Gg 
vv vor der Fortpflanzung ausgemerzt. Auch wenn 
diese Vernichtung der blau-wildfarbigen Angora-Tiere ganz 
streng durchgeführt wird, wenn nie ein Tier dieser Art zur 
Fortpflanzung kommt, so würden dennoch immer wieder 
Tiere dieserArt in unserem Kaninchenvolke ge- 
boren werden, weil Tiere dieser Erbformel und dieser Körper- 
beschaffenheit in einer solchen Zucht auch von ganz anders 
aussehenden Eltern erzeugt werden 1 Aber es wird die 
Zahl der blau-wildf arbigen Angora-Tiere in der nächsten Ge- 
neration schon geringer sein. Die nachstehende Tabelle gibt 
die Wirkung einer solchen Ausmerzung der blau-wildfarbigen 
Angora-Tiere wieder. 



Zonen zeigen. Ein Tier von der Formel AX BC D g ist schwarz, 
eines von der Formel AX BC DG ist wildfarbig, wie die wilden Ka- 
ninchen. Entsprechend ist ein Tier von der Formel AX BC d g einheitlich 
blau, eines von der Formel AX BC d G dagegen „blauwildfarbi g", 
d. h. blau im Grundton, aber mit der gebänderten Haarzeichnung der wil- 
den Kaninchen. Ebenso gibt es zu den gelben Tieren entsprechende „gelb- 
wildfarbige" usw. 

Außer in der Haarzeichnung äußert sich G auch darin, daß alle G- 
Tiere einen weißen, oder doch sehr hellen Bauch und eine weiße Unterseite 
des Schwänzchens haben, während alle g g -Tiere Bauch- und Schwanzunter- 
seite ebenso gefärbt haben wie den übrigen Körper. 

V v. Alle vy-Tiere haben Angorahaar. 

2 ) Der — soll (zur Abkürzung der Formel) die für unsere Überlegung 
hier gleichgültigen homozygotischen Faktoren AA XX BB CC andeuten. 



88 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE. 



ii 11 e Auslese müßte die 

Fa- Genera tiou die nachfolgenden 

Kategorien aufweisen 


im 
Verhält- 
nis 


in "/o 
ausgedrückt 


die Ansmerzung 

aller blau wild - 

f arbige u Angora- 

Tiere gibt das 

Verhältnis 
(auch in "l<< aus- 
gedrückt) 


d. Ii. Zunahme 
oder Abnahme 

in °/o 


wildfarbig kurzhaarig . . 


27 


42,18 


44,44 


+ 2,26 


,, Angora . . . 


9 


14,06 


13,82 


— 0,24 


schwarz kurzhaarig . . . 


9 


14,06 


14,67 


+ 0,61 


„ Angora .... 


3 


4,69 


4,46 


— 0,23 


blau-wildfarbig kurzhaarig 


9 


14,06 


13,82 


— 0,24 


„ Angora 


3 


4,69 


3,19 


— 1,50 


blau kurzhaarig .... 


3 


4,69 


4,46 


— 0,23 




1 


1,56 


1,12 


„ 0,44 



Wie ein Blick auf die Tabelle zeigt, ergibt die — etwas 
umständliche und deshalb nicht ausführlich wiedergegebene — 
Berechnung der Zusammensetzung der F 3 -Generation nach 
einer solchen Auslese, daß nicht bloß die Häufigkeit der blau- 
wildfarbigen Angora-Tiere abgenommen hat, sondern daß sich 
auch im Verhältnis der übrigen Kategorien untereinander be- 
trächtliche Verschiebungen ergeben haben. 

Wird eine solche Auslese eine lange Reihe von Generatio- 
nen hindurch vorgenommen, so wird die ausgemerzte Sorte im- 
mer seltener werden und es wird auch sonst die Zusammen- 
setzung des Kaninchenvolkes sehr stark verändert. 

Im einzelnen ist diese Wirkung sehr verschieden, je nach- 
dem, ob dominante oder rezessive Typen ausgemerzt werden, 
ob nur eine Kombination oder ob gleichzeitig viele Kombinati- 
onen ausgemerzt werden usw. Es würde zu weit führen, hier 
auf alle Einzelheiten einzugehen. Uns interessiert, daß es zwar 
zu einem völligen Verschwinden bestimmter Kombinationen bei 
einem solchen Auslesevorgang zunächst nicht kommt, daß aber 
die ausgemerzten Typen seltener werden und daß auch sonst 
die Zusammensetzung des Volkes sich verändert. 

Auslesevorgänge sind von der allergrößten Wichtigkeit für 
die Erhaltung und für die Weiterentwicklung der „Art". Bei 
allen Lebewesen treten, wie wir früher schon gehört haben, 
zahlreiche Mutationen auf, die in der übergroßen Mehrzahl 
Mißbildungen darstellen. Bei wild lebenden Pflanzen und 
Tieren werden alle nicht vollwertigen Individuen im Kampf ums 
Dasein ausgemerzt, gelangen nicht zur Fortpflanzung. Wir fin- 



3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 89 



den in der Natur einen sehr einheitlichen Bestand von 
normalen und gesunden Tieren. Wir sehen dagegen, daß jede 
Pflanzen- oder Tierart, die wir „domestizieren", alsbald eine 
Fülle von mehr oder weniger absonderlichen Rassen aus sich ent- 
stehen läßt. Aus dem Wildkohl (Brassica oleracea) entstanden 
so Kohlrabi, Kopfkohl, Blumenkohl, Rosenkohl usw., aus dem 
Wildkaninchen entstanden die zahllosen, allbekannten Kultur- 
rassen. Sie entstanden aber in Wirklichkeit nicht als 
Folge der Kultur, sondern sie verdanken der Kultur 
nur ihre Erhaltung. Mutationen entstehen immer und überall, 
aber die natürliche Zuchtwahl merzt alles nicht Geeignete aus 
und erhält so den Typ einheitlich. Die Wirkung der Domesti- 
kation besteht vor allem in der Ausschaltung der natür- 
lichen Auslese. Ähnlich wie bei den Plaustieren liegen die 
Verhältnisse offenbar auch bei den Kulturmenschen. Bereits 
seit Mitte der Diluvialperiode sind unsere Vorfahren mit der 
langsam steigenden Kultur der natürlichen Selektion mehr und 
mehr entzogen, und dementsprechend zeigt die heutige Mensch- 
heit die gleichen Entartungserscheinungen wie jedes andere, 
der natürlichen Zuchtwahl entzogene Lebewesen. 

Im einzelnen ist die Schärfe der Zuchtwahl sehr verschie- 
den, je nachdem ob es sich um kleine Horden handelt, deren 
Angehörige sich untereinander in einer relativ engen Inzucht 
fortpflanzen oder ob wir im andern Extrem eine fluktuierende 
Großstadtbevölkerung mit stärkster Allvermischung (Pan- 
mixie) vor uns haben. 

Da weitaus die meisten erblichen Mißbildungen rezessiv 
vererbt werden, ist bei Inzucht die Wahrscheinlichkeit groß, daß 
rezessive Homozygoten entstehen und, soweit sie lebensuntüchtig 
sind, ausgemerzt werden. Paare und auch Einzelindividuen, 
die homozygotisch von diesen Mißbildungsfaktoren, Letalfak- 
toren usw. frei sind, werden eine normale Vermehrungsrate 
haben, bei allen andern wird die Vermehrung schwächer sein, 
diese letzteren werden also an Zahl relativ abnehmen. 

Auch daraus folgt, daß bei im Urzustand lebenden kleinen 
Horden von Menschen die natürliche Zuchtwahl v i e 1 schär- 
fer wirkt als in den heutigen Kulturvölkern. 

Eine Verhinderung der natürlichen Auslese wirkt nicht bloß 
dadurch schädlich, daß die ständig entstehenden minderwertigen 
Mutanten nicht ausgemerzt werden, es kommt noch hinzu, daß 
nach jeder Rassenkreuzung ein sehr buntes Mischvolk entsteht 
(vgl. S. 73), in welchem die einzelnen Rassenunterschiede in 



90 



ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEMRE. 



allen erdenklichen Kombinationen sich zusammenfinden. Dar- 
unter sind naturgemäß auch Kombinationen, d. h. Individuen, 
welche gerade die schlechten oder die schlecht zusammenpassen- 
den, wenn auch an sich guten Eigenschaften beider Rassen auf- 
weisen, wieder andere Individuen verkörpern besonders erfreu- 
liche Kombinationen. Auch aus einem solchen bunten Misch- 
masch würde die natürliche Zuchtwahl schließlich wieder einen 
einheitlichen — eben den bestangepaßten — Typus hervorgehen 
lassen. Fehlt aber die richtige Auslese, dann wird 
wahllos alles, auch das Minderwertige, erhalten 
bleiben. 

Damit hängt es auch zusammen, daß wir heute in der Pflan- 
zen- und Tierzüchtung in ganz großem Maßstabe mit Rassen 
und mit Art-Kreuzungen arbeiten können, beim Menschen 
aber nach Möglichkeit derartige Kreuzungen verhüten müssen. 
In der Pflanzenzüchtung stellen wir uns bewußt ein Material 
von Millionen von F 2 - oder F 3 -Individuen her, wählen daraus 
e i n oder zwei Individuen aus und werfen alles übrige 
weg. Könnten wir beim Menschen nach Rassenkreuzung auch 
so scharf auslesen, dann aber auch nur dann wären hetero- 
gene Kreuzungen zu befürworten. 

Die heutigen Kulturvölker und wohl auch die meisten 
heutigen ,, primitiven" Völker zeigen auf das deutlichste alle 
Folgen der verhinderten naturgemäßen Auslese. Individuen mit 
so weitgehender körperlicher und geistiger Gesundheit, wie sie 
bei jedem wilden Tier die Regel bilden, stellen beim Menschen 
Ausnahmen dar. 

Bei den Kulturvölkern kommt zu der Verminderung der 
natürlichen Auslese, wie später noch ausführlich dargelegt wer- 
den wird, eine verkehrt gerichtete Auslese hinzu, indem 
gerade die bestveranlagten Menschen sich weniger stark fort- 
pflanzen als der Volksdurchschnitt. 

Bei den Haustieren tritt an Stelle der natürlichen Zucht- 
wahl fast stets eine künstliche Zuchtwahl, die bestimmte 
Rassetypen herausgezüchtet hat, teils zu praktischen Leistun- 
gen, teils auch nur als Spielerei (Möpse z. B.). 

Beim Menschen ist dagegen von einer künstlichen Zuchtwahl 
nicht die Rede. Die Kulturmenschheit zeigt dementsprechend 
nicht wie etwa die Hunde, Schweine, Rinder usw. scharf ge- 
schiedene Zuchtrassentypen, sondern stellt ein „rasseloses" Ge- 
misch dar, das uns in den internationalen Verkehrs Zentren in 



4. DIE WIRKUNG VON INZUCHT. 



91 



besonders abschreckender Form vor Augen tritt. Man könnte 
aber sehr leicht, wenn überhaupt willkürliche Paarung nach 
einheitlichem Plane möglich wäre, aus einem Menschenvolke 
„Kulturrassen", entsprechend den Jagdhunden, Windhunden, 
Dackeln, Pudeln usw. herauszüchten. 



Wenn bei einem Organismus, der sich gewöhnlich durch 
Fremdbefruchtung fortpflanzt, Inzucht getrieben wird, so 
bringt das gewisse Nachteile mit sich. Diese Erkenntnis von 
der Schädlichkeit der Inzucht ist uralt, ein großer Teil der 
Ehegesetzgebung schon der ältesten Kulturvölker geht mehr 
oder weniger darauf zurück. 

Die Schädigung durch Inzucht beruht auf zwei ganz ver- 
schiedenen Dingen. Zunächst befördert jede Inzucht und jede 
Verwandtschaftszucht das Herausmendeln rezessiver Mißbildun- 
gen. Das zeigt wohl am besten der in Figur 32 abgebildete 
Stammbaum. Albinismus vererbt sich beim Menschen als ein- 
fach rezessives Merkmal. Heterozy gotisch albinotische Men- 
schen sind äußerlich vollständig normal. Heiraten die Ange- 
hörigen einer solchen mit Albinismus erblich belasteten Familie 
immer wieder in andere nicht damit belastete Familien, so 
wird zwar immer ein Teil der Nachkommen die Anlage hetero- 
zygotisch, also latent enthalten, aber Albinos werden nicht ge- 
boren. Homozygotische Albinos kommen hier nur zustande, 
wenn zwei solche heterozygotische Individuen sich heiraten. Die 
Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Fall eintritt, ist nun aber 
bei einer Verwandtenehe innerhalb einer solchen Familie sehr 
groß, es wird also das Auftreten von Albinismus in dieser 
Familie durch Verwandtenehe begünstigt. Eine erbliche Bela- 
stung mit rezessiven Erbübeln hat fast jeder Mensch. In der 
einen Familie steckt dieses, in der anderen jenes Übel. Heiraten 
außerhalb der Familie lassen die erbliche krankhafte An- 
lage nicht homozygotisch heraustreten, Heiraten in der Familie 
begünstigen das Auftreten. Hierin liegt eine Ursache der In- 
zuchtschädigungen, aber nicht die einzige. 

Daß auch diese Inzuchtsfolge für die betreffende Familie 
günstig, also für die Gesunderhaltung eines Volkes in gewissem 
Sinne nützlich ist, wurde vorhin S. 89 schon gesagt. 



92 



ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE. 



4. DIE WIRKUNG VON INZUCHT. 



93 



Eine zweite Art von Inzuchtschädigung, die wiederholt 
bei Pflanzen beobachtet wurde, beruht darauf, daß aus unbe- 
kannten Gründen jede Inzucht — je enger die Inzucht, desto 
rascher — eine Schwächung der Nachkommen und eine Ver- 
ringerung der Fortpflanzungsfähigkeit bewirkt. Diese Schwä- 
chung geht wohl stets bis zu einem früher oder später erreich- 
ten Mindestmaß, d. h. bei Inzucht während mehrerer Gene- 
rationen nimmt zunächst die Lebenstüchtigkeit der Nachkom- 
men sehr stark, in den späteren Generationen langsamer ab, 
und schließlich wird eine Art Dauerzustand erreicht, wo wei- 
tere Inzucht nicht mehr schädigt. Es gibt also wohl eine Art 
von Mindestmaß in der Lebenstüchtigkeit, das durch engste 



Alles gesund Alks gesund 




Schema tisch er Stamm bäum einer Familie mit einer als rezessives Merkma mendeluden erblicken 
Mißbildung (etwa Albinisimisj — ■ liomozygo tisch gesunde Personen weiß, lieterozygotische (äußer- 
lich ebenfalls gesunde) weiß mit seh war Kern Punkte, homozy gotisch, kranke Personen 
schwarz dargestellt. Der eine dargestellte Fall von Verwaudteiichc (durch gestrichelte I^iuic ein- 
gerahmt) ermöglicht die Entstehung von hoinozy gotisch kranken Kindern. 

Inzucht früher oder später erreicht wird. Dieses Mindestmaß 
liegt bei den verschiedenen Organismen sehr ungleich hoch. 

Für den Menschen ist über diese Wirkung dauernder 
engster Inzucht nichts Zuverlässiges bekannt. Auch für die 
höheren Tiere weiß man hierüber nur wenig. 

Ob die gelegentlich gemachte Beobachtung, daß Kinder 
aus Inzestzucht (Kinder von Bruder und Schwester, von Vater 
und Tochter usw.) häufig geistig und körperlich minderwertig 
sind, auf „Inzuchtwirkung" beruht, ist sehr zweifelhaft. Inzest 
wird heute eben im allgemeinen doch wohl nur bei selbst 
schon stark minderwertigen Menschen vorkommen, und wir 



kennen aus der Geschichte zahlreiche Fälle von Inzest in hoch- 
wertigen Familien, wo die Kinder keinerlei Degenerations- 
erscheinungen zeigten. 



Bewußte Reinzucht bestimmter Rassen. 

Die heutigen Kulturvölker sind, genetisch betrachtet, sehr 
bunte Kreuzungspopulationen, hervorgegangen aus der Durch- 
einanderkreuzung verschiedener Ausgangsrassen. Schon die 
einzelnen Ausgangsrasseil waren zweifellos, mit den Augen des 
wissenschaftlichen Züchters, d. h. in diesem Falle des Rassen- 
hygienikers, gesehen, sehr verschieden wertvoll. Die Kombi- 
nationsprodukte sind selbstverständlich noch viel mehr un- 
gleich wertig. 

Ein Pflanzenzüchter würde selbstverständlich aus einem 
entsprechenden bunten Gemisch sich einen ganz bestimmten 
Typ, eine ganz bestimmte Zuchtrasse herauszüchten, eine Rasse, 
in welcher die Idealkombination der guten Eigenschaften der 
ursprünglich gekreuzten Rassen verkörpert ist. 

Jede derartige Züchtung setzt aber voraus, daß der Züch- 
ter ein scharf umrissenes Zuchtziel vor Augen hat, und daß 
ein Wille die Zucht leitet. Damit ist die Schwierigkeit oder 
Fraglichkeit einer bewußten Züchtung beim Menschen gekenn- 
zeichnet. Wie soll der Idealtyp, das Zuchtziel aussehen? Wenn 
jemand ganz laienhaft und ohne erbbiologische Kenntnis glau- 
ben würde, aus dem heutigen Gemisch etwa einer europäischen 
Großstadt die eine oder die andere Ausgangsrasse rein oder 
ungefähr rein herauszüchten zu können, übersähe er eine wich- 
tige Grundtatsache : die Einzelunterschiede der Rassen men- 
deln unabhängig. So ist z. B. zwischen Augenfarbe oder Haar- 
farbe oder manchen anderen körperlichen Eigenschaften und 
psychischen, etwa Charakterfestigkeit, Willenskraft, Klugheit 
usw. genetisch kein Zusammenhang. 

Wir könnten vielleicht durch bewußte Zuchtwahl Familien 
und Volksstämmc herauszüchten, die je einige der wichtigsten 
körperlichen Eigenschaften etwa der nordischen oder dinari- 
schen Rasse aufweisen. Damit ist aber nicht gesagt, daß dann 
diese Zuchtrassen auch in ihren geistigen Eigenschaften, ja 
auch nur in ihren übrigen körperlichen Eigenschaften so be- 
schaffen wären, wie man es heute von den genannten hypothe- 
tischen Ausgangsrassen annimmt. 



94 



ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEITSLEHRE. 



Ein derartiger Reinzüchtungs versuch wäre genau so laien- 
haft, wie wenn man aus einer durch Kreuzung von Milchlei- 
stungsrindern der schwarzbunten Niederungsrasse mit Shor- 
thorn-Fleisch rindern entstandenen Bastardpopulation nur auf 
schwarzbunte Farbe, auf gewisse Hörn- und Schwanzformen 
usw., d. h. nur auf einige wenige körperliche Merkmale hin 
züchten wollte. Dieser laienhafte Züchter würde zwar sehr 
rasch zu einem Rinderbastard kommen, der äußerlich ganz 
ähnlich wie die eine Ausgangsrasse (schwarzbuntes Niede- 
rungsrind) beschaffen wäre, aber eine Milchleistungsrasse wäre 
■es deshalb noch lange nicht 1 

Die Vermehrung einiger weniger körperlicher Eigenschaf- 
ten, die von der „nordischen" Rasse hergeleitet werden, würde 
auf diese Weise nur eine gewisse äußerliche „Aufnordung" 
bedeuten, aber das Produkt dieser Züchtung wäre keineswegs 
identisch mit dem Bilde, das wir uns von der ursprünglichen 
nordischen Rasse machen. 

Wenn aus allen Erfahrungen bei Züchtungen mit Pflanzen 
und Tieren und aus unseren Kenntnissen der menschlichen 
Verhältnisse ein Schluß gezogen werden soll, ist es der, daß 
wir verhältnismäßig leicht die Fortpflanzung der ausgespro- 
chen Minderwertigen verhindern können und daher mit allen 
Mitteln verhindern müssen und daß wir die Fortpflanzung der 
Erbgesunden fördern können und also müssen, daß aber eine 
bewußte Züchtung auf einen ganz bestimmten Rassentyp un- 
endlich viel schwerer ist als dies 1 ). 

*) Anmerkung bei der Durchsieht: Wir verweisen auf die betreffenden 
Ausführungen in Abschnitt 2 und Abschnitt 5. E. Fischer, F. Lenz. 



Zweiter Abschnitt 



Die gesunden körperlichen Erbanlagen 
des Menschen. 



Von 



Professor Dr. Eugen Fischer. 



1. Einleitung. 

Selbstverständlich ist die wichtigste Anwendung der allge- 
meinen Erblehre, wie sie in Abschnitt I kurz umrissen wurde, 
die auf den Menschen selbst, wie man häufig kurzweg sagt, 
die menschliche Erblehre. 

Die folgenden Abschnitte wollen eine geschlossene lc.hr- 
buchmäßige Darstellung sein und den Stand unserer heutigen 
Kenntnisse bringen. Es ist daher ganz unmöglich, die zahl- 
reichen Einzelheiten, einzelne kleine Beiträge oder strittige 
Meinungen zu bringen. Ein vollständiges Schrifttunisverzeich- 
nis würde allein einen kleinen Band füllen. So erwähne ich 
meist nur den Namen der Forscher, denen, wir die betreffen- 
den Ergebnisse zu danken haben und führe (in Anm.) nur die 
jüngsten Schriften oder grundlegenden oder zusammenfassen- 
den Arbeiten an, in denen der Leser die früheren genannt fin- 
det. Arbeiten mit besonders ausführlicher Aufzählung des 
Schrifttums sind mit (L.) bezeichnet Eine Übersicht über Lehr- 
bücher, Sammelwerke und dergleichen findet sich am Schluß 
des Bandes. 

Grundsätzlich gilt alles, was die tausendfältigen Versuche 
an Pflanze und Tier von Erbgesetzen und Erbrcgcln ergeben 
haben, auch für den Menschen. Es lohnt beinahe nicht, das 
besonders zu betonen. Der ab und zu noch gehörte Einwand, 
man dürfe nicht von der Fliege Drosophila oder dem Löwen- 
mäulchen auf die Verhältnisse beim Menschen schließen, ist 
einfach lächerlich. Das gewaltige Tatsachenmaterial der letz- 
ten 30 Jahre Mendelforschung hat die grundsätzliche Gleich- 
heit aller, auch der verwickeltsten Erscheinungen auf dem Ge- 
biet der Vererbung in einem Ausmaß erwiesen, das die kühn- 
sten ursprünglichen Erwartungen übertraf. Nicht nur die sog. 
Spaltungsgesetze, auch die Tatsachen etwa der Koppelung, ge- 
schlechtsgebundenen Vererbung, multiplen Allelie usw. erwie- 
sen sich grundsätzlich gleich bei zahllosen Pflanzen der ver- 
schiedensten Familien, bei Tieren der allerverschicdensten 
Gruppen, seien es Schnecken oder Insekten, Vögel oder Säuge- 
tiere zahlreicher Familien. Hier den Menschen ausnehmen zu 
wollen, bedeutete denselben Standpunkt, der etwa sagen würde, 
die Befruchtung des menschlichen Eies durch einen Samen- 
faden ist noch nie beobachtet worden, oder die ersten Zell- 

Baiir-Fisclter-Leuz I. 7 



98 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

teihmgs Stadien menschlicher Eier hat noch niemand gesellen, 
es ist also nicht bewiesen, daß beim Menschen Befruchtung 
und Eientwicklung grundsätzlich ebenso ablaufen, wie es etwa 
Sobotta für die Maus geschildert hat. Andererseits haben wir 
wirklich fast unzählige Beobachtungen derselben Vererbungs- 
vorgänge am Menschen, wie wir sie am Tierexperiment ablesen. 

Die Erforschung der menschlichen Erblehre ist allerdings 
schwieriger als die der Pflanzen und Tiere. Wir entbehren 
beim Menschen die Möglichkeit, so zahlreiche Nachkommen 
eines Paares zu untersuchen, wie sie dort in günstigen Fällen 
gegeben ist. Wir können nicht aus eigener Erfahrung über 
längere Reihen von Generationen berichten. Wir haben nicht 
die Möglichkeit des Experimentes. Zoologie und Botanik wer- 
den daher immer im allgemeinen die Leitung in der Hand be- 
halten. Die menschliche Erblehre aber hat den Vorteil, daß 
ihr Objekt Mensch nach Anatomie und ganz besonders nach 
Physiologie und Pathologie weitaus besser bekannt ist als 
irgendeine lebende Form. Manche Vererbungserscheinungen, 
besonders auf dem Gebiet des Krankhaften und auf dem Ge- 
biet der Erforschung der entwickhmgsgcschichtlichen Entfal- 
tung und Wirkung der Erbanlagen (Phänogenetik, Haecker), 
werden am Menschen gewisse, besonders günstige Lösungs- 
möglichkeiten haben. — Statt der Experimente muß am Men- 
schen reichliche Beobachtung einsetzen, häufig genug macht 
uns der Mensch „Experimente" an sich selbst vor. So werden 
wir auch hier, wie nach experimentellen Tierkreuzungen, gene- 
rationsweise untersuchen. Nur angedeutet sei, daß die Verfol- 
gung erblicher Eigenschaften über die einzelnen Generationen 
um so leichter ist, je auffälliger und einfacher das Merkmal ist. 
So ist es zu verstehen, daß der erste Nachweis mendelistischen 
Erbganges für eine auffällige Mißbildung erfolgte, dieBrachy- 
daktylie (Faradey 1905). Aus demselben Grund ist der Nach- 
weis der mcndelschcn Vererbung von Rasseneigenschaften am 
leichtesten da zu führen, wo die beiden sich kreuzenden Eltern 
sehr stark auseinandergehende Rassenmerkmale haben. So er- 
folgte hier der erste Nachweis bei Bastarden zwischen Euro- 
päern und Hottentotten (Eugen Fischer 1908). 



Es ist, wie gesagt, fast selbstverständlich — und auch 
schon ein flüchtiger Augenschein bestätigt es ■— , daß beim 
Menschen dasselbe Gesetz herrscht wie bei allen Pflanzen und 



EINLEITUNG: ERBLE/iRE UND ANTHROPOB1OL0GIE. 99 



Tieren : alle Einzelindividuen sind untereinander verschieden. 
Völlig gleiche gibt es nicht. Auch Geschwister, selbst Zwillinge 
sind niemals völlig gleich, ebenso wenig Eltern und Kinder. 
Diese „Variationserscheinungen" sind im ersten Abschnitt S. 5 
ausführlich besprochen worden. Die dort erörterten Tatsachen 
gelten also auch für den Menschen. Wir müssen also auch 
beim Menschen eingehend und im einzelnen untersuchen, wel- 
che von den unterscheidbaren Merkmalen „Paravariationen", 
„Mixo Variationen" oder „Idiovariationen" sind. Besser und 
vollständiger könnte man auch sagen, was oder wieviel an der 
einzelnen erkennbaren Erscheinung Ausdruck des Erbes und 
was und wieviel Einfluß der Umwelt (Peristase) ist. Die 
menschliche Erbforschung versucht also an den individuellen 
und gruppenweisen Unterschieden das Vorhandensein bestimm- 
ter und bestimmt wirkender Erbfaktoren zu erweisen und an- 
dererseits die verschiedenen umweltlichen (peristatischen) Wir- 
kungen davon zu trennen. So wurde die alte beschreibende 
Anthropologie zu einer „Anthropo-Biologie". 

Die systematische „Anthropologie" hat bisher last immer nur anato- 
misch die Unterschiede als solche erfaßt und beschreibend und messend 
festgelegt. Selbstverständlich ist diese Seite der Forschung unentbehrlich 
auch für die Zwecke der Rassenhygiene. Aber gerade die Rassenhygiene muß 
wissen, was an diesen äußerlich erkennbaren Merkmalen erblich ist. Die 
Betrachtung der Form und Größe genügt also nicht, die Merkmale müssen 
nach ihrer Entstehung, nach ihrer Bedeutung für Individuum und Gruppe 
gewürdigt, also ,, biologisch" betrachtet werden. Die Rassenhygiene braucht 
zu ihrer Unterlage gleichzeitig anatomische und biologische Erkenntnisse. 

Erst durch die Einführung der Erblehre in die Anthro- 
pologie ist diese auch in der Lage, aus einer rein theoretischen 
„Wissenschaft vom Menschen" zu einem ungeheuer wichtigen 
praktischen Wissen um den Menschen zu werden. Als mensch- 
liche Erblehre schafft sie eine neue Unterlage für das gesamte 
ärztliche Wissen. So hat sie in der Medizin siegreich und auf 
allen Gebieten ihren Einzug gehalten. Ein neuer „Arzt-Typus", 
der „Erbarzt" (v. Verschuer) ist in Bildung begriffen, 
Erbkliniken werden eröffnet und eigene Zeitschriften dienen 
der Mehrung und Verbreitung des neuen Wissens 1 ). 

Aber von noch viel größerer Bedeutung ist die Anthropo- 
Biologie als die eigentliche Unterlage der Rassenhygiene und 
damit der einzigen vernünftigen Bevölkerungspolitik, der bio- 
logischen (s. Lenz, Bd. 2 dieses Werkes). 



r ) Der Erbarzt, Beilage zum „Deutschen Ärzteblatt" 1. Jahrg. 1934 
(Schriftleitung: Dr. Freiherr v. Verschuer, Frankfurt a. M.). 

7* 



100 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Die Einzcluntcrsuchungen auf dem schwierigen Gebiet 
menschlicher Erblehre müssen sich besonderer, für die mensch- 
lichen Verhältnisse eigens angepaßter Metboden bedienen, die 
im 4. Abschnitt dargestellt sind (F. Lenz). Die Methoden 
sind leichter zu verstehen, wenn man eine Vorstellung yom Ziel 
und Ergebnis schon hat. Aus diesem Grund haben wir ihre 
Darstellung an den Schluß gerückt. Aber eine ganz besondere 
Erscheinung beim Menschen gab der Forschung ein Mittel an 
die Hand, wie es in diesem Umfang bei Pflanze und Tier nicht 
besteht, die Zwillingsbildung beim Menschen. Seine außer- 
ordentliche Wichtigkeit erheischt hier eine kurze Darstellung 
der Erscheinung der Zwillingsbildung selbst, weil in folgen- 
dem immer wieder von Zwillingen die Rede sein wird 1 ). Das 
rein Methodische der Zwillingsforschung wird dagegen unten 
mit den anderen Methoden erörtert werden. 



Menschliche Zwillingsbildung. 

Bekanntlich gibt es beim Menschen neben der als Regel 
aufgefaßten Einzelgcburt ab und zu Zwillinge, sehr viel selte- 
ner Drillinge und in steigendem Maß als Aufsehen erregende 
Ausnahmen Vierlinge und höhere Zahlen von Meinungen. 
Bei den Säugetieren ist die Zahl der gleichzeitig getragenen 
Früchte nach den verschiedenen Arten sehr wechselnd. Die 
großen Wurfzahlen mancher Tiere, wie Schweine, Kanin- 
chen, Hunde usw. sind bekannt, ebenso daß z. B. Elefanten, 
Pferde und andere entweder ausnahmslos oder nur mit ver- 
schwindenden Ausnahmen nur jeweils ein Junges werfen. Un- 
ter den Primaten haben die Halbaffen gewöhnlich nur ein 
Junges. Gelegentlich sind Zwillinge und Drillinge beobachtet 
worden (nach Abel) 2 ). Von den Neuwcltaffen haben die klei- 

1 ) D a h 1 b e r g. Twin birth and twins from a hereditary point of view. 
Stockholm 1926. 

Diehl und v. V c r s c h u e r. Zwillingsluberkulose. Jena 1933. 

N c w m a n. The biology of twins. Chicago 1924. 

Ders. Menlal and physical traits of identical twins reared apart. Joimi. 
Hered. 25. 1934. 

S leine 11 s. Die Zwillingspathologie, Berlin 1924. 

v. V c r s c h u c r, .Ergebnisse der Zwillmgsforschung. Verh. Ges. phys. 
Anthr. 6. 1 93 1 . 

Ders. Die biolog. Grundlagen der menschl. Mehrlingsforschung. Z. 
induet. Abst. 61. 1932. 

Ders. Erbpathologic. Dresden-Lpz. 1934. 

2 ) Abel, W. Zwillinge bei Mantelpavianen und die Zwillingsanlage 
innerhalb der Primaten. Z. Morph. Anthr. 31. 1933. 



MENSCHLICHE ZWILLINGSBILDUNG. 



101 



nen Krallcnaffen zwei bis drei Junge, die anderen in der Regel 
eines. Bei Altwcltaffen sind Zwillinge offenbar außerordent- 
lich viel seltener als beim Menschen. (Abel berichtet über 
solche beim Mantel-Pavian, bei Anthropoiden sind Zwillinge 
noch nie beobachtet worden.) Daß beim Menschen neben den 
Einzelgeburten Zwillings- und Mehrlingsgeburten vorkommen, 
ist eine ähnliche Erscheinung, wie wir sie bei vielen Tieren 
finden, wo ebenfalls Einzelgeburt die Regel ist. Wir haben alle 
Übergänge zu dem Zustand, wo die Einzelgeburt Ausnahme 
und die Mehrlingsgeburt Regel wird. Über wilde Tiere haben 
wir da wenig Erfahrung. Aber folgende Beispiele an Haus- 
tieren erweisen es. Bei der Ziege sind etwas mehr als ein Vier- 
tel aller Würfe Einzelgeburten, beim Schaf je nach Zuchten 
10 0/0 bis zu 90 0/0 Einzelgeburten, beim Rind kommen umge- 
kehrt auf 50 Einzelgeburten, eine Zwillingsgeburt, beim Pferd 
auf 90 eine. Beim Menschen kommt im Durchschnitt eine 
Zwillingsgeburt auf 85,2 Einzelgeburten. Eine Drillingsgeburt 
dagegen kommt einmal auf 7628 Geburten und eine Vierlings- 
geburt auf 670734 Einzelgeburten. Damit wäre rund jeder 
40. Mensch (jede 80. Geburt mit zwei Individuen) ein Zwil- 
ling. Da aber bei Zwillingsschwangerschaften Frühgeburten 
und Totgeburten des einen oder beider Zwillinge gegenüber 
Einlingsschwangerschaften sehr viel häufiger sind, ist durch- 
schnittlich etwa jeder 60. Mensch Zwilling. 

Die Häufigkeit von Zwillingen ist deutlich nach Ländern 
verschieden. Sie beträgt im Durchschnitt in Nordeuropa mehr 
als in südlichen Ländern. So rechnet man in Skandinavien 1,4 
bis 1,6 o/o, in Deutschland 1,250/0, in Frankreich und Italien 
1,13%, in Griechenland, Argentinien, Brasilien und einigen 
anderen südlichen Staaten 0,8—0,40/0, in Japan 0,570/0. Außer- 
ordentlich selten sollen Zwillingsgeburten in Cochinchina sein, 
nur 0,01 0/0. 

Diese eigenartige Erscheinung hat wohl recht verschiedene 
Gründe. Teilweise sind es Umweltwirkungen. Das Klima wirkt 
nach Davenport so, daß kühleres Klima Zwillingsgeburten 
vermehrt. Patcllani hat entsprechende Unterschiede zwi- 
schen Nord-, Mittel- und Süditalien festgestellt. Auch das Le- 
bensalter der Mutter scheint von Einfluß. Junge Mütter haben 
weniger häufig Zwillinge (nach Dahiberg). In der Stadt 
gibt es unter Berücksichtigung des Alters der Mutter weniger 
Zwillinge als auf dem Lande (nach Dahiberg und Wein- 
berg). Dann scheinen aber auch erbliche Faktoren Unter- 



102 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

schiede zu bedingen. Komai und Fukuoka 1 ) konnten zei- 
gen, daß eineiige Zwillinge in Japan genau gleich häufig sind 
wie in Europa, während zweieiige nur ein Viertel bis ein Drittel 
so häufig erscheinen. Die Erbanlage zur Zwillingsbildung 
(s. unten) dürfte also verschieden häufig sein bei den einzelnen 
menschlichen Gruppen. 

Endlich spielt für die Zwillingshäufigkeit die Sterblichkeit 
vor der Geburt eine Rolle (s. unten S. iro). Von vielen Zwil- 
lingsschwangerschaften stirbt eine der beiden Früchte teils 
wegen der schwierigen Einbettung des Eies, teils auf Grund 
von Letalfaktoren. 

Endlich sei noch erwähnt, daß man von den Zwillingsge- 
burten, rund ein Viertel als solche eineiiger Zwillinge (s. unten) 
rechnen kann. 



Die Entstehung der Mehrlingsschwangerschaft. 

Bei normalerweise mehrfrüchtigen Tieren reifen gleich- 
zeitig mehrere Eier, werden einzeln befruchtet und betten sich 
einzeln an der Wand der Gebärmutter ein, wobei meistens für 
jede sich entwickelnde Frucht eine besondere Kammer in ihr 
gebildet wird. Selbstverständlich hat jede Frucht ihre eigenen 
Hüllen und eigenen Mutterkuchen, infolge dieser Entstehung 
hat selbstverständlich jede Frucht ihr eigenes, von den Wurf- 
geschwistern abweichendes Erbe, da die Erbanlagen in den 
verschiedenen Eiern und den verschiedenen Samenfäden je 
verschieden sind. Erbmäßig sind solche Wurfgeschwister in 
nichts unterschieden von Geschwistern, die nacheinander im 
Laufe von Jahren vom selben Elternpaar erzeugt sind. Zu die- 
ser Art Mehrlingcn gehören eine große Anzahl von Zwillingen 
und auch Mchrlingen des Menschen. Man nennt diese Zwillinge 
„zweieiig" oder „nicht identisch". Im folgenden Text werden 
sie, wie jetzt vielfach bräuchlich, abgekürzt als ZZ bezeichnet. 
Alle sog. Pärchenzwillinge (Bruder-Schwester) gehören hier- 
her (PZ), aber auch viele gleichgeschlechtliche. Die zwei- 
eiigen Zwillinge ähneln sich äußerlich nicht mehr als gewöhn- 
liche Geschwister. 

Es gibt nun aber noch eine andere Art von Mehrlingsbil- 
dung. Es wurde festgestellt, daß bei gewissen Insekten und 
Würmern aus jedem einzelnen befruchteten Ei mehrere Em- 



!) Komai und Fukuok a. Die Häufigkeit von Mchrlingsgeburten in 
Japan. Z. Morph. Anf.hr. 31. 1933. 



ENTSTEHUNG DER MEHRLINGSSCHWANGERSCH ART. 103 

bryonen entstehen, indem das Ei auf einem gewissen Stadium 
in einzelne Zellen zerfällt und jede Zelle sich zu einem Embryo 
entwickelt. Unter den Säugetieren ist nur ein solcher Fall be- 
kannt und genau untersucht. Bei den Gürteltieren entwickelt 
sich das befruchtete Ei bis zur Ausbildung des Embryonal- 
Schildes wie gewöhnlich. Dann aber stellt sich eine radiäre 
Teilung ein, bei einer Art (Dasypus 110 verneine tus) zu vier Ab- 
schnitten, bei einer anderen (Dasypus hybridus) zu sieben bis 
neun. Ein gemeinsames Chorion umschließt diese eineiigen 
Meli dinge. 

Diese Entstehung von mehr als einem Keimling aus einer 
einzigen befruchteten Eizelle kommt nun auch beim Menschen 
vor. Es ist die zweite Art von Zwillingsbildung, grundsätzlich 
von der ersten verschieden. Bei der Befruchtung verschmelzen 
bekanntlich väterliche und mütterliche Erbanlagen zu einem 
jetzt untrennbaren neuen Erbgut. Die ersten Entwicklungsvor- 
gänge (Furchung) setzen normal ein, die Frucht ist also ein- 
heitlich. Jetzt erst teilt sie sich in zwei Hälften, aus' jeder Hälfte 
wird ein ganzer Keimling. Die ihnen vorher gemeinsame Erb- 
masse ist dabei mit geteilt. Infolgedessen sind diese beiden 
Früchte „erbgleich". Man nennt sie eineiig oder identisch 
(EZ). Die Spaltung einer solchen Fruchtanlage kann ver- 
schieden früh erfolgen. Tritt sie bald nach den ersten Zellfur- 
chungen ein, noch vor der eigentlichen Differenzierung in sog. 
Embryoblast und Trophoblast, muß jedes der beiden jetzt ge- 
trennten Eier seine eigene Eihaut (Chorion) und Schaf haut 
(Amnion) bilden. Die Teilung kann aber auch erst erfolgen, 
wenn schon ein sog. Embryonalknoten und Embryoblast ge- 
bildet sind. Dann ist schon eine gemeinsame Fruchthülle ent- 
standen, dagegen bildet sich die Schafhaut doppelt. Man 
spricht dann von „monochorisclien" Zwillingen. Endlich kann 
die Teilung noch etwas später erfolgen, wenn der Embryonal- 
schild und der Primitivst reifen schon gebildet sind. Dann hat 
sich auch das Amnion schon entwickelt und die Zwillinge haben 
gemeinschaftliches Chorion und Amnion. Die monochorisclien 
Eineier sind erheblich häufiger als die dichorischen. Die Pla- 
zenta ist bei monochorisclien immer einfach, bei dichorischen 
doppelt, gelegentlich aber durch Verschmelzung auch einheit- 
lich. Der sog. Eihautbefund gibt also keine Sicherheit über die 
Entstehung und Art der Zwillinge. Dies um so weniger, als 
gelegentlich sogar sicher zweieiige Zwillinge ausnahmsweise in 
einer gemeinschaftlichen Hülle sein können, wahrscheinlich 



104 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 

durch Einreißen oder Schwund der vorher vorhandenen Scheide- 
wand (Steine r) 1 ). 

Es wurde vermutet (v. Vcrschuer, Curtius), daß es 
noch eine Art der Entstehung von Zwillingen gibt, die der 
ersten, zweieiigen nahe steht. Es könnten sich etwa durch Än- 
derung der zweiten Reifeteilung eines Eies statt Ei und ent- 
wicklungsunfähigem Richtungskörperchen zwei befruchtungs- 
fahige Eikerne bilden, oder anders ausgedrückt, ein Richtungs- 
körperchen befruchtungsfähig sein. Beide würden dann je von 
besonderem Samenfaden befruchtet. Der Unterschied von der 
ersten Art ist die Gemeinsamkeit des Stadiums des Ureies und 
der ersten Reifeteilung. Auch diese Zwillinge wären natürlich 
zweieiige und erbverschieden. Aber eine Unterlage dafür, daß 
solche Fälle vorkommen, besteht nicht. 

Unvollkommene Trennung eines sich entwickelnden Eies 
führt zu Doppelbildungen, also Verdoppelung der vorderen 
oder der hinteren Hälfte des Körpers, wie man sie in den ver- 
schiedensten Graden bei Tier und Mensch kennt. 

Wahrscheinlich kann aber auch Verschmelzung vorher getrennter Keime 
zu solchen Doppelmißtaildungen führen. 

Drillinge, Vierlinge usw. können ganz verschieden zusam- 
mengesetzt sein, etwa nur eineiige oder ein- und zweieiige ge- 
mischt. Auch drei Drillinge können eineiig sein. 

Die Frage endlich, was die letzte Ursache für die Ent- 
stehung der EZ und ZZ ist, ist noch stark umstritten. Die 
meisten Autoren, Davenport, Dahlberg, vor allem aber 
Curtius und v.Verschuer 3 ) glauben, daß die Entstehung 
von EZ und ZZ gemeinsam .auf dem Vorhandensein eines: 1 Erb- 
faktors beruht. Man stellt ihn sich als Spaltungstendenz vor. 
Er kann in der Ei- oder Samenzelle liegen, er dürfte rezessiv 
sein. Lenz 2 ) hält den Beweis nicht für erbracht. Greulich 8 ) 
betont einen Erbfaktor für die Bildung von ZZ, lehnt einen 
für EZ ab. 



Wenn nun wirklich EZ erblich vollkommen gleich sind, 
erhebt sich die Frage, ob und wieweit nun alle ihre Eigen- 
schaften phänotypisch auch wirklich gleich sind. Der Augen- 

r ) Steine r. Nachgeburtsbefunde bei Mehrlingen und Atmlichkeits- 
diagnose. Arch. Gyn. Bd. 159, 1935. 

3 ) Lenz. Zur Frage der Ursachen von Zwillingsgeburten. Arch. Rass. 
Ges. Biol. 27. 1933. v. V e r s c h u e r. Antwort, dgl. Lenz, Meyer. Ebd. 

3 ) Grculic h. TIeredily in Human Twimiing. Am. Journ. Phys. Anüir. 
Vol. XIX, 1934. 



ENTSTEHUNG DER MEHRLINGSSCHWANGERSCHAFT. 105 



schein lehrt, daß das nicht der Fall ist, aber er lehrt zugleich, 
daß EZ immerhin die ähnlichsten Menschen sind, die es über- 
haupt gibt. Schon ein erster Blick zeigt im allgemeinen, daß 
die Ähnlichkeit der EZ außerordentlich viel größer ist als 
die von ZZ, 

Auf dieser Tatsache beruht die Zwillingsforschung, die in 
den letzten Jahren ungeheuer ausgebaut worden ist und eine 
der wichtigsten Methoden der menschlichen Erbforschung über- 
haupt darstellt. Da die Ungleichheiten der EZ ausschließlich 
auf Umweltwirkung beruhen müssen, die der ZZ aber auf Erb- 
wirkung und auf Umweltwirkung, da weiter in größeren 
Zwillings reihen Art und Grad der Umweltbeeinflussung der 
EZ und ZZ gleich groß sind, zeigt uns der Ähnlichkeitsunter- 
schied zwischen beiden Gruppen für jede Eigenschaft den An- 
teil von Erbe und Umwelt. Die Methoden zur Prüfung und 
teilweise ziffernmäßigen Auswertung werden unten erörtert. 

In sehr seltenen Fällen sind eineiige Zwillinge nicht völ- 
lig erbgleich. Theoretisch kann bei dem einen irgendein Gen 
mutieren. Praktisch wird dieser Fall als extremste Ausnahme 
ohne Bedeutung sein. Dann können weiter bei der zur Zwil- 
lingsbildung führenden Teilung der embryonalen Anlage erb- 
ungleiche Zellteilungen auftreten, wie sie in Form von Chro- 
mosomenstörungen z. B. bei Drosophila nachgewiesen sind. 
Auch diese Erscheinung dürfte praktisch für die Forschung 
wegen der außerordentlichen Seltenheit ohne größere Bedeu- 
tung sein. 

Starke Umwelteinflüsse wirken schon vor der Geburt auf 
die Zwillinge ein. Bei der Geburt sind EZ und ZZ bezüglich 
Gewicht und Länge gleich unähnlich. Die Geburtsdifferenzen 
nehmen dann (nach v. Verschuer) in den ersten sechs Mo- 
naten bei beiden Zwillingsarten allmählich ab. Bei den EZ 
geht diese Abnahme in den nächsten Monaten noch weiter, 
dann ist ein gewisser Grad von Ähnlichkeit erreicht, der be- 
stehen bleibt. Bei den ZZ dagegen nimmt die Unähnlichkeit 
gleichmäßig zu, bis ein bestimmter Grad endgültig erreicht ist. 
Gewicht und Körpergröße zeigt ähnliche Verhältnisse, v. Ver- 
schuer konnte zeigen, daß auch besonders die Kopfform vor 
der Geburt starke Verschiedenheiten bei beiden Zwillings- 
arten aufweist. Die bei der Geburt vorhandene Verschiedenheit 
der Schädclform gleicht sich bei EZ teilweise wieder aus. Das 
ist die erbliche Tendenz. Dieselbe bedingt, daß bei ZZ die Ver- 
schiedenheit der Schädelform während der Jugend umgekehrt 



106 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

zunimmt. Ähnliches gilt von den Körperproportionen und ande- 
ren Dingen. Für Einzelheiten muß auf das Schrifttum, vor allem 
auf die Schriften von v. Verschuer verwiesen werden. Das- 
selbe gilt für die Frage von den Asymmetrien bei eineiigen 
Zwillingen. 

Die Erbforschung der letzten Jahre hat an einem Zwillings- 
material von sicher annähernd ioooo EZ und ZZ zahlreiche 
anatomische, physiologische, pathologische und psychologische 
Einzelheiten durchgeprüft und immer wieder eine geradezu 
Staunen erregende Ähnlichkeit aller dieser Merkmale bei EZ 
festgestellt. Es ist klar, daß bei ihnen solche Eigenschaften, 
die von der Umwelt gar nicht beeinflußbar sind, vollkommen 
gleich sein müssen, daß ganz gering beeinflußbare wenigstens 
sehr ähnlich sein müssen, dagegen solche, die sehr stark von 
der Umwelt abhängen, unähnlicher sein müssen. Bei ZZ wird 
sich demgegenüber ein starker Unterschied zeigen. Wenn da- 
gegen eine Erscheinung von Umwelteinflüssen abhängt, die auf 
fast alle Menschen gleich wirken, werden EZ und ZZ keine 
Unterschiede zeigen. Dies gilt z. B. von den Zwillingen beider 
Arten, die an den ganz häufigen Infektionskrankheiten er- 
kranken. Trotzdem werden auch hier erbliche Unterschiede 
sein, deren Nachweis aber schwierig ist. (Man vergleiche die 
betreffende Darstellung in Abschnitt 3.) 

Die stärkste Probe für die Prüfung dieser Verhältnisse 
wurde von Schiff und v. Verschue r 1 ) durch Untersuchung 
der sog. Blutgruppen durchgeführt. So weit wir wissen, sind 
die betreffenden Eigenschaften von Blutkörperchen und Serum 
von Umweltfaktoren vollkommen unabhängig. Die beiden Auto- 
ren konnten zeigen, daß EZ nicht nur bezüglich der Faktoren 
für Gruppe A, A 1; B, AB und O, sondern auch bezüglich der 
Blutfaktoren M und N ausnahmslos gleich waren. Bei zwei- 
eiigen Zwillingen waren nur 640/0 gleich. Eine ebensolche ab- 
solute Gleichheit von EZ kennen wir für kein anderes Merk- 
mal. Aber eine sehr große Differenz zwischen EZ und ZZ 
besteht für die Bildung des carabellischen Höckerchens am 
Backzahn und für den sog. quantitativen Wert der Finger- 
leisten (s. S. 145). 

Derartige auf sehr umfangreichem Material (je über 400 
Paare) beruhende Untersuchungen bringen den bindenden Be- 
weis von der Zuverlässigkeit der Zwillingsdiagnose. 

*) Schiff, F. und O. v. Verschuer. Serologische Untersuchungen 
an Zwillingen. IL Mttlg. Z. f. Morph, u. Antlir. 32, 1933. 



ZWILLINGSDIAGNOSE. 



107 



Z w i 1 1 i n g s cl i a g n o s e. 

Zur Feststellung, ob es sich um EZ oder ZZ handelt, 
wird heute die Ähnlichkeitsdiagnose durchgeführt. Sie beruht 
auf der Untersuchung sehr vieler Merkmale auf ihre Ähnlich- 
keit, besonders von solchen, deren Vererbung aus Kreuzungs- 
bzw, genealogischen Untersuchungen schon bekannt ist, Gro- 
ßenteils handelt es sich dabei um kleinste und feinste Einzel- 
heiten. Man vergleicht die Blutgruppen und Blutfaktoren, alle 
Einzellreiten der Physiognomie, die Papillarlinien der Finger 
und Handflächen, die Hautgefäße usw. Alle in den folgenden 
Abschnitten beschriebenen Merkmale, deren Erblichkeit fest- 
steht, kommen in Betracht. Für die technische Durchführung 
der beschreibenden und messenden Feststellungen muß auf 
Einzelwerke verwiesen werden, eine technische „Anleitung" 
kann hier natürlich nicht gegeben werden. Die folgende Ta- 
belle (nach Diehl und v. Verschuer 1 ) gibt eine Vorstel- 
lung von der sozusagen verschiedenen Brauchbarkeit einiger 







Peristatische Variabilität bei 


Empi- 




Merkmal 




EZ in 0/0 




rische 


Nr. 


Völlige 
Gleichheit 


Gleichheit 
mit 
kleinen 
Varia- 
tionen 


Größere 
Unter- 
schiede 
(Diskor- 
danz) 


Diskor- 
danz- 
häufigkeit 

in % 
bei ZZ 


1. 


Blutgruppe ....--. 


100 


? 





36 


2, 


Blutfaktoren M u. N ... 


100 


? 





38 


3. 


Augenfarbe ....... 


86,5 


13 


0,5 


72 


4. 


Haarfarbe ........ 


75 


22 


3 


77 


5. 


Hautfarbe 


87 


13 





55 


6. 


Haarform 


99,5 


0,5 





21 


7, 


Augenbrauen ....... 


98 


2 





49 


8. 


Form der Nase 


80—85 


1 5—20 





65—- 70 


9 


Form der Lippen 


85 


15 





ca. 35 


10. 


Zungenfalten 


84 


11 


5 


40 


M. 


Form des Ohres 


77 


■21 


2 


80 


12. 


Hautgefäße .... . . 


80 


15 


5 


ca. 30—40 


13. 


Form und Stellung der Zähne 


_ 


_ 


— 


_ 


14. 


Sommersprossen 


70—75 


25—30 





45—50 


15. 


Fingerleisten (Quant. Wert) . 


81 


11 


8 


60 



Erfahrungsgemäße Gleichheit und Ungleichheit einiger Eigenschaften 
bei EZ und ZZ (nach Diehl und v. Verse h u e r). 



!) A.a.O. 



108 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



DOPPELGÄNGER. — ALLG. ERBANLAGEN. 



1.09 



Merkmale je nach ihren Manifestationsschwankungen bzw. der 
Umweltbeciiifluß barkeit. Die rechnerische Bearbeitung ist in 
Abschnitt 4 dargestellt. 

In diesem Zusammenhang muß auf andere Fälle von Ähn- 
lichkeit, d. h. von Gleichheit einer Anzahl Merkmale bei zwei 
Menschen hingewiesen werden, wir nennen solche einander zum 
Verwechseln ähnliche, nicht blutsverwandte Menschen Doppel- 
gänger. Jankowsky 1 ) hat eine Anzahl solcher untersucht, er- 
zeigt am physiognomischen Gesamtbild wie an einigen Kopf- 
und Körpermaßen die große Ähnlichkeit, die sich auch auf 
manche psychischen Züge erstrecken kann. Er betont mit 
Recht, daß es sich dabei um den Besitz gleicher Erbanlagen, 
oder besser gleiche Kombination einiger gleichen Erbanlagen 
handeln muß. Es sind in der Tat Gleichheiten von als erblich 
erwiesenen Bildungen. Er spricht deshalb von „unpersönlicher 
Blutsverwancltschaft", was den Erbbefund gut ausdrückt. 
Gleichzeitig müssen auch die Umweltwirkungen auf jene glei- 
chen Erbanlagen gleich sein, damit das phänotypische Doppcl- 
gängertum entsteht. So ähnlich oder gleich wie EZ sind Dop- 
pclgänger niemals, eine Untersuchung der feinen. Einzelheiten, 
wie sie die Zwillingsdiagnosc benutzt, zeigt ausnahmslos Un- 
terschiede (Blutgruppen, Handabdrücke, Einzelheiten von Ohr, 
Nasenboden usw.). Insofern ist solche Untersuchung von Dop- 
pelgängern eine Stütze für die Sicherheit unserer Zwillings- 
diagnosen. 



2. Die einzelnen Erbanlagen. 

Die Darstellung der Erbanlagen des Menschen gliedern 
wir in drei Abschnitte, die normalen Erbanlagen für die kör- 
perlichen Eigenschaften, die krankhaften Erbanlagen und end- 
lich die Erblichkeit der geistigen Begabung. 

Daß der letzte Punkt vom ersten getrennt ist, hat seinen 
Grund darin, daß wir hier vor der schwersten Aufgabe stehen, 
daß wir von der Erkenntnis der einzelnen Erbfaktoren noch 
sehr viel weiter ab sind als in den beiden anderen Bereichen, 
und daß man endlich die Vererbungscrscheinungen auf dem 
Gebiet normaler geistig seelischer Anlagen und Leistungen 
sehr viel leichter verstehen und darstellen kann, wenn man die 



l ) Jankowsky. Die Blul Verwandtschaft im Volk und in der Fa- 
milie. Stuttgart 1934. 



Erberschcinungen auf dem Gebiet seelischer Störungen als 
Unterlage hat. 

In diesem Abschnitt sollen also nun die normalen Erb- 
anlagen für die gesamten körperlichen Eigenschaften, anato- 
mische, d. h. solche des Baues des Körpers und aller seiner 
Teile, und physiologische, d.h. solche für den Ablauf aller Vor- 
gänge im Körper, behandelt werden 1 ). 

a) Die allgemeinen Erbanlagen. 

Es ist heute selbstverständlich, daß restlos für Alles an 
und im Körper einzelne Erbanlagen verantwortlich sind. Die 
Entwicklung von der Befruchtung an, Aufbau des Körpers 
und Einzelausgcstaltung, Aufbau, Form, Größe und Zahl aller 
Organe oder Organteile, aber auch alle ihre Tätigkeiten, Funk- 
tionen, sind, wie wir immer, mehr beweisen und erkennen, je 
von einzelnen oder gemeinsamen Erbanlagen (Genen, Faktoren) 
abhängig und geformt. Da wir die Wirkung von Genen nur 
feststellen können, wenn sich Individuen mit für eine Eigen- 
schaft ungleichen Genen kreuzen und fortpflanzen, können wir 
das Vorhandensein aller dieser der ganzen Menschheit gemein- 
samen Gene für normalen. Körper- und Organaufbau nur fest- 
stellen, wenn ein Gen krankhaft verändert ist und der Träger 
sich mit einem Normalen fortpflanzt. Das gilt selbstverständ- 
lich wie für Pflanzen und Tiere so für den Menschen. Durch 
Beobachtung zahlreicher erblicher Mißbildungen und Krank- 
heiten (Drosophila !) konnte man auf diesem Weg feststellen, 
daß tatsächlich die mendelnden Erbfaktoren sich nicht nur auf 
sog. äußerliche Einzelheiten, beim Menschen etwa Augenfarbe, 
Haarform, Scchsfingrigkeit oder dergleichen beziehen, son- 
dern, wie gesagt, den gesamten Körper und alle seine Glieder 
und Teile beherrschen. 

Wir dürfen also auch für den Menschen zunächst beson- 
dere, sagen wir, Regulierungsfaktoren der ersten Wachstums- 
und Teilungsvorgänge des Eies und Keimes annehmen, die 
vom Augenblick der Befruchtung an wirksam werden. Der Be- 
weis dafür liegt in der Tatsache, daß beim Fehlen (bzw. krank- 
hafter Veränderung) dieser Gene die Eier sich nicht normal 
entwickeln, sondern mißbildct werden oder absterben. Man 



1 ) Eine sehr eingehende Darstellung der Art gibt E. Fischer: Ver- 
such einer Genanalyse des Menschen. Zeitschr. ind. Abst. 54. 1930. (Lk. 
bis 1929 sehr ausführlich.) 



110 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



spricht von Letalfaktoren. Grosser 1 ) schätzt, daß i o o/o 
menschlicher Eier sich nicht richtig furchen, io<>/o als Keim- 
blasen zugrunde gehen und weitere 5 — 10 0/0 im Lauf der näch- 
sten Monate der Entwicklung pathologisch werden. Er zeigt, 
daß das, zum Teil in noch höherem Flundertsatz, bei allen 
daraufhin untersuchten Tieren der Fall ist. Damit hängt die 
Übersterblichkeit männlicher Früchte zusammen, wie unten 
gezeigt werden wird. Wie sich die von Spcmann u. a. nach- 
gewiesenen Induktoren und Organisatoren der Entwicklungs- 
mechanik zu bestimmten Genen verhalten, ist noch vollkommen 
unbekannt. 

Eine andere Reihe von Erbfaktoren regelt nun Wachstum 
und Entwicklungstempo der einzelnen Organe und Organteile. 
Beim Menschen konnte Hanhart 2 ) zeigen, wie die verschie- 
denen Formen erblichen Zwergwuchses auf verschiedenen, teils 
dominanten, teils rezessiven Erbanlagen beruhen. Einige be- 
herrschen schon das Wachstum vor der Geburt (primordialer 
Zwergwuchs), andere die frühe Kindheit (infantilistischer 
Zwergwuchs), einige besonders die Knorpelbildung (Chondro- 
dystrophie), andere zugleich gewisse Teile des Stoffwechsels 
(Zwergwuchs mit Dystrophia adiposo-genitaiis). Jeder solche 
krankhafte Erbfaktor beweist, daß ihm als Allel ein den be- 
treffenden normalen Wachstumsvorgang beherrschender Fak- 
tor entspricht. Einen Teil dieser Faktoren dürfen wir uns ein- 
fach als Faktoren des Wachstumstempo vorstellen. Lan- 
dauer 3 ) konnte zeigen, daß beim Huhn ein einzelnes domi- 
nantes Gen chondrodystrophischc Verkürzung der Extremitäten 
hervorruft (Abb. 33). Die dadurch entstehende sog. Rasse des 
Krüperhuhns zeigt nun außerdem auffällige Mißbildungen am 
Schädel und an den. Augen (Abb. 34/35). Diese treten beihomo- 
zygoten Individuen auf, die am Leben bleiben; die meisten 
Homozygoten sterben aber nach einer Entwicklungsdauer von 
etwa 72 Stunden. Man stellt also fest, daß die eigenartige 
Verbindung von Skelett- und Augenmißbildungen „durch die 
doppelte Quantität eines Gens hervorgerufen (wird), das in 
einfacher Dosis (nur) chondrodystrophische Störungen des 
Skelettwachstums zur Folge hat". Landauer zieht daraus 

x ) Grosser. Frühentwicklung, Eiliautbildung usw. (Deutsche Fraucn- 
kunde V). München 1927. 

s ) S. Abschnitt 3 (Lenz). 

3 ) Landauer. Untersuchungen über das Krüperhuhn. Zcitschr. mikr.- 
anat. Forsch. 32. 1933 (Lit.). — Ders. Journ. Genet. 26. 1932 und Journ. 
Hered. 24. 1933. 



ALLGEMEINE MORPHOLOGISCHE ERBANLAGEN. 111 

mit Recht den bindenden Schluß, daß beide Mißbildungen von 
ein und demselben Gen abhängen. Dabei ist die eine an ciner 
ektodermalen, zerebralen Anlage, die andere am Mcsoderm- 
knorpel festzustellen! Es muß ein Gen allgemeiner Wirkung 
auf Embryonalentwicklung sein, und Landauer konnte in 




Abb. 33. Homozygoter Krüperhuhnembryo mit Extremilälenmißbildung. 
(Nach Landauer.) 

der Tat zeigen, daß sich normale Flühner- und homozygot 
kranke Krüper-Embryonen verschieden rasch entwickeln und 
offenbar die Wachstumshemmung bestimmter Teile und zu 
bestimmten Zeiten nachher die Augcnmißbildung bedingt. Bei 
so verschiedenartiger Erscheinung der Einzelmißbildungen an 
einem Embryo hätte man an sich und von vornherein niemals 
an die Wirkung eines einzigen Gens gedacht. Man muß bei 
so verwickelten Genwirkungen zum Teil an Genwirkung auf 
dem Umweg über Hormonwirkung denken. (Ärztlich gibt das 
bezüglich mancher sehr verwickelter Syndrome sehr zu denken !) 
Für den Menschen seien nur als Beispiele erwähnt, daß 
uns die Erblichkeit gewisser Myelodysplasien, wie Bremer 1 ) 
sehr schön zeigt, das Vorhandensein verschiedener und kompli- 
ziert ineinander arbeitender Gene für den normalen Schluß 
des Wirbelkanals, die normale Ausbildung des Rückenmark- 
rohres verraten, zugleich aber für eine ganze Anzahl Bil- 

: ) Breme r. Nervöse Erkrankungen unter dem Gesichtspunkt der Ver- 
erblichkeit. Aus: Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank? (Herausg. W. 
Klein) Jena 1935. 



112 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

düngen, die davon sekundär abhängen. — Die Erblichkeit der 
Zystennierc beweist, daß Gene vorhanden sein müssen, die den 
normalen Entwicklungsvorgang der Umbildung der embryo- 
nalen Urnierenbläschen in die Glomeruli beherrschen. Genau 




Abb. 34 




Abb. 35 

Abb. 34 und 35, Schnitte durch das Auge 

a) eines normalen 10 Tage alten Hühncrcmbryo mit der normalen 
Kno q:> eise hiebt in der Beinliaut (Skleralknorpel). 

b) eines homozygoten 12 Tage alten Krüperhuhnembryos ohne jede 
Spur von Knorpel. (Nach L a n d a u e r.) 



ALLGEMEINE PHYSIOLOGISCHE ERBANLAGEN. 



113 



so zeigt erbliche Haarlosigkeit, daß Erbfaktoren die Ausbil- 
dung von Haarwurzeln und Haarbälgen wie das Wachstum der 
Haare verursachen. Hierher würde Albinismus und normale 
Farbbildung, Polydaktylie und normale Fingerbildung, Amelie 
und normale Gliederbildung, Colobom und normaler Schluß 
des Augenbechers, Wolfsrachen und normale Gaumenbildung, 
Hüftgelenkluxation und normales Hüftgelenk, Rot-Grün-Blind- 
heit und normaler Bau und Funktion der retinalen Zapfen und 
vieles, vieles andere gehören; auch für die Größe und Form 
des Augapfels und die Krümmung der lichtbrechenden Appa- 
rate beweist die Vererbung ihrer Anomalien das Vorhanden- 
sein normaler Gene beim Gesunden. Man vergleiche die Schil- 
derung aller Erbleiden in Abschnitt 3, um zu sehen, daß, wie 
gesagt, für alle und jede Bildung und Umbildung bald einzelne 
getrennte, bald verwickeitere ganze Vorgänge oder Bildungen 
gleichzeitig beherrschende Erbfaktoren anzunehmen sind. Fällt 
einer aus, kann ein ganzes System sozusagen in Unordnung 
kommen und eine sehr verwickelte Mißbildung erscheinen, in 
anderen Fällen eine ganz beschränkte, z. B. eine einzelne weiße 
Haarsträhne. Warum bald das eine, bald das andere, wissen 
wir nicht. Hingewiesen sei noch darauf, daß wir allmählich 
auch auf diesem Wege zum Verständnis der „Harmonie" des 
Wachstums oder der Anordnung und des Verhältnisses von 
Organen oder Körperteilen kommen. Kühne und Fischer 
konnten zeigen, daß ein einziges Genpaar die gleichsinnige und 
harmonische Entwicklung von Wirbelsäule, Rippen, Rücken- 
muskeln, Pleura und Nervenplexus der Extremitäten restlos 
beherrscht (s. S. 185). 

Genau dasselbe gilt auf dem Gebiet der Physiologie im enge- 
ren Sinne. Unser gesamter Stoffwechsel, die Erscheinungen im 
Gebiet des Blutkreislaufs, des Nervensystems und der Sinnes- 
organe hängen von zahllosen einzelnen Erbfaktoren ab. Auch 
hier kann nur wieder an einzelnen Beispielen diese Tatsache, er- 
wiesen werden. Es seien die als Alkaptonurie und Cy stimme 
bekannte Störungen im Ablauf des Eiweißabbaues erwähnt. 
Bei jener werden bestimmte Aminosäuren nicht bis zu Ende, 
sondern nur bis zur Homogentisinsäure abgebaut. Sozusagen 
die letzte Strecke des Abbaues unterbleibt. Die Erkrankung 
beruht auf einem einfachen rezessiven Faktor (s.Afoschn. 3), den 
man sich etwa als Fehlen eines Fermentes vorstellen kann 
(Toenniessen). Es folgt aber daraus, daß alle normalen 
Menschen einen dominanten Erbfaktor haben, der die Bildung 

Baur-Fischer-J, enzl. 8 



114 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

jenes Fermentes, jedenfalls die Endstrecke des Eiweißabbaues 
beherrscht. Da weiter die Cystinurie in einer Unterbrechung 
des Abbaues des schwefelhaltigen Eiweißbestandteiles auf der 
Cystinstufe besteht, wozu die Anlage einfach dominant ist, müs- 
sen alle normalen Menschen einen zweiten, uns dadurch be- 
kannt gewordenen, und zwar rezessiven Faktor haben, der den 
normalen Abbau von Cystin bis Harnstoff beherrscht. Aus die- 
sen Tatsachen ergibt sich aber nun der so gut wie bindende 
Schluß, daß es auch für die vorhergehenden sozusagen „Streic- 
hen" des Eiweißabbaucs, vom Eiweiß bis zur Homogentisin- 
säure bzw. zum Cystin, Faktoren geben muß, wir wissen nicht 
wie viele, die die ersten Phasen des Umbaues bestimmen. 
Daß wir diese nicht kennen, ist dadurch bedingt, daß, wenn 
sie einem Menschen fehlten, dieser schon auf embryonaler 
Stufe, sagen wir von der Zeit der Leberausbildung an, einen 
Eiweißstoffwechsel überhaupt nicht haben würde und damit 
als Embryo zugrunde ginge. Ein Fehlen dieses Faktors, den 
wir uns dominant vorstellen müssen (sein Fehlen wäre rezes- 
siv), kann gelegentlich tatsächlich vorkommen. So lange er 
heterozygot bleibt, hätten die betreffenden Individuen einen 
normalen Eiweißabbau, weil ihnen der normale dominante 
Allelfaktor genügt. Wenn aber zwei Individuen mit der hetero- 
zygoten Fehlanlage sich, kreuzen, werden 250/0 der Früchte den 
Faktor beidelterlich erhalten, als Embryonen keinen Eiweiß- 
stoffwechsel haben und 'absterben. Der Nachweis des Grundes 
dieses Absterbens wird nie zu erbringen sein. Das sind 
dann (sicher extrem selten, einzelne) solcher Fälle, wie sie 
Grosser dem ungefähren Mengenverhältnis nach festge- 
stellt hat. 

Für den Kohlehydratstoffwechsel zeigt uns die Erblich- 
keit des Diabetes, für den Lipoidstoffwechsel die sog. Spleno- 
Hepato-Megalie nach Niemann-Pick die Beherrschung 
durch bestimmte einzelne Gene. Die Erblichkeit von Allergien 
(s. Abschn. 3) zeigt, daß auch für die entsprechenden feinen 
normalen Reaktionen Erbfaktoren anzunehmen sind. 

Es ist unmöglich und nach dem Gesagten wohl auch un- 
nötig, im einzelnen auszuführen, daß entsprechend für die Gc- 
fäßspannung, die Dauerhaftigkeit und Gesundheit der Gefäß- 
wände, daß für die Eigenart der Leitungsvorgänge im Nerven 
(s, „Tempo" S. 213), für das Funktionieren der Stäbchen und 
Zapfen (s. Abschn. 3);, für den Eintritt der geschlechtlichen Reife, 
des Wachstumsabschlusses, des geschlechtlichen Zyklus bei der 



ALLGEMEINE PHYSIOLOGISCHE ERBANLAGEN. 



115 



Frau jeweils Erbfaktoren aus den entsprechenden erblichen 
krankhaften Änderungen beweisbar sind. 

Es steht noch als große Aufgabe vor uns, viele solche Ein- 
zelheiten durch immer genauere Erbanalyse der Störungen in 
ihrer Erbbcdingtheit zu erfassen, eine Aufgabe, die am Kran- 
kenbett und durch physiologische und klinische Untersuchung 
der Blutsverwandten erkrankter Menschen (bzw. Zwillinge) 
gelöst werden kann. 

Die Fragen nach dem Verhältnis einzelner Anlagen zum 
betreffenden Erscheinungsbild, nach dem Vorkommen von mul- 
tipler Allelie, nach gegenseitigen Beeinflussungen einzelner 
Erbanlagen und andere sind noch ganz im Fluß, aber teilweise 
gerade am Menschen zur Erforschung geeignet, weil wir, wie 
schon erwähnt, für kein Tier so viel von Pathologie, Physiolo- 
gie und Anatomie kennen wde für ihn. Auf die Bedeutung 
all dieser Dinge für die klinische Medizin verweist E. Fischer 1 ) 
— eine Reihe sehr schöner Hinweise und Darstellungen bringt 
Just 2 ). 



Diese ganze verhältnismäßig neue Vorstellung, daß alle 
morphologischen und physiologischen Erscheinungen von ein- 
zelnen mendelnden Erbeinheiten abhängen, führt noch zu einer 
anderen Betrachtungsweise. Die Stellung des Menschen zu den 
anderen Säugetieren und im besonderen zu den Großaffen, am 
nächsten zum Schimpansen (Schwalbe, Weine rt), ist na- 
türlich durch Gemeinsamkeit bestimmter und Verschiedenheit 
anderer Gene und Gengruppen bedingt. Nur Kreuzungen mit 
jenen könnten das im einzelnen erweisen, und solche gibt es 
nicht. Aber das Vorkommen z. B. gleicher Blutgruppen, d. h. 
der sie bedingenden Agglutinationsgene beim Menschen und 
Schimpansen, die wir ja als solche kennen, begründet obige 
Annahme. Die Entwicklung des Menschen aus einer schim- 
pansenähnlichen Großaffenform bestand im Ersatz gewisser, 
nennen wir sie schimpansider Gene durch hominide und in der 
Neubildung besonderer, erstmalig auftretender, rein hominider 
Gene 3 ). Es bedeutet ein Vorgreifen auf spätere Ausführungen, 

2 ) Fische r. Die heutige Erblehre in ihrer Anwendung auf den Men- 
schen. Verhdlg. D. Ges. hin. Med. 46. Kongr. Wiesbaden 1934. 

s ) Just. Multiple Allelie und menschliche Erblehie. Ergeb. d. Biol. 
Bd. 12, 1935. 

3 ) S. z.B. M ollis 011. Arteiweiß und Erbsubstanz. Z. f. Morph. Anthr. 
(Fcstb. Fischer) 34. 1934. 



116 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

wenn gleich dazugefügt wird, daß dann im Gensatz des ge- 
wordenen Menschen abermals Verlustmutanten und Gewinn- 
mutanten verschiedenster Art und zu verschiedener Zeit einzeln 
und gruppenweise gehäuft auftraten: das war dann Rassenbil- 
dung (s. diese). Ihre Einzelheiten sollen uns später beschäf- 
tigen. ; 

b) Erbanlagen der Färbung. 

Hautfarbe. 

Für die Farbe der Haut 'müssen wir eine ganze Anzahl ein- 
zelner Erbanlagen annehmen. Dabei dürften multiple Allele 
die Reihe von dunkel nach hell bestimmen mit Dominanz der 
dunkleren Stufen über die helleren. Ein einfaches intermediäres 
Braun für Mulatten gibt es nicht, es löst sich bei exakten Un- 
tersuchungen, z, B. D a v e n p o r t s 1 ) auf Jamaika, in eine Reihe 
von Spaltungen auf. Fischer 1 ) fand an Europäer-Hotten- 
totten-Mischlingen seiner Zeit schon dasselbe. 

Außerdem muß es aber noch polymere Faktoren geben, 
die gewisse Einzeleigenschaften der Hautfarbe bedingen. So 
scheint in der Negerhaut ein erblicher Gelbbestandteil zu sein. 
Dafür spricht das Auftreten von Gelbfärbung bei Rückkreu- 
zung von Mulatte mit Europäer, wo es vor allem am Daumen- 
nagel und an der Nasenlippenfalte sichtbar wird, während nach 
Davenports 8 ) interessanter Angabe die Kreuzung von Euro- 
päern mit Australiern die verschiedensten Abschattierungen 
von Dunkel gibt wie bei Mulatten, aber kein Gelb. Darnach 
würde dem Australier der als rezessiv anzunehmende Gelb- 
faktor der Negerhaut fehlen. 

Es gibt aber offensichtlich auch ein dominantes Hell, d.h. 
in der hellen Europäerhaut steckt noch ein Faktor, der viel- 
leicht als Pigmentunterdrückungsfaktor aufgefaßt werden darf. 
Davenport fand bei seinen Mulattenuntersuchungen bei hell- 
Xhell-Kreuzungen eine nicht ganz unbeträchtliche Zahl dunkler 
Nachkommen, Fischer dasselbe bei den Hottentottenbastards 
und Rodenwalclt bei Kisaresen. Da wäre jener Faktor in 
der Mendelspaltung ausgeschieden. Die seinerzeit von Hagen 
als besonders auffällig erwähnte Erscheinung, daß Tamil- 

!) Die in fast allen Abschnitten immer wieder zu nennenden grundle- 
genden Werke: Davenport and Stagerda, Fischer (Bastards und 
Genanalyse), Rodenwaldl, Dünn, v. Verschuer u. a. sind S. 289 
aufgeführt. 

2 ) Am. Jour. phys. Anthr. 8. 1925. 



ERBANLAGEN DER HAUTFARBE. 



117 



Malaien- Mischlinge oft dunkler sind als beide Eltern, und daß 
Portugiesen-Indier-Bastarde, unter sich fortgepflanzt, in vielen 
Fällen fast schwarze Farbe bekommen sollen, läßt dieselbe 
Deutung zu. 

Daß bei Europäer-Polynesier-Kreuzung die F-t -Kinder so 
hell wie die europäische Seite sind (Fischer) 1 ), zeigt eben- 
falls einen Dominanzfaktor des europäischen Hell. 

Einen besonderen dominanten Faktor hat das Gelb der 
Mongolen. Es ist darnach genetisch von dem rezessiven Gelb 
des Negers zu sondern. Die Dominanz des mongoliden Gelb- 
faktors zeigt sich deutlich bei F-^Bastarden von Kreuzungen 
zwischen Europäer und Chinese. Von 41 solchen waren nach 
Tao a ) 3J gelblich, 2 braun, d. h. das Gelbe mehr zugedeckt, 
und 2 kleine Säuglinge karminweiß. Bei diesen ist ein Nach- 
dunkeln anzunehmen. Gates gibt auch für einen F^Bastard 
von Portugiese und Tupi-Indianer eine Dominanz des gelben 
Tones neben dem dunklen Ton an. 

Lebzelter stellt fest, daß F t -Bastarde EuropäerXBusch- 
mann gelb aussehen, also ist auch hier das Gelb dominant. 

Weiter bestehen zweifellos bestimmte Verteilungsfaktoren, 
die den Unterschied in der Stärke der Pigmentierung von 
Rücken- und Bäuchseite, Streck- und Beugeseite der Glieder, 
das Hellbleiben von Handflächen und Fußsohlen, auch bei 
ganz dunkelhäutigen Rassen, regeln. Sie scheinen bei allen 
Menschen gleich, bei Affen anders zu sein. Nach Frieden- 
thal sind beim Tschego-Fetus im 4, Monat Hand- und Fuß- 
sohlen hell wie beim Neger, während der erwachsene Affe sie 
pigmentiert hat. 

Dann dürfte man erbliche Unterlage für den Unterschied 
des hellen Rosaweiß gegenüber mehr elfenbeinfarbenem Weiß 
für die hellhäutigen Europäer annehmen. Ich glaube, daß es 
nicht Erbfaktoren der Pigmentation, sondern der Hautbeschaf- 
fenheit sind, etwa dichteres Bindegewebe und dickere Haut bei 
Elfenbeinweiß. Die interessante Angabe von Holmes 3 ), daß 
die Negerhaut gegenüber der europäischen viel geringere Nei- 
gung zu gewissen Hauterkrankungen (Hautkrebs, Furunkel, 
Erysipel usw.) hat, läßt uns noch andere Erbfaktoren der Haut 



r ) Fischer, E. Europäer-Polynesier-Kreuzung. Z. Morph. Anthr. 
2S. 1930. 

r ) Tao, Chinesen-Europäerinnen-Kreuzung. Z. Morph. Anthr. 33, j 935. 

3 ) II o 1 m e s. The resistant ectoderm of the Negro. Am. J. phys. Anthr. 
12, )92&. 



118 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

annehmen. Schon fast aufs pathologische Gebiet führt die Be- 
sprechung von Sommersprossen. Die Erbanlagen dazu sind 
viel verwickelter, als es auf den ersten Blick erscheint. Ihr Auf- 
treten dürfte zunächst an einen dominanten Erbfaktor geknüpft 
sein. Aber es kommt wohl ein besonderer Verteilungsfaktor 
dazu. Die Gleichmäßigkeit bei eineiigen Zwillingen (Dek- 
king) 1 ) spricht dafür. Zwischen den betreffenden Genen und 
den bei der roten Haarfarbe beteiligten müssen irgendwelche 
uns noch nicht bekannte Zusammenhänge sein. Karmin weiße 
Haut zeigt viel häufiger Sommersprossen als gelblichweiß e, 
bei der die allerstärksten Fälle nie vorkommen. AuchSkerlj 2 ) 
findet bei Sloweninnen Beziehungen, die sich aber im einzelnen 
nicht fassen lassen. 

Zum Erscheinungsbild der Sommersprossen wirken aber 
auch Hormone mit, und zwar wohl sexuelle, wie die Änderung 
der Zahl und Intensität der Sommersprossen bei ein und dem- 
selben Individuum in verschiedenem Alter zeigt. 

Man behauptet, daß Mischlinge von Europäern und Ja- 
panern und von Japanern und Malaien besonders häufig stark 
sommersprossig sind, genaue Untersuchungen scheinen aber zu 
fehlen. 

Noch mehr auf pathologisches Gebiet führt die Erschei- 
nung des Albinismus und Melanismus. Für letzteren fehlen an 
der Haut Beobachtungen (s. Haar). 

Albinismus kommt bei allen Rassen vor, aber in sehr ver- 
schiedener Häufigkeit. F. Sara sin 3 ) gibt eine sehr gute Zu- 
sammenstellung der Befunde. In Hinterindien und einigen 
chinesischen Provinzen ist Albinismus besonders selten, ebenso 
auf Sumatra und Borneo, dagegen sind auf Banka und Bah 
viele Albinos. Am meisten verbreitet ist der Albinismus bei 
einigen Stämmen von Zentralamerika ( i Albino auf 2 — 300 
normale Individuen), dann an der afrikanischen Westküste, 
z.B. an gewissen Orten der Goldküste (1 : 100). In Europa 
schätzt man 1 Albino auf 10—20000 Menschen. — Die Ver- 
schiedenheit im Vorkommen dürfte teils in verschiedener Häu- 
figkeit der Mutationen, teils in verschiedener Schärfe von Aus- 



1 ) D e c k i n g. Ephclidcnuntcrsuchungcn zum Ausbau der Sieraens- 
schen Methode zur Diagnose der Eineiigkeit. M. med. W. Nr. 29. 1926. 

2 ) S k c r 1 j. Beiträge zur Anthropologie der Slovcnen. Z. Morph. Anthr. 
28. 1930 und Anthr. Anz. 8. 1931- 

3 ) S a r a sin, F. Die Anschauungen der Völker über den Albinismus. 
Schweiz. Arch. f. Volkskunde. 34. 1936. 



ERBANLÄGEN DER HAUTFARBE. 



119 



lese, größtenteils in verschiedener Stärke von Inzucht ihren 
Grund haben. 

Partieller und ah gemeiner Albinismus ist von einem, ein- 
fach rezessiven Faktor abhängig, daneben ist ein geschlechts- 
gebunden rezessiv sich vererbender partieller Albinismus beob- 
achtet. Einzelheiten können hier nicht gebracht werden, eben- 
sowenig über Pigmentmäler (s. Abschn. 3). 

Auch die Unterhaut hat Pigmentierung. Von einzelnen Pig- 
mentzellen in der Lederhaut, die ganz zerstreut und vereinzelt 
angetroffen werden, kann abgesehen werden. Dagegen inter- 
essiert eine Ansammlung verzweigter Pigmentzellen in großer 
Menge in der Lederhaut oberhalb des Kreuzbeines. Durch sie 
kommt der Sakralfleck zustande, der bei Neugeborenen far- 
biger Rassen vorhanden ist. Wegen der tiefen Lage der Farb- 
zellen erscheint der Fleck bläulich, er verschwindet dann im 
Laufe der ersten Lebensjahre. 

Er wurde 1853 von Ochsenius 1 ) als erstem Europäer 
entdeckt, dann von Balz als Mongolenfleck wieder entdeckt 
und fand seitdem vielfache Bearbeitung (grundlegend von 
Adachi). Er findet sich außer bei allen Mongoliden (im wei- 
teren Sinn) und Negriden auch bei den mediterranen und 
orientalischen Europiden. ten Kate 2 ) findet ihn bei mehr 
als der Hälfte von Araber-Berber-Kindern und Judenkindern 
Nordafrikas, bei 1,13% Kindern von Griechen, Sizilianernusw. 

Nach Untersuchungen von Kreuzungen zwischen Nord- 
und Südeuropäern einerseits und Hawaier, Philippiner, Japaner, 
Koreaner und Chinesen andererseits auf Hawai versuchen 
Larsen und Godfrey 3 ) den Erbgang zu erklären durch 
Annahme zweier Faktoren : 

P als Faktor für die Ausbildung dieses Lederhautpig- 
mentes, vj für dessen Fehlen, dieses rezessiv. Aber das Pigment 
braucht zu seinem Erscheinen noch einen zweiten Faktor : 

v ) Während die B ä 1 z sehe Entdeckung an japanischen Kindern be- 
kannt ist und in der ganzen Lit. erwähnt wird — auch der Name Mongolen- 
flcck kommt daher — , ist die Entdeckung des Fleckes an chilenischen 
Indianern und Mestizen durch Ochsenius bisher völlig unbekannt ge- 
blieben. Erst jetzt teilt sein Sohn mit (Jhrb. f. Kinderhlk. 128. 1930), daß 
der Geologe Dr. h. c. Carl Ochsenius in einem Brief 1853 den Fleck 
genau beschreibt, er wurde von den Chilenen Callana genannt. 

2 ) ten Kate. Asservazioni sulle macchie turchine congenite nei 
ragazzi tunesini et algerini. Riv. di Antr. 28. 

3 ) Larsen and Godfrey. Sacra! pigment sports, a reeord of seven 
hundert cäses with a genetic theory to explain its occurcnce. Am. J. phys. 
Anthr. 10. 1927. 



120 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

o, rezessiv, läßt den Fleck erscheinen, O verhindert ihn. Indivi- 
duen mit dem Fleck müssen PPoo oder Ppoo sein, minde- 
stens ein P muß da sein, auch wenn der „Presence"-Faktor 
homozygot ist. Da nach der Statistik alle farbigen Rassen den 
Sakralfleck haben, dürften sie alle PPoo sein, die nordisch- 
weißen ppOo oder ppOO und die Portugiesen usw. PpOo. Die 
Beobachtungen an den verschiedensten Mischlingen entspre- 
chen dieser Auffassung. Daß unter einigen hundert Weißen 
(Nord- und Mitteleuropa, z. B. in Wien, München und Buka- 
rest) einmal ein Kind mit dem Fleck beobachtet worden ist, ist 
durch gelegentliches Einkreuzen von Südeuropäern leichter zu 
erklären als durch solches von Mongolen. Die Verfasser ver- 
gleichen es mit der Erscheinung etwa dunkelbrauner Schwe- 
den oder blauäugiger Italiener. 



Haarfarbe. 

Die glänzenden Untersuchungen Nachtsheims 1 ) über 
die Vererbung der Haarfarben bei Kaninchenrassen, das Er- 
gebnis mehr als zehnjähriger fleißigster Arbeit, zeigen uns, wie 
außerordentlich verwickelt die Erbunterlage ist. Sie konnte 
nur durch ganz systematische Kreuzungen mit genetisch genau 
bekanntem Zuchtmaterial festgestellt werden. Schon daraus 
ergibt sich, daß eine sichere Feststellung der Einzelheiten für 
den Menschen fast auszuschließen ist. Aber Nachtsheim 
konnte auch zeigen, daß seine für die außerordentlich ver- 
schiedenartigen H aarf arben der Kaninchen nachgewiesenen 
Faktoren bei einer ganzen Reihe anderer Tiere, auch aus ganz 
anderen Familien der Säugetiere, vollständige Parallelen haben 
(Meerschweinchen, Katze, Hund, Pferd). Da nun die beim 
Menschen in Kreuzung und Vererbung beobachteten Erschei- 
nungen durch die Annahme entsprechender Faktoren, wie sie 
jene Tiere haben, restlos erklärbar sind, ist diese Annahme 
doch wohl berechtigt. Man muß sich bewußt bleiben, daß es 
nur eine Arbeitshypothese ist, aber man gewinnt doch dadurch 
eine Vorstellung und vor allen Stücken Fragestellungen für wei- 
tere Forschungen. Ich halte diese Annahmen für um so berech- 
tigter, als die Zwillingsforschung den bindenden Beweis bringt, 
daß auch feinere Abstufungen der Farbtöne erblich sind. 

1 ) Nachtsheim, Die Entstehung der Kaninchenrassen im Lichte 
ihrer Genetik. Z. Tierz. u. ZüchUmgsbiol. 14. 1929. 

Ders. Das Rexkaninchen und seine Genetik. Ztschr. ind. Abst. 52. 1929. 
Mutationen und Rassenbildung bei den Pelztieren. Landw. Pelztierz.5. 1934. 



ERBANLAGEN DER HAUTFARBE. 



121 



v. Verschuer (Die hl und v. V.) betont, in Übereinstim- 
mung mit anderen Forschern, daß beiEZclieHaarfarbe ,, nicht 
nur im allgemeinen Eindruck, sondern auch in der Verschie- 
denartigkeit der Färbung einzelner Strähnen oder in der ver- 
schiedenen Farbe von langem Haar am Ansatz oder Ende" 
gleich ist. Kleinere Verschiedenheiten stellen sich gelegentlich 
in der Wachstumszeit, verschieden schnelles Nachdunkeln, ein. 
Sonst ist die Gesamttönung fast immer gleich. Von 215 EZ~ 
Paaren haben 75,80/0 völlig gleiche Haarfärbung, von 156 
ZZ-Paaren nur 7,1 0/0. Es müssen also auch die feinere Tönung 
bestimmende Faktoren da sein, die Aufgabe ist nur, sie zu 
finden. 

Die Haarfarbe beruht auf kleinen Pigmentkörnchen (wenn 
ich hier von Oberflächenstruktur, Fett- und Gasgehalt usw. ab- 
sehe). Man findet hellere und dunklere, braune und schwarze 
Körnchen, dichtere und lockerere Lagerung. Man findet weiter 
rote Körnchen und ziemlich sicher noch eine diffuse rote Fär- 
bung. Die Entstehung der Körnchen ist ein Oxydationsprozeß 
(Janko wsky 1 ), Salier 2 )). Ob die dunkelbraunen Körner 
„durch Übergänge" mit den schwarzen verbunden sind, wie es 
Salier darstellt, oder ob die beiden, wie ich glaube, verschie- 
den sind, spielt keine große Rolle. In beiden Fällen sind es 
eben Unterschiede im Ablauf oder Grad des Oxydationsvor- 
ganges. Ablauf und Grad aber werden von einzelnen unter- 
schiedenen Erbfaktoren abhängen, etwa genau wie der che- 
mische Vorgang des Eiweißumsatzes sozusagen in Strecken 
zerlegt ist, die von einzelnen Erbfaktoren beherrscht werden 
(s. S. 113). Auch die roten Farbkörner (einschließlich des et- 
waigen diffusen Farbstoffes) stellen Oxydationsprodukte dar, 
offenbar besonderer Art und, wie ich glaube, abhängig von be- 
sonderen Erbfaktoren. Die Sonderung der Pigmentkörner zei- 
gen auch spektrophotometrische Untersuchungen von Bunak 
und Sobolewa, die eine braune, eine graue und eine rote 
Reihe annehmen. Dasselbe habe ich schon rein nach der äußer- 
lichen Farbe 1907 vertreten. Ich glaube, eine Färb reihe (Oxy- 
dationsreihe) geht von hellem, reinem Grau (silberig oder 
aschenfarbig) über dunkleres Grau zu echtem Schwarz, eine 



*) Janko wsky. Beitrag zur Frage der Haarpigmente. Zeitschrift 
für Rassenphys. 5. 1932 mit Nachtrag. Ebenda. 

2 ) Salier und Maroske, Chemische und genetische Untersuchun- 
gen an menschlichen Pigmenten, speziell demjenigen des Haares. Zeit sehr . 
f. Konstit. -Lehre Bd. 17. 1933. (Lit.) 



122 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

zweite Reihe von hellem Gelb über Gelbbraun (ohne rötlichen 
Ton) zu tiefem, dunklem, schwärzlichem Braun. Und eine 
dritte Reihe geht von lichtestem Rotgold über Feuerrot zu 
dunklerem, leuchtendem Rot. Oxydationsstufen der verschiede- 
nen Reihen können an demselben Individuum beobachtet wer- 
den. Ich stelle mir vor, daß jene Art Oxydation, die die Rot- 
reihe macht, von Erbfaktoren abhängt, die als Mutation aus 
den anderen entstanden sind. Diese Mutation tritt bei den mei- 
sten Säugetieren gelegentlich auf (Rutilismus). Rassenmäßige 
Sonderung ist wohl nur für die beiden anderen Reihen einge- 
treten (s. unten). Die Erbfaktoren für die Entstehung der 
Haarpigmente sind von denen für die Entstehung der Haut- 
pigmente bis zu einem gewissen Grad unabhängig (die chemi- 
schen Vorgänge wohl auch nicht ganz dieselben), aber irgend- 
welche starken Zusammenhänge bestehen doch (s. unten). Die 
Vorstellung dieser Farbreihen, deren Vorhandensein in jüng- 
ster Zeit Bryn 1 ) in sehr schönen Untersuchungen in Nor- 
wegen bestätigt („cenclre Blonde" und „Gelbblondc" mit eige- 
nen Ausbreitungsgebieten), ist die Voraussetzung für die An- 
nahme ähnlicher Erbverhältnisse, wie sie Nachtsheim, wie 
gesagt, zunächst für das Kaninchen herausgearbeitet hat. Er 
zeigt, daß alle Haarfarbenrassen dieses Tieres, deren man 
mehrere Dutzend kennt, von der Farbe des Wildkaninchens 
ableitbar sind, von dem ja auch alle in der Tat abstammen. 
Für das Wildkaninchen wird als ursprünglicher Genotypus der 
Haarfarbe das Vorhandensein von fünf ursprünglich homo- 
zygoten Faktoren angenommen: A, B, C, D, G 3 ). 

Dabei ist A der Grundfaktor für die Pigmentierung über- 
haupt, a verhindert diese, macht also totalen Albinismus. B, C 
und D sind die eigentlichen Pigmentfaktoren. Und G ist ein 
Verteilungsfaktor, der beim Kaninchen jene Farbverteilung 
macht, die wir Wildfarbe nennen. Für den ursprünglichen 
Menschen, vor seinem Zerfall in Rassen, nehme ich dann ent- 
sprechend als Erbformel an A, B, M, r, G. Da eigentliche Rot- 
farbigkeit (R) nirgends als Rassenmerkmal auftritt, war sie 
ursprünglich nicht vorhanden; ich könnte ebenso den Buch- 
staben r weglassen. In der obigen Formel würde A wie beim 
Kaninchen der Grundfaktor für die Pigmentierung sein, a würde 

x ) Bryn und Schreiner. Die Somatologie der Norweger. Skrit 
Nor. Akad. Oslo mat nat. Kl. i, 1929. 

a ) Ich lasse mit Nachtsheim je den 2. Buchstaben auch in allen 
folgenden Formeln der Einfachheit halber weg, er ist selbstverständlich. 



ERBANLAGEN DER HAARFARBE 



123 



also, wie wir es überall in der Menschheit gelegentlich fest- 
stellen können, totalen Albinismus, also weißes Haar machen. 
Es ist bekanntlich rezessiv gegen das dunkle. G ist ein Vertei- 
lungsfaktor. Er müßte also die Verteilung, d. h. die Verschie- 
denheit der Ffaarfarbe auf ein und demselben Kopf oder die 
Verschiedenheit zwischen Kopf und Körperhaar, aber auch an 
ein und demselben Haar regeln. Salier macht auf das Vor- 
kommen von deutlich verschiedenen Haaren besonders aufmerk- 
sam. Ich habe 1907 auch schon darauf hingewiesen. Über die 
Verteilung wird nachher noch zu sprechen sein. Die Faktoren 
B und M wären dann (entsprechend Nachts hei ms Kanin- 
chenfaktoren B, C,D) beim Menschen die eigentlichen Pig- 
mentfaktoren. Dabei würde B eine braune Farbe, M (Melanis- 
mus) eine schwarze bedingen. Der Mensch mit der Formel 
ABMG hätte also eine normale Pigmentbildimgsfähigkeit (A), 
eine normale (in ihrer Art jetzt einmal nicht näher zu erör- 
ternde) Verteilung seiner Farben (G) und dunkelbraunschwar- 
zes Ff aar (BM). So könnte man sich den ursprünglichen Men- 
schen vorstellen. B und M haben natürlich kein gegenseitiges 
Dominanz-Rezessiv-Verhältnis, da ein solches nur zwischen Al- 
lelen besteht. Rassenbildung tritt nun auf, indem ein Gen weg- 
fällt, z. B. dasjenige für braun. Solche Individuen haben dann 
die Formel AbMG. Dieses Haar wäre wirklich schwarz. Echt 
schwarzhaarige Rassen wären also durch eine Genmutation 
aus der Ursprungsform entstanden. Hat umgekehrt das andere 
Farbgen mutiert, entstand die Formel AB mG. Das gibt ein dun- 
kelbraunes Haar. Man könnte natürlich auch als ursprüngliche 
Form das Schwarz und dann das Braun als erste neu aufge- 
tretene Mutante oder umgekehrt auffassen; es ändert am Er- 
gebnis nichts. 

Eine Anzahl Autoren, z.B. Piabe, haben nun Intensitätsfakto- 
ren angenommen. Man kann das tun und könnte nun die Stufen 
von Schwarz nach Grau und parallel von Braun her nach Hell- 
braun und Blond durch solche Intensitätsfaktoren erklären. Die 
zahllosen Experimente am Kaninchen lassen uns aber noch eine 
andere Erklärungsmöglichkeit sehen. Wir können uns, wobei 
ich ganz den Ausführungen Nachts heims folge, an Stelle 
des Allelenpaares Aa eine albino tische Allelenserie vorstellen. 
Nachts heim führt aus, wie a an Stelle von A jegliche Me- 
laninbildung aufhebt, so daß weißes Haarkleid und farblose, 
d. h. rotleuchtende Iris auftritt. Aber, fährt er fort: „Außer 
diesen beiden Extremen Aa sind uns heute hier weitere Fak- 



124 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 



toren bekannt, die wir mit a chI , aa, a m und a u bezeichnen, und 
die, ihrer phänotypischen Wirkung nach betrachtet, Zwischen- 
stufen zwischen A und a darstellen. Keiner von diesen Fak- 
toren erlaubt eine volle Melaninbildung, wie sie bei Anwesenheit 
von A vor sich geht, unterdrückt aber auch andererseits die Me- 
laninbildung nicht vollständig, wie es a tut. Die vier Faktoren 
leiten von dem einen Extrem, der vollen Ausfärbung, Schritt 
für Schritt zu dem anderen Extrem über, dem vollständigen 
Albinismus." Ich glaube, das paßt auch für den Menschen ganz 
ausgezeichnet. Die unter der Annahme der Albino-Allelen-Serie 
analysierten Kaninchenrassen zeigen bei dem stufenweisen Farb- 
verlust über chinchilla-f arbig, bräunlich, schmutzig-weiß, rus- 
senfarbig bis weiß auch die verschiedensten Stufen von hell- 
brauner, grauer und blauer Iris. Bekanntlich sind Neger- 
Albino, auch manche Albino bei uns, nicht weißhaarig, sondern 
zeigen gelbliches oder gelbblondes Haar. Ebenso kennt man 
Neger-Albino mit blauen Augen, bei denen also Pigmentbil- 
dung im retinalen Apparat noch möglich war. Auf allerlei Stu- 
fen amniotischer Entfärbung macht Harris 1 ) bei den sog. 
weißen Indianern in San Blas aufmerksam. Ich habe in meiner 
Domestikationsarbeit den Beweis zu erbringen versucht, daß 
grundsätzlich kein Unterschied ist im rein anatomischen Ver- 
halten von Iris, Haut und Haar zwischen manchen Stufen von 
Albinismus und blondhaarig-blauäugig-weißhäutigen Rassen, 
bei Tier und Mensch. 

Wenden wir diese Vorstellung auf den Menschen an und 
drücken wir sie in einer allerdings ganz hypothetischen Erb- 
formel aus, so müssen wir zwischen A und a eine Anzahl Stu- 
fen einfügen. Da wir nicht wie beim Kaninchen Chinchilla- 
farbe, Marderfarbe usw. annehmen können, .liegt zunächst die 
Annahme einfacher Intensitätsstufen nahe. Wieviele solcher, ist 
ganz unsicher. Diese Albino-Allelen können sich dann mit der 
braunen wie mit der schwarzen und mit der ursprünglich 
schwarzbraunen Rasse verbinden. Wir bekämen beispielshalber : 
ABmG dunkelbraun Iris braun 

a 4 BmG braun 

blond Iris hellbraun, gesprenkelt, 

grau, grün usw. 
hellblond Iris blau 

ajBmG fahlblond Iris blau 

a BmG weiß Iris rot 



a 3 BmG 



a 2 BmG 



x ) Harris. The San Blas Indians. Am. J. phys. AnLhr. 9. [926. 



ERBANLAGEN DER HAARFARBE 



125 



a 4 bMG 
a 3 bMG 

a 3 bMG 



Ganz entsprechend sieht die Kombination dieser Allelen- 
serie mit M aus : 

AbMG schwarz Iris schwarzbraun 

dunkelgrau 

mittelgrau Iris hell 

hellgrau Iris grau ? blau ? hellgrün ? 

a ± bMG silber Iris grau ? blau ? hellgrün ? 

a bMG weiß Iris rot. 

Eine entsprechende Reihe ließe sich natürlich auch für die 
ursprüngliche Formel ABMG aufstellen. 

Mit Nachts heim müssen wir uns auch für den Men- 
schen vorstellen: „Der Faktor, der die stärkere Melaninbil- 
dung bedingt, ist immer dominant über den Faktor, der die 
schwächere Melaninbildung hervorruft." 

Es ist nicht ausgeschlossen, daß entsprechend wie beim 
Kaninchen die Albino-Allelen nicht nur rein stufenweise De- 
pigmentierung machen, sondern verschiedenartige helle Farb- 
wirkung, Chinchilla usw., so auch beim Menschen allerlei 
Nuancen der blonden Töne auf derselben Basis entstehen. Man 
sieht doch ab und zu Menschen mit fahlem Blond, fast weißen 
Augbrauen, blaßblauen Augen, die sehr lichtempfindlich sind. 
Man hat deutlich den Eindruck eines nicht vollständigen Albi- 
nismus. Lotsy und Goddijn beschreiben solche verschie- 
denen Grade bei südafrikanischen Mischlingen. 

Ich will hier gerne noch clazufügen, daß, wenn sich Sal- 
ier s Annahme bewahrheiten sollte und schwarzes Pigment 
und braunes Pigment an sich dasselbe ist, daß wir dann statt 
B und M nur einen Farbfaktor annehmen müßten und sämt- 
liche blonden Nuancierungen auf die Wirkung der Albino- 
Allelenreihe schieben müßten. Es scheint mir theoretisch we- 
niger wahrscheinlich, aber die Entscheidung wird Mikroskopie 
oder chemische Untersuchung liefern, vielleicht auch glücklich 
beobachtete Menschenkreuzungen. 

Bei dieser ganzen Darstellung wurde nun von der Rot- 
haarigkeit ganz abgesehen. Für diese muß man im Rahmen 
dieser ganzen Theorie einen durch. Mutation neuaufgetretenen 
Faktor R annehmen. Da es den Anschein hat, daß Rothaarig- 
keit unter Braunen und Goldblonden häufiger vorkommt als 
etwa unter den schwarzhaarigen Mongolen und Negern, darf 
man die Mutante vielleicht in Beziehung zum Faktor B bringen. 
Von ihm hätte sich der Faktor R als neuer Faktor: abgespalten. 
Chemisch ausgedrückt, es ist noch eine neue zweite Art des 



126 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Oxydationsganges entstanden, der zu einem roten Endprodukt 
führt — dieser chemische Vorgang wird vom Faktor R be- 
herrscht. Er kann neben dem anderen herlaufen! Sein Fehlen 
(r) läßt nur den anderen Oxydationsvorgang zu. Ich möchte 
aber annehmen (mit Conitzcr 1 ), daß es auch niedrigere 
Stufen von R gibt, also nicht nur R und sein Fehlen r, sondern 
etwa noch eine oder zwei Mittelstufen, r v r 2 , die den Prozeß 
nicht bis zu ausgesprochenem Rot, sondern nur bis gelb oder 
rötlich führen. Eigenartig muß das Verhältnis von A zu R sein. 
R ist von ihm, soviel wir sehen können, unabhängiger, als es 
die anderen Pigmentfaktoren sind. Es wird vielleicht nur durch 
den a-Zustand ganz unterdrückt, nicht aber durch a ± , a 2 , a 3 , a ± . 
Aber wir wissen noch nichts Genaues darüber. Beobachtung 
von Rothaarigen unter Halb- und Ganz-Albinos wären hier 
von Wichtigkeit. Immerhin weise ich auf die außergewöhnlich 
weiße und empfindliche flaut und helle lichtempfindliche Augen 
mancher Roten hin! Ich stelle mir also R als einen eigenen 
Erbfaktor vor, der bei vielen Menschen vorhanden ist, meist 
aber fehlt. Er hat dann zu B und M keinerlei Dominanz- oder 
Rezessivverhältnis, sondern ist, wenn vorhanden (R), dominant 
über seine Allele r. Das scheint zunächst den Beobachtungen 
und interessanten Stammbäumen S allers (a. a. O.) zu wider- 
sprechen. Ich glaube aber, man kann diese Stammbäume doch 
in Einklang mit obiger Hypothese bringen. Der Faktor R 
kann bei ABmG oder auch bei a 4 BmG-Individuen, die dunkel- 
braun oder braun aussehen würden, auftreten. Wir sehen dann 
von diesem Rot entweder nichts, weil es durch den B-beding- 
ten braunen Farbstoff zugedeckt wird (zudecken wörtlich zu 
nehmen, nicht im Erbgang). Oder aber das braune Haar sol- 
cher Individuen hat einen etwas stärkeren rötlichen Schimmer. 
Man würde also ein Individuum mit der Erbformel ABmGR 
nicht oder kaum unterscheiden von einem ABmGr. Noch mehr 
gilt das von r t — während AbmGq noch gelbrot erscheint I 
Wahrscheinlich würde in der M -Reihe ein R noch stärker zu- 
gedeckt sein und unserer Beobachtung entgehen. Wenn aber 
nun im Albinofaktor einzelne von den unteren Mutationsstufen 
seiner Allelenreihe auftreten, a 2 oder a :L , dann erkennt man das 
R sofort. In den S all er sehen Stammbäumen, in denen er den 
Rotfaktor als rezessiv auffaßt, würde ich die Sachlage also so 
deuten, daß eine Rezessivität der niedrigen a-Stufen gegen die 
höheren besteht. Bei den hohen und bei A sieht man dann .'auch 

2 ) Conitzer. Die Roüiaarigkcit. Z. Morph. Anthr. 29. 1 93 1 . 



ERBANLAGEN DER HAARFARBE 



127 



etwa vorhandenes Rot nicht und deswegen mußte es Salier 
für rezessiv halten. Zum Studium des Rot sind nach meiner 
Auffassung Bevölkerungen wie die, mit deren Haaren Salier 
arbeitete, Rialaien, Melanesien-, ungünstig. Das konnte Salier 
nicht wissen. Kranz 1 ) bestätigt, es an Eskimos. Ich hätte wegen 
der Auffälligkeit und des z. B. von N euhaus 2 ) geschilderten 
Vorkommens von Rothaarigkeit im Malaiischen und Melanesi- 
schen Archipel vor Sa Hers Arbeit solche Studien auch für 
ganz besonders wichtig und interessant gehalten. Gerade S al- 
lers Arbeit hat mich auf den richtigen Weg geführt. Ich will 
ihn nicht irgendwie als eine Lösung bezeichnen, sondern nur 
und einzig als Arbeitshypothese. Meine früheren Vorstellungen 
gebe ich damit auf. Die nächste Aufgabe ist wohl die Verfol- 
gung eines sehr reichen Materials von Rothaarigen in einer 
blonden Bevölkerung. Die größere Häufigkeit Roter neben 
Blonden gegenüber Dunklen wäre demnach nur äußerlich, in- 
dem wir das Rot bei den Dunklen nicht sehen. — Daß zur Er- 
kennung des Rot eine halbalbinotische Aufhellung des Braun 
gehört, zeigt die Beobachtung von Neuhaus 3 ), daß die 
Roten neben den Papuas am Sattelberg stets „hellere Haut- 
farbe" hatten. Auch Schellong 4 ) sagt von den Zabim : „Die 
Haarfarbe ist schwarz; sehr selten kommt auch rötliches Haar 
mit ebensolchen kurzen Wimpern vor. Solche Individuen haben 
dann zugleich die hellste Färbung der Flaut." — Vielleicht ist 
die Rotfarbe im ganzen viel häufiger als man denkt ! Wenn der 
Rotfaktor wirklich aus mehreren Allelen besteht, verstehen wir 
hell und dunkel, sichtbar und weniger sichtbar, sog. brandrot 
und fuchsrot oder andere Einzeltöne. Sie könnten andererseits 
natürlich auch durch die Wirkung der a x , a 2 und b D b 2 usw. 
bedingt sein. Auch Kecrs 5 ) hält die rote Farbe für bedingt 
durch eine selbständige Allelreihe. 

Noch bedarf der Verteilungsfaktor G einiger Worte. In 
genau entsprechender Form wie etwa beim Kaninchen und vie- 
len anderen Tieren wirkt er beim Menschen nicht. Der Mensch 



x ) Kra n z. Die Haare von Ostgrönländern und wcstgrönländischen 
Eskimo-Dänen-Mischlingen. Wiss. Ergebn. Deutsch. Grönl. Exp. Wegener. 
Bd. 6. Leipzig 1930/31. 

2 ) N e u h a u s. Deutsch Neu-Guine.a. Berlin 191 1. 

3 ) N e u h a u s. Deutsch Neu- Guinea, Berlin 191 i. 

i ) Schellong. Beiträge zur Anthropologie der Papuas. Zeit, Ethn. 
23. 1S91. 

5 ) IC e e r s. Über die Erblichkeit des menschlichen Kopfhaares, Arch. 
Kass. Ges. 27. 1933. 



128 EUGEN FISCHER, D/E KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

hat eine typische Verteilung dunkler und heller Haarfarben 
auf Rück- und Vorderseite nicht. Dagegen kommen doch auch 
Farbunterschiede zwischen Kopf- und Körperhaar und zwi- 
schen den einzelnen Haaren auf dem Kopf vor. Häufig sind 
die Haare auf dem Vorderkopf heller als die auf dem Hinter- 
haupt. Beim Mann ist sehr häufig Bart und Körperhaar mehr 
rot als das Kopfhaar, häufig auch heller als das Kopfhaar, 
jedoch so gut wie niemals dunkler. Dagegen haben sehr viele 
Blondinen dunkles Schamhaar. Wie weit das nun wirklich von 
einem Verteilungsfaktor abhängt und nicht etwa nur hormonal 
bedingt ist, muß ich offenlassen, 

Von Hormonwirkung abhängig ist auch die Erscheinung 
des Nachdunkeins, die Lenz 1 ) geklärt hat. Meine eigene frü- 
here Annahme eines Dominanzwechsels ist damit durch eine 
bessere ersetzt. Ein Farbwcchsel setzt gelegentlich schon gleich 
nach der Geburt ein. Man beobachtet bei uns ab und zu Neu- 
geborene, die dunkelhaarig sind und dann in den ersten Le- 
bensmonaten diese Härchen durch ganz helle ersetzen. Nach 
Lenz hat in solchen Fällen das betreffende mütterliche Hor- 
mon die Bildung reichlichen Haarpigmentes bei der Frucht 
erlaubt. Nach der Geburt genügen die eigenen Hormone des 
Kindes nicht für stärkere Pigmentbildung, das Kind ist blond. 
Später, wenn die Geschlechtsorgane, die die Hormone abgeben, 
reifen, dunkelt es nach. Der Grad des Nachdunkeins unter dem 
Einfluß der Hormone hängt von Art und Zahl der erblichen 
Pigmentanlagen ab. Bei Rassen mit sehr großen solchen An- 
lagen sind eben dann schon Kinder so dunkelhaarig, daß kein 
nennenswertes Nachdunkeln zustande kommt. Ebensowenig 
aber kommt solches bei rein blonden Rassen vor, „weil die 
wenigen Pigmentanlagen auch bei maximaler Aktivierung nicht 
ausreichen, um wirklich dunkle Pigmentierung zu bewirken". 
Bei Kreuzung Blonder und Dunkler verursacht die verschie- 
dene Mischung von Pigmentanlage und aktivierenden Hormo- 
nen das verschieden starke und zeitlich verschiedene Nach- 
dunkeln. Dies ist der von mir zuerst an den Bastards beschrie- 
bene Zusammenhang von Nachdunkeln und Bastardierung. 
Zur Erscheinung des Nachdunkeins gehört es wohl auch, daß 
gelegentlich Rothaarige später braunhaarig werden. Ich halte 
das für ein Nachdunkeln des Braun, das dann die nach wie 
vor bestehende Rothaarigkeit zudeckt. 



x ) Lenz. Muß das Nachdunkeln der Haare als Dominanzwechsel auf- 
gefaßt werden? Arch. Rass. Ges. Biol. 16. 1925. 



ERBANLAGEN DER IIAAREARBE 



1.29 



Sehr interessant sind die Feststellungen, daß Australicr- 
kinder eine rötliche KÖrperbchaarung" haben (K 1 a a t s c h ), 
ebenso Akkakindcr (S t uhlm ann) ! ) und solche in Neukaledo- 
nien (Sa ras sin). Diese relativ reiche rötliche KÖrperbchaa- 
rung der Kinder verschwindet nachher. Das erwachsene Kör- 
perhaar ist bei diesen Rassen natürlich wie das Kopfhaar 
schwarz. Das dürfte nicht nur unter den Gesichtspunkt des 
Nachdunkeins fallen, sondern uns noch die Wirkung stammes- 
geschichtlich älterer Erbfaktoren zeigen, die dann durch die 
Wirkung der jüngeren abgelöst wird. 

Genauere Untersuchungen über etwaige Erbfaktoren be- 
züglich früheren oder späteren Ergraucns fehlen. Es dürften 
ebenfalls hormonale Dinge mitspielen. Und eine Verbindung 
nach den oben vermuteten Verteilungsfaktoren könnte man in 
der häufigen Erscheinung sehr ungleich frühen Ergraucns 
etwa von Kopfhaar, Augbraucn, Bart, Schamhaar usw. er- 
blicken. Über alle diese Dinge fehlt, wie gesagt, noch fast jede 
Untersuchung. Wie lohnend sie wäre, zeigen die ersten Hin- 
weise auf rassenmäßige Unterschiede im Ergrauen: Neger 
scheinen später weiß zu werden als Europäer, Mulatten stehen 
dabei zwischen beiden (Boas 2 ), Castellanos) 3 ). 

Der Versuch, die Nachtsheimschen Ergebnisse der 
Genetik des Kaninchenhaares auf den Menschen zu übertragen, 
führt auch zur Möglichkeit der Erklärung des lokalen Albi- 
nismus beim Menschen, d. h. der Erscheinung, daß nur eine, 
oder fleckenweise zerstreut, eine Anzahl Haarsträhnen pigment- 
los sind. (Derselbe fleckige Albinismus kann ja auch die Haut 
betreffen, sog. Elsterneger, „Tigcrmäclchen".) Die Erschei- 
nung dürfte auf einem eigentlichen Scheckungsfaktor beruhen, 
wie wir deren mehrere bei zahlreichen Tieren kennen. Daß 
beim Menschen mindestens gewisse Fälle von echtem Flek- 
kungs-Albinismus sich als dominant vererbt erwiesen, zeigt, 
daß es sich nicht um gewöhnliche Depigmentierung der Alle- 
lenserie A . . . a handelt. Mit dem Fleckungsfaktor hängt bei 
Kaninchen, wie Nachtsheim in weiteren sehr schönen Ar- 
beiten zeigen konnte, die sog. Heterochromie, Verschiedenfar- 
bigkeit der beiden Iris oder Fleckung ein und derselben Iris 
zusammen (s. S. 134 und Ab sehn. 3). 

l ) Nach mir mündlich gemachten Mitteilungen Gusindes gilt das 
für alle inncrafrikanischen Pygmäen. 

") B o a 5 und M i c h c 1 s o 11 , The G rayin g of Hair. Am. Journ. Phys. 
Anthr. Vol. 17. 1932. 

s ) C a s t e 1 1 a 11 o s. El Pelo en los Cubanos. Habana 1933. 

E a u r - F i s c li c r - I y e 11 e I. 9 



130 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



Völliger Melanismus, wie wir ihn bei vielen Tieren sehen 
(schwarzes Eichhörnchen, schwarzes Puma usw.), ist beim 
Menschen nicht beobachtet. Aber er ist wohl auch nicht fest- 
stellbar, da beim heutigen Fehlen völlig reinrassiger Blond- 
rassen jedes schwarzhaarige Individuum unter diesen als das 
Ergebnis von Kreuzung aufgefaßt wird; man kommt gar nicht 
auf den Gedanken, daß etwa eine echte Melanismus-Mutation 
vorliegen könnte. Ich habe zwei Fälle von partiellem Melanis- 
mus beobachtet. Bei blonden, blauäugigen Männern fand sich 
einmal oben am Scheitel und einmal am Hinterhaupt im Blond- 
haar je ein beinahe talergroßer Fleck schwarzbrauner Haare. 
Auch hier dürfte das Zusammenwirken eines Fleckungs- mit 
einem Pigmentfaktor anzunehmen sein. Über die Vererbung 
weiß ich nichts; die betreffenden Eltern der beobachteten Män- 
ner sollen angeblich nichts Ähnliches besessen haben. Ganz 
vereinzelte schwarzbraune Haare auf dem Körper oder Kopf 
hellhaariger Individuen kommen oft vor. 

Schließlich ergibt ein Blick auf die gesamten Rassen, daß 
bei den meisten der M-Faktor homozygot vorhanden sein dürfte, 
die meisten sind schwarzhaarig. Bei vielen dürfte derB-Faktor 
homo- und heterozygot daneben vorhanden sein, was Dunkel - 
braunhaarige zwischen den Schwarzen zur Folge hat, z. B. 
Australier, gewisse Indianer u. a. Die Europiden dürften homo- 
zygot, den Schwarzfaktor entbehren (mm). Die nordische Rasse, 
die fälische und ostbaltische haben dann homo- und hetero- 
zygot die verschiedenen Allelstufen des Pigmentierungsfaktors 
A, also a 4 , a 3 , a 2 , a v Bei allen Rassen gab es Mutationen, die 
zum Rotfaktor führten, so daß dieser heterozygot und homozygot 
bei allen vorkommt, wenn auch in verschiedener Häufigkeit. 
Dasselbe gilt dann von allen anderen genannten Faktoren. 

Augenfarbe. 

Die Iris der Säugetiere verdankt ihre Färbung einer dop- 
pelten Pigmentierung. Die hinterste Irisschicht hat eine dop- 
pelte Lage intensiv gefärbter Epithelzeilen (Netzhautepithel), 
die allein schon genügt, die Iris lichtdicht zu machen gegen das 
Augeninnere. Vor jener liegen dann im Irisgewebe eine Menge 
großer und kleiner verzweigter Pigrnentzellcn, diese oft ganz 
erfüllend. Von diesem, allen Säugetieren zukommenden Bau 
gibt es nur eine Ausnahme : Bei einigen hellen Rassen der ver- 
schiedensten Haustiere verliert die Iris im vorderen Gewebe 
ihre Pigrnentzellcn teilweise oder ganz ; dadurch erscheint die 



ERBANLAGEN FÜR AUGENFARBE. 



131 



Iris hellgelbbraun oder grau oder grün oder blau. (Letzteres 
bei völligem Schwund der .Pigrnentzellcn; das stets bestehen 
bleibende pigmentierte Irisepithel schimmert dann durch die 
halbdurchsichtigen vorderen Irisschichten durch, was die Blau- 
färbung verursacht.) Beim Menschen ist im allgemeinen die 
Färbung wie bei den Säugetieren, also dunkel, nur rassenmä- 
ßig kann auch hier wie bei jenen einzelnen Haustierrassen das 
Pigment in der vorderen Irisschicht verloren gehen. So gibt es 
genau entsprechend hellbraune, graue, grüne, blaue mensch- 
liche Augen. Derselbe Verlust kommt Individuell vor, bei 
partiellem Albinismus, man kennt .zahlreiche solche Fälle, z.B. 
bei Negern, die dann blauäugig sind bei heller Haut und gelb- 
lich weißem Haar. Bei völligen Albinos kann dann der Pig- 
mentschwund eine Stufe weiter gehen, auch das hintere Iris- 
epithel ergreifen ; dann ist die Iris lichtdurchlässig und er- 
scheint infolge der durchschimmernden Blutfarbe rot. 

Die naheliegende Annahme, daß das anatomische Fehlen 
des vorderen Irispigmentes auf einer Verlust-Mutation beruht, 
wird durch Beobachtung der Vererbung zunächst bestätigt. 
Rein blaue Augen vererben sich im allgemeinen rezessiv gegen 
graue, grüne, hellbraune und, ein vorhergehender Schritt des 
Verlustes, diese rezessiv gegen die dunklen. Die dunklen sind 
darnach (beim Europäer) teils homozygot, teils heterozyg~ot, 
weshalb aus der Kreuzung dunkelX dunkel in vielen Fallen alle 
helleren Stufen herauskommen können. Aber gegenüber die- 
sem leicht übersehbaren Erbverhalten zeigten sich doch sehr 
viel verwickeitere Verhältnisse. Unsere Vorstellung, daß blau 
einfach ein rezessives Fehlen allen Pigmentes in der vorderen 
Irisschicht sei, grau und grün usw. ein teilweises Fehlen und 
eine verschiedene Verteilung des Restes, entspricht nicht der 
Wirklichkeit. Wie Wcninger 1 ) zeigen konnte, bestehen außer- 
ordentlich große Unterschiede in der Einzelstruktur der Iris, 
die ganz offenbar erblich sind. Die sog. vordere Grenzschicht, 
aus lockeren Zellen mit wenig Bindegewebsfasern und ohne 
Blutgefäße aufgebaut, trägt sehr wesentlich zur Farbe der 
Iris bei. Blaue Iris hat eine ganz zarte Grenzschicht und fast 
pigmentlose Zellen. Braune Iris hat nicht nur stark pigmen- 
tierte Zellen, sondern auch eine dicke Grenzschicht. Die Grenz- 
schicht kann fehlen, kann mittelstark ausgebildet sein oder voll- 
ständig erhalten. Von ihr hängt großenteils die ohne weiteres 

1 ) W e n i n g c r , J. Irisstruklur und Vererbung. Zeit sehr. Morph. 
Anthr. Bd. 34. 1934. 



132 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

am lebenden Auge (besonders am hellen) sichtbare Zeichnung 
von Streifen, Flecken, Ringen usw. ab. VVeninger zeigt in 
prächtigen farbigen Abbildungen die ungeheure Verschieden- 
heit bei verschiedenen Augen, andererseits eine verblüffende 
Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern und eine geradezu 
unglaubliche bei eineiigen Zwillingen. 

Über den Erbgang dieser Dinge wissen wir noch nichts. 
Sie versprechen aber erbtheoretisch und praktisch (z. B. Va- 
terschaftsbegutachtung) eine große Bedeutung zu bekommen. 
Diese Untersuchungen lassen also nun vermuten, daß neben 
den Faktoren für Pigmentbildung bzw. stufenweisem Pigmcnt- 
vcrlust noch Faktoren für Strukturunterschiede anzunehmen 
sind. Dadurch würden folgende Erscheinungen verständlich, 
wenn auch noch nicht erklärbar. Braune und dunkle Augen 
haben nicht immer „volle Dominanz" über Blaugrau, wie Bryn 
findet, es treten Mittelfarbige auf. Auch Helene Boas findet 
bei der Kreuzung von blau mit blau 120/0 zu wenig blau. Die 
bisherigen Versuche, die Erberscheinungen zu klären, etwa 
durch. Annahme besonderer Typen der Irisflecken, ringförmig, 
strahlenförmig, regellos, Davcnp r t 1 ), lösen die Frage nicht, 
offenbar, weil sie sich auf die einfache Betrachtung der Iris 
beschränken. W e n i n g c r (1. c.) arbeitet mit der Zcißschen 
Flammerlampc, der .Raumbildkammer und stereophotographi- 
schen Aufnahmen. Einstweilen müssen wir uns also mit der oben 
angedeuteten vorläufigen Annahme begnügen. Ich halte auch 
einen neueren Vorschlag von Bounak und Sobolewa 2 ), 
wonach strukturelle Gruppen unabhängig von gewissen Far- 
ben angenommen werden müssen, noch für keine Lösung. 

Bei der Vererbung der Augenfarbe kommt aber weiterhin 
noch eine Beziehung zum Geschlecht in Frage. Die Statistik 
zeigt, daß in vielen Bevölkerungen das weibliche Geschlecht 
mehr dunkle Augen hat als das männliche. Das gilt z. B. für 
Schottland, Schweden, Dänemark, Finnen und Lappen. Da- 
v empört gibt dafür eine Zusammenstellung. Sehr deutlich 
ist die Erscheinung auch bei den indischen Chitpavans (nach 
Karvc) 3 ). Dagegen fehlt diese Erscheinung bei vielen Grup- 
pen in Osteuropa, Russen, russischen und polnischen Juden, 

1 ) Davenport. Ra.cc crossing in Man. C. R. III Scss. Inst, intern. 
Anthr. Amsterdam 1927. 

2 ) Russisch mit deutschem Aus?Aig (Exp. Bjol. Serie 1925). 

3 ) Karvc. Beobachtungen über die Augenfarben an Chitpavan-Brah- 
manen. Zeitschr. Morph. Anthr. 28. 1931. 



ERBANLAGEN FÜR AUGENFARBE. 



133 



Serben, Bulgaren. Man muß offensichtlich, wie es Lenz 1 ) 
schon lange getan hat, neben den allgemeinen noch eine ge- 
schlechtsgebundene Erbanlage annehmen. Sie wäre wohl (D a- 
venport) in Nordwestcuropa im Geschlechtschromosom hcr- 
ausmutiert. 

Wir kennen ja am Auge auch pathologische Erbfaktoren, 
die geschlechtsgebunden sind. 

Diese geschlechtsgebundene Erbanlage dürfte auch auf die 
Haarfarbe wirken. Das Volk behauptet, dunkelhaarige Vater 
und blonde Mütter hätten meist blonde Söhne und dunkle 
Töchter. Es ist leider niemals nachgeprüft. Wenn wir eine Erb- 
anlage für gewisse Pigmente im Geschlcchtsc.hrom.osom anneh- 
men, müssen weibliche Individuen, die ja diesbezüglich homo- 
zygot sind, häufiger diese dominante Farbanlage bekommen 
als Männer. Tatsächlich ist die weibliche Bevölkerung entspre- 
chend der dunkleren Augenfarbe in den vorhin genannten Ge- 
bieten auch dunkelhaariger als die männliche. Im Erbgang 
muß der Mann häufiger die Pigmentanlage von der Mutter als 
vom Vater haben. 

Beziehungen zur Hautfarbe sind noch nirgends untersucht. 
Gates berichtet, daß bei Indianern bei ganz dunkler Haut 
ausnahmslos dunkle Augen, bei etwas hellerer Haut aber aller- 
lei Augenfarben vorkommen. Ein Erbfaktor wirke also gleich- 
zeitig auf Auge und Haut, andere nicht. Dort sollen auch ohne 
Mischung hellere Individuen mit helleren Äugen vorkommen. 
Es wären also spontan Vcrlustmutationen aufgetreten. 

Für die ganzen eben angedeuteten Beziehungen zwischen 
Haar-, Haut- und Augenfarbe hat man in der Rassenlehre das 
Wort Komplexion geprägt. Man versteht darunter die gleich- 
sinnige Färbung von Haut, Haar und Iris. Bei der großen 
Mehrzahl auch rassengemischter Individuen ist der relative 
Grad der Pigmentierung an den drei Stellen übereinstimmend. 
Es dürfte also einen gemeinschaftlichen, die einzelnen Pigment- 
faktoren regelnden übergeordneten Faktor geben. Ich glaube 
nicht, daß Übereinstimmung (Komplexion) nur zufällig ist, in- 
dem entsprechende Einzel faktoren sich bei den zahlreichen 
Kreuzungen häufiger treffen als nicht entsprechende. Aber 
jener Faktor muß auch fehlen können, denn wir finden nicht 
selten disharmonische Färbung. Dabei scheinen Haar- und 
Irisfarbe viel seltener auseinander zu gehen, als LI aar- und 

- 1 ) L e 11 7.. Über geschlechtsgebundene Erbanlagen für Augenfarbe. 
Arch. Rass. Ges. 13. 1921. 



134 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERB ANLÄGEN. 

Hautfarbe. Aber man findet doch auch nicht ganz selten bei 
uns blonde Individuen mit Haut, die gleichmäßig bräunt. 

Es ist noch wenig darauf hingewiesen worden, daß man 
bei uns an schwarzhaarigen und schwarzäugigen Juden des 
sephardimschen Typus fast als Regel eine besonders weiße 
pigmentarme Haut beobachten kann. (Ob auch bei solchen in 
Südeuropa und Nordafrika ?) 

Ähnlich wie bei der Haarfarbe haben wir auch an der Iris 
die Erscheinung des Nachdunkeins, wenn auch, lange nicht in 
dem Umfang wie dort. Helle und mittelhelle Augen dunkeln 
bei uns teilweise in den ersten Lebensjahren etwas nach, ab 
und zu sogar noch bei 10 — 12jährigen Kindern. Und ebenso 
wie das Haar werden auch Augen im Alter heller. Aber eben- 
falls nicht annähernd in gleichem Umfang. Wirklich dunkle 
Augen (vor allem auch bei rein dunkeläugigen Rassen) blei- 
ben dunkel. Dagegen werden grünblaue und tiefblaue heller 
und mehr stahlblau oder grau. Ob es wirklich eine Pigmcnt- 
und nicht eine Strukturänderung ist, steht nicht fest. 

Die Erscheinung der Heterochromie (Farbverschiedenheit 
von rechtem und linkem Auge) beruht auf sehr verschiedenen 
Dingen, teils rein pathologisch auf Erkrankung bestimmter 
Elemente des Sympathikusnervs, teils auf erblichem Vorhan- 
densein eines Fleckungsfaktors. Der Nachweis dafür ist aller- 
dings nur für das Kaninchen erbracht (Nachtsheim) 1 ). 
Auch das Vorkommen von andersfarbigen Abschnitten (Sek- 
toren) in einer Iris beruht auf solchem Fleckungsfaktor. 

Auf rein pathologisches Gebiet führt die Erscheinung, daß 
auch in der hintersten Epithclschicht der Iris kein Pigment ge- 
bildet werden kann; es besteht totaler Albinismus; die Iris 
leuchtet dann durch das Blutgefäßnetz, besonders die durch- 
schimmernde Aderhaut, rot auf. 

Das sog. Augweiß ist bei farbigen Rassen gelblich oder 
schmutziggrau oder mit leicht braungelber Marmorierung. Die 
tieferen Zellagen des Bindehautepithels sind hier stets pig- 
mentiert, wie bei allen Säugetieren mit Ausnahme einiger ganz 
helläugiger Haustierrassen. Auch hierfür müssen wir natürlich 
Erbfaktoren annehmen. 

Schließlich sei angeführt, daß die Form der Pigmentzellen 
im Irisgewebe, ebenso aber auch Menge und Anordnung von 
Pigment in der Sklera und Konjunktiva rassenmäßig sehr ver- 

r ) Nachtshei m. Die genetischen Beziehungen zwischen Körperfarbe 
und Augenfarbe beim Kaninchen. Biol. Zentralbl. 53. 1933. 



ERBANLAGEN LVR TASTLEISTEN. 



135 



schieden sind, wie PI a u s c h i 1 d *) nachwies — also liegen 
auch diesen Einzelheiten bestimmte Erbeinheiten zugrunde. Am 
Lebenden erkennt man die Pigmentierung des ,, Augweiß", also 
der Conjunctiva sclerac bei farbigen Rassen sehr deutlich; das 
„Weiß" ist dort ersetzt durch Gelblich, oft mit deutlicher 
dunklerer Marmorierung, oder mit einzelnen braunen Flek- 
keil 2 ). Diese Färbung soll bei Mischlingen, in deren Ahnen 
einmal ein Neger war, besonders lange sichtbar bleiben. Ge- 
naue Angaben darüber fehlen, man wird bei Untersuchungen 
von Mischlingen darauf achten müssen. 



c) Erbanlagen für Tastleisten und Handfurchen. 

Die Haut der Handfläche und Fußsohle ist an ihrer Ober- 
fläche grundsätzlich anders gebaut, als die des übrigen Kör- 
pers. Die Oberhaut trägt ein !f eines Leistensystem, die Papillar- 
leisten oder Tastleisten (Dermoglyphcn). Die Leisten bedecken 
die gesamte Haut und verlaufen in sehr eigentümlichen ver- 
wickelten Figuren. Sie bilden sog. „Muster" (Pattcrns). 

Die Tastfigurcn entsprechen den Tast- oder Sohlenballen 
der Affen und anderer Säugetiere, sie legen sich auch beim 
menschlichen Embryo zunächst noch in Ballenform an. 

Über die Vererbung der auffälligen Muster hat zuerst 
Galton Untersuchungen angestellt, auf ihn gehen die heu- 
tigen Einteilungen großenteils zurück, vor allen Stücken auch 
die Anwendung der Erscheinung zur Identifizierung von Ver- 
brechern. Für diese Zwecke ist eine besondere Technik in 
der Kriminalistik ausgebildet worden, die Daktyloskopie 
(s. Heindl 3 ). Die Möglichkeit dazu ist gegeben einmal in 
der Tatsache, daß das gesamte Leistenbild einer Hand, wenn 
es einmal beim Embryo ausgebildet ist, das ganze Leben lang 
unverändert bleibt. Die Leisten ändern sich nach Zahl und 
in gegenseitigem Verlauf nicht mehr. Als zweite Tatsache 
kommt dazu, daß die Kombinationsmöglichkciten der Figuren 
so groß, daß die Zahl der die einzelnen Figuren zusammen- 
setzenden Linien schwankend genug und daß endlich die Aus- 
gestaltung jeder einzelnen Linie mit kleinen Unterbrechungen, 

*-) Hauschi .1 d. Untersuchungen über die Pigmentation im Auge ver- 
schiedener Menschenrassen. Zeit sehr. Morph. Anthr. Bd. 12. 1909. 

2 ) Steiner. Ebenda Bd. 10. 1907. 

3 ) Heindl, R. System und Praxis der Daktyloskopie, 2. Aufl. 1922. 
3. Aufl. 1927. 



136 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN, 

Knickungen, Verdickungen, Gabelungen usw. so ungeheuer 
groß ist, daß zwei vollkommen gleiche Hände überhaupt nie- 
mals gefunden werden. 

Für die Erblchre haben diese Linien erst Interesse ge- 
wonnen, seit die mühevollen Arbeiten sehr vieler Forscher die 
außerordentlich verwickelten Erbverhältnisse klar zu legen be- 
gonnen haben. Ich bin überzeugt, daß in allernächster Zeit die 
Prüfung dieser Linien in bestimmt gelagerten Fällen von Va- 
terschaftsbegutachtung von mindestens ebenso großer Bedeu- 
tung sein, wird wie Blutgruppen und andere Merkmale. Auch 
für die Zwillingsdiagnose dürften sie weitaus das wichtigste 
Merkmal sein, in einzelnen Fällen schon ganz allein dafür ge- 
nügen. Den größten Fortschritt in dieser Forschung und 
den größten Beitrag zur Lösung der zahlreichen Fragen 
stellen die rasch aufeinander folgenden und in schönster 
Folgerichtigkeit aufgebauten Arbeiten Kristine Bonne vi es 
(seit 1923) 1 ) dar. Sie fußt auf den ersten Untersuchungen 
Galtons, dann vor allen Stücken H. H. Wilders 2 ). Zu 
nennen wären dann zahlreiche Arbeiten besonders der Wil- 
der sehen 3 ) Schule, Cummins 3 ), Midlo u. a. Dann viele 
Einzclbciträge von Japanern, Amerikanern und deutschen For- 
schern (Abel 4 ), Bett mann, Loth, Poll, Schlagin- 
häufen, v. Verse huer 5 )). 



!) B o 11 n e vi c , K. Was lehrt die Embryologie der PapiHarmuster über 
ihre Bedeutung als Rassen- und Familien Charakter ? Teil III. Zur Genetik 
des quantitativen Wertes der Papillarmuster. Ztschr. f. indukt. AbsLamm. 
u. Vererbungslehre. 1931, Bd. 59. H. r (Grundlegende Arbeit über die 
drei Erbfaktoren). 

Dies. Zur Mechanik der Papillarmusterbildnng. II. Anomalien der 
menschlichen Finger- und Zehenbeeren, nebst Diskussion über die Natur 
der hier wirksamen Epidermispolster. Wilhelm Roux. Arch. f. Eniwicklungs- 
mechanik d. Organismen. 1932. Bd. 126. H. 2. 

Dies. Vererbbarer Zercbrospinaldefekt ( ?) bei Mäusen mit sekundären 
Augen- und Fußanomalien nebst TurmschädcLinlagc. Avhandlinger Utgitt av 
Det Norske Vidcnskasps-Akadcmi I Oslo, j 93 1 . 

~) Wilder, II. FI. und Wentworlli, B. Personal Indentiücation. 
Boston [918. 

3 ) Cummins. Dermaioglyphics in Jcws. . . . in Ncgrocs. . . . in In- 
clians. Am. Journ. phys. Anthr. 10. 14. 15. 1927—30, 

Ders. and Leche and Mac C 1 u r e. Bimanual Variation in palmar 
dermatoglyphics. Am. Journ. of anat. 48. 193t. 

*) Abel, W. Wissenschaftliche Ergebnisse der deutschen Grönland- 
expedition Alfred Wegener. Leipzig 1929. 1930/31. Bd. 6. (Lit) 

Ders. Hand- und Fingerabdrücke von Fcuerländern. Ztschr. f. Morph, 
u. Anthrop. Bd. 34. 1934. 



ENTSTEHUNG DER TASTLEISTEN. 



137 



Zunächst soll die Entwicklung der Leisten, dann das erb- 
liche Problem behandelt werden, ich folge durchaus ßonnc- 
vie. Schon im zweiten Monat der Entwicklung haben sich 
kleine faallenförmigc Erhebungen mit Verdickung der Ober- 
haut an den künftigen Fingerbeeren und in der Handfläche 
gebildet. An der LIandfläche sind es vier solche oberhalb der 
Fingerwurzeln und je eine auf Daumen und Kleinfingerballen. 
Bald erscheinen dann noch auf dem Grundgelenk aller Finger 
kleinere Pölsterchen (s. Abb. 36). Nun beginnt die Keim- 
schicht der Oberhaut sich in feine Falten zu legen. An den Fin- 





Abb. 36. Modelle von Händen menschlicher Früchte, 

a vom Ende des 2. und b des 3. Monats, Vergrößerung a etwa 2ofach, 

■ b etwa I5fach (nach Schäuble, Zeitschr. Ethn. 65. Jahrg. 1933). 



gerbeeren beginnen solche in querer Richtung an der Furche, 
die das Endglied (Abb. 36) g&g&n. das Mittelglied begrenzt, 
und schreiten von hier nach der Fingerspitze fort. Am Nagel- 
wall beginnt eine Faltung, die gegen die Kuppe hinaufschreitet, 
und irgendwo auf der Höhe der Kuppe beginnt ein Falten- 
system, das sich ring- oder bogenförmig ausbreitet. Dieses 
kann auch an zwei Stellen auftreten, also doppelseitig sein. 
An der Handfläche entstehen in derselben Zeit auf den Zwi- 



Ders. Über die Frage der Symmetrie der menschlichen Fingerbeeren 
und der Klassenunterschiede der PapÜlarmuster. Biologia Generalis, Bd. 9, 
II. Hälfte. 1934. (Lit.) 

fi ) v. Verscbuer, O. Zur Erbbiologie der Fingerleisten, zugleich 
ein Beilrag zur Zwillingsforschung. Verhdl. d. Dtsch. Ges. f. Vererbungs- 
wiss. 1934. 



138 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



ENTSTEHUNG DER TASTLEISTEN. 



39 



schcnfingerballen ebenfalls kreisförmig fortschreitende Fal- 
tungen, dann am Rand des Ballens ebenfalls solche, ferner ober- 
halb der Beugefaltc der Fingergrundlinie und endlich solche 
entlang den tiefen Beugefurchen (.Dreifingerfurche und Fünf- 
fingerfurche) der Handfläche (Abb. 36) (nach Schäuble) 1 ). 
Ähnlich werden auf dem Daumen- und Klcinfingerballen Fal- 
tenbildungen entstehen, die aber noch nicht genauer untersucht 
sind. (Am Fuß fehlen noch entsprechende Untersuchungen, 
nur auf die grundlegende Arbeit von Schlagin häufen 2 ) 
sei verwiesen 3 ). 

Eine genaue Untersuchung der Mechanik der Entstehung 
dieser Falten liegt nur für die Fingerbecren vor (B onnevie). 
Im folgenden sollen deshalb zunächst einmal nur die Tast- 
linien der Fingerbeeren dargestellt werden. 

Das gegenseitige Verhältnis der drei Faltensysteme wech- 
selt. Die beiden von den Rändern der Beere kommenden bilden 
Bogen. Sie können fast allein das künftige Muster, ein Bogen- 
muster, machen. Die Falten von der Kuppenmitte machen 
Schlingen oder Wirbel, um die herum dann nur Bogen ziehen. 
Um diese Zeit sind die künftigen Flautnerven schon weit in 
die Finger hineingewachsen und stoßen von unten gegen die 
Flaut vor. B onnevie hat anfangs angenommen, daß die 
Stelle, wo ein kleiner FI autnerv zuerst an die Haut wirklich 
herankommt, den Mittelpunkt des beginnenden Musters bildet. 
Der Nerv sei das Maßgebende. 

Seitdem fand sie noch andere formende Einflüsse auf die 
Musterung. In jenen Entwicklungsstufen kriecht unter der 
Flaut seröse Flüssigkeit, ausgehend von der Hirnflüssigkeit 
(an der vorderen Nachbimlückc austretend) über den vorderen 
Teil des Körpers unter der Haut vorwärts bis in die Finger 
hinein. Die Flaut der Fingerkuppe wird dadurch etwas hoch- 
gehoben und bald mehr, bald weniger gespannt. Sic leistet 
auch bald mehr, bald weniger Widerstand. Das hängt von der 

1 ) Schäuble, J. Die Entstehung der palmaren digitalen Triradien. 
Ein Beitrag zur Entwicklung der Hautleistenzüge der distalen Palma. Ztschr. 
L Morph, u. Anthr. 1933. Bd. 31. H. 3. 

2 ) Schlaginliaufen, O. Hautleislensystcm der Primatcnplanta. 
Mit Berücksichtigung der Palma. Morph. Jahrbuch 1905. Bd. 33. II. 4; 
Bd. 34. H. 1. 

3 ) Einen kleinen kasuistischen Beitrag gibt L a s s 1 1 a. Anihrop. Un- 
tersuchungen über die Form und das Leistenrclicf der Fußsohle bei der 
Bevölkerung von Suomi. Ann. Acad. sc. Fennicae A. 31. Nr. 2 (Acta istit. 
anatom. Univers. „Helsinski 1 92g). 



Verschiedenheit der Menge und des Drucks der Flüssigkeit 
und wechselnder Fiautdickc ab. Diese letztere scheint die Haupt- 
sache auszumachen, je dünner die Flaut ist, desto höher wölbt 
sich unter dem Innendruck die Fingerbeere, und diese Wöl- 
bung zwingt zur Bildung sehr vieler Feisten. Je dicker aber die 
Epidermis, desto weniger Wölbung, und die flache Beere bil- 
det dann weniger Leisten. Die Verdickung der Epidermis 
scheint aber an einzelnen Fingern auch noch örtlich zunehmen 
zu können, an einzelnen oder benachbarten oder allen Fingern. 
Man spricht dann von Epidermis„polstern". Wo solche Polste- 
rung ist, ist also die Leistenzahl verringert 1 ). 

Auf diese Weise sind allmählich die Fingerkuppen voll- 
kommen bedeckt worden mit Leisten, die also nun bestimmte 
und sehr verschiedenartige Muster bilden. Einiges dabei hängt 
vom Zufall (Umwelt) der Verteilung und Menge der Flüssig- 
keit ab, anderes von der Dicke im allgemeinen oder stellen- 
weise, und diese Verhältnisse sind nach B onnevie erblich 
('s. unten). 

Fingerleisten. 

Die fertigen Muster zeigen nun, wie gesagt, eine unge- 
heure Vielfältigkeit. Man teilt sie ein in Bogen, Schleifen und 
Wirbel (Abb. 37). (Ich folge in der ganz kurzen Beschreibung 
dem praktischen Leitfaden von Geipel) 2 ). 




1 2 3a 3b 

Abb. 37. Schemalischc Darstellung von 1. Bogen, 2. Schleife, 3 a und b 
Wirbel. Aus Geipel, Leitfaden (nach Wilder). 



*) Ich persönlich glaube nicht, daß die Rolle des Nervs geringer ist, 
als es Bonnevi e ursprünglich annahm. Er dürfte auch für die Ausbrei- 
tung der Flüssigkeit nicht ohne Bedeutung sein. Daß der radiale und ulnare 
Polsterungsfaktor (s. u.) mit den entsprechenden Nerven zusammenhängt, 
glaube ich sicher. Hier müssen noch weitere Untersuchungen einsetzen. 

z ) Geipel, G. Anleitung zur erbbiologischen Beurteilung der Fin- 
ger- lind II an dl eisten. München 1935. 



140 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



MUSTER DER EINGERLEISTEN. 



141 



Das Bogenmuster besteht aus bogenförmig quer über die 
Fingerkuppe laufenden Linien. PI auf ig haben die einzelnen Li- 
nien Gabelungen oder Unterbrechungen, aber grundsätzlich 
ist nie Anfang und Ende der Linien auf der gleichen Seite des 
Fingers (Abb. 38). Gelegentlich ist der Bogen so steil und 
hoch, daß eine innerste Linie fast wie eine Achse wirkt. Man 
nennt diese Bogen Tannenbogenmuster (engl, tented, d.h.zelt- 
förmig) (s.Abb.38b,c). Da alle Leisten vom Grund des Fingers 
bis zur Spitze gleichmäßig quer laufen, werden die Bogen- 
muster als „kontinuierliche" bezeichnet. 

Beim Schlcifenmustcr laufen die untersten Linien ebenfalls 
quer, ebenso die an der Fingerspitze in hohem Bogen von einer 
Seite zur anderen. Dazwischen aber liegen andere, die nicht 
von einer zur anderen Seite gehen, sondern von einer Seite 
kommen, umbiegen und zu ihr zurückgehen (s. Abb. 3?). We- 
gen dieser zweierlei Anordnung wird das Muster „diskonti- 
nuierlich" genannt. Immer entsteht durch diese Anordnung an 
mindestens einer Stelle ein Punkt, wo sozusagen die querüber- 
gehenden oberen und unteren Leisten auseinanderweichen müs- 
sen, um für die Schleife Platz frei zu lassen. Ein solcher Punkt, 
besser die kleine Lücke an der Stelle, heißt „Delta", es ist 
immer ein Dreieck, da die auseinandcrweichcndcn querüber- 
gehenden Linien sich an die äußerste Linie der Schleife an- 












■Itl 
















Abb. 38. Verschiedene Muster, aus G e i p e .1 , meist nach Wilder. 

a Bogenmuster, b Tannenbogcn, c desgl. mit verstärkter Mittelachse. 

d Ulnare Schleife mit Delta bei T. 

e Schleife, die leicht für Bogen gehalten werden kann — es ist eine 
Schleife, weil sie ein Delta hat: bei dem Punkt in der Mitte des 
Musters, f Muschelschleife (s. Text). 

g li i Wirbel verschiedener Art (je 2 Dcltal). 

k Zwillingsschleifc, d. h. zwei verschieden gerichtete Schleifen über- 
einander geschoben. 

1 m „Zufällige" Wirbel, d. h. sehr unregelmäßige Muster. 



142 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



legen müssen. Die von den Ecken des Deltas ausgehenden Li- 
nien bilden einen „Triradius'' (Dreistrahl). Die Schleife selbst 
besteht aus einer Anzahl von Linien, die von einer Seite kom- 
men und nach ihrer Umbicgung nach derselben Seite zurück- 
laufen. Je nach der Seite, .von der die Schleife kommt und nach 
der sie wieder geht, spricht man von radialer Schleife (von der 
Daumensei tc her) und ulnarer Schleife (von der Kleinfinger- 
seitc her). Das Innerste der Schleife kann eine einzelne Linie 
sein, die im Mittelpunkt einfach endet, oder ein engster Schlei- 
fenbogen, die Endigung heißt innerer „Terminus" (Abb. 39). 
Auf eine Reihe von kleineren Einzelheiten, die aber für die 
Praxis der Bestimmung bestimmter Werte bedeutungsvoll sind, 
kann hier unmöglich eingegangen werden. 

Eine besondere Art von Schleifen, die häufig vorkommen, 
sind die, ich möchte sagen, überstürzten, invaded loops von 
Wilder (Abb. 38 f). Liier sind die innersten Schlingen sozu- 
sagen mißbildet, eingepackt in die äußeren, Geipel nennt sie 
daher sehr gut „Muschelschleife" (Abb. 38 f). Ihre Enden 
führen nicht wieder nach außen. Es sind Übergänge zu Wir- 
beln, mit denen sie auch verwechselt werden können. 

Die Wirbehnuster endlich zeichnen sich dadurch aus, daß 
das eigentliche innere Muster sozusagen den Anschluß nach 
beiden Seiten verloren hat. Infolgedessen müssen die es be- 
grenzenden Bogen an mindestens zwei Stellen auseinander- 
weichen, und es entstehen zwei Deltas (Abb. 37 g, h, i). Nach 
deren gegenseitiger Lage und dem Verhältnis der Linien zwi- 
schen ihnen, werden einzelne Unterarten des Musters unter- 
schieden. Abgesehen davon kann nun das Muster selbst aus 
geschlossenen Kreisen oder Ellipsen bestehen oder aus Spiralen. 
Auch Doppelspiral.cn sind nicht selten. Bei der Spirale wie 
beim ringförmig geschlossenen Muster kann mehr oder weni- 
ger Kreisform, d. h. annähernde Gleichheit des Längs- und 
Querdurchmessers oder Langform, d. h. starke A^erschicdcnheit 
der Durchmesser vorkommen. Endlich können zwei getrennte 
Musterkerne vorhanden sein; man spricht dann von „Doppeh 
zentrizität" ; die Muster selbst heißen „zusammengesetzte". Je 
nachdem die beiden Achsenlinien nach derselben Seite oder 
entgegengesetzt (s. Abb. 38 k) verlaufen, spricht man von 
„Seitentaschen" oder von „Zwillingsschleifen" (k). Schließlich, 
wenn auch selten, kommt es noch zu ganz unregelmäßigen 
Mustern, die sich in eine dieser schematischen Abteilungen 
nicht einfügen lassen (s. Geipel). 



MUSTER DER EINGERLEISTEN. 



143 



Zur Bestimmung der von Bonnevie auf unmittelbare 
Wirkung von Erbfaktoren zurückgeführten Einzelheiten hat sie 
eine sich offensichtlich bewährende, aber recht mühsame und 
feine Methode ausgearbeitet. Festgestellt, werden muß die Zahl 
der Pole der Muster, dann in vergleichbarer Weise die Zahl 
der Linien aller Muster und endlich das Verhältnis der Größe 
ihrer Durchmesser. Das erste davon ist einfach, es werden 
Doppclpole (sog. „Doppelzentrizität") gesucht und notiert. Den 
zweiten Punkt drückt man aus mit dem sog. „quantitativen 
Wert des Musters". Es wird vom Triradius zum inneren Ter- 
minus eine gerade Linie gezogen und abgezählt, wieviel Leisten 
von dieser geschnitten werden (Einzelheiten müssen hier über- 
gangen werden (vgl. Abb. 39a mit 39b). Endlich wird die Form 




Site 







Abb. 39. Zwei Schleifcnmuster mit eingezeichneter „Geraden" zur Zählung 

der Leisten. Die Gerade läuft je vom „Triradius" zum „inneren Terminus". 

Auf Abb. a werden sehr viele, auf b nur 6 Leisten von der „Geraden" 

gekreuzt. (Nach Wilde r.) 

des Musters durch den „Formindex" ausgedrückt. Er ist das 
Verhältnis der Breite des Musters zu seiner Höhe. Die Höhen- 
achse geht durch die Mittellinie des Musters, die andere senk- 
recht dazu (Einzelheiten s. bei Geipel). 

Bonnevie hat durch mühsame Untersuchungen von El- 
tern und Kindern folgende Einzelheiten über die Erbunterlage 
festgestellt. Die Zahl der Leisten eines Musters hängt, wie 
oben gezeigt wurde, von der Epidermisdicke der embryonalen 
Fingerbeere ab. Sie scheint nun erblich bestimmt zu werden 
durch ein Gen V, das allgemeine „Epidermisdicke" aller Fin- 
ger macht. Fehlt es, ist die Haut dünn. Wie sich oben ergab, 
macht die dünne hochgewölbte Haut mehr Leisten. Man muß 
für das Viel und Wenig nach der Erfahrung bestimmte Gren- 
zen annehmen, wobei man aber bei der Gesamtdeutung von 
Händen an der Grenze nicht zu ängstlich genau sein darf . Da es 



144 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

sich bei V um einen Faktor für alle Finger handelt, beurteilt man 
ihn nach den Fingern mit der höchsten Leistenzalü. Beträgt die 
höchste Leistenzahl 22 und darüber, haben wir ganz dünne 
Haut, der Verdickungsfaktor fehlt also, die Erbformel ist vv. 
Ist umgekehrt die höchste Leistenzahl 15 und weniger, haben 
wir dicke Haut, was dem Erbfaktor VV zu verdanken ist. He- 
terozygote Formen haben eine mittlere Anzahl von Leisten, 
also 16— 21, was der Erbformel Vv entspricht. 

Zu dieser für einen Embryo erbeigentümlichcn allgemei- 
nen Epidermisdickc kommt nun noch die Möglichkeit beson- 
derer Verdickung an einzelnen Fingern, sog. Epidermispolster. 
Sie legen sich, wie B onnevie bei der Untersuchung des Erb- 
ganges in Familien fand, grundsätzlich getrennt an für die drei 
ersten Finger, Daumen, Zeige- und Mittelfinger, und die beiden 
anderen, Ring- und kleiner Finger. Man spricht von einem 
„radialen" und einem „ulnaren" Polsterungsfaktor 1 ). Die Wir- 
kung des Polsterungsfaktors macht sich nun geltend durch Ver- 
ringerung der Leistenzahlen an den von ihm beherrschten Fin- 
gern gegenüber dem von V abhängigen allgemeinen höchsten 
Wert eines Fingers. Man bestimmt also die Differenz zwischen 
dem höchsten Fingerwert (der überhaupt vorkommt) und dem 
vorhandenen niedrigsten Wert eines radialen und eines ulnaren 
Fingers, wobei man rechte und linke Hand getrennt untersucht. 
Bei Polsterlosigkeit gibt es natürlich keine oder fast keine 
solche Differenz, weil keine lokale Hautverdickung die Leisten 
vermindert. Polsterlosigkeit oder Fehlen des Polsterfaktors 
wird für die radialen Finger mit der Erbformel rr, für die 
ulnaren mit uu bezeichnet. Die Differenz der Leistenzahlen ist 
dann o bis 4, d. h., wie ich oben sagte, nicht oder fast nicht 
vorhanden. Umgekehrt macht starke Polsterbildung, bedingt 
durch das Genpaar RR bzw. UU, 10 und mehr Leisten Unter- 
schied. PIcterozygote Formen haben mittelgroße Unterschiede, 
5 — 10 Leisten und stellen den Genotypus Rr bzw. Uu dar. 

Mit dieser etwas umständlichen, bei Übung aber doch 
leicht durchzuführenden Untersuchung muß man also zunächst 
den maximalen Fingerwert, dann den niedrigsten Wert der 
radialen und der ulnaren Seite, dann deren Differenz feststel- 



1 ) Es ist außerordentlich interessant, daß B o 11 11 e v i e rein aus dem 
Bclimd an den Fingerbeercn gerade diese Fingcreinlcilung fand. Man denkt 
an die Verteilung der Hauptnerven bzw. die embryonalen Segmente — hier 
steckt also unter den betreifenden Genwirkungen eine stammesgeschichtlich 
ganz alte Beziehung. 



ERBANLAGEN DER FINGERMUSTER. 



4-5 



len und darnach den Genotypus bestimmen. Nach einer vor- 
läufigen Feststellung für das untersuchte norwegische Material 
kommt B onnevie zu folgenden Häufigkeitszahlen der Geno- 
typen für den quantitativen Wert der Fingerleisten : 
370/0 vv 50,50/0 Vv 12,50/0 VV 

2,30/0 rr 38,40/0 Rr 59,3% RR 

170/0 uu 53,5% Uu 29,50/0 UU 

An deutschem (Berliner) Material, und zwar an 710 Zwil- 
lingspaaren (K.-W. -Institut Dahlem) hat Geipel diese Ziffern 
nicht nur grundsätzlich bestätigt; sondern gewisse Unterschiede 
festgestellt, die rassisch bedingt sein dürften und eine Vertei- 
lung der Erbanlagen gefunden, die der theoretischen Erwar- 
tung fast vollständig entspricht. Er stellt mir freundlicherweise 
folgende (noch nicht veröffentlichte) Tabelle zur Verfügung, 
wo neben die gefundenen die theoretisch zu erwartenden Werte 
in. Klammern zugesetzt sind: 

410/0 ( 45j 6) vv 44 ; 20/o (43,9) Vv 14,80/0 (10,5) VV 

6,5% ( 6,3) rr 34,00/0 ( 37;7 ) Rr 59,50/0 (56 ) RR 
19,30/0 (20,5) uu 53,00/0 (49,6) Uu 27,70/0 (29,9) UU 
Von diesen Hautdickenfaktoren hängen nun mittelbar auch 
noch andere Einzelheiten ab. Ist bei dicker Haut die Finger- 
kuppe flach, entstehen, fast nur Bogen. Ist sie umgekehrt stark 
gewölbt, entstehen die sog. diskontinuierlichen Muster, Schlei- 
fen und Wirbel. Wovon deren Form, Größe usw. dann im ein- 
zelnen abhängen, ist nur wenig geklärt. Die embryonalen Fin- 
ger sind in der Form der Fingerbeeren und deren Wölbung 
sehr ungleich. Die meisten Finger sind in sich durchaus nicht 
symmetrisch gebaut. Es scheint, daß symmetrischer Fingerbau 
zur Entstehung von Kreis- und Spiralmuslcm Veranlassung 
gibt, mit einem Mittelpunkt, schief gebaute Beeren dagegen 
zu Schleifen oder auch zu doppelkernigen Mustern neigen. Der 
4. Finger scheint am häufigsten symmetrisch zu sein. Wovon 
diese Dinge abhängen, etwa von der Stellung und Haltung der 
Finger gerade in der betreffenden embryonalen Zeit, wissen 
wir nicht; hier spielen aber sicherlich embryonale (entwich- 
lungsgcschichtliche) Umweltfaktoren die Hauptrolle. 

Die Neigung zur Ausbildung von zwei Mittelpunkten scheint 
nach den Familienuntersuchungen deutlich vererbt zu werden. 
Abei' über Erbgang und Einzelfaktoren steht noch nichts fest. 

Auch der Formindex, also das Längcnbreitenverhältnis der 
Muster, scheint erblich zu sein. Schon B onnevie 1 ) hat das 

x ) Bonncvie. Zeitschr. ind. Abs!:. 50. 1929. 

Baur-Fischer-IiCiiz I. ^" 



146 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

vermutet, Gcipcl und v. Verse hu er 1 ) erbrachten den Be- 
weis. Dabei zeigte sich, daß die Norweger mehr elliptische, die 
Deutschen mehr kreisförmige Formen haben. Der Erbgang 
scheint intermediär. 

Man sieht aus dieser Darstellung, wie außerordentlich ver- 
wickelt das Spiel zahlreicher Erbfaktoren und umweltliche Ver- 
hältnisse ineinandergreifen, und man versteht dadurch, daß es 
Millionen von Kombinationsmöglichkeiten gibt. Unendlich viel 
wird dabei noch erforscht werden müssen. Aber doch hat die 
Arbeit, vor allem Bonnevies, im Laufe der letzten Jahre 
von den Erbverhältnissen soviel geklärt, daß wir einen ersten 
großen Einblick in das erbbiologische Geschehen einer ebenso 
auffälligen wie verwickelten Erscheinung haben, wie sie das 
bunte Bild der Tastleisten geben. Und praktisch kann man 
schon erfolgreich damit arbeiten. 

Die Untersuchungen an Zwillingen (Poll, Siemens, 
K omai, C u m m ins, N e w m an, v. V e r s c h u e r , H a r a 2 ) 
und andere) haben das Vorhandensein von Erbanlagen nur 
grundsätzlich bestätigt, aber für die Frage der embryonalen 
„Umwelt" Wirkungen (entwicldimgsgeschichtliche Vorgänge) 
keine Förderung gebracht. 

Seit wir über die Beteiligung bestimmter Erbfaktoren an 
der Entstehung der Fingermustcr unterrichtet sind, gewinnen 
auch rein statistische Erhebungen über die Häufigkeit der ein- 
zelnen Muster und ihrer Kombinationen bei verschiedenen Ras- 
sen erst Bedeutung und Wert. Es hat sich gezeigt, daß die 
Neigung zu Wirbeln, Schleifen oder Bogen bei den einzelnen 
Rassen so deutlich verschieden ist, daß diese Unterschiede un- 
möglich auf embryonalen Umweltwirkungen beruhen können. 
Es müssen also die Rolsterungsfaktoren, wie vorhin erwähnt 
der Formindex, aber vielleicht auch uns noch unbekannte Fak- 
toren für Fingerwölbung oder Symmetrie und Asymmetrie der 
Einzelfinger bei den einzelnen Rassen ungleich häufig sein. So 
kann auch die rein statistische diesbezügliche Untersuchung 
uns zur weiteren Aufhellung der Erbfaktoren führen. Nur in 
diesem Sinn werte ich auch die besondere Methode, die Poll 3 ) 
ausgearbeitet hat, zur Darstellung der statistisch festgelegten 



i ) G e i p e I und v. V e r s c li u e r. Zur Frage der Erblichkeit des Form- 
index der Fingerleistenmuster. Eer. D. Ges. Vererbg. 1935. 

2 ) H a r a , S. Untersuchung der Fingerleisten von Zwillingen. Z, Morph. 
Anthr. 30. 1 932. (Lit.) 

3 ) Poll. Seltene Menschen. Erg. -Heft Anat. Anz. 66. 1928. 



ERBANLAGEN DER EINGERMUSTER. 



147 



Musterkombinationen an Tausenden von Händen einer Bevöl- 
kerung (Kirchmair 1 ), Henckel 2 ), Fleischhacker 8 ) u. a.). 
Er stellt die Verhältnisse dreidimensional, in Form dreieckiger 
Säulen dar und nennt eine solche Wiedergabe Bimanuar (oder 
für eine Hand Unirnanuar). Man ersieht mit einem Blick die 
Häufigkeit bestimmter Musterkombinationen an einer oder bei- 
den Händen. Auf diese Weise wurde festgestellt, daß bestimmte 
Kombinationen sehr viel häufiger als andere vorkommen, ge- 
wisse fehlen so gut wie ganz. Leider fehlt einstweilen jedes 
Einarbeiten der Ergebnisse in die gewonnenen Vorstellungen 
von den erblichen Unterlagen. Solange solche Einfügung nicht 
erfolgt, ist es Spielen mit Zahlen. Beziehungen des „Manuars" 
zu anderen Eigenschaften, z. B. Geisteskrankheiten, wie es 
Kirchmair behauptete, sind nicht einwandfrei nachweisbar. 

Daß die Rassen nicht unwesentliche Unterschiede in der 
Häufigkeit von Bogen, Schleifen und Wirbeln haben, ist vor 
allem durch japanische und amerikanische Forscher festgestellt 
worden. Es handelt sich also, erbbiologisch ausgedrückt, um 
verschiedene Häufigkeiten der Faktoren V, R, U und der an- 
deren, uns noch nicht einzeln faßbaren Faktoren. Bei keiner 
Rasse fehlt einer davon etwa ganz. Das sind also sehr ähnliche 
Verhältnisse wie bei den Blutgruppen. Vielleicht wird die Kom- 
bination mehrerer derartiger Eigenschaften für die Erkennung 
der Rassenzusammenhänge doch noch einmal entscheidend 
werden. 

Von den vielen Einzelheiten kann hier nur einiges Wenige 
gebracht werden. Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Über- 
blick; sie ist nach verschiedenen Forschern zusammengestellt 
Henckel' 1 ), Abel 5 ), und Biswas 6 ), Cummins and 



1 ) Kirchmair. Über relative und absolute Symmetrie der Papiliar- 
mustcr bei gesunden :uncl kranken Populationen. Z. Morph. An ihr. 33. 
1935. (Lit.) 

2 ) Henckel. Beitrage zur Anthropologie Chiles. [.Über die Papillar- 
linienmuster der Fingerbecren bei der Bevölkerung der Provinz Concepciön. 
Zeilschr. Morph. An ihr. Bd. 31. 1933. 

3 ) F 1 e i s c h h a c k e r. Untersuchungen über das Hautlcistensystem der 
Hottenlolten-Palma. Anthr. Anz. 11. 1934. 

*) 11 c n c k e 1. Über die Papillanriuslcr der Fingerbeeren bei Indianern 
der Provinz Cantin. Zeitschr. Morph. Anthr. (Festb. Fischer.) 34. 1 934. 

B ) Abel, W. Über die Verteilung der Genotypen der Hand- und Fin- 
gerbeerenmuster bei europäischen Rassen. Bericht U. Ges. Vererbg. 1935,. 

6 ) Biswas. Hand- und Fingerleisten der Inder. Ztschr. Morph. Anthr. 
voraussieht!.. Bd. 35. 1 936. 



148 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

S t e g g e r d a r ), wo die Literatur angegeben. Ich habe alle 
Zahlen auf volle abgerundet, die Angaben über die Zahl der 
Fälle weggelassen, Ergebnisse verschiedener Forscher über 
die gleiche Bevölkerung zusammengezogen. 





Wirbel 


Schleifen 
rc + li 


Bogen 




20 
25 
26 
24 
32 
32 
37 
36 
32 
40 


70 
67—71 
67 
63 
61 
63 
57 
59 
65 
58 


9 




6 




7 




12 




6 


Nordamerikancr 


5 
4 


Span. Chilenen 

Aino - 


5 
3 
2 








25 
32 
191 


66 
59 
76 


10 




1 I 




5 








43 


53 


4 


Nias 


34 

45 
45 
45 
51 
42 
37 
39 
34 
47 
72 


63 
53 
52 
52 
48 
56 
56 
58 
61 
48 
27 


3 
2 




3 




3 




1 




7 
5 


Kskimo Ost Grönlands 


5 
4 
■1 



Man sieht vor allem einen deutlichen Unterschied zwischen 
den Mongoliden und Europiden. Innerhalb Europas hat der 
Norden weniger Wirbel und mehr Schleifen als der Süden und 
Osten. Die Ahm schließen sich Europa deutlich an und fallen 
aus den Mongoliden heraus. Auch Vorderindien schließt sich 
wenigstens einigermaßen an Europa an. Besonders auffällig 
ist die Sonderstellung der Juden, die mit ihrer hohen Wirbcl- 
zahl und geringen Schleifenzahl aus dem Bereich der Euro- 

1 ) C u m m i n s and S t c g g e r da. Finger prints in a Dutch family 
scrics. Am. J. phys. Anthr. 20. 1935. 



ERBANLAGEN DER EINGER- UND- HANDMUSTER. 149 

päer völlig herausfallen. Cummin (a. a. O.) fand das an 
amerikanischen Juden. Kirchmair (a. a. O.) hat es an Ju- 
denkindern in Hamburg bestätigt. Neger bilden wohl eine 
Gruppe für sich, sind aber noch ganz ungenügend untersucht. 
Sehr auffallend — und für ihre Stellung unter den Rassen sehr 
wichtig — ist das Verhalten der Hottentotten (nach Fleisch- 
hacker, a. a. O.). An die eigentlichen Mongolen reihen sich 
die Indianer. Aber auch hier sind die Unterlagen noch sehr 
dünn. Eine sehr eigenartige Stellung nehmen die Eskimo ein, 
die ostgrönländischen stehen in der Häufigkeit der Wirbelbil- 
dung ganz für sich (Abel a. a. O.). 

Das Gesamtmaterial ist noch zu gering, als daß man schon 
gesicherte Einzelheiten über die Verteilung der Erbfaktoren 
bei den verschiedenen Rassen sagen kann. Es fehlen noch 
große Zahlen über die Verteilung des quantitativen Wertes. 
Aber man kann doch wohl schon mit Bonnevie behaupten, 
daß die verhältnismäßig hohe Zahl von Bogen bei den Nord- 
europäern eine stärkere Verbreitung der Polsterungsfaktoren 
bedeutet, und daß andererseits die Mongolen in der Embryo- 
nalzeit stärkere Symmetrie der Fingerbeeren in Zusammen- 
hang mit dünnerer und polsterloser Haut haben, d. h. in grö- 
ßerem Ausmaß die betreffenden Erbfaktoren. Da die Polste- 
rungsfaktoren erblich sind, kann es nicht wundernehmen, daß, 
als teilweise von ihnen unmittelbar bedingt, die Häufigkeit der 
Muster bei Bastarden ziffernmäßig zwischen der bei ihren 
Elternrassen liegt. Dies zeigt sich in der Tabelle für Mulatten 
(nach Steggerda) und für Eskimomischlinge (nach Abel). 
Nach vorläufigen Mitteilungen Abels sind auch innerhalb 
der europäischen Rassengruppen Uäufigkeitsunterschiede der 
Muster nachweisbar, es bedarf aber noch viel größeren Ma- 
tcriales, sie im einzelnen festzulegen. 

Es wäre sehr zu wünschen, daß Untersuchungen dcrHand- 
und Fingerabdrücke, aber nur im Sinne von Bonnevie, in 
ganz großem Maße durchgeführt werden. Sie lohnten sicher. 
Dagegen nützen uns einfache Statistiken über die Häufigkeit 
von Mustern und ihrer Kombinationen nichts. 



Handfläche. 

Die Hautlcistenzüge auf der eigentlichen Handfläche sind 
nicht annähernd so gut durchgearbeitet wie die auf den Fin- 
gerspitzen. Ihre Entstehung hat Schaeuble untersucht, sie 
wurde oben schon erwähnt (Abb. 36). Die Beschreibung und 



150 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Einteilung in Muster entbehrt einstweilen noch jeder biologi- 
schen Einsicht. Man kann nur nach der Erfahrung schema- 
tisch Einteilungen treffen. Man unterscheidet den Daumen- 
ballen (Thcnar) mit seinem. Muster, den Kleinfingerballen 
(Hypothcnar) mit einem Muster, zu dem noch weitere dazu- 
kommen können. Die Muster fehlen öfters. Am Grund der Zwi- 
schenfingerspalten (interdigitale Räume), die als 1 bis IV be- 




Abb. 40. Abdruck einer linken Hand. Digitale Triradien a, b, c, d mit den 
HaupÜmien A, B, C, D. Numerierte Strecken am Rande des Abdruckes, 
Nr. 1 — 13. Achsiale Triradien t, t', t". Drfl = Dreifingcrfurche, Fff — Fünf- 
fingerlurche, Df — Daumen Cur che. (Links oben ein Ausschnitt aus einem 
anderen Handabdruck mit Darstellung der Schleilenmcssung. Auf diese und 
auf die über das llauptbild gezogenen dünnen Achsenlinicn soll hier nicht 
eingegangen werden.) Nach M cy er- lleydenliagen (aus Geipel). 

zeichnet werden (wobei I zwischen Daumen und Zeigefinger 
liegt), finden sich die sog. Zwischenfingerballen. Deren sind 
es also dann vier. Jeder trägt entweder ein Muster oder ein 
„offenes Feld" (s. Geipels „Anleitung"). Endlich gibt es 
die sog. „digitalen Triradien" (Abb. 40). Sie tragen vom Zeige- 
finger an nach dem Kleinen die Bezeichnung a, b, c, d. Zwei 



ERBANLAGEN DER HANDMUSTER. 



151 



Linien jedes Triradius, der sich am Grund der Finger befindet, 
gehen nach oben und endigen rechts und links an der betref- 
fenden Fingerwurzel. Interesse hat nun aber der dritte Strahl. 
Er führt den entsprechenden großen Buchstaben, also vom 
Zeigefinger-Triradius a ausgehend : A, vom Mittelfinger -Tri - 
radius b ausgehend: B usw. Wilder und seine Schüler haben 
nach dem Verlauf dieser Triradien linien sog. „Formeln" auf- 
gestellt. Dazu wird, willkürlich der Rand der Hand vom Dau- 
menballen an über das Handgelenk und am Kleinfingerrand 
in die Höhe in numerierte Strecken eingeteilt, Nr. r — 13 (s. 
Abb. 40). Flier interessiert uns, daß auf die Zwischenfinger- 
spalte zwischen Klein- und Ringfinger Nr. 7, auf die nächsten 
Spalten dann 9, 11 und 13 kommen. Man verfolgt nun die 
Haupt (triradien) Knien, am Klcinfingcr beginnend. In Abbil- 
dung 40 sieht man dessen Linie D in u endigen, die Linie C 
geht rückwärts nach 7, die Linie B vom Mittelfinger geht eben- 
falls nach 7 und die Linie Ä geht zum Klein fingerrand der 
H. an df lache nach 4. Das drückt man aus mit der Formel ; 
11. 7. 7. 4. Auf weitere Einzelheiten kann hier nicht eingegan- 
gen werden, es gibt Fehlen von Triradien (mit bezeichnet), 
Übergang einer Triracliuslinic unmittelbar in eine andere und 
dergleichen mehr (vgl. Geipel, Anleitung). 

Über einzelne Erbunterlagen wissen wir noch, nichts ; man 
hat bisher nur statistisch die Häufigkeit der Formeln und ihrer 
Kombinationen untersucht und dabei, wie bei den Finger- 
mustern, Rassenunterschiede gefunden (s. unten), Schon daraus 
geht hervor, daß auch hier Erbfaktoren bestimmter Art wirk- 
sam sind. Die umfangreichste Feststellung erblicher Unterlagen, 
wenn auch noch, nicht einzelner Faktoren, gelangen Meyer- 
Hey den h a gen 1 ) durch eine sehr schöne Untersuchung der 
Handabdrücke von je 100 Paaren EZ, ZZ und 50 PZ aus dem 
Dahlemer Material. Vorher hatten schon Wilder, Carriere, 
Cummins, Newman u. a. die ersten Schritte unternommen. 
Da wir mangels Familicnuntersucliungen über den Erbgang 
noch fast nichts wissen (von einigen Hinweisen bei den ge- 
nannten Forschern abgesehen) 2 ), hat die Schilderung von Ein- 
zelheiten wenig allgemeines Interesse. Für die Praxis (erbbio- 
logische Gutachten) kommen diese Dinge erst langsam in Be- 
tracht. Für die Zwillingsdiagnose sind sie schon jetzt von gro- 



- 1 ) M e y c r - H e y d e n h a g e 11 , G. Die palmaren Hautleisten bei 
Zwillingen. Zcitschr. f. Morph, u. Anthr. 33. 1935. 
2 ) A.a.O. 



152 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



ßcr Bedeutung; dafür muß aber auf die Arbeit von Meyer- 
H c y denhagen verwiesen werden. So sei hier nur die Fest- 
stellung- betont, daß in der Ausbildung der Triradien und im 
Verlauf der Hauptlinicn EZ sehr deutlich ähnlicher sind als 
ZZ. Bei einzelnen gibt es iauch noch Unterschiede zwischen ZZ 
und PZ, die also einen Geschlechtsunterschied bedeuten. Die 
folgende Abbildung 41 zeigt den Unterschied der Gleich- bzw. 
Ungleichheit der verschiedenen Zwillingspaare für eine Reihe 







Linie C 



Linie A 



Achs.Triradien 




M.M. 



I.Jnl. 



IV.Jnt. 



t™ ms 

KJnt. 



ff. 

m ez 

D ZZ 
ÜB PZ 



Abb. 41. Die Verteilung konkordanter Merkmale an homologen Händen von 
EZ, ZZ und PZ in %, — Bezeichnungen: Linie D, C und A = Verlauf dieser 
Linien (s. Abb. 40), Achs. Triradien = Anordnung der achsialen Triradien 
t, l' (5. Abb. 40), Int = Inlerdigiialia oder Zwischenfingerräume mit Fi- 
guren. H == Flypothenar und Th — Thenar. (Nach Mcy er- H ey denhagen.) 

Einzelheiten, auf die nicht weiter eingegangen werden soll. Der 
verschiedene Hundertsatz der Gleichheit (Konkordanz), z.B. in 
der oberen, mittleren und unteren Reihe der Abbildung, zeigt 
die verschiedene Größe der Umweltbeeinflußbarkeit. Auch die 
anderen hier nicht dargestellten Merkmale zeigen gleiches Ver- 
halten, so daß man sagen kann, die Differenzen aller Maße, 
Indizes und Formen sind bei EZ sehr viel kleiner als bei ZZ, 
häufig um mehr als die Hälfte. Auf diese Weise erklärt es 
sich, daß in sehr vielen Fällen EZ einfach überraschend gleiche 
Hände haben, und man bei allen wenigstens eine sehr große 
Anzahl von gleichen, neben einzelnen voneinander abweichen- 
den Merkmalen findet. Dabei hat sich gezeigt, daß gleichsei- 



ERBANEAGEN DER HANDMUSTER. 



153 



tige Hände zweier EZ nicht nur sehr viel ähnlicher sind als 
spiegelbildliche, sondern daß sie sich auch ähnlicher sind als 
rechte und linke desselben Menschen. Wir fanden, daß bei 
allen Linienmerkmalcn, die eine Rcchts-Links-Diffcrenz bei 
ein und demselben Individuum zeigen, die gleichseitigen Hände 
in EZ diese größere Ähnlichkeit gegenüber Rechts-Links 
desselben Individuums aufweisen, v. Verschuer hat auf 
diese Erscheinung als eine grundsätzlich allgemeine hinge- 
wiesen. An spiegelbildlichen Blanden ist es etwas auffällig, 
daß gerade Hypothenarmuster häufiger gleich sind. Zusam- 
menfassend glaubt Meyer-Heydenhagcn auf Grund 
ihres großen Materials, daß, wenn man Punkt für Funkt die 
Muster und Linien der Handabdrücke durchgeht, man in 
90 Prozent der Fälle allein daraufhin die erbgleichen Zwil- 
linge von den erb verschiedenen trennen kann. Da wohl auch 
an den Handballen, wie nach Bonnevics Feststellungen an 
den Fingerballen, Polsterungen eine Rolle spielen werden, wird 
es weniger auf die Form der Muster als auf Lage und Verlauf 
der Triradien bzw. ihres Flauptstrahles ankommen. Meyer- 
Hey denhagen weist daraufhin, daß die langsamere Ent- 
stehung der langen Leisten auf der Handfläche ihre starke 
Beeinflussung durch die intrauterine Umwelt erkläre, und man 
also mit Erbfaktoren rechnen müsse, die das Wachstum in den 
Ballen- und Furchenzentren regeln, wo die Hautleistcnbildung 
ihren Anfang nimmt. Als verhältnismäßig umweltstabil be- 
trachtet sie: „Größere Wirbelmuster (am Thenar, am Tri- 
radius d), gut ausgebildete Schleifen auf Thenar- und I. Zwi- 
schenfingerballen, Schleifen mit Neben triradien in den Zwi- 
schenfingerräumen. Alle Triradien sind umweltstabiler als die 
zugehörigen Muster. Der Flypothenarballen ist stark umwelt- 
labil, am konstantesten ist dort noch ein t" (weit distal [finger- 
wärts] gelegener axialer Triraclius)." 

Einen ersten genaueren Hinweis auf Vererbung des The- 
narballens gibt M. Weninger 1 ) nach Familienuntersuchun- 
gen. Es dürfte sich nicht um ein einfaches Genpaar handeln, 
das das Muster unmittelbar bedingte, sondern um verwickcltcrc 
Erbeinflüsse auf die Aus- und Rückbildung des Ballens. 

Rassenuntersuchungen haben, wie schon erwähnt, deutlich 
gezeigt, daß auch in den Einzelheiten der Hohlhandleisten, 



r j Wcninger, M. Familienuntersuchungen über den HauUeisten- 
verlaul am Thenar und am ersten Interdigital ballen der Palma. Mitteilungen 
Anthr. Ges. Wien Bd. 65. 1935. 



154 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERDANLAGEN. 

ähnlich wie in denen der Fingcrbccrcn, deutliche Unterschiede 
bestehen. Schon Wilder hat einen „Europäertypus" (mit der 
größten Häufigkeit der Formel j i . 9. 7.) einem Negertypus 
(/• 5- 5-) gegenübergestellt. Miyake hat einen Mongolen- 
typus mit gleicher Formel dazugefügt. Eine gute Übersicht 
über die Häufigkeit der gewöhnlichsten Formeln gibt anläß- 
lich einer Untersuchung von Handlinienmustern bei Eskimo 
W. Abel. Man kann deutlich ein Zunehmen in der Häufig- 
keit gewisser Formeln bei Europäern und ein Abnehmen bei 
Mongoliden zeigen. Ahm stehen in der Mitte, Eskimo-Dänen- 
Mischlinge stehen ebenfalls in der Mitte, reine Oslgrönland- 
Eskimo stehen merkwürdigerweise nach der europäischen Seite 
ganz für sich. Die folgende Tabelle nach Abel zeigt das Ver- 
halten deutlich. 



w 



o< 



135 
H. 



7— 5_5 

9—7—5 
1 1 __9_ 7 



Summe 



6,6 

41,4 

4 30,3 



78,3 







Q. o) 




O -ö 


O }H 


~ r3 


n P 


uir> 


M 3 




U 


400 


600 


H. 


IL 



H. 



9,0 
16,7 

27.7 



10,1 
26,2 
■A 1 ,0 



53,4 1 67,3 



11,7 
29,6 
34,3 






Q 

28 
It. 



14,2 
35,7 
28,4 



75,6 [78.3 






110 
H. 



390 
H. 



19,1 
18,2 

18,2 



55,5 



24,3 
19,0 
1 6,6 



200 
H. 



27,5 

23,5 

9,0 



59,9 60,0 



T-i a 



37 
Ii. 



268 
H. 



29,0 

49,2 

7,2 



85, 



32,0 
27,1 
18,1 



d _ 

u_> o 



616 
H. 



32,0 
1 9,3 

18.1 



77,2169,4 



S^ 



552 
II. 



33,0 
16,9 

17,7 



67,6 



Die Encligungstypcn der Linien B, C, D bei einigen verschiedenen 
Rassen (in Prozenten). Die Aufstellung- der Typen erfolgte nach Wilder 
fiuich Abel a. a. O.). 

Ähnlich wie bei dem Verlauf dieser Linien sind auch' in 
der Häufigkeit der Muster deutliche Rassenunterschiede. Nur 
als Beispiel sei erwähnt, daß Hypothenarmuster bei Indianern 
und Chinesen nur in 5 — 170/0 vorkommen, während Euro- 
päer solche in 36—420/0 besitzen. Eskimo liegen, zusammen 
mit Japanern und Koreanern, mit einer Häufigkeit von 21 bis 
30 0/0 in der Mitte. Eskimo-Däiiien-Mischlinge (unbekannter Grad) 
kamen den Europäern auffällig nahe. Für das Muster auf 
dem Daumenballen und das erste Intercligitalmuster sind die 
Unterschiede eher noch deutlicher. Thcnarmuster kommen bei 
Europäern in etwa 60/0, bei 'Chinesen in 8 — 1 1 o/o, bei Indianern 
in 48 — 500/0 vor. Auch vierte Interdigitalmuster sind bei Far- 
bigen häufiger, bei Weißen dritte (Steggerda, S h I n o , 



ERDANLAGEN DER IIANDMUSTER — HANDFURCHEN 155 

Wilder u. a.). Es mögen von obigen Angaben manche noch 
auf zu kleiner Unterlage beruhen, eigenartig sind diese Ras- 
scnuntcrschiccle gewiß. Ihnen mag zugefügt werden, daß nach 
F 1 e i s chh a ck e r s Angaben, Hottentotten obige drei Typen 
(der Reihe nach) in der Häufigkeit 18- — 15—31 haben (Neger 
haben sie in 21" — 12,5 — i4,6°/o)- In gewissen Einzelheiten glei- 
chen Hottentotten mehr dem Europäer als dem Neger. Auch 
ohne daß wir über Wölbung und Polsterung und Faktoren 
schon Einzelheiten wissen, ist der Schluß erlaubt, daß beim 
Weißen der Ballen am Daumen am häufigsten abgeflacht ist, 
der am Kleinfinger noch nicht. W h i p p 1 e macht wohl mit 
Recht auf die stammesgeschichtliche Entwicklung der mensch- 
lichen Hand aufmerksam, die mit einer seitlichen Ausdehnung, 
Verbreiterung und Abflachung einhergeht. 

Über die Leisten auf dem Grund- und Mittelglied der Fin- 
ger und etwaige Musterbildungen darauf erschienen noch keine 
Untersuchungen 1 ). 

Für die Fußsohle müssen sicher grundsätzlich dieselben 
Erb- und Umweltverhaltnisse angenommen werden, wie für die 
Hand. Die grundlegende Untersuchung, die vor allen Stücken 
die vergleichende anatomische Unterlage, die Rückführung 
der Muster auf die Sohlen bzw. Tastballen der Affen, schuf, 
hat S c h 1 a g I n h a u f e 11 geliefert. Mit den neuen Fragestel- 
lungen ist die Fußsohle bisher so gut wie nicht bearbeitet wor- 
den (s. S. 138, Fußnote 3). 



Handfurchen. 

Die Beugungsfurchen in der Hand, die seit Jahrhunderten 
berühmten Wahrsagelinien der Chiromantik, sind uns erbbio- 
logisch noch sehr wenig klar. (Die drei wichtigsten sind in 
Abb. 40 dargestellt.) Hella Poch 2 ) zeigt, daß die Bildung 
gewisser Hauptlinien beim Embryo von 25 — 30 mm Länge 
schon begonnen hat und beim Neugeborenen so gut wie fertig 
ist. W ü r t h B ) hat die Entstehung genauer untersucht und 



] ) Meine Schülerin Ploctz-Radmann hat solche durchgeführt. 
Darnach haben auch diese Glieder ausnahmslos bestimmte Hautleistenmu- 
ster, grundsätzlich nur andere wie an Endgliedern und Handfläche, je nach 
den Fingern und Gliedern in verschiedene!' Häufigkeit und bei EZ ähnlicher 
als bei ZZ, folglich auf erblicher Unterlage. Die Arbeit wird 1936 in der 
Zehschi-. Morph. Anthr. erscheinen. 

3 ) Poch, LI. Über Handlinien. Mitt. Anthr. Ges. Wien. 55. 1925. 

a ) Die Arbeit wird 1936 in der Zlschr. Morph. Anthr. erscheinen. (Lit.) 



156 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

konnte zeigen, daß schon zur Zeit, wo jedenfalls typische, 
durch bestimmten Gelenkbau der Finger geregelte Bewegungen 
noch nicht stattfinden können, bei Embryonen von 25 — 30 mm, 
die Linien sich in der später bekannten Form als deutliche 
Hautverdünnungen anlegen. Die Haut ist also hier für die 
künftige Faltung eigens ausgebildet. Das spricht natürlich für 
eine unmittelbare erbliche Bedingtheit. Damit stimmt übercin, 
daß Hella Pöch bei Eltern und Kindern ein häufigeres Auf- 
treten derselben Variationen als sonst, auch Zwischenformen 
zwischen beiden findet, allerdings einen bestimmten Erbgang 
einer Bildung nicht nachweisen kann. Sie beobachtete auch 
deutliche Häufigkeitsunterschiede einzelner Bildungen zwischen 
Wienern und Wolhyniern. Grüneberg findet bei Zwillingen 
für bestimmte Anordnungen bei EZ über 900/0, bei ZZ nur 
57% Gleichheit. Meine eigene frühere Bemerkung (Fischer), 
daß die Linien lediglich von der Anordnung von Muskeln und 
Gelenkformen abhängen, halte ich auf Grund der entwicklungs- 
geschichtlichen Befunde meines Schülers Würth nicht mehr 
für richtig. Aber es werden die Nebenlinien, die sich im Laufe 
des Lebens vermehrenden und vertiefenden kleineren Furchen, 
sehr stark umweltbedingt sein (Gebrauch, Fettpolster usw.). 
Eine grundsätzliche Bearbeitung der ganzen Erscheinung wäre 
dringend nötig. 

In gewisser Beziehung gehören zu diesen Handfurchen 
auch die eigenartigen sehr schwankenden Beugefurchen an der 
Innenseite der Fingergclenke. Sie sind am Gelenk zwischen 
Grund- und Mittelglied ganz anders wie zwischen Mittel- und 
Endglied. Untersuchungen Hegen nicht vor. 

Auf der Haut des Handrückens und sonst auf der Körper- 
haut finden sich in wechselnder Ausbildung feine Rinnen zwi- 
schen den Hautporen und Haaraustritten. Erbbiologisch wis- 
sen, wir nichts darüber. Bettmann 1 ) und Pinkus 2 ) haben 
einige Untersuchungen vorgelegt. 

d) Erbanlagen für die Form des Haares und der Behaarung. 

Während fast alle freilebenden Säugetiere glattes, schlichtes 
Haar oder, wenn mehr wolliges, wenigstens innerhalb der bc- 

■ l ) Bettmann. Felderimgsxeiehnung der Bauchhaut und Schwanger- 
schai'lsslreifen. Zeit. Anat. Entwg. 85. 1928. 

Dcrs. Leichen-Dermatogramme. Ebenda 92. 1930. 

2 ) rinkus. Die normale Anatomie der Haut. Handb. der Baut- und 
Geschl.-Krankli. I. 5. Berlin 1927. 



ERBANLAGEN DER BEHAARUNG. 



157 



treffenden Spezies gleichmäßiges Haarkleid zeigen, hat der 
Mensch nach Rassen eine sehr starke Verschiedenheit seiner 
Haarformen. Einzig bei den Haustieren, und zwar bei der Mehr- 
zahl ihrer Arten, finden wir die gleichen Verhältnisse (Woll- 
haarigkeit, Angorahaarigkeit u. a.). 

Wir müssen also bei allen diesen Formen, einschließlich 
Mensch, das Auftreten neuer Erbfaktoren annehmen, die bei der 
Rassenbildung die verschiedenen Haarformen bedingt haben. 
Beim Menschen kann man manche Erscheinungen noch als Reste 
und damit Zeugnisse für den ursprünglichen Zustand nachwei- 
sen. So zeigt F. Sarasin 1 ), daß bei den Neukaledonicrn, die 
als Erwachsene stark kraushaarig sind, kleine Kinder schlich- 
tes oder höchstens welliges Haar haben. Auch ältere Neger- 
embryonen haben nach P. Sarasin 2 ) viel glatteres Haar als 
Erwachsene, wenn auch die Drehung der Haarwurzeln sich 
schon angelegt hat (F r i e d e n t h a 1) 3 ) . Aber auch für straffes 
Haar gilt das. Kranz konnte an Eskimokindern zeigen, daß 
kein Kind unter fünf Jahren straffes PI aar hat. Das stammes- 
geschichtlich ältere Schlichthaar tritt also bei kleinen Kindern 
und als Vorläufer des straffen stets auf. Tao zeigt, daß Euro- 
päer-Chinesen-Bastarde als kleine Kinder z. T. schlichthaarig 
sind, bei Erwachsenen ist das Straffhaar (dominant) regelmäßig 
vorhanden. Ob endlich auch die Neigung europäischen Kinder- 
haares zur Wellung — Locken — hierher gehört, ist nicht; ganz 
sicher, die Lockung geht über die eigentlich schlichte Form 
hinaus, aber ich möchte es trotzdem annehmen. Auch daß für 
die anzunehmenden Erbfaktoren das schlicht- bis weitwcllige 
Haar, wie es Europäern einschließlich Ainu, dann Australiern 
und der Wcddiden-Gruppe eigen ist, sozusagen der erbliche 
Ausgangspunkt ist, spricht für die 'Ursprünglichkeit dieser 
Form. Leider kennen wir noch keine Untersuchungen über 
Kreuzungen von Australiern mit Europäern, Weddas mit Euro- 
päern usw. Von dieser Haarform hat nach der einen Richtung die 
Härte, zum Teil auch die Dicke zugenommen, das Haar wurde 

1 ) Sarasin, F. Anthropologie der Ncu-Caledonicr und Loyaluy-In- 
sulaner (Sarasin und Roux, Nova Caledonia). Berlin 1916—22. 

Dcrs. Siir le changement de la chevelurc che/: les cnl'anLs des Melane- 
siens et des Negres africains. L'Anthr. 35. 1925. 

a ) Sarasin, P. Die menschlichen Sexualorgane in enlwiclüungsge- 
schichllicher und anthropologischer Beziehung usw. Verh. Nalurf. Ges. 
Basel. 37. 1926. 

3 ) Fricdenthal, Ergebnisse und Probleme der Haarforschimg. 
Ztschr. Ethn. 47. 191 5. 



158 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

„straff", so bei Mongoliden, Indianern, Eskimo. Nach der an- 
deren Seite hat sich die leichte Biegung verstärkt zu mehr- 
facher welliger Krümmung, es entstand die „wellige" Haar- 
form (weit- und engwellig). Endlich hat ein weiterer Muta- 
tionsschritt den Faktor für spiralige Drehung, Lockenbildung 
hervorgebracht, bei engerer solcher Spiraldrehung das typisch 
,, krause" Haar, bei dem die einzelnen Haarspiralen zu einem 
dichten Matratzenpolster zusammenhängen (viele Neger, Me- 
ianesier). Schließlich können die Spiralen sehr eng gewickelt, 
das Haar dabei kurz und die Spiralen benachbarter Haare je 
zu kleinen Klümpchcn zusammengeflochten sein; man spricht 
dann von „fil-fü" oder Pfefferkornhaar, wie es die Buschmän- 
ner haben (Erbfaktor?). 

Daß beim Negerkind das Kinderhaar viel früher zum er- 
wachsenen wird, auch viel früher (oder gleich) schwarz wird 
als beim Ncukaledonicr, zeigt, daß die an sich gleiche Kraus- 
haarigkeit beider Gruppen keine nähere Verwandtschaft be- 
weist (Sarasin), vielmehr je selbständig entstanden ist, wie 
ich denke, als Domestikationsmutationen. 

Die Erbfaktoren für diese rassenmäßigen Neubildungen 
sind durch zahlreiche Kreuzungsuntersuchungen mit recht gro- 
ßer Sicherheit klargelegt. Bei Kreuzung schlicht- und kraus- 
haariger Europäer unter sich wie bei der zwischen schlicht- 
haarigen Europäern und engen, krausen (spiraligen) Negern, 
Hottentotten und Melanesien! zeigt sich das schlichte Haar 
gegen die anderen rezessiv ; es spaltet aus den angegebenen 
Kreuzungen die wellige Form heraus. Man darf annehmen, 
daß je ein besonderer Faktor C wellige Biegung, S Spiral- 
drehung macht. Beide sind dominant über die glatte schlichte 
Form, die also mit der Formel cc ss ausgedrückt wer- 
den kann. Locker wellige und lockige Haare dürften Hetero- 
zygoten sein (Cc ss). Enger welliges Haar wäre CC ss. Die 
Spiraldrehung käme also dann dazu: CC SS bedeutet stärkste 
Spiraldrchung, engstes Kraushaar, wie es etwa die Hotten- 
totten und manche Negergruppen haben. Vielleicht kann 
S ohne C nicht wirken. Die größere Seltenheit des Zusam- 
mentreffens aller betreffenden Faktoren würde erklären, 
warum z. B. bei Juden scheinbar unvererbt und plötzlich und 
auch nicht häufiger als tatsächlich enges negrides Kraushaar 
auftritt. 

Obige Annahme der verschiedenen Faktoren erklärt den 
Befund an Mulatten xten Grades mit ihren Haarformen, die 



ERBANLAGEN DER HAARFORMEN. 



159 



alle Stufen von engkraus, lockerkraus, engwellig, weitwellig 
und schlicht aufweisen. Dasselbe zeigte sich bei den Europäer- 
Hottentotten-Bastards E. Fischers 1 ), was Lebzeltcr 2 ) 
bestätigte und für Europäer-Buschmann-Bastarde erstmals fest- 
stellte. Dünn sieht H awaikraushaar dominant gegen euro- 
päisches Schlichthaar, Rodcnwaldt 3 ) und Bijlmcr 4 ) fin- 
den bei Malaienmischlingen das zu erwartende bunte Bild. 
Castellanos 5 ) fügt gleiche Beobachtungen an Kubanern bei. 
Auch innerhalb der Europäer scheint sich kraus gegen 
schlicht einfach dominant zu vererben wie van B c m m c - 
len 6 ) zeigt. Dieses europäische Kraus darf wohl als selbstän- 
dig aufgetretene Mutation aufgefaßt werden. 

Bei der Kreuzung Malaie mit Negrito findet B ean 7 ) auch 
Kraushaar rezessiv, was ich als Ausdruck seiner Entstehung 
aus eigener Mutation deute (s. S. 227). 

Ob es Gruppen gibt, die nur den Wellungsfaktor CC 
haben, scheint sehr zweifelhaft. Bei den teilweise als engwcUig- 
haarig bezeichneten Stämmen Nordostafrikas (zum Teil v. 
Eickstedts Äthiopiden) kommen neben cngwelligen aus- 
nahmslos und in recht großen Mengen auch spiralgedrehte 
Haarformen vor, so daß die Erscheinung durch Kreuzung von 
schlicht (mediterran und orientalisch) mit spiralgedreht (Neger) 
restlos erklärt wird. E. Fischer 8 ) findet keine Unterschiede 
zwischen vielen Somali-Haarproben und südwestafrikanischen 
Bastard-Haarproben. Auch Puccioni 9 ) spricht sich für deren 
Mischlingsnatur aus. 

Ob sich das Spiral gedrehte Haar der Ncgritiden (Semang, 
Negrito der Philippinen usw.) und das der afrikanischen Pyg- 

J) A. a. O. 

") Lebzelten Über Khoisanmi schlinge in Süswestafrika. Ztschr. 
Morph. Anthr. (Fcstb. Fischer.) 34. 1934. 

• ! ) A.a.O. 

4 ) Bijlmcr. Ouilincs of the anthropology of the Timorarehspclago. 
Weltevresen 1929. 

fl ) A. a. O. s. S. 129. 

G ) van Bern eleu. Die Vererbung der Haar form beim Menschen. 
Vcrh. 5, internal-. Kongr. Vererb. Berlin 1928. 

7 ) Bean. Heredily of hair form araong the Filipinos. Am. Natural. 
45. 1911. 

a ) Fischer, E. Zur Frage der äthiopischen Rasse. Ztschr. Morph. 
Aiilhr. 27. 

n ) Puccioni. Africa nordorientale e Arabaia. Pavia. 1929. 
Ders. Antropologia. c etnogratia delle genti dclla Somalia. Bologna 
! 93i- 



160 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

mäen in Kreuzung mit Europäern ebenso verhält, wissen wir 
nicht. 

Nach der anderen Seite, vom Schlicht aus, Hegt das straffe 
Haar. Ein Erbfaktor L (lissotrich) darf angenommen werden, 
der dominant ist über gebogene, schlichte und sogar krause 
Haarform. Dünn zeigt die Dominanz des straffen Chinesen- 
haares in der Kreuzung mit kraushaarigen Hawaiern, Tao ] ) 
dasselbe bei Europäer-Chinesen-Kreuzung. Landauer gibt 
eine gute Zusammenstellung. Das gelegentliche Vorkommen 
schlichten Haares bei Südchinesen würde ich darnach, für ein 
Herausmendeln dieser Form aus der Kreuzung des chinesischen 
Straffhaares mit Kraushaar vormongolider Elemente halten. 

Noch unklar ist der Erbgang bei Kreuzung von Europäer 
mit Eskimo. Zunächst ist zu betonen, daß Eskimo ganz und 
gar nicht rein straffhaarig sind. Kranz 1 ) zeigt bei reinen 
Ostgrönländern (wenn man alle Jugendlichen drin läßt) doch 
gegen 40 o/o Schlichthaarige. Als rein homozygote (1 1) sind sie 
an Zahl zu groß. Ihre Heterozygotie würde bedeuten, daß 
straff auch rezessiv gegen schlicht sein kann. Die Frage muß 
offen bleiben. Familienuntersuchungen liegen nicht vor. 

Die Straffheit hängt nicht nur mit der Haardickc zusam- 
men; es scheint noch als besondere Eigenschaft und als beson- 
derer Erbfaktor die Härte eine Rolle zu spielen. S aller 2 ) be- 
tont das für Malayen-Mischlingshaar ausdrücklich. Aber Ein- 
zelheiten lassen sich noch nicht angeben. 

Eine unerklärliche Erscheinung bilden vier bisher bekannt 
gewordene Fälle, wo auf ein und demselben Kopf etwa in der 
Mitte des Kopfes richtiges Kraushaar und ringsherum schlich- 
tes Haar stand. Über Vererbung ist nichts bekannt 3 ). 

Die Gesamtbe h a a r u n g ist zwischen den einzelnen 
Rassen so stark verschieden und scheint so unabhängig von 
Umwelteinflüssen, daß wir mit Sicherheit verschiedene Erb- 
faktoren annehmen müssen. Aber wir können uns noch keine 
einzelnen solche vorstellen. Ein Verteilungsfaktor für Kopf- 
und Körperhaar scheint zunächst bei allen Rassen gleich zu sein. 
Die sehr auffällige Grenze des Kopthaars an Stirn, Schläfe, 
um die Ohrmuscheln herum und am Nacken muß vor aller 



i) A. a. O. 

2 ) Salier. Mikroskopische Untersuchungen an den Haaren der Ki- 
saresen und Kisarbaslarden. (In: Rodcnwaldt). 1927 — und auch Sal- 
ier a. a. O. — 

3 ) Einzelangaben und Li f. s. Fischer, Genanalyse. 



ERBANLAGEN DER 11 AARFORMEN. 



Rassenbildung beim Menschen entstanden sein. Der Anthro- 
poide hat nichts dergleichen. Auch die Form der Achsel- und 
Schambehaarung ist grandsätzheh, einschließlich des Geschlechts- 
unterschiedes, bei allen Rassen gleich, nur an Ausdehnung und 
Stärke wechselnd. Dagegen haben wir am Bart nicht nur die 
sehr auffälligen Unterschiede in seiner FüUe und Größe — er 
ist weitaus am stärksten bei Europäern, Ainu und Australiern, 
nur angedeutet bei manchen Indianern und Eskimo — , son- 
dern hier ist auch eine deutliche.; Verschiedenheit von Grenze 
und Form festzustellen. Wedda haben einen starken Bart, aber 
er läßt die Vorderseite der Unterlippe und des Kinnes und die 
Wangen vor dem Ohr so gut wie frei, er ist nur unter dem 1 
Kinn entwickelt. Über Vererbung wissen wir nichts. 

Die Körperbehaarung am übrigen Körper ist z. B. beim 
Europäer viel stärker als beim Neger, der Mulatte gleicht dem 
Neger mehr, das deutet nicht gerade auf Dominanz der 
starken Europäerbehaarung. Innerhalb der Europäer glaubt 
Danforth für die Behaarung der Rückseite der Fingerglie- 
der einen besonderen dominanten Faktor, für das Fehlen auf 
dem Mittelglied einen solchen rezessiven annehmen zu müssen. 
Aber all das ist noch sehr unsicher. Zwillingsuntersuchungen 
zeigen, daß auch feinere Einzelheiten wie Asymmetrie der 
Nackenhaargrenze, Ausbiegung, sog. Geheim rat s wink el an der 
Stirnhaargrenze, eine längere Erhaltung, des embryonalen Flau- 
mes an Stirn und Wange, bei EZ in einer erdrückenden Mehr- 
zahl der Fälle gleich, bei ZZ meist verschieden sind (Bek- 
kershaus 1 ), v. Verschuer a. a. O.). Besonders auffällig 
scheint die Nichtvererbung der Wirbelbildung. Während Bern- 
stein 2 ) und Schwarzburg 3 ) einen dominanten Faktor für 
die Rechtsdrehung des Scheitelwirbels und einen rezessiven für 
Doppelwirbel angenommen haben, zeigten ZwiUingsuntersu- 
chungen meines Schülers N ehse 4 ), daß eine sehr große Zahl 
von EZ ungleiche Wirbelbildung hat. Ein einfacher Erbfaktor 
für solche besteht also sicher nicht. Weder die Lage des Wir- 
bels, noch die Drehungsrichtung, noch die sog. Haarlinie wer- 

1 ) Beckershaus. Über eineiige Zwillinge. Ztschr. Augenheilkunde. 
59. 1926. 

2 ) Bernstein. Beiträge zur mendelis tischen Anthropologie I. u. II. 
Sitz.-Ber. Pr. Akad. Wiss. phys. math. Kl. V. 1925. 

fi ) Schwarzburg. Statistische Untersuchungen über den menschli- 
chen Scheitel wirbcl und seine Vererbung. Ztschr. Morph. Anthr. 26. 1927. 

*) Nehse, Beitrage zur Morphologie und Vererbung der menschlichen 
Kopfbehaarung. Wird 1936 in Z. Morph. Anthr. erscheinen. 

Baur-Fisclier-LenzT. n 



162 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

den vererbt, sondern sind intrauterinen Um weit Wirkungen zu- 
zuschreiben. Die Zahlen wei'te Bernsteins und seiner Schule 
müssen Zufallsbefunde sein. Dagegen beruhen die Stärke der 
Drehung und die Form der Nackenhaargrenze auf Erbanlagen. 
H. Virchow 1 ) konnte bei vier Geschwistern und wieder bei 
vier Kindern eines dieser Geschwister einen Wirbel in der Aug- 
braue feststellen. Das spräche für einen einfach dominanten 
Faktor. Daß die Verwachsung der Augbrauen über die Stirn, 
die Räzclbildung, in Vorderasien und Kreta — hier in einzel- 
nen Provinzen bis zu 60 o/o — viel häufiger vorkommt als 
sonst, zeigt wohl, daß ihr eine Erbanlage zugrunde liegt. Der 
Erbgang ist nicht festgestellt ; der Faktor wird wohl, nach 
seinem scheinbar unvermittelten Auftreten bei uns, rezessiv sein 
gegen den für haarfreie „Glabella" (Stirnglätzchen). 

Auch über die Länge der einzelnen Behaarungen (Kopf, 
Bart, Scham), über die Dicke und FI arte des Einzelhaares, über 
Wurzelfestigkeit, über Glatzenbildung, Form der Augbrauen 
u. a. Unterschiede wissen wir vom Erbstandpunkt aus noch 
nichts Sicheres. Ich verweise auf Landauer 3 ), Fischer 
(Genanalyse), auch Scheuer 3 ) gibt gute Übersicht und 
reiche Schriftenangaben. 



e) Erbanlagen am Skelett. 
Hirn-Schädel. 

Kein Teil des menschlichen Körpers ist anthropologisch so 
eindringlich und so oft bearbeitet worden wie der Schädel. 

Man kann der Übersicht halber und nach Ihrer stammesgeschichtlich- 
systematischen Bedeutung die Schädelmerkmalc in einzelne Gruppen einteilen: 

Einmal gibt es eine große Anzahl Merkmale (genau wie solche an allen 
anderen Organsystemen), qualitative und quantitative, durch die sich Affen 
und Mensch deutlich und scharf unterscheiden. Diese Merkmale sind also 
für die menschliche Art spezifisch, sie müssen also in der Erbmasse des 
,, Menschen" fixiert sein. Beispiel shalbcr sei genannt: Bei Anthropoiden die 
geringe Größe des Hirnschädels gegenüber dem Gesichtsschädel, die Bildung 
dachartig über die Augenhöhlen vorspringender Knochenränder (Supra- 
orbitalleisten), das Vorstehen des Eckzahns über die übrige Zahnreihe, die 
mächtige Ausbildung des Unterkiefers mit fliehender, kinnloser Vorderseite 



1 ) Virchow, li. Die Stellung der Haare im Brauenkopf. Ztschr. 
Ethn. 44. 1912. 

2 ) Landauer. Die Vererbung von Haar- und Hautmerkmalen, aus- 
schließlich Färbung und Zeichnung. Ztschr. ind. AbsL 42 (1926) und 50, 
1929. (Lit.) 

3 ) Scheuer. Die Behaarung des Menschen. Frauenk. und Konst. For- 
schungen 1933. 



ERBANLAGEN DES SCHÄDELS 



163 



— beim Menschen ist von all dem das Umgekehrte vorhanden. An der Erb- 
lichkeit all derartiger Merkmale des Menschen, am Vorhandensein beson- 
derer, sie bedingender Erblaktoren, und zwar in der Erbmasse der gesamten 
Menschheit, kann kein Zweifel seht. Gelegentlich tritt nun eine affenähn- 
liche, „pithekoide" Bildung beim Menschen in die Erscheinung. Man muß 
annehmen, daß die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affen ähn- 
liche Merkmale besaßen, und daß — durch uns meistens nicht bekannte Ver- 
hältnisse — ■ als sogenannter „Atavismus" — ein solches Merkmal wieder 
erscheint, genau wie etwa ein dunkler Rückenstreif beim Pferd. 

Erbtheoretisch denken wir dabei nicht mehr so sehr an sich treffende, 
beicl elterliche, sehr seltene rezessive Erbanlagen, sondern eher an den Weg- 
fall (auch schon helerozygotisches Fehlen) gewisser, die normale Entwick- 
lung beherrschender Gene und damit Bestehenblcibcn oder Wiederauf treten 
embryonaler Durchgangsbi.1 düngen der normalen Entwicklung. 

Ebenso wie gegen die Affen grenzen auch gegen den Neanderta] men- 
schen, also gegen den ganzen Homo primigenius (Neandertal, Spy, La 
Chapelle u. a.), dann gegen den Homo heidclbergensis (Unterkiefer von 
Mauer) und endlich gegen den Pithecanthropus und Sinanthropus den Schä- 
del des heutigen Menschen eine Anzahl Unterschiede scharf ab. Auch für 
diese gilt, was oben für die anderen gesagt wurde, einschließlich der „atavi- 
stischen" Merkmale. Als Rückschläge auf sie oder ähnliche Vorfahrenfor- 
men, demnach als Reste der alten Erbmassen, treten hie und da einzelne 
neandertalahnlichc Merkmale auf, nie aber die gesamte und wirkliche eigen- 
artige Kombination der Neandertalmerkmale. Für die Rassenkunde sind alle 
diese Merkmale von geringerer Bedeutung als die folgenden: 

Der Schädel jeder Rasse ist durch eine große Anzahl deut- 
licher und ihr eigentümlicher Merkmale gekennzeichnet. Selbst- 
verständlich zeigt jedes davon bestimmte Schwankungen nach 
Stärke und Ausprägung, so daß der eine sehr scharf ausge- 
prägt die Eigenheiten seiner Rasse zeigt, der andere nur ganz 
gering. Kommen dazu noch rassenfremde Einschläge, dann 
gibt es natürlich Übergangsformen und nach Rasse nicht mehr 
erkennbare. 

Von den Rassenunterschieden ist am auffälligsten die ras- 
senmäßige Verschiedenheit der Gesamtform des Schädels, so- 
wohl der Gehirnschädelkapsel wie des Gesichtsschädcls und 
einzelner Teile (Nase). 

Neben der Beschreibung benützt man zur Festlegung und Wiedergabe 
der Formunterschiede die Messung. Seit Anders Retzius (1864) wird 
dabei stets ein Maß im Hundertsatz des anderen angegeben, um die schwere 
Vergleichbarkeit absoluter Werte je zweier zueinander gehöriger Strecken 
— z. B. Länge und Breite — zu vermeiden. Jenen Verhäitniswcrt bezeichnet 
man als Index. So drückt man z.B. die Schädelbreite in Hundertsteln der 
Länge aus und spricht vom Längenbreitenindex. Die Länge und Breite be- 
ziehen sich auf die Ausmaße der Gehirnschädelkapsel, nicht des Gesichtes, 
s. Abb. 42. Es muß dabei betont werden, daß die damit gewonnenen Eintei- 
lungsmöglichkciten in Langschädel oder Dolichozephalc, Mittelformcn oder 
Mesozcphale und Breitschädcl oder Brachyzephale, in Lang- und Breitge- 



164 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

sichter usw. willkürlich sind; keinenfalls bedeutet die durch Messung fest- 
gestellte Langschädeligkeit in einer Gruppe hier und einer anderen dort ohne 
weiteres eine Zusammengehörigkeit. Die relative Länge ist z. B. bei den 
langen Schädeln aus Schweden durch ganz andere Einzelheiten der Kno- 
chenbildung bedingt wie bei den langen Schädeln aus Negerländern Afrikas. 
Es kommt auf die einzelnen Formen von Stirn, Scheitel, Hinterhaupt usw. 
an. Die Bezeichnungen „Langschädel" usw. geben also nur einen kurzen 
Ausdruck für das Verhältnis zweier Hauptausdehnungen, Vor allem ist es 
falsch, die willkürlich festgesetzten Grenzen von Lang-, Mittel- und Kurz- 
schädcln als natürlich gegebene Rassengrenzen anzusehen. Das natürliche 
Schwanken jedes Merkmales um ein Mittel kümmert sich nicht um jene 
Kategorien. Die kürzesten Schädel einer typisch langschädcligen Rasse wer- 
den meist noch weit in die Kategorie der „Mesozephalie" hineingehen, sie 
sind darum nicht weniger rasserein als die langen. 

So ist es völlig verkehrt, bei prähistorischen Funden von 6 oder 10 
Schädeln, von denen einige etwa mesozephal und andere brachyzephal sind, 
sofort von Rassenmischung zu sprechen, es sind mit größerer Wahrschein- 
lichkeit nur Varianten einer Rasse. Ja, eine Rasse kann das Mittel ihrer 
Schwankungsbreite gerade an der Stelle haben, wo wir herkömmlicher Weise 
zwei Kategorien aneinander grenzen lassen, sie muß dann scheinbar „zweier- 
lei" „Formen" (I) haben, in Wirklichkeit ist sie so homogen wie irgend- 
eine andere! 




Abb. 42. 

Sog. „Langschädel" und sog. „Rundschädel". 

1. Knabe: Kopflänge 190 mm, Kopf breite 137 mm, Längenbreitenindex 72,1. 

2. Knabe: Kopflänge 174 mm, Kopfbreite 154 mm, Längenbreitenindex 88,5. 
G— O = größte Kopflänge, P—P = größte Kopfbreite (nach Rose). 



ERBANLAGEN DER SCHÄDELFORM. 



165 



Die Frage ist nun, wieviel an den erkennbaren und gerade 
am Schädel durch die bis aufs äußerste getriebene Kraniologie 
aufs genaueste untersuchten Merkmalen Ausdruck von Erbf ak- 
toren und wieviel solche der abändernden Umweltwirkung ist. 

Über die meisten rassenmäßigen Formeigentümlichkeiten 
sind Erbuntersuchungen überhaupt noch nicht angestellt wor- 
den. Ob und wie sich z. B. die Form der Nasenbeine und des 
knöchernen Naseneingangs, die Prognatie, die Form der Augen- 
höhlen oder Überaugenwülste und andere rassenbezeichnende 
Einzelheiten vererben, ist unerforscht. Aber die physiognomi- 
schen Studien Abels, Scheidts, Weningers u. a. zei- 
gen, daß wir offenbar für alle diese Dinge einzelne in ihrer 
Wirkung gesondert erkennbare Erbanlagen annehmen dürfen. 
So weit sie die Physiognomie und teilweise den Gesamteindruck 
der Kopfform bedingen, sei auf die Darstellung S. 192 verwie- 
se^ bezüglich der Nase auf S. 195. Wieweit aber hier Einzel- 
heiten erblich festgelegt sind und, nebenbei bemerkt, wie groß 
auch die rein ärztliche Bedeutung dieser Dinge ist, zeigt die 
Tatsache, daß die dem Ohrenarzt bekannte (und bei der Ope- 
ration gefürchtete) Verlagerung des Sinus sigmoideus im Fel- 
senbein bis ganz nahe an das Antrum mastoideum heran ein- 
mal bei zwei Geschwistern und deren Mutter beobachtet wurde 
(Leicher 1928). Auch an der knöchernen Nase sind eine 
Menge Einzelheiten als einzeln vererblich nachgewiesen. Die 
Ausbildung einer Fossa pränasalis beruht offensichtlich auf 
einem rezessiven Gen, wie der Befund an Eltern und Kindern 
und an Zwillingen erweist. Dadurch erscheint ihr Auftreten an 
Negerschädeln in ganz anderem Licht als viele sonstige osteo- 
logische „Varietäten". Entsprechende Untersuchungen an Mu- 
latten wären dringend nötig. Dagegen zeigt die Ausbildung 
einer Spina nasalis fließende Übergänge in der Vererbung, 
vielleicht sind die stärkst ausgebildeten Formen dominant. 

Stammesgeschichtlich nicht ohne Bedeutung im Sinne der 
Weiner t sehen Ausführungen ist die Beobachtung, daß für 
die Ausbildung der Stirnhöhle ein dominanter Entwicklungs- 
faktor und vielleicht dazu ein Hemmungsfaktor anzunehmen 
sind. Erblichkeit ist weiter nachgewiesen für die Ausbildung 
und die Formen der Höhlen in Kiefer, Keilbein und Warzen- 
fortsatz. Die Breite der Kieferhöhle scheint gegenüber Schmal- 
heit dominant zu sein. Die Mastoidzellen zeigen bei EZ „Über- 
einstimmung in der Zellbildung bis auf die Einzelzelle" (nach 
Leicher s. S. 177). 



166 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 

Die meiste Arbeit wurde für die Frage angewendet, ob die 
Gesamtform des Schädels, wie sie in der Längenbrei- 
ten- und Längenhöhenmessung ausgedrückt werden soll, erb- 
lich so festgelegt ist, daß Umwelteinflüsse wenig daran for- 
men 1 ). Man kann dabei an die Vererbung der einzelnen Durch- 
messer, also an gesonderte Erbanlagen für das Längen-, Brei- 
ten- und Höhenwachstum denken. Da aber für alles Wachstum 
gegenseitig gewisse Abhängigkeit besteht, deren Ergebnis wir 
dann als Harmonie der Teile empfinden, kann man auch an 
eine einheitliche Erbunterlage für die Form als solche denken. 
Das tut vor allen Stücken Frets 2 ), der sich am eingehend- 
sten mit der Untersuchung dieser Frage beschäftigt hat. Er 
denkt selbstverständlich nicht an eine Vererbung des Index, 
als ob etwa gesonderte Erbfaktoren für einen Längen-Breiten- 
Index von 70 oder von 85 wären, sondern an verschiedene 
Erbanlagen für die „Variationen eines , Charakters', der durch 
Messungen sozusagen künstlich in Dimensionen aufgelöst wird". 
Er nimmt also eigene Gene für die Form an, nicht für die Ein- 
zeldurchmesser. Deren Größe wird nach ihm noch einmal 
durch andere Gene bestimmt, die Faktoren der Form seien 
dominant über die der Größe. Ehe aber auf die Frage nach 
der erblichen Unterlage hier im einzelnen eingegangen werden 
kann, muß die Frage der Umweltwirkungen erörtert werden, 
erst deren Kenntnis läßt sozusagen übrig, was nun vom Erbe 
wirklich in die Erscheinung tritt. 

Schon vor der Geburt wirken offenbar Kräfte von außen 
auf die Form des kindlichen Kopfes ein. Untersuchungen an 
Zwillingen (Dahlberg, v. Verschuer, Siemens u. a.) 
haben gezeigt, daß die Kopfform bei Zwillingen stark beein- 
flußt wird, und zwar gerade durch die besonderen Verhältnisse 
der Zwdllingsschwangerschaft selbst. An großem Zwlllings- 
material konnte v. Verschuer zeigen, daß bei der Geburt 
Zwillinge, EZ und ZZ, häufig verschiedene Kopfform haben. 
Bei den EZ nun wird die Verschiedenheit in den ersten Wachs- 
tumsmonaten deutlich geringer. Jetzt wirkt also die eigentliche 
erbliche Tendenz, die vor der Geburt wohl durch Einflüsse 
von Lageunterschieden in der Gebärmutter überdeckt wurde. 



l) Schreiner. Zur Erblichkeit der Kopfform. Genetka V. 1923. Hil- 
den. Zur Kenntnis der menschlichen Kopfform in genetischer Hinsicht. 
Hereclilas VI. 1925. Bryn, The genetic relaüoti of index cephalicus I-Ie- 
reditas I. 1920. Vidensk. Skr. math. Kl. Nr. 5 Kristiania 1921. 

s ) Frets. The cephalic index and its Heredity. Haag 1925. (Lit.) 



UMWELTWIRKUNG AUF DIE SCHÄDELFORM. 



167 



Dann bleiben sich dauernd die Schädel von EZ erheblich ähn- 
licher als die von ZZ. Diese letzteren nehmen an Unähnlich- 
keit von der Geburt an umgekehrt zu, weil eben jetzt wie bei 
den EZ die Erbtendenz, diesmal aber bei den beiden Paarun- 
gen jeweils in verschiedener Richtung, wirken kann. Noch stär- 
ker ist diese Zunahme der Unähnlichkeit bei Pärchenzwillin- 




2,8 2,e 1,1- 



Abb. 43. Die Entwicklung der Kopflänge von der Geburt bis zur Mitte des 
zweiten Jahrzehntes bei Zwillingen. Nach v. Verschuer (Erklärung im Text). 

gen. Abb. 43 zeigt die Verhältnisse deutlich. Je weiter die über 
die Lebensjahre sich erstreckenden Linien von der Senkrechten 
seitlich nach rechts und links abweichen, um so größer ist die 
Unähnlichkeit der Zwillinge. Damit ist einwandfrei bewiesen, 
einmal, daß tatsächlich Erbfaktoren der Schädelform (hier 
Schädellänge) zugrunde liegen und dann, daß die Umwelt 
deren Wirkung stark beeinflußt. 

So kann es nicht überraschen, daß Abel (a. a. O.). beim 
Untersuchen von Umrißkurven am lebenden Kopf zwar EZ 
bedeutend ähnlicher fand als ZZ, aber doch nicht immer gleich. 
ZZ aber waren nie ganz gleich. Im Stirnteil waren Gleich- 
heiten besonders deutlich'. 

Bei der Geburt selbst entstellt durch Übereinanderschieben 
der Knochenränder und Verbiegungen von Knochen die sog. 
Geburtsdeformität, die bei nicht normalem Geburtsverlauf be- 
sonders stark wird. Aber diese Einwirkungen pflegen nach 
Tagen, Wochen oder Monaten spurlos zu verschwinden. Ab- 
norm starke Verunstaltungen, zum Teil mit Knickungen oder 
Zerreißungen von Knochen können wohl auch dauernd eine 



168 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



Mißgestalt hervorbringen. Aber derartige einzelne krankhafte 
Formen können hier außer Betracht bleiben. Ein von Sie- 
mens 1924 berichteter Fall von Turmschädel bei einem von 
zwei EZ zeigt übrigens deutlich die Nicht erblichkeit dieser 
Dinge, wenn auch solche Fälle bei beiden vorkommen können, 
wie Engerth 1 ) zeigt. 

In der ganzen Wachstumszeit lenken die Hypophyse und 
wohl auch andere Drüsen, Thymus, Keimdrüse u. a. mit ihren 
Hormonen das Wachstum. Ihre Erkrankung verändert die 
Schädelform. Bei als Knaben Kastrierten bleibt die Knorpel- 
fuge zwischen Keil- und Hinterhauptsbein abnorm lang offen. 
Am bekanntesten ist die abnorme Vergrößerung des Unter- 
kiefers beim Krankheitsbild der Akromegalie. Aber auch noch 
nicht gerade als krankhaft aufgefaßte Mehr- oder Weniger- 
funktion der Hypophyse, vielleicht auch anderer Drüsen, kön- 
nen ganz sicher die Schädelform beeinflussen. Roth 2 )' konnte 
an Ratten durch Fütterung mit Hypophysenvorderlappenextrakt 
im Zusammenhang mit Wachstumsbeschleunigung und Wachs- 
tumsvermehrung die Schädel relativ länger machen. Der Index 
wird gegenüber dem durchschnittlichen um etwa drei Ein- 
heiten niedriger. Wir kennen entsprechende Wirkungen beim 
Menschen nicht unmittelbar. Wieweit aber die im Laufe der 
letzten zwei Generationen mindestens bei der Stadtbevölkerung 
eingetretene frühere Geschlechtsreife (s. S. 229) und die seit 
etwa 80 Jahren erfolgte Zunahme der Körpergröße in den 
meisten Ländern Folgen von Veränderungen der inneren Drü- 
senabsonderung sind und diese dann auch die Schädelform be- 
einflußt haben, ist noch unbekannt. Die an vielen Stellen nach- 
weisbare Zunahme der Rundschädeligkeit könnte damit zu- 
s ammenhängen. 

Weiter wissen wir, daß auch Ernährungsverhältnisse un- 
mittelbar die Schädelform beeinflussen können, scheinbar am 
stärksten tun es gewisse Mangelkrankheiten. Rachitis macht 
bekanntlich eine ganz bestimmte Kopfform mit starker Be- 
tonung der Stirn- und Scheitelhöcker, das Caput quadratum. 
Auf Vitaminmangel antwortet der wachsende Rattenschädel 
durch Verbreiterung, so daß er randschädeliger wird (Neu- 
bauer 1925 und E. Fischer 1924). 



x ) Engerth. Angeborene Turmschädelbildung bei einem erbgleichen 
Zwillingspaar. Neur. u. Psych. Bd. 14S. 1933. 

3 ) Roth. Wach stumsver suche an Ratten. Z. Morph. Anthr. 33. 1935. 



UMWELTWIRKUNG AUF DIE SCHÄDELFORM. 



169 



Günther (Leipzig) 1 ) weist mit vollem Recht auf Zusam- 
menhänge von Kopfform, besonders auch abnormer, z. B. 
Turmschädel, mit konstitutionellen Dingen, z. T. mit bestimm- 
ten Erbanlagen (Polydactylie) hin. 

Es mögen aber bei der Schädelbildung noch sehr ver- 
wickelte andere Dinge mitspielen, allgemein chemischer und 
klimatischer Art (Wasser, Luft usw.). Nur so erklären sich 
wohl die bekannten Ergebnisse von -Boas, Guthe undHirsch. 
Bei Kindern von in Amerika eingewanderten Ostjuden wird 
der Schädel schmaler, als er bei ihren brcitschädeligen 
Eltern ist, und zwar je später die Geburt nach der Einwande- 
rung erfolgt, desto mehr. Und umgekehrt bekommen die Kin- 
der schmalschädeliger Sizilianer in Amerika etwas breitere 
Köpfe. Dasselbe hat sich bei Kindern eingewanderter schmal- 
schädeliger Schotten gezeigt, sie werden breitschädeliger. Und 
die in Porto Rico geborenen Spanier bekommen rundere Köpfe 
als ihre Eltern. — Ich habe die in Berlin geborenen Kinder 
von aus dem Osten eingewanderten Juden und diese Eltern 
untersuchen lassen (Dornfeldt — die Arbeit ist noch nicht- 
ganz vollendet). Die Köpfe der Stadt-Kinder scheinen hier eine 
Kleinigkeit schmäler zu werden. Einwanderung in Amerika und 
hier ist etwas sehr Verschiedenes — man sieht, wie verwickelt 
die Frage ist. Wir wissen eben von den betreffenden Umwelt- 
einflüssen noch nichts. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, daß 
Hirnfunktionen und Hirnwachstum unmittelbar oder auf dem 
Umweg über Drüsen mitbeteiligt sind, woran A. Schreiner 
und Hirsch denken. Ich stelle dazu die Beobachtung Hrd- 
lickas 2 ), daß Neger in Amerika viel mehr zu vorzeitigem 
Verschluß der Pfeilnaht neigen als in Afrika. 

Mit derartigen, die Erbunterlage als solche natürlich nicht 
ändernden, sondern nur im Erscheinungsbild wirkenden Ein- 
flüssen muß man offenbar auch rechnen bei der Beurteilung 
der eigentümlichen Erscheinung der „Verrundung" des Schä- 
dels gewisser europäischer Bevölkerungen, vor allem der süd- 
deutschen. Ich habe seit Jahren darauf immer wieder hinge- 
wiesen. Auch Beobachtungen bei uns sprechen dafür, daß es 



1 ) Günther, H. (Leipzig). Über konstitutionelle Varianten der Schä- 
delform und ihre klinische Bedeutung usw. Virch. Arch. 278. 1930. 

Ders. Die konstitutionelle und klinische Bedeutung des Kopfindex. Z. 
menschl. Vererbung und. Konst. ig. 1935. 

2 ) Hrdlicka. Catalogue of human crania in the U. S. Nat. Mus. — 
Pi-oc. U.S. Nat. Mus. 71. Art. 24. 1928. 



170 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



unmittelbare Einwirkungen der Umwelt auf die Kopfform ge- 
ben muß, In einzelnen Schwarzwaidgegenden, vor allem aber 
diene als Beispiel das Große Walsertal in Vorarlberg, sind 
über 980/0 der Bevölkerung rundköpfig, dabei etwa ] / 4 hell- 
äugig und hellhaarig. Auslese, etwa Auswanderung, kann die- 
ses Verhältnis unmöglich, gezeitigt haben, mit der Ausmerzung 
der Schmalschäcleligen müßten auch mehr Helle verschwunden 
sein, da es bei der ursprünglichen rassenmäßigen Zusammen- 
gehörigkeit dieser beiden Merkmale unmöglich ist, daß so gut 
wie alle Schmalschäcleligen, aber fast keine Hellen ausgetilgt 
sein sollten. 

An Schädeln aus dem Karolingischen Kloster Lorsch scheint 
sich zu zeigen, daß schon 300 Jahre nach der Einwanderung 
typisch langschädeliger Bevölkerung starke Rundschädeligkeit 
erreicht war. Wir kennen die eigentlichen Zusammenhänge 
noch keineswegs (Fischer 1 ). Reche 2 ) spricht geradezu 
von „Domestikationsformen". Salier 3 ) findet eine solche Ver- 
rundung in Gebieten früherer und heutiger Slawensitze wie in 
Niedersachsen. — Es müssen Um weit Wirkungen sein — mit 
dem erblichen Rassenbild haben sie unmittelbar nichts zu tun; 
die Erscheinung zeigt nur dringend, daß wir bei der Rassen- 
beurteilung die Reaktionsbreite der erblichen Eigenschaften 
berücksichtigen müssen und nicht auf rein metrisch-deskrip- 
tiven Merkmalen ohne Analyse der Erbunterlage „Rassen" 
einteilen können. Eine Leugnung der Rasse, wie sie von ge- 
wissen Seiten gefolgert wird, ergibt sich daraus keineswegs! 
Die Erbanlagen der betreffenden Rassen werden von all diesen 
Umweltwirkungen nicht berührt. — Aber die Erkennung der 
Zusammenhänge von vorgeschichtlichen Rassen und heutigen 
aus den Schädelformen wird ungeahnt erschwert. Jedenfalls ist 
mit einfacher Messung von Länge und Breite nichts getan! 

l ) Fischer. Untersuchungen über die süddeutsche Brachykephalic. 
III. Ztschr. Morph. Anthr. 31. 1933. — Dazu s. weiter: 

Jäger. Die Rassengeschichtc Frankens (mit Beiträgen zur Wenden- 
frage in Deutschland). Ztschr. ges. Anat. Bd. 18. 1934. 

M ü hl mann. Untersuchungen über die süddeutsche Brachykephalie. 
I. Ztschr. Morph. Anthr. 30. 1932. 

■ 2 ) Reche. Natur- und Kulturgeschichte des Menschen in ihren gegen- 
seitigen Beziehungen. Volk und Rasse. 3. 1928. 

3 ) Salier. Neue Gräberfunde aus der Provinz Hannover und ihre Be- 
deutung für die Rassengeschichte Niedersachsens und Europas überhaupt, 
Ztschr. Anat. u. Entw.-Gesch. Bd. 101. 1933. 

Ders. Die Rassengeschichte der bayrischen Ostmark. Ztschr. f. Kon- 
stitutionsl. Bd. 18. 1934. 



UMWELTWIRKUNG AUE DIE SCHÄDELFORM. 



171 



Abgesehen von erblichen Anlagen besteht noch ein Zu- 
sammenhang von Körperlängenwachstum und Schädel-Breiten- 
und Längenwachstum. Johannsen (1907) und B oas (1899) 
haben auf diese Tatsache liingewiesen, Frets 1 ) hat sie er- 
neut betont. Mit zunehmender Körpergröße nimmt das Län- 
genwachstum des Schädels etwas mehr oder rascher zu als die 
Breitenausdehnung; so kommt es, daß die Schädel bei Stei- 
gerung der Körpergröße etwas länglicher werden, einen etwas 
kleineren Längenbreitenindex bekommen. Man kann bei einer 
Zunahme der Körpergröße stets auf entsprechende Abnahme 
der Indexeinheiten rechnen. Nun ist, wie unten (S. 208) ge- 
zeigt werden wird (von gewissen pathologischen Fällen abge- 
sehen), die Größe des Einzelindividuums zum Teil durch des- 
sen Ernährungs- und vielleicht andere Verhältnisse während 
der Wachstumsperiode bedingt. So wird also die dadurch her- 
vorgerufene Größen- Zu- oder -Abnahme auch entsprechend 
eine Index- Ab- oder -Zunahme im Gefolge haben. Beim Ein- 
zelindividuum muß man also bei der Beurteilung seines L.-B.- 
Index Rücksicht auf die Körpergröße nehmen. Kleiweg de 
Zwaan 2 ) zeigt diese Abhängigkeit erneut, er findet sie auch 
für Gesichtshöhe und Jochbogenbreite (Malaien). 

Von viel geringerer Bedeutung sind ganz unmittelbar den heranwach- 
senden Kopf von außen treffende Einwirkungen. Es sei an die sogenannte 
Deformierung erinnert, wie sie Indianer und andere Völker z. T. in sehr 
großem Umfang geübt haben, indem sie den Kopf des Säuglings in feste 
Binden oder zwischen Brettchen einschnürten. Auch fest angelegte Hauben- 
bänder (Hclgoländer- Hauben usw.) können in dieser Richtung wirken. Aber 
schon die Lagerung des Säuglings auf harte oder weiche Unterlage und 
damit herbeigeführte Lage des Kopfes auf der Seite oder auf dem Hinter- 
haupt kann, wie Wal eher s. Z. gezeigt hat, das Wachstum des Schädels 
beeinflussen und damit deutliche Formunterschiede hervorbringen. Köpfe 
von eineiigen Zwillingen, die zunächst sehr gleich waren, können bis zu 
einem Index-Unterschied von 8 Einheiten verschieden werden. Basier 3 ) 
hat gezeigt, daß der Unterschied, in einzelnen Fällen nach 15 — 20 Jahren 
noch völlig erhalten war, also zu einem Dauerunterschied geworden ist. 

Man darf bei all dem nicht vergessen, daß damit nur et- 
was gezeigt wird, was jedem Erbforscher selbstverständlich ist. 
Es wird nicht ein starres, erbliches Etwas vererbt, sondern 



1 ) Frets. The Cephalie Index. C. R. Congr. intern. Sc. Anthrop. 
ELhn. London 1934. 

3 ) Klciweg de Zwaan. Der Zusammenhang zwischen Kopf- und 
Gesichtsmaßen mit der .Körperlänge bei den Minangkab au- Malaien Mittel- 
Sumatras. Proc. Vol. 38. 1935. 

3 ) Basler. Über den Einfluß der Lagerung von Säuglingen auf die 
bleibende Schädelform. Ztschr. Morph. Anthr. 26. 1927. 



172 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

eine Reaktionsbreite. Die erbliche (rassische) Form ist eben 
durch Um weit Wirkungen nach allen Richtungen beeinflußbar, 
und teilweise dürfte der Ausschlag nach einer Seite so groß 
sein, daß er sich mit dem einer erblich ganz andersartigen 
Form noch überschneidet. Daß das die Schwierigkeit der Er- 
forschung der eigentlich erblichen Unterlage ganz besonders 
groß macht, bedarf keines Wortes. 

Gegenüber allen diesen Um weit Wirkungen 
besteht nun die Erb Wirkung als solche. Die Tat- 
sache, daß überhaupt Erbfaktoren mit Sicherheit angenommen 
werden können, verdanken wir der Zwillingsforschung. Oben 
wurde gezeigt (S. 167 und Abb. 43), daß typische Unterschiede 
zwischen EZ und ZZ vorhanden sind. Am Vorliegen von Erb- 
faktoren ist also nicht zu zweifeln. Es ist vielleicht von Inter- 
esse, darauf hinzuweisen, daß deren Wirkung schon erkennbar 
ist auf Stadien, wo die Umweltwirkung sozusagen immer gleich 
ist, nämlich in früher Embryonalzeit. Am Schwein hat Kim 1 ) 
gezeigt, daß die erblichen Rassenunterschiede (Berkshire ge- 
gen Landschwein) schon gleich bei der Anlage der primor- 
dialen Schädelbasis deutlich werden. 

Aber auch am Menschen läßt sich das erweisen. Rita 
Hause hiid 2 ) findet schon bei Negerembryonen von 36, von 
49 und 50 mm Scheitelsteißlänge, daß am Knorpelschädel der 
Hirnraum schmäler, die Ohrkapseln höher und der Abschnitt 
des Untergesichts (unter den Augenhöhlen) länger und mehr 
vorgebaut sich anlegen. Rassenunterschiede sind also so früh 
deutlich I 

Wie verwickelt aber diese Schädelbildungsvorgänge verlaufen, erweist 
eine sehr interessante Arbeit Troitzkys 3 ), die durch Experimente am 
Kaninchen zeigt, daß die Nähte der Schädclknochen fest vorherbestimmt 
sind, und zwar an bestimmten Stellen der Hirnhaut, nicht durch das 
Wachstum des betreffenden Schädclknochens selbst! Das kann dann nur 
vererbt sein. Aber die Zusammenhänge übersehen wir noch nicht I 

Die einzelnen Erbfaktoren nun, die die Gesamtschädel- 
form, wie oben gesagt, ausgedrückt durch den Längenbreiten- 
index, bestimmen, sind im einzelnen noch nicht mit Sicherheit 
zu erk ennen. F r e t s *) hat gegen 400 holländische Familien 

1 ) Kim. Rassenunterschiede am embryonalen Schweineschädel und ihre 
Entstehung. Ztschr. Morph. Anthr. 32. 1933. 

a ) Hauschild, Rita. Das Primordialkranium des Negers. (Die Ar- 
beit wird 1936 in Ztschr. Morph. Anthr. erscheinen.) 

a ) T r o i t z k y. Zur Frage der Formbildung des Schädeldaches. Ztschr. 
Morph. Anthr. 30. 1932. 

*) A.a.O. 



ERBANLAGEN DER SCHÄDELFORM. 



173 



untersucht, Er gibt zur Erklärung der Vererbungserscheinun- 
gen zwei Theorien. Nach der einen sollen zwei AUelenreihen 
der Vererbung zugrunde liegen. Der dominante Faktor der 
einen soll ein die Brachyzephalie steigernder Faktor sein, der 
dominante der anderen ein die Dolichozephalie steigernder. Es 
gäbe demnach dominante Brachyzephalie und dominante Doli- 
chozephalie. Unter seinen zahlreichen Erhebungen findet er 
zwei Gruppen von Familien: Dominante Dolichozephalie-Fami- 
lien und dominante Brachyzephalie-Familien. Die letzteren sind 
die viel zahlreicheren, ihre Kinder sind stärker variabel, ihre 
Köpfe im ganzen größer. Die zweite Reihe verbindet sich mit 
Kleinheit des Kopfes : dolichozephale Kleinköpfe. Bei seiner 
zweiten Annahme berücksichtigt er auch die Kopfhöhe und 
nimmt drei Paare von Faktoren an. Aber das Ganze befriedigt 
überhaupt noch nicht. Die Vererbung scheint mir letzten Endes 
überhaupt nicht unmittelbar die Form zu beeinflussen sondern 
einzelne Schädelteile. Ich denke eben dabei immer wieder 
daran, daß ein dolichozephaler Negerschädel einen gänzlich 
anderen Bau hat als ein dolichozephaler Schädel der nordi- 
schen Rasse. Es dürften verschiedene Erbeinheiten sein, die 
den einen und den anderen bilden. Auch Frets erwähnt ge- 
legentlich, daß bei dominanter Brachyzephalie der Schädel- 
abschnitt hinter dem Ohr relativ klein, die frontale Breite groß 
ist, bei rezessiver Brachyzephalie umgekehrt die postauriku- 
lare Länge groß und die Stirnbreite gering. Uns fehlen immer 
noch für eine Erbtheorie gewisse morphologische Kenntnisse 
am Schädel. Wir kennen keine genealogisch zusammengehöri- 
gen Schädel. Man hat unglaublich viel gemessen und darüber 
vergessen, daß wir morphologisch und entwicklungsgeschicht- 
lich gar nicht wissen, was wir letzten Endes messen. 

Ich glaube, man kann den Schaden, den die Einführung 
von Ziffernwerten für die Grenze von Dolicho-, Meso- und 
Brachyzephalie gestiftet hat, gar nicht hoch genug anschlagen. 
Man kann überzeugt sein, daß sich brachyzephalerc und doli- 
chozephalere Formen nach bestimmtem Modus vererben und 
trotzdem die ganze Indexvererbung, d. h. Vererbung ganz be- 
stimmter Schädelformen durch eigene, sie speziell beherr- 
schende Faktoren ablehnen. Ich möchte dem vorsichtigen Stand- 
punkt Alette Schreiners 1 ) beitreten. Eigene Erfahrungen 
bestätigen vollständig ihre Ausführung, daß man im Leben 
häufig Köpfe in bestimmten Familien sieht, die eine Reihe von 
~~ !) A, a. o. 



174 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Merkmalen, ja ich möchte dazufügen, ihren gesamten, einem 
Beobachter deutlich auffälligen Stil und Bauplan, ganz deut- 
lich vererben; Eltern, Kinder, Enkel, aber auch Geschwister 
oder Vettern zeigen dieselben Bildungen. So „daß man von 
wahren Familienköpfen reden möchte". Und mißt man dann 
und bestimmt man „den Zephalindex, so wird man zum großen 
Verdruß nicht gar selten genötigt, die schönen Familienköpfe 
zu verschiedenen Kategorien zu rechnen" (Schreiner). Es 
handelt sich eben oft um geringfügige Zu- oder Abnahmen von 
Länge oder Breite, um Unterschiede von mehreren Einheiten 
erscheinen zu lassen. Ich unterschreibe es, wenn die Forscherin 
weiter ausführt, man habe „mittels dieses fast zu leicht zu er- 
mittelnden Index für die Klassifikation der Köpfe ein verfüh- 
rerisch übersichtliches, zahlenmäßig überaus einfaches und 
klares, dabei aber ungemein künstliches System geschaffen, 
das natürlich in vieler Hinsicht nützlich sein kann, aber die 
große Gefahr in sich trägt, daß man allzu leicht vergißt, wie 
künstlich es eigentlich ist". Den richtigen Weg zur Erfor- 
schung dieser schwierigen Verhältnisse zeigt Abel in seinen 
physiog no mischen Studien (s. S. 192), wo jeder einzelne Form- 
bestandteil gesondert untersucht wird — aber es sind erst An- 
fänge. F r e t s hat unstreitig das Verdienst, die Frage aufge- 
rollt zu haben, sie wird aus der Diskussion nicht verschwinden, 
bis sie gelöst ist. Davon sind wir noch weit entfernt. Ich glaube 
sogar, Frets Arbeiten und das riesige Material, das er und 
die anderen beigebracht haben, dazu all die Kritiken, haben 
gezeigt, daß die Frage an europäischem Material überhaupt 
nicht lösbar ist. Hier sind vermutlich die verschiedensten, 
sagen wir einmal Schädelformungstendenzen so zahlreich, daß 
wir in dem Gewirre der Erblinien, kompliziert durch hetero- 
genste Umweltwirkungen, jede Einsicht verlieren. .Vielleicht 
sind Kreuzungen von Dolichozeplialic und Brachyzephalie zwi- 
schen Rassen, die sonst viel weiter auseinander stehen, und bei 
denen man eine relative Herrschaft rein homozygoter Schädel- 
formen annehmen darf, für unser Studium weit aussichtsreicher. 
Auch meine Rehobother Bastards, an denen ich zuerst einen 
Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Vererbung der Kopfform, 
durch den Längen-Breiten-Index ausgedrückt, erbracht habe, 
sind dazu wegen des unsicheren europäischen Elementes nicht 
ideal, wenn auch wohl besser als Europäer unter sich. Solche 
Falle müßten also gesucht werden. Auch A. Schreiner denkt 
an Ähnliches, wenn sie z. B. Kinder untersucht, deren Vater 



ERBANLAGEN DER SCHÄDELFORM. 



175 



als reinrassiger ( ?) Lappe Hyperbrachyzephale ist, die Mut- 
ter reinrassige ( ?) dolichozephalc Norwegerin. Von den Kin- 
dern ist eines brachy-, zwei meso- und eines dolichozephal. Also 
waren wohl beide Eltern heterozygot!! Dünn zeigt, daß die 
Brachyzephalie der Hawaier in b\ gegen Europäer dominant 
ist. Rodenwaldt, der auch nicht gerade besseres Material 
hatte und mit seinen Resultaten etwa im Rahmen des oben be- 
richteten Tatsächlichen bleibt, sagt entsagungsvoll: „An der 
Ungunst der Vorbedingungen eines Naturexperimentes vermag 
man nichts zu ändern." A. Schreiner weist auf die Not- 
wendigkeit hin, Kreuzungen am Tier zu ; verfolgen ; sie berichtet 
einen Fall von Kreuzungen von Hunderassen mit verschiedenen 
Schädeiformen. Mir scheinen die Arbeiten von P h i 1 i p - 
tschenk o 1 ) über Kreuzung von Kaninchenrassen an gün- 
stigerem Material vollzogen, Hunde sind eben auch stark ras- 
sendurchkreuzt. Der genannte Autor findet lediglich Spaltung, 
vermehrte Variabilität, Transgression. Hier bleibt also alles 
noch weiterer Forschung überlassen. 



Man erkennt, wie schwierig die ganze Frage nach der Ver- 
erbung der Schädelform ist, und damit die nach der Rassen- 
form des Schädels. Vererbt wird — und rassenmäßig festge- 
legt ist damit — eine bestimmte Reaktionsbreite der Schädel- 
form. Wie innerhalb derselben die Einzelform sich gestaltet, ist 
Umweltwirkung; jene aber sorgt dafür, daß diese Wirkung in 
bestimmten Grenzen bleibt. Wie stark und in welcher Richtung 
an gegebenem Ort und auf gegebene erbliche Anlage Umwelt 
wirkt, wissen wir im allgemeinen ebenso wenig, wie wir erken- 
nen, welche Dinge der Umwelt das Wirksame sind. Ein 
Beispiel sei noch erwähnt, das zeigt, wie verwickelt und von 
Fall zu Fall verschieden die Dinge liegen. Lundborg und 
Wahlund 2 ) machen darauf aufmerksam, man könne „die 
zwei helläugigen Bevölkerungen, , Finnen' und Schweden, aller- 
dings nicht durch Unterschiede der Augenfarbe, aber ziemlich 
gut durch den Längen-Breiten-Index auseinanderhalten. Der 
ostbaltische Typus zeigt nämlich einen verhältnismäßig hohen 
Kopfindex, der nordische Typus aber ist langköpfiger". Es 

*) Philiptschcnko. Variabilite et heredite du eräne chez les mam- 
mifercs. Arch. russ. d'anat. et d'embry. T. i. 1917. 

a ) Lundborg und Wahlund. Rasscnverhältnisse im nördlichsten 
Svcrige (Schweden). Ztschr. Morph. Antlir. (Festb. Fischer) 34. 1934. 



176 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

muß dabei betont werden, daß beide Elemente seit Jahrhun- 
derten in derselben Gegend leben — hier scheint Umwelt nicht 
zu wirken I Es gibt also ganz unstreitig eine Vererbung der 
Schädelform und die Schädelform ist ein Rassenmerkmal — 
aber (genau wie bei der Körpergröße I) der einzelne Fall — 
Rasse wie Individuum — muß biologisch untersucht, nicht ein- 
fach schematisch gemessen werden ! 

Gesichtsschädel. 

An allen anderen Eigentümlichkeiten des menschlichen 
Schädels ist, wie erwähnt, nach der Vererbungsseite noch we- 
nig gearbeitet worden. Nur das Gesichtsskelett als Ganzes hat 
einige Bearbeitung gefunden. Zunächst steht fest, daß bei 
Kreuzungen von langem, schmalem und niedrigem, breitem 
Gesicht neben mittleren Formen schmale und breite, niedrige 
und hohe herausspalten. Das konnte für Europäer-Inclianer- 
Mischlinge (Boas), Europäer-Hottentotten-Mischlinge (E.Fi- 
scher), Europäer-Malaien-Mischlinge (Rodenwaldt u. a.) 
festgestellt werden. Aber es scheinen noch besondere Verhält- 
nisse vorzuliegen, indem bei Mischlingen das Gesicht über die 
zu erwartende Länge hinaus eine Zunahme von Verschmäle- 
rung und Verlängerung zu zeigen scheint (Rodenwaldt, 
Lundborg u. a.). 

Genauere Untersuchungen fand die Gegend des Über- 
gangs von mittlerem Gesicht in die Stirn, das Verhältnis der 
Stirnbreite zur Jochbogenbreite. (Als Index fronto-jugalis zif- 
fernmäßig ausdrückbar.) An den Rehobother Bastarden und 
an den Mestizen von Kisar zeigte sich neben Aufspaltung ein 
Überschreiten der elterlichen Grenzwerte durch die Bastard- 
werte. Und A. Schreiner 1 ) konnte bei Kreuzungen, von Nor- 
wegern, Finnen und Lappen auf Grund reichlicher, verglei- 
chender Messungen deutlich zeigen, daß die Mischung jeder 
dieser drei mit einem anderen deutlich stärkere Schmalstirnig- 
keit macht. Ob sie mit der eben erwähnten Bastard-Schrnal- 
gesichtigkeit zusammenhängt, ist unentschieden. Entweder sind 
es recht verwickelte Erblichkeitsverhältnisse oder ein echtes 
Luxurieren (s. S. 302). 

Von Einzelheiten sei die Beobachtung von Gates 2 ) er- 
wähnt, daß ein F r Bastard aus Portugiese und Tupi-Indianerin 
die mütterliche vorstehende Form der Backenknochen rein 



i) A. a. o. 

2) A.a.O. 



GESICHTSSCHÄDEL UND ZÄHNE 



177 



ausgeprägt hatte. Sie scheint sich also dominant zu vererben. 
Auch bei Neger-Hottentotten-Kreuzung finden L o t s y und 
G o cl d i j n das nach unten zugespitzte Gesicht der letzteren in 
¥ t dominant. (Vgl. auch den folgenden Abschnitt f „Das Ge- 
sicht und seine Teile".) Eine Reihe von Einzelbildungen müs- 
sen besondere Erbfaktoren haben, wie etwa die Form des Na- 
senseptums, die Form der Nebenhöhlen der Nase und des 
Ohres (Schwarz 1 ), Leicher 3 )). 

Über Vererbungserscheinungen am Kiefer belehrt uns 
Korkhaus 3 ), daß die Form des Gaumengewölbes von vorn 
nach hinten stärker erblich, quer stärker umweltbeeinflußt 
ist. Die Pränasalgrube wurde schon erwähnt (S. 165). 



Zähne. 

Über Erbanlagen für zahlreiche Einzelheiten am Gebiß 
sind wir durch Zwillingsuntersuchung ausgiebig unterrichtet. 
Es sei vor allem die systematische Arbeit von Kork haus 4 ) 
genannt, dann Siemens, v. Verschuer 5 ), VVeitz, Zei- 
ger u. a. Wenig wissen wir erst über den Erbgang und 
damit die gegenseitige Unabhängigkeit einzelner Erberschei- 
nungen. 

Schon das Durchbrechen der Milchzähne erfolgt bei EZ 
ganz erheblich ähnlicher, d. h. gleichzeitiger als bei ZZ. Das- 
selbe gilt für den Zahnwechsel. Beispielsweise trat (nach 
Brauns) 6 ) der erste Zahnwechsel unter 23 EZ bei acht 
Paaren am selben Tag, bei neun mit einigen Tagen Unter- 
schied, nur bei sechs mit zeitlicher Verschiebung von zwei Wo- 
chen und mehr auf. Bei 21 ZZ dagegen bei keinem Paar völlig 

1 ) Schwarz. Die Formverhältnisse der Nasen Scheidewand bei 84 
Zwillingspaaren (53 eineiigen .and 31 zweieiigen). Arch. Ohren-, Nasen- u, 
Kehlkopf Heilkunde. Bd. 1 19. 1928. 

Ders. Die Bedeutung der hereditären Anlage für die Pneumatisation 
der Warzenfortsätze und der Nasennebenhöhlen. Arch. Ohren-, Nasen- 11. 
Kehlkopfheilkunde. Bd. 123. 1929. 

2 ) Leicher. Die Vererbung anatomischer Varietäten der Nase, ihrer 
Nebenhöhlen und des Gehörorgans. München 1928. 

3 ) Korkhaus, Ätiologie der Zahnstell ungs- und Kieferanomalien. 
Fortschr. Orthodonük H. 1. 1931. 

4 ) Korkhau s. Die Vererbung der Kronenform und -große mensch- 
licher Zähne. Ztschr. Anat. Entw. 91. 1930, 

B ) v. Verschuer. Ergebnisse der Zwillingsforschung. Verh. Ges. 
phys. Anthr, 6. 1931. L. 

ß ) Brauns. Studien an Zwillingen im Säuglings- und Kleinkindesalter. 
Ztschr. Kinderforsch. Bd. 43. 1934. 

Baur-Fischer-I,eiizl. 12 



178 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

gleich, bei vier mit einigen Tagen Unterschied und bei 17 mit 
Unterschieden von zwei Wochen und mehr. Man sieht, daß so- 
wohl Umweltwirkungen, aber vor allem auch deutlich, daß 
Erbanlagen vorhanden sind. 

Das Fehlen einzelner Zähne (am Lebenden nur röntgeno- 
logisch als sicheres Fehlen feststellbar), z. B. symmetrisches 
Fehlen des äußeren oberen Schneidezahnes oder von Prämo- 
laren, war (nach 1 Zeiger) beiEZ immer konkordant. Das Feh- 
len der betreffenden Zahnanlage ist also erblich. Erblich ist 
Lückenbildung zwischen den mittleren oberen Schneidezähnen 
(sog. Trema). M. Weninger 1 ) zeigt, daß es sich dabei um 
einen rein dominanten Erbfaktor handelt. Da Männer das 
Trema seltener aufweisen, nimmt sie einen im Geschlechts- 
chromosom liegenden Hemmungsfaktor an, dagegen zeigen 
gewisse Stellungsunregelmäßigkeiten, Drehung und anderes 
sehr starke Umwelteinflüsse (Daumenlutschen u. a.). Form 
und Größe der Zahnkronen sind nach Korkhaus bei EZ 
verblüffend ähnlich. Hier sind die Furchen und feinen Spal- 
ten, die Höckerchen und Wülste auf der Kaufläche der Back- 
zähne, auf der Innenseite der Schneidezähne meist ein fast ge- 
nauer Abklatsch zwischen den beiden Paarungen. Bei ZZ sind 
wohl zuweilen Ähnlichkeiten, wie auch bei Geschwistern sonst, 
aber eine vollständige Übereinstimmung findet sich nie. Es 
müssen also auch diese feinen Einzelheiten erblich bedingt 
sein. Noch auffälliger ist es, daß ab und zu auftretende über- 
zählige Höckerchen ebenfalls streng erblich bedingt sind. Auf 
der Innenseite der seitlichen oberen Schneidezähne kommt das 
Tuberculum dentale (Incisivum) und am 1. oberen Mahlzahn 
das Tuberculum impar (Garabclli) vor (nach de Terra bei uns 
in 1,5 — 8,70/0). Nach zahlreichen Untersuchungen ist das Cara- 
bellische Höckerchen 6gmal bei EZ bei beiden vorhanden, 
einmal bei nur einem, dagegen bei ZZ nur rund in der Hälfte 
der Fälle gleich, in der anderen ungleich. Die Größe der Zähne 
ist nach Korkhaus Umwelteinflüssen sehr viel stärker unter- 
worfen als die Einzelheiten der Formen, aber immerhin sind 
die Größenunterschiede bei ZZ um das Drei- bis Zehnfache 
größer als bei den EZ. Korkhaus 2 ) stellt durch Röntgen- 
untersuchung fest, daß auch die Zahnwurzeln der Hauptsache 



x ) Weninger, Marg. Zur Vererbung des medianen Oberkiefer-Tre- 
mas. Ztschr. Morph. Anthr. 32. 1933. 

2 ) Korkhaus. Die Vererbung in Zahnstellungsanomalien und Kie- 
fer detormiräten. I. Ztschr. Stomat. 28. 1930. 



GESICHT UND ZÄHNE 



179 



nach erbmäßig bedingte Form und Größe haben. Aber es 
spielen Außenumstände (Gebrauch, Raummangel, Verlauf der 
Blutgefäße und dergleichen) doch auch eine Rolle und können 
in einzelnen Fällen die Ähnlichkeit verwischen. Endlich zeigt 
derselbe Forscher, daß bei 51 EZ-Paaren die Zahnfarbe bei 
48 vollkommen und bei drei beinahe gleich war, dagegen hat- 
ten von 33 ZZ-Paaren 16 stark verschiedene Farben, nur 11 
vollkommen gleiche. Auch die Zahnfarbe ist also in ihrer 
Grundlage erblich. Zur allgemeinen Pigmentierung des Kör- 
pers besteht keine Beziehung. 

Erblichkeit von PI arte, Widerstand gegen Erkrankung 
(Karies) läßt sich in der Zwillingsforschung nicht nachweisen, 
die Umwelteinflüsse scheinen so groß zu sein, daß man sichere 
Unterschiede zwischen EZ und ZZ nicht findet. Abgesehen 
vom theoretischen Interesse ist es auch von praktischer Be- 
deutung, daß Abel 1 ) am Schädelmaterial sehr deutlich zei- 
gen konnte, daß für Zähne und zugehörigen Kiefer eine ge- 
trennte Vererbung besteht. Bei Kreuzung von Hottentotten und 
Buschmännern, deren Kiefer klein ist, mit Negern, deren Kie- 
fer viel größer und mehr V-förmig, gibt es bei den Misch- 
lingen zahlreiche Stellungsfehler der Zähne, teils durch Raum- 
mangel, teils durch Raumüberfluß bedingt. Manche Stellungs- 
fehler bei uns mögen durch disharmonische Vererbung von 
Kiefer- und Zahnkronen bedingt sein. 

Wieweit die zahllosen Beziehungen des Gebisses zur Kon- 
stitution im allgemeinen und zu Krankheiten von erblichen Zu- 
sammenhängen beeinflußt werden, ist noch wenig erforscht. 
Eine sehr vollständige und vorzügliche Übersicht gibt PI. 
Günther (Leipzig) 2 ). 



Übriges Skelett. 

An allen einzelnen Knochen findet man nach Rassen und 
Individuen eine Menge Unterschiede, die die systematische 
Anthropologie beschreibend und messend bis in alle Einzel- 
heiten durchuntersucht hat (s. Martins Lehrbuch). Das 
meiste davon dürfte umweltbedingt sein, so um ein paar be- 
sonders leicht verständliche Punkte herauszugreifen, die Bie- 



*) Abel, W. Zähne und Kiefer in ihren Wechselbeziehungen bei 
Buschmännern, Hottentotten, Negern und deren Bastarden. Ztschr, Morph. 
Anthr. Bd. 31. 1933. 

2 ) Günther, H. (Leipzig). Die konstitutionelle Morphologie des 
menschlichen Gebisses. Ergeb. AHg. Path. 29. 1934 (Lit. I). 



12' 



180 BUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

gung- von Oberschenkel und Schienbein (Pilasterbildung, Re- 
troversion der Tibia), die Verstärkung der Tibia von vorn nach 
hinten und Verschmälerung (Platyknemie) durch die funktio- 
nelle Beanspruchung beim Hocken. Die Plumpheit der Kno- 
chen des Kulturmenschen gegenüber den sog. Wilden geht 
der entsprechenden Erscheinung an Haus- und Wildtieren 
gleich. Dagegen dürften etwa die Unterschiede der Becken- 
form zwischen Mongolen, Negern und Europäern erblich be- 
dingt sein. Wingate Todd hat auf gewisse Unterschiede in 
der Entwicklung des Beckens bei Mulatten gegenüber den 
Stammrassen hingewiesen. Von all den zahllosen sonstigen 
osteo logisch eil Unterschieden, vor allem in der Häufigkeit des 
Vorkommens bestimmter Bildungen, kennen wir die erblichen 
Unterlagen nicht. Als Beispiel sei erwähnt, daß Terry einmal 
bei drei Geschwistern das Vorhandensein des (abtastbaren) 
Processus supracondyloideus festgestellt hat, während er bei 
vier weiteren Geschwistern und den Eltern fehlte. Bei der Sel- 
tenheit des Fortsatzes, den er unter 1000 Individuen nur bei 
zehn fand, wird man schwer an Zufall glauben. 

Über Vererbung der Form des Schulterblattes, besonders 
dessen inneren Randes, stellt W. W. Graves 1 ) seit Jahren 
umfangreiche Untersuchungen an. Er hält die verschiedenen 
Formen für erblich und konstitutionell gebunden an Lebens- 
dauer, Gesundheit oder Krankheit. Auch manche Variationen 
anderer Knochen hält er für den Ausdruck solcher Beziehun- 
gen. Ich glaube nicht, daß derartige Zusammenhänge nach- 
weisbar sind. Die Frage der Vererbung der Knochenunter- 
schiede lohnte sicher genauerer Nachprüfung an Zwillingen 
und Familien. 

Die einzige erbbiologisch glänzend durchgearbeitete Er- 
scheinung ist die Variabilität der Wirbelsäule. Seit mehr als 
60 Jahren arbeitet die vergleichende Anatomie an der Lösung 
der Frage nach der Bedeutung des häufigen Vorkommens 
über- und unterzähliger Rippen und Wirbel an der mensch- 
lichen Wirbelsäule und der Stammesgeschichte derselben. Es 
sei an die erfolgreichen glänzenden Arbeiten Emil Rosen- 
bergs erinnert. Eine Lösung aber, wenigstens in gewissem 
Sinne, brachten erst die in meinem Institut durchgeführten 
glänzenden Untersuchungen meines Mitarbeiters Dr. Konrad 



1 ) Graves, W. W. A Note 011 inherited variations and fitness pro- 
blems. Scicut. Pap. of the 3. Intern. Cong. of Eug. 1932. 



ERBANLAGEN DES SKELETTES 



181 



Kühne 1 ). Bekanntlich findet sich beim Menschen gar nicht 
selten ein dreizehntes, sehr erheblich seltener ein vierzehntes 
Rippenpaar, und umgekehrt fehlt gelegentlich die zwölfte Rippe, 
äußerst selten auch noch die elfte. Entsprechend ist gelegent- 
lich der (normal) 5. Lendenwirbel -mit dem Kreuzbein verwach- 
sen, so daß dieses sechs Wirbel hat, oder es ist, etwas häu- 
figer, umgekehrt der (normal) 1 . Kreuzbeinwirbel nicht mit dem 
folgenden verwachsen, so daß er als 6. Lendenwirbel auftritt. 
Und an der FI als Wirbelsäule trägt gelegentlich der 7. Hals- 
wirbel eine Rippe, so daß er zum 1. Brustwirbel wird, sogar 
der 6. kann entsprechende Tendenzen kleineren Ausmaßes 
zeigen. Umgekehrt kann der 1. Brustwirbel seiner Rippe ent- 
behren, also in der Form eines 8. Halswirbels auftreten, oder 
mindestens kann die Rippe am vorderen Ende rückgebildet, 
verkümmert sein, eine beginnende Bildung derselben Natur, 
Die vergleichende Anatomie deutet überzählige Rippen und 
Verlängerung der Lendenwirbelsäule stammesgeschichtlich als 
ältere Ausprägungsstufen, da noch der Gibbon, erst recht aber 
die niederen Affen, normalerweise 13 oder 14 Rippen haben 
(s. u. S. 186). Aber mit dieser stammesgeschichtlichen Deu- 
tung ist die Frage nicht gelöst, wie beim einzelnen Menschen 
eine solche Bildung entstehen kann, ob sie sich vererbt, ob es 
also ganze Erblinien gibt, die etwa eine rezessive Erbanlage 
tragen. Träfen sich zwei solche Anlagenträger, würden bei 
einem Viertel der Kinder die betreffenden Bildungen auftreten. 
Die Frage hat, wie man leicht verstehen wird, grundsätzliche 
Bedeutung für zahllose Erscheinungen am Menschen, vor allen 
Stücken viele als primitiv oder als atavistisch gedeutete, die 
ja bei manchen Rassen gehäuft zu sein scheinen. 

Kühne hat aus mehr als 10 000 klinischen Röntgenauf- 
nahmen menschlicher Wirbelsäulen die mit Varietäten behaf- 
teten herausgesucht und von diesen, so weit es möglich war, 
die zugehörigen Familienmitglieder ebenfalls geröntget. An 
23 Familien mit 121 Individuen und dann später an 53 EZ, 
55 ZZ, ferner 46 Elternindividuen und 70 Geschwistern cler 
Zwillinge konnte der Erbgang der Wirbelvarietäten fest- 
gestellt werden. Nur in geradezu verschwindenden Ausnah- 



1 ) Kühne. Die Vererbung der Variationen der menschlichen Wirbel- 
säule. Ztschr. Morph. Anthr. 30. 1932. 

Dcrs. Symmetrie Verhältnisse und die Ausbreitungszentren in der Varia- 
bilität der regionalen Grenzen der Wirbelsäule des Menschen. Ebd. 34. 1934. 

Ders. Die Zwillingswirbelsäule. Ebenda 35. 1936. 



182 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

men, die uns einstweilen noch' nicht erklärlich, sind, treten 
an ein und derselben Wirbelsäule Varietäten in zweierlei 
Richtung auf, sonst immer nur in ein und derselben. Wenn 
also z. B. eine Halsrippe auftritt, was man als Verlagerung der 
Hals-Brust-Grenze kopfwärts bezeichnen kann, zeigen sich an 
der Brust-Lenden-Grenze, wenn überhaupt, nur Varietäten als 
Grenzverschiebung in derselben Richtung, d. h. Fehlen oder 
Verkleinerung der 12. oder gar der 11. Rippe. Niemals da- 
gegen gibt es in diesem Fall Vergrößerung der 12. oder Auf- 
treten einer 13. Rippe, was Grenzverschiebung entgegenge- 
setzt, nämlich steißwarts, bedeuten würde. Entsprechend wür- 
den im vorliegenden Fall Verschmelzungen des 5. Lenden- 
wirbels mit dem Kreuzbein (Sakralisation), Grenzverschiebung 
der Lenden-Kreuz-Grenze kopfwärts zu erwarten sein, nicht 




Abb. 44. Die rechteckigen Säulen neben den Personen a bis e bedeuten die 
Wirbclregionen und zwar: q = cervicale, th = thoracale, I — lumbale, s = 
sacrale und cd = caudale Wirbelsäulenregion. Die Pfeile und ihre Richtung 
deuten je eine Variation an der betreffenden regionalen Grenze und ihre 
„Tendenz" an. R = rechts, L = links. Die „Variationen" sind in dieser 
Familie alle der Ausdruck der rezessiven Erbanlage: „Tendenz steißwarts." 

(Nach K ü h n e.) 

aber umgekehrt eine Loslösung des 1. Kreuzwirbels oder An- 
deutungen einer solchen. Die familienweise Untersuchung hat 
nun einwandfrei ergeben: 1. Die einzelne Varietät vererbt sich 
nicht als solche, weder über- oder unterzählige Rippe noch 
regelwidrig gebautes Kreuzbein usw. 2. Deutlich vererbt sich 
die Richtung im Auftreten von Varietäten. Kühne nennt es 
einstweilen „die Tendenz". Sie kann kopfwärts oder steißwarts 
gerichtet sein. 3. Die kopfwärts gerichtete Tendenz ist domi- 
nant über die rezessive steißwarts gerichtete. Ein einzig'cs Alle- 
lenpaar beherrscht also die ganze Erscheinung. Die beifolgen- 
den beiden Stammbäume geben Beispiele (Abb. 44 und 45). 



ERBANLAGEN DER WIRBELSÄULE 



183 



Eine auf Grund des Röntgenbefundes der Wirbelsäule von 
Ratten durchgeführte große Zucht dieser Tiere zeigte genau 
dasselbe Ergebnis. Die Rattenwirbelsäule variiert grundsätz- 
lich ebenso wie die menschliche, die Erbunterlagen sind die- 
selben. (Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse steht noch aus.) 

Was nun die Zahl gleichzeitiger Variationen an ein und 
derselben Wirbelsäule, ferner den Grad der Einzelvariationen 
und das Vorkommen asymmetrischer Variation anlangt, konnte 
Kühne zeigen, daß im allgemeinen die Intensität der Varia- 




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Abb. 45. Personen a bis v und A bis E. Die übrigen Bezeichnungen wie 
auf der vorhergehenden Abbildung. (Nach Kühn e.) 

bilität bei Homozygoten stärker hervortritt als bei Hetero- 
zygoten. Aber feste Beziehungen sind noch nicht aufzuweisen. 
Wenn nun die Einzelvarietät nicht als solche erblich ist, bildet 
die Verschiedenheit ihres Auftretens ein neues Problem, die 
Frage der sog. „Penetranz" oder des Durchschlags, d. h. hier 
der Ursachen der verschiedenen Manifestation (Erscheinungs- 
bilder). Es wurde gelöst durch die Untersuchung von Wirbel- 
säulen von Zwillingen. In einer neuen großen Arbeit konnte 
Kühne zeigen, daß alle EZ (53 Fälle) dieselbe „Tendenz" 
hatten, eine glänzende Bestätigung der obigen Annahme des 
Allelenpaares, verstärkt durch die Tatsache, daß bei ZZ 12 Fälle 



184 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



erwartungsgemäß sich fanden mit zweierlei Tendenz. Dagegen 
konnte der Forscher zeigen, daß die Einzel Varietäten inner- 
halb der betreffenden Tendenz bei EZ für die beiden Paar- 
ringe häufig ungleich sind (Abb. 46). Das beweist also dann, 
daß die einzelne Varietät nicht erblich, auch nicht durch 
irgendwelche, etwa übergeordnete, andere Erbfaktoren be- 
stimmt, sondern rein umweltbedingt ist. Diese Dinge müs- 
sen also, da sie kurz vor der Geburt schon endgültig angelegt 
sind, von bestimmten nicht erblichen Einflüssen während der 



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...Oal.llior.tt 
v Veit. IX 




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Abb. 46. Röntgenbilder (Pausen, verkleinert) der Lenden- und Kreuzwirbel- 
säulen zweier EZ. Bei EZ I. sog. 13. Rippen vorhanden, am 25. Wirbel 
(normal = r. Kreuzwirbel) freie Querfortsätzc, also Lendenwirbelcharakter. 
Bei EZ II keine 13. Rippe, aber der 25. Wirbel grundsätzlich als Kreuzbein- 
wirbel ausgebildet, Spalten rechts und links zeigen die Unvollständigkeit der 
„Sacralisation" an. „Tendenz" beider Zwillinge steißwärts. (Nach Kühne.) 

Entwicklungszeit der Wirbelsäule abhängen. Man muß an Er- 
nährungsverhältnisse, bei der Ungleichheit zweier EZ an deren 
Unterschiede durch Lagerung usw. denken. Auch die Asym- 
metrien der Wirbelvarietäten, deren erbliche Erklärung unge- 
heure Schwierigkeit machen würde, werden dabei einigermaßen 
verständlich. Aber ganz ohne erbliche Beeinflussung sind viel- 
leicht auch die Varietäten nicht, denn die EZ sind im Gesamt- 
Ersclieinungsbild doch etwas ähnlicher als ZZ. 

Auch die grundsätzliche Frage von dem, was wir an sol- 
chen Gebilden wie die Wirheisäule mit ihren individuellen 
Schwankungen „Norm" nennen, erfährt völlig neue Beleuch- 



ERBANLAGEN DER WIRBELSÄULE 



185 



tung, es muß aber hier auf die letzte Arbeit von Kühne 
(1936) verwiesen werden. 

Wir kommen in der Deutung der der Wirbelvarictät zu- 
grunde liegenden Erbfaktoren noch einen Schritt weiter. Meine 
Schülerin Frede 1 ) hat an sechs Generationen erwachsener 
Ratten aus zwei Sippen, im ganzen 190 Tieren der Kühne- 
schen planvoll dazu angestellten Züchtungen den Nervenplexus 
der vorderen und hinteren Extremität durchpräpariert. Sie 
konnte zeigen, daß diese Geflechte in genau derselben Weise 
und in vollkommener Gleichsinnigkeit mit den betreffenden 
Wirbelsäulen variieren. Es besteht also jeweils für das Nerven- 
geflecht dieselbe „Tendenz" wie für die Wirbelsäule. Die abso- 
lute Abhängigkeit berechtigt die Annahme der Beherrschung 
durch dasselbe Erbfaktorenpaar 2 ,). 

Da wir aus allgemeinen anatomischen Erfahrungen wissen, 
daß Zahl und Anordnung der Zacken der verschiedensten 
Rückenmuskeln von der Zahl der Rippen und der einzelnen 
Wirbelarten abhängen, müssen auch diese von abermals dem- 
selben Erbfaktorenpaar bestimmt sein. Und endlich hängt von 
der Lage und Größe der untersten Rippen die Lage der Rip- 
penfellgrenze (Pleura-Sinus) ab, abermals dasselbe Erbfak- 
torenpaar 1 

So zeigen diese mühsamen, grundlegenden Kühnes che n 
Untersuchungen, daß es sich hier um ein einziges Erbfaktoren- 
paar handelt, das die harmonische Ausbildung von Wirbeln, 
Rippen, Muskeln, Nervengeflecht und Pleuragrenzc der hinteren 
Rumpfwand regelt (E.Fischer) 3 ). Diese Entdeckung eröffnet 
uns das Verständnis für zahllose andere Varietäten an den verschie- 
denen Organen des menschlichen Körpers. Zugleich zeigt sie 
uns aber, wie vielgestaltig die äußere Wirkung eines einzigen 
Erbfaktors sein kann. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf 
die Verschiedenartigkeit vieler ICrankheits bilde r, bei deren einem 
wir einheitliche Erbfaktoren kennen (z. B. Schizophrenie), 

1 ) Frede. Untersuchungen an der Wirbelsäule und dem Extremiiälen- 
plexus der Ratte. Ztschr. Morph. Anthr. 33. 1934. 

s ) Auf die dadurch gegebene Möglichkeit für den Chirurgen, aus der 
Röntgenaufnahme einer Wirbelsäule am Lebenden die Tendenz des Ner- 
venplexus zu erkennen und bestimmte Nervenvarietäten ausschließen zu 
können und auf die Bedeutung dieser Tatsache etwa für Operationen am 
Phrenikus oder am Plexus selbst (Durchschneidung bestimmter sens. Wur- 
zeln), sei nur kurz hingewiesen. 

3 ) Fischer, E. Die Erbuntcrlage für die harmonische Entwicklung 
der Gebilde der hinteren Rumpfwand des Menschen. Anat. Anz. Erg. Bd. 
(Vers. Würzburg) 1934. 



186 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



bei anderen aber höchstens vermuten (Curtius' Degene- 
rationsf amilien) . 

Auf Grund dieser neuen Erkenntnis von den eigentüm- 
lichen Erbverhältnissen kann man nun auch zu befriedigende- 
ren Vorstellungen von der stammesgeschichtlichen Umwand- 
lung der Wirbelsäule und der Entstehung ihrer typisch mensch- 
lichen Form kommen, wie E. Fischer 1 ) darlegte. Abb. 47 
zeigt den stammesgeschichtlichen Verkürzungs Vorgang der Wir- 
belsäule bei den menschenähnlichen Affen und den Menschen. 



drang GorHlo Mensch Schimpanse 



Gibbon NiedereAffen 




Sfeiss- Wirbel 



Abb. 47. Die unteren Enden der Wirbelsäulen einiger Primaten. Die beiden 
queren geraden Linien bedeuten die sog. normalen Grenzen von Brust- und 
Lenden- wie von Lenden- und Kreuzabschnitt des Menschen. Die Ziffern 
rechts und links geben die Zahl der Wirbel an. Schräge Grenzen zweier Ab- 
schnitte (zweier Töne der Zeichnung) bedeuten sog. Übergangswirbel. 
(Nach E. Fische r.) 

Der Orang ist dabei am weitesten vorgeschritten. Wenn wir 
uns nun vorstellen, daß bei allen Primaten wie beim Menschen 
ein Variieren der Abschnittsgrenzen der Wirbelsäule um eine 
sog. Norm stattfindet und weiter, daß die Variationstendenz 
kopfwärts dominant und steißwärts rezessiv erblich sind — • 
alle vorliegenden Untersuchungen rein statistisch anatomischer 
Art sprechen dafür — ■, dann finden wir folgendes eigentüm- 
liche Verhältnis, das der Deutlichkeit wegen an Befunden des 
Halbaffen Nycticebus und Menschen erläutert werden soll, das 
aber für alle höheren Formen entsprechend gilt. Für Nyctice- 

1 ) F i s c h e r , E. Genetik und Stammesgeschichte der menschlichen 
Wirbelsäule. Eiol. Zenlralbl. 53. 1933. 



STAMMESGESCHICHTE DER WIRBELSÄULE 



187 



bus dürfte in der sog. Norm der 21. Wirbel der letzte rippen- 
tragende Brustwirbel sein (Abb. 48). Ein Individuum mit einem 
oder zwei Rippenpaaren weniger stellt also eine kopfwärts ge- 
richtete Variation dar (dominant, Pfeile in der Abb, 48). Beim 
Menschen dagegen stellt ein Individuum, das an demselben 
20. Wirbel ein Rippenpaar trägt, eine schwanzwärts gerichtete 
Variation dar (rezessiv, vgl. Abb. 47). Bei dem Affen hat sozu- 
sagen das rezessive, schwanzwärts tendierende Gen seine Wir- 
kung erst weiter unten an der Wirbelsäule. Man kann sagen, 
das Genpaar ist dasselbe gebheben, seine Umkehrstelle hat 
sich nur stammesgeschichtlich verschoben, eine langsame stam- 



Mensch 



Nycticebus 



Abb. 48. Schema der unteren Brust- und oberen Lendenwirbelsäule bei 

Mensch und Nycticebus (jeweils 18.— 23. Wirbel der Gesamtsäule). 

Nach E. Fischer. 



mesge schien fliehe, kopfwärts gerichtete Verschiebung. Sie ist 
abgestuft. Was bezüglich der Lage der Grenzen beim Gibbon 
die sog. Norm ist, ist beim Menschen eine rezessive steißwärts 
gerichtete Variation, und was beim Gibbon eine dominante 
kopfwärts gerichtete Variation ist, ist beim Menschen Norm 
und ist (wenigstens an manchen Grenzen) sogar beim Orang 
schon eine rezessive, steißwärts gerichtete Variation geworden. 
Die Höhenlage, wo das eine Gen vom anderen abgelöst wird 
(der Ausdruck ist nur bildlich gemeint), verschiebt sich also. 

Was bedeutet bei dieser ganzen Sachlage das Herüber- 
tragen unserer Vorstellungen von der morphologischen Er- 
scheinung der Grenzenverschiebung auf die von Verschiebung 
von Genwirkungen ? Eine greifbare Gestalt nehmen diese Ge- 
danken an, wenn man für diesen Vorgang an Gedanken aus der 
„physiologischen Theorie der Vererbung" Richard Gold- 
schmidts 1 ) denkt. Er faßt die große Mehrzahl der Mu- 

*) Goldschmidt, R. Physiologische Theorie der Vererbung. Ber- 
lin 1927. 



188 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

tationen als Quantitätsmutationen auf. Er sieht feste Bezie- 
hungen zwischen Genquantität und Reaktionsgeschwindigkeit. 
Wenn in unserem Falle das dominante, kopfwärts gerichtete 
Gen und das rezessive, steißwärts gerichtete Gen nur quan- 
titative Unterschiede der Reaktionsgeschwindigkeit bedeuten, 
kann man sich schon ihre Wirkung auf die Entwicklungsge- 
schichte der Wirbelsäule einigermaßen vorstellen. Man kann 
etwa zu folgendem kommen: Bei allen Menschen legt sich 
gleichmäßig eine 13. Rippe als Sonderanlage an, bei allen 
reicht zunächst das Sakrum nicht soweit nach vorn, daß der 
25. Wirbel sich noch als (6.) Lendenwirbel anlegt. Ein nun vor- 
handenes Kopfwärtstendenz-Gen wirkt entwicklungsbeschleu- 
nigend : alles schließt sich von hinten her rascher an, die ange- 
legte 13. Rippe verwächst beschleunigt mit dem 20. Wirbel, 
verschwindet. Bei noch größerer Beschleunigung verwächst 
auch noch die darüberliegende (also normal 12.) Rippenanlage 
mit dem 19. Wirbel. Und ähnlich wirkt diese Beschleunigung 
auf die Assimilation des zunächst freien 25. Wirbels, so daß' er 
Sakrum wird. Fehlt dagegen dieses beschleunigende Gen (nicht 
vorhanden = rezessiv = Steißwärtstendenz), so geht alles Ent- 
wickeln verlangsamt, die embryonal isolierte Anlage bleibt end- 
gültig frei, es bleibt eine freie 13. Rippe, ein freier oder spalt- 
fö'rmig getrennter 25. Wirbel. Der Umfang, in dem bei der Be- 
schleunigung das Verschmelzen oder bei der Nichtbeschleuni- 
gung das Freibleiben stattfindet, hängt, wie oben gezeigt wurde, 
von Umwelteinflüssen ab. Hier denke ich an Ernährungsein- 
flüsse im gerade „kritischen" Moment, aiiHormonlleferung sei- 
tens der Mutter, deren Schwankungen mit verschiedenen Ent- 
wicklungsstadien verschiedener Empfindlichkeit zusammentref- 
fen können. Kühne konnte nachweisen, daß eineiige Zwillinge 
auch im umweltbedingten Grad des Variierens sich doch ähn- 
licher sind als gewöhnliche Geschwister, die Umwelt dürfte sie 
eben gleichmäßiger treffen 1 ). 

Es darf vielleicht noch darauf hingewiesen werden, daß 
die Vorstellung eines Beschleunigungs-Gens zur Erklärung der 
Wirbelsäulen Variationen gestützt wird durch entsprechende Er- 
klärungsversuche anderer Erscheinungen, ich nenne Gold- 
schmidts Untersuchungen über Flügelmuster bei Schmetter- 

:l ) Man müßte auch zweieiige Zwillinge und Einzelgeschwister ver- 
gleichen und bei letzteren größere Unterschiede erwarten als bei jenen — 
unsere Untersuchungen gehen weiter, vor allem auch nach der entwicklungs- 
geschichtlichen Seite. 



STAMMESGESCHICHTE DER WIRBELSÄULE 



189 



lingen und Zeichnungsmuster bei Raupen, oder Stockards 
(1930) grundsätzlich wichtige Ausführungen über die Ver- 
erbung stammesgeschichtlich verlorener und ab und zu wieder 
auftretender Zehen beim Hund und Meerschweinchen. Gold- 
schmidt weist auf den Vorgang der Rückverlagerung (Hy- 
sterotelie) und Vorverlagerung (Prothetelie) hin und bringt 
das hübsche Beispiel der Brachydaktylie. In der Entwicklung 
der menschlichen Hand wird die zweite Phalangen reihe nor- 
malerweise zuletzt, und zwar im dritten Embryonalmonat an- 
gelegt und ist zur Zeit der Geburt deutlich vorhanden. Ein 
krankhafter erblicher Faktor kann gerade diese Anlagen so 
treffen, daß diese Phalangen sich erst während der Kindheit 
entwickeln und dadurch ganz Idein bleiben. Dadurch ist Brachy- 
daktylie bedingt. Es handelt sich also deutlich um Änderung 
einer Entwicklungsgeschwindigkeit. 

Zu dieser ganzen Vorstellung paßt der Nachweis ausge- 
zeichnet, daß eben dieser Faktor kein sozusagen Wirbelsäulen- 
Gen ist, sondern eines für die Ausbildung der gesamten zu- 
sammengehörigen Gebilde der hinteren Rumpfwand. Die Ein- 
zelschwankungen der Wirbelsäulen sind dann nicht einfaches 
entwicklungsgeschichtliches Hin- und Pierschwanken um ein 
Mittel, sondern in der Tat stammesgeschichtliche Erscheinun- 
gen, Ausdruck der langsamen Veränderung des Beschleuni- 
gungsfaktors. 

Ungelöst bleibt bei diesem ganzen „Erklärungs"~Versuch 
des Wirbelsäulenproblems die Frage nach den Ursachen dieser 
stammesgeschichtlichen Veränderung. Ich glaube zu diesem 
Problem läßt sich zunächst nur etwas Negatives sagen, das 
aber doch für das Verständnis der menschlichen Stammesge- 
schichte von grundsätzlicher Wichtigkeit sein dürfte. Es ist 
folgendes : Man kann für den Vorgang eine einfache natürliche 
Auslese im Darwinschen Sinn ausschließen. Einerseits 
sehen wir dieselbe Verschiebung der Wirbelsäulenabschnitts- 
grenzen bei Gorilla, Schimpanse und Mensch. Ob deren bio- 
logische und Anpassungsverhältnisse ganz gleich sind, bleibe 
hier unerörtert. Sicher aber sind biologische Verhältnisse, etwa 
Angepaßtsein an Hangeln und Schwingen, bei Orang und 
Gibbon ähnlicher als bei jedem von diesen und der vorhin ge- 
nannten Gruppe der Summoprimaten. Und doch ist die stam- 
mesgeschichtliche Entwicklungsstufe des Gibbons ein gutes 
Stück unterhalb der menschlichen,, die des Orang oberhalb der- 
selben. Die Schwanzlosigkeit ist bei allen grundsätzlich gleich, 



190 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

beim Orang am weitesten durchgeführt, ohne daß wir einen 
funktionellen Grund erkennen können. Viel ausschlaggebender 
aber für die Frage einer etwaigen Selektion bedingenden An- 
passung ist der Hinweis auf die Tatsache, daß ja die Einzel- 
variation als solche gar nicht erblich ist. Wenn wir uns also 
vorstellen, daß das Fehlen eines 12. Rippenpaares etwa einem 
Orang eine Begünstigung gegenüber anderen Individuen be- 
deutete, müssen wir daran denken, daß dann die Kinder eines 
danach positiv selektionierten Paares gar nicht fehlende 12. 
Rippe, sondern etwa eine Halsrippe oder eine Spalte im oberen 
Sakralabschnitt haben, was als Einzelmerkmal sicher nicht den- 
selben Selektionswert hat; ja man könnte vielleicht sogar den- 
ken, einen geradezu umgekehrten. Ich glaube, man kann hier 
also wirklich etwa eine einfache Vorstellung von strenger Se- 
lektion ausschließen. Wenn man in der Selektion hauptsächlich 
eine nur ausmerzende Kraft sieht, wird man erst recht zu- 
geben, daß sie hier wegen der Manifestationsschwankungen 
keine Handhabe hat. Vielleicht ist gerade durch ihr Fehlen 
das starke Schwanken dieser Manifestationen bei allen Pri- 
matengenera zu erklären, und dieses Fehlen hätte uns dann die 
außergewöhnlich große Vollständigkeit dieser vergleichend- 
anatomischen „Urkunden" beschert. 

Aber auch eine unmittelbare Bewirkung von außen her 
kann ich mir für die sich biologisch so verschieden verhalten- 
den Affenformen, wo wir überall denselben Prozeß, aber sehr 
verschieden weit gediehen, vorfinden, auf keine Weise vor- 
stellen. Welcher unmittelbare Einfluß eine größere Beschleu- 
nigung des „Entwicklungs-Gens" der Wirbelsäule und der an- 
deren achsialen Gebilde beim Orang, eine geringere beim Men- 
schen, dieselbe beim Gorilla und Schimpansen, wieder gerin- 
gere bei niederen Affen bedingt haben sollte, ist gänzlich un- 
vorstellbar. 

So bleibt nur die Annahm© einer Art von orthogeneti- 
schem Geschehen. Mit der Vorstellung 'Goldschmidts von der 
Natur der Mutationen als Quantitätsmutation ließe sich eine 
Orthogenese für diese ganze Reihe von Erscheinungen am 
leichtesten in Einklang bringen. Kleine Schritte, aber nicht 
richtungslos, harmonisch für alle beteiligten Organe, langsame 
Umkonstruktion der „anatomischen Konstruktionen" (Böker) 1 ), 
aber auf jeder Stufe funktionell vollendet — das ist die Wir- 

r ) Bokcr. Vergleichend biologische Anatomie der Wirbeltiere. Bd. 1. 
Jena 1935. 



STAMMESGESCHICHTE DER WIRBELSÄULE 



191 



kung einer langsamen stammesgeschichtlichen Veränderung 
des den Entwicklungsvorgang beherrschenden Gens. Nicht eine 
unvorstellbare Richtungsentwicklung — Orthogenese im oft 
gebrauchten Sinn — sondern eine chemisch -physikalisch be- 
dingte bestimmte Änderung eines Gens macht äußerlich eine 
„Entwicklungsreihe". Eine geradezu zwangsläufig, d.h. jawohl 
ortbogenetisch, sich vollziehende Steigerung der Wirkung eines 
und desselben Gens scheint hier in der ganzen Primatenreihe wirk- 
sam zu sein. Sie tritt äußerlich in die Erscheinung als aEmäliliches 
Höherrücken des Umkehrpunktes der Grenze der als „regres- 
siv" und „progressiv" angesprochenen Varietäten, innerlich, d. h. 
ontogenetisch als Beschleunigung gewisser Vorgänge im Aufbau 
der Wirbclelemente. (Die Einzelgestaltung dieser Vorgänge ist 
dann der Wirkung von Umweltfaktoren überlassen.) Der gene- 
tischen Analyse gegenüber erscheint sie endlich als Wirkung 
eines einzigen einfachen Genpaares, das die Ausbildungsweise 
der ganzen achsialen Gebilde harmonisch beherrscht. Man 
denkt bei dieser stammcsgcschichtlich langsamen, stets gleich- 
sinnigen Änderung des Gens an ein Beharren im steten Ab- 
lauf eines Vorganges und kann die ganze Erscheinung ohne 
weiteres unter dem Gesichtspunkt des „biologischen Trägheits- 
gesetzes" von Othenio Abel 1 ) sehen. Es sei auf die letzte Dar- 
stellung Ehrenbergs 2 ) verwiesen. Gerade die Tatsache der 
entwicklungsgeschichtlichen „Rekapitulation" früherer Wirbel- 
säulenstadien in der Ontogenese etwa einer „progressiven" 
menschlichen Form und deren Umbildung zum Zustand des 
Erwachsenen unter der Herrschaft desselben uralten „Gens" 
veranlaßt solche Gedanken. Mit den Hinweisen, die die BÖ- 
k e r sehen Konstruktionsvorstcllungen auf das biogenetische 
Grundgesetz enthalten, besteht also völlige Übereinstimmung. 
Die Auslese, aber schärfste und unerbittliche, tilgt alle „Kon- 
struktionen", Änderungen, Typen oder, wie wir es auffassen wol- 
len, immer wieder aus, die nicht ganz deiiLcbensansprüchen ge- 
nügen. So wacht Auslese letzten Endes doch über dem Ganzen! 
Ich glaube, diese Wirbelsäulentheorie hat auch grundsätz- 
liche Bedeutung für andere entsprechende Erscheinungen 
von Rück- und Umbildungen in der Stammesgeschichte des 
Menschen. 



^ Abel, O. Das biologische Trägheitsgesetz. Palaeont. Ztschr. 2. 
1929. 

2 ) Ehrenberg. Das biogenetische Grundgesetz in seiner Beziehung 
zum biol. Trägheitsgesetz. Biol. general. 8. 1932. 



192 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

f) Erbanlagen für das Gesicht und seine Teile. 

Eine Vererbung der Gesichtszüge und zahlloser Einzel- 
heiten der Ausgestaltung unseres Antlitzes gilt geradezu als 
Selbstverständlichkeit. „Wie aus dem Gesicht geschnitten" 
nennen wir häufig die Ähnlichkeit von Kindern und Eltern, und 
am Gesicht stellen wir immer wieder Ähnlichkeit, ja geradezu 
Zugehörigkeit zu einzelnen Familien fest. Aber im Gegensatz 
zu diesen Erfahrungen des täglichen Lebens haben wir wissen- 
schaftliche Untersuchungen der eigentlichen Unterlagen, der 
Berechtigung zu dieser Volksmeinung, noch fast gar nicht. Von 
ernsthaften Versuchen dazu sind zuerst die von Weninger und 
seiner Schule, Geyer 1 ), dann von Seh ei dt 2 ) und die jüng- 
sten von Abel :i ), Richter 4 ) zu nennen. Die Schwierigkeiten 
einer Lösung sind hier deswegen so besonders groß, weil das, 
was wir als ,, Physiognomie" bezeichnen, sich aus so unendlich 
vielen Einzelheiten zusammensetzt. Es ist ohne weiteres anzu- 
nehmen, daß zahllose davon auch von einzelnen Erbfaktoren 
abhängen, daß also erblich ein Gesicht sozusagen aus ein- 
zelnen Mosaikklötzchen aufgebaut wird. Aber diese sind sicher 
nicht alle unabhängig voneinander. Eines beeinflußt von den 
ersten Zeiten der Gesichtsentwicklung an das andere. Eine er- 
erbte kleine Stupsnase, etwa von der Mutterseite her, muß in 
einem, vielleicht von Vaterseite her ererbten, langen, schmalen 
Männergesicht störungslos ihre eigene, zur ererbten Form zie- 
lende Wachstumstendenz in Einklang bringen mit der ganz 
anderen des schmalen, hohen, übrigen Gesichtes. Es sei an die 
Disharmonie von Zahngröße und Kieferweite erinnert, s.S. 179, 
an scheinbar zu kurze Oberlippe, was sich im Herausblecken 
der oberen Zähne zeigt, Wir empfinden es sehr häufig ohne 
weiteres als unschön und disharmonisch, wenn ein Gesicht aus 
erblichen Einzelbildungen zusammengesetzt ist, die ursprüng- 
lich nicht zusammen passen. Man darf ganz sicher sagen, daß 
eine sehr starke Ineinanderkreuzung mehrerer in Europa lebcn- 



x ) Geyer. Vorläufiger Bericht über die familienanthropologische Un- 
tersuchung des ostschwäbischen Dorfes Marienfeld im rumänischen Banat. 
Verhandl. Ges. Phys. Anthr. Bd. 7. 1935. 

2 ) S c h e i d t. Untersuchungen über die Erblichkeit der Gesichtszüge. 
Z. ind. Abst. Vererb. 60. 1932. 

3 ) Abel. Die Vererbung von Antlitz und Kopfform des Menschen. 
Ztschr. Morph. Anthr. 33. 1935 (Lit.). 

ä ) R i c h t e r , Brigitte. Burkhards und Kaulstoß, zwei oberhessische 
Dörfer. Eine rassenkundliche Untersuchung. Deutsche Rassenkunde. (Fi- 
scher). Bd. 14. Jena 1936. 



ERBANLAGEN DES GESICHTES 



193 



der Rassen unschöne Gesichter macht. Das Durcheinander - 
wogen der verschiedensten Erblinicn für die einzelnen Teile 
des Gesichtes, etwa Nase, Mund, Kinn, Backenknochen usw. 
in den Großstädten und Industriebezirken erklärt die häufig" zu 
beobachtende Häßlichkeit sehr vieler Gesichter etwa gegen- 
über den regelmäßigen Gesichtern vieler stärker ingezüchteter 
und rassereinerer Bauernbevölkerungen. Was heute mit der 
Bezeichnung „ostisch" nach Günther von vielen Seiten als 
ostischer Typus abgebildet wird und unter den Rassebildern 
meist als das Häßlichste dargestellt ist, sind meiner Meinung 
nach häufig Mischtypen aus Nordostdeutschland, zusammen- 
gesetzt aus ostbaltischem, aus alpinem, und häufig wirklich öst- 
lichem, d. h. mongolischem. Einschlag. Die Häßlichkeit ist 
durch die starke Durcheinanderschiebung der Erbeinheiten der 
verschiedenen Rassen bedingt. Eine sog. ,, Rassendiagnose" 
solcher Gesichter ist meistens unmöglich. Es ist sicher nicht 
richtig, solche Bilder als einen der Rassenbestandteile des 
deutschen Volkes hinzustellen; es sind vielmehr abschreckende 
Beispiele für planlose Rassenmischung. 

Über die Zahl und Art der Erbfaktoren, die die Gesamt- 
heit einer Physiognomie zusammensetzen, lassen sich Angaben 
noch nicht machen, die Zahl muß aber sehr groß sein. Eine 
gewisse Vorstellung von der ganzen Erscheinung erhalten wir 
aus den Beobachtungen über die großenteils ungeheuer weit- 
gehende physiognomische Ähnlichkeit erb gleicher Zwillinge, 
aber auch über die verschiedensten Grade der Ähnlichkeit von 
Geschwistern, Eltern und Kindern, aber auch Verwandter wei- 
terer Kreise. Leider gibt es darüber noch fast gar keine- wissen- 
schaftliche Untersuchung. Max Fischer 1 ) zeigt in einer sehr 
schönen Studie, wie bei stärkerer Inzucht, also großer Ahnen- 
gemeinschaft Vettern ersten Grades, hier König Georg V. von 
England und der verstorbene Zar Nikolaus IL von Rußland, 
sich sehr viel ähnlicher sehen können als sonst Brüder. Ein- 
zelne Punkte aus dem Aufbau der Physiognomie untersucht an 
größerem Familienmatcrial W. Abel, wie in den folgenden 
Ausführungen gezeigt werden wird. 

Daß in ausnahmsweise seltenen Fällen einmal auch der 
Zufall eine Reihe für den physiognomischen Ausdruck wich- 
tiger und charakteristischer Erbanlagen gleicher Art ohne jede 



] ) Fischer, Max. Ähnlichkeit und Ahnengcraeinschaft. Z. Morph. 
Anihr. 34. 1934. 

Baur-Fischer-I,eüi, I. 13 



104 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

genealogische Zusammengehörigkeit zusammenfügen kann, zei- 
gen die Fälle von sog. Doppelgängcrtum. Wissenschaftlich 
ist über diese noch wenig gearbeitet, vgl. S. io8. 

Selbstverständlich wirken auch auf das Gesicht die Um- 
welteinflüsse stark ein. Eingehendcrc Untersuchungen liegen 
nicht vor. Die wichtigsten Ausführungen sind die von He II- 
pach 1 ). Kr räumt reinen Außenwirkungen besonders großen 
Einfluß ein. Er versucht zu zeigen, wie das Gesicht durch 
Minenspiel, das würde also heißen durch Muskclzug, in seiner 
Wachstumszeit beeinflußt wird. Jenes aber hängt vom Tem- 
perament, von der Art des Sprechens, Lachens usw. ab. Dar- 
nach würde die Gesichtsform letzten Endes vom Temperament 
beeinflußt sein. Er unterscheidet ein schwäbisches, ein frän- 
kisches, ein rheinisches, ein fälisches und ein ostisches Gesicht. 
Diese sehr interessanten Studien sind bisher mehr Fragestel- 
lung als Ergebnisse. Die Wahrnehmungen, daß die genannten 
Gesichter stammesmäßige Verschiedenheiten zeigen, stehen 
außer Zweifel. Jetzt muß eine sorgsame Analyse folgen, was 
mimisch bedingt, also durch Funktion hervorgerufen wird, die 
ihrerseits seelisch regiert wird, und was umgekehrt als knö- 
cherne Unterlage und motorischer Apparat die Form der Phy- 
siognomie erblich vorschreibt! In Hellpachs Ergebnissen 
sind Erb- und Rassenanlagen und umweltbedingte Gewohn- 
heits- und Nachahmungs Wirkungen einstweilen unentwirrbar 
verbunden. Auf Kruses 2 ) Vorstellungen, daß auch noch un- 
mittelbare Außenweltwirkungen (Klima oder geographische 
Breite usw.) nicht nur auf jene Erscheinungen, sondern auch 
auf andere Rassenmerkmale (Farben usw.) stattfinden soll- 
ten, kann nicht eingegangen werden; einstweilen fehlt jeder 
Beweis. 

In dieselbe Richtung wie FI eil p ach s weisen die Unter- 
suchungen von Clauß 3 ). Er gibt ganz ausgezeichnete Beob- 
achtungen über die Verschiedenheit des Lachens bei einzelnen 
Rassen. Er spricht vom nordischen Lachen, vom ostischen usw. 
Daß hier erbliche Unterschiede vorliegen, ist wohl sicher; sie 
gehen dann aber mit den entsprechenden psychischen, der be- 
treffenden Rassen parallel. Abhängig aber ist die Form des 
Lachens nicht von den psychischen, sondern von der Gestal- 



1 ) II e 1 1 p a c h. Statik und Dynamik der deutschen Stammcsphysioguo- 
licn (3. Mittig.). Sitz.-Ber. Heidelberg. Akad. d. Wiss. Math. nat. Kl. 1 93 1 . 

2 ) Kruse. .Die Deutschen und ihre Nachbarvölker. Leipzig 1929. 
'■'} Clauß. Kasse und Seele. 3. Aufl. München 1934. 



ERBANLAGEN DER NASE 



195 



tung des Gesichtsskelettes und der Gesichts weich teile. Wohl 
aber besteht dann wieder der oben für die FI ellp ach sehen 
Ausführungen dargelegte Einfluß, daß (psychisch bedingte) 
verschiedene Häufigkeit oder Intensität des Lachens das Ge- 
sicht peristatisch beeinflussen. 

So sehen wir am gesamten Gesicht (wie zu erwarten) ein 
wechselndes Spiel von Erb- und Umwelteinflüssen. Die Kennt- 
nis aber und die Möglichkeit, beide voneinander zu trennen 
und im einzelnen Fall die Wirkungen zu erkennen, ist auch 
praktisch von besonderer Bedeutung. Es kann z. B, bei Vater- 
schaftsbestimmungen, bei Rassendiagnosen von ausschlagge- 
bender Bedeutung sein ; aber gerade das „Gesicht" bedarf 
noch vieler Untersuchungen (vgl. auch S. 176). Besser, bearbei- 
tet sind einzelne Teile des Gesichtes, über die noch berichtet 
werden soll. 



Nase. 

Mit Recht ist die Form der Nase als sehr wenig umweltbe- 
einflußbar, immer als besonders wichtiges Rassenmerkmal an- 
gesehen worden. Ihre Form ist. wohl auch für den Eindruck' des 
Gesamtgesichtes von größter Bedeutung. Untersuchungen über 
das Verhalten der Nase bei Kreuzungen zeigen, daß nicht etwa 
ihre Gesamtform als Einheit übertragen wird. Es müssen Erb- 
faktoren für die einzelnen Teile angenommen werden, die von- 
einander unabhängig sind. Ja, ich glaube sogar, daß auch zwei 
äußerlich annähernd gleiche Formen von Nasenrücken bei 
verschiedenen Rassen sich erblich verschieden verhalten kön- 
nen. Zunächst bestehen offensichtlich Gene für eine starke 
Breitenausdehnung der Nase, wie sie vielen Farbigen zukommt. 
Und zwar ist diese Breite dominant. Dieses fanden Fischer 
bei der Europäer-FIottentotten-Kreuzung, ebenda Lebzelter, 
Davenport und Steggerda, ebenso H 00 ton. an Euro- 
päer-Neger-Mischlingen, R o d e n w al d t an den Malaiischen 
Mestizen, Dünn an Europäer - Flawai - Mischlingen. Dabei 
scheint sich die malaiische Nase in der Kreuzung nicht so 
stark durchzusetzen wie die negride. Rodenwaldt weist mit 
Recht darauf hin, daß der Nasenindex der Mestizen sich näher 
an den der Europäer anschließt als entsprechend bei Mulatten. 

Eine ganz interessante Angabe macht Karve 1 ). Sie sah 
aus der Verbindung eines schmalnasigen Inders mit einer 



v ) Ztsehr. Morph. Anthr. 28. 1930. 



196 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Inderin, deren Nase flach, nieder und breit war (breites Ge- 
sicht und betonte Backenknochen), 13 Kinder mit derselben 
niedrigen, breiten Nase und 40 Enkel, davon 39 annähernd 
ebenso, trotzdem die eingeheirateten Väter und Mütter zum 
Teil schmalnasig waren; nur eine Enkelin hatte eine schmale 
Nase. Hier scheint die niedere, breite Nase der Großmutter 
homozygot und das Gen rein dominant gewesen zu sein. (Lei- 
der fehlen Maßzahlen.) Bei Kreuzungen innerhalb Mitteleuro- 
pas besteht dagegen offensichtlich, wie Abel zeigt, rezessives 
Verhalten von breitgewölbten Flügeln. Hier ist die schmale 
Nase dominant. Dieses fand L e i c h e r 1 ) bei einer einge- 
henden Untersuchung an deutscher Bevölkerung, dasselbe 
bei Kreuzungen mit Juden. Die Tiefe der Nase, d. h. der Ab- 
stand der Nasenspitze von der Lippenflächc scheint nach Da- 
venport und Steggerda, wie nach H 00 ton sich bezüg- 
lich ihrer Ausdehnung bei Mulatten intermediär zu verhalten. 
Rodenwaldt findet Ähnliches, da rücken die Mestizen von 
den Europäern weiter ab, was im allgemeinen einen primi- 
tiveren Eindruck hervorruft. S ch c i d t hält eine erhebliche 
Tiefe bei unseren Nasen für wahrscheinlich dominant gegen 
weniger erhobene (tiefe) Formen. 

Der Nasenrücken ist genetisch nicht ganz leicht zu deuten. 
Geschlechts- und Altersunterschiede machen sich deutlich be- 
merkbar. Stark konvexe Formen, wie etwa die dinarische in 
Europa oder gewisse unter Melanesiern, sind beim Mann durch- 
schnittlich viel, stärker ausgeprägt als bei der Frau. Auffäl- 
ligerweise fand Abel bei EZ gelegentlich ungleiche Rücken- 
form. Die Vererbung der Rückenform zeigt, daß es sich um 
mehrere verschiedene Gene, vielleicht einige mit Allelen han- 
deln muß, was die einzelne Feststellung sehr erschwert. An 
deutscher Bevölkerung sind konkave Nasenrücken rezessiv ge- 
gen gerade und konvexe. Rodenwaldt bemerkt dasselbe 
bei seinen Mischlingen auf Kisar. Sc hei dt findet, daß dieses 
Gerade, auch leicht Wellige auch dominant ist gegen mäßige 
konvexe Biegung. Auch L eich er findet, daß aus gerade X 
gerade konvexe hervorgehen können, es muß also ein rezes- 
sives Konvex geben. Nach der Erfahrung Leichers kommt 



i ) Leiche r. Vererbung anal. Variationen der Nase, ihrer Neben- 
höhlen und des Gehörorgans. (Körner, Ohrenheilkunde XII.) München 
1928. 

Der5. Über die Vererbung der Nasenform. Verh. Ges. phys. Anlhr. 3. 
1929. 



ERBANLAGEN DER NASE 



197 



dieses auch bei arisch-jüdischen Ehen und nach Chcrvin 
auch bei Indianer-Negcr-Kreuzung in Bolivien und nach An- 
deutungen Nordcnskiölds bei Europäcr-Eskimo-Mischlin- 
gen vor. Dagegen betont Scheid t, daß starke Konvexheit, 
also wohl die stark vorspringenden dinarischen Nasen gegen 
gerade oder wellige deutlich dominant sind. Endlich sind nach 
ihm auch sehr stark konkave Formen dominant gegen ge- 
rade ( ?). Bei den konkaven Formen mißt er aber der Umwelt 
den stärksten Anteil zu, Aber die starke Konkavität der Ncger- 
nasc ist gegen die europäische nicht dominant, Daven- 
port und Steggerda finden eher ein Vorherrschen der 
europäischen Form. Klarheit besteht also hier bei weitem noch 
nicht. 

Für die Nasenspitze, die Lochbreite, die Lochlänge und 
die Höhe der Nasenflügel konnte Abel erheblich kleinere Un- 
terschiede zwischen EZ gegenüber ZZ und dadurch das Wal- 
ten von Erbanlagen zeigen. Zur Feststellung von Erbgängen 
reichte sein Material nicht aus. Auch Leicher ist in seiner 
sehr schönen Arbeit in dieser Hinsicht mit Recht sehr vor- 
sichtig. Eine spitze Form der Nasenspitze scheint über eine 
stumpfe dominant, aber nicht ausnahmslos. Nach Roden- 
waldt ist die Größe der Nasenlöcher, deren Querstellung und 
die Blähung der Flügel dominant über die betreffenden ge- 
ringeren Stufen. Er glaubt, daß man die Einmischung der 
charakteristischen Nasenform Farbiger am sichersten und 
längsten an Nasenloch und Nasenflügel sehen könne. Eine ge- 
wisse Dicke der Flügel kann der letzte Rest sein. Ähnlich sagt 
L eich er, daß man eine jüdische Nase in Mischung oft noch 
erkennen kann, auch wenn Rückenform und anderes von der 
arischen Seite vererbt sind, an einer „weichen Beweglichkeit 
(Flexibilität)" der Nasenflügel. Auch Abel findet die Art des 
Ansatzes der Flügel bei EZ am stärksten gleich. Ein Knick 
im unteren Flügclrand scheint rezessiv zu sein (Richter). 

Die Breite und Flöhe der Nasenwurzel ist nach Abel und 
Leicher bei EZ erheblich übereinstimmender als bei ZZ, 
ein Erbgang ist nicht feststellbar. 

Hier muß noch sehr viel exakte Arbeit mit großem Be- 
obachtungsmaterial getan werden. Man erkennt ja doch in 
zahllosen Fällen noch einige Generationen nach Einkreu- 
zung, z. B. einer Judennase, Einzelheiten derselben deutlich, 
ohne daß man über deren Erbgang im einzelnen Auskunft 
Reben kann. 



198 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Lippen. 

Zwillingsuntersuchungen (Abel) zeigen, daß die Größe 
sowohl der gesamten Hautlippe wie der eigentlichen Schleim- 
hautlippe bei EZ sehr viel weniger und seltener verschieden ist 
als bei ZZ, also von einem Erbfaktor abhängt. Nicht erbliche 
Beeinflussungen sind aber deutlich zu sehen. Ein klarer Erb- 
gang ist für die Einzclformen bei unserer Bevölkerung bisher 
nicht festlcgbar. Scheidt hält eine lange Hautoberlippc eher 
für dominant, Abel für rezessiv. Auch bei meinem Bastard- 
material scheint sich Lippendicke, alles zusammen genommen, 
intermediär zu vererben. Man muß wohl an Allels tufen denken. 
Hooton weist darauf hin, daß die Lippendicke bei Mulatten 
sich in der Kreuzung sehr schnell vermindert. Dünn findet 
bei Europäer-Hawaier-Kreuzung und Chinesen-Hawaier-Krcu- 
zung die Lippendicke etwa in der Mitte zwischen den elter- 
lichen. Auch Rodenwalclt sah Ähnliches auf Kisar, die 
dickeren Lippen doch wohl mit Neigung zu einer gewissen Do- 
minanz. Endlich fand auch Bi jimer an dem Rassengemisch 
auf Timor alle Übergänge. 

Abel weist darauf hin, daß Größe und Form von Haut- 
lippe und Schleimhautlippe in gewissem Verhältnis stehen, aber 
nicht ganz fest. Im großen, und ganzen haben kleine Kiefer- 
höhen auch kleine Lippenhöhen und umgekehrt, aber es gibt 
Ausnahmen. Er erklärt die bekannte Erscheinung der offenbar 
sich dominant vererbenden Habsburger Unterlippe so, daß er 
dominante Vererbung eines hohen Kinnes mit Vorbiß und hohe 
(rezessive) Hautlippe annimmt. Dazu sei dann durch Einheirat 
eine kurze (dominante) Hautlippe getreten, und das führte dann 
zu der stark vorgewulsteten Schleimhautlippe des Habsburger- 
typus. Die Kinnhöhe ist dabei beim Mann stärker betont, so daß 
dadurch die Erscheinung im Mannesstamm so auffällig wurde. 

Auch die Breite der Mundspalte ist bei EZ nach Abel 
sehr viel ähnlicher als bei ZZ, also erblich mitbestimmt. 

Vielleicht darf schließlich noch erwähnt werden, daß das 
allgemeine und gleiche Vorkommen charakteristischer Wulst- 
lippen beim Neger oder dicker, aber konvexer Oberlippen bei 
den Pygmäen auf Neuguinea als homozygot erbliche Anlage 
und daher mit Recht als Rassenmerkmal aufgefaßt werden 
muß ; dann gilt wohl dasselbe für die ganz schmale, strichför- 
mige Lippenform einzelner Individuen als fälische Rasseneigen- 
schaft (z. B. in Hessen, nach Kern) 1 ). 

i) Kern. Stammbaum und Arlbild der Deutschen. München 1927. 



ERBANLAGEN VON LIPPEN UND AUGEN 



199 



Auge. 

Über die Erbverhältnisse der verschiedenen Lidspaltenfor- 
men bei unserer eigenen Bevölkerung, eng und weit, gerade 
oder nicht ganz gerade gestellt, haben wir noch keine Angaben. 
Daß die sog. Mandelform ab und zu, vor allen Stücken bei 
Juden und der orientalischen Rasse überhaupt, auftritt, spricht für 
ihre Abhängigkeit von einem sich rezessiv vererbenden Faktor. 

Außerordentlich interessant ist die Vererbung der schrä- 
gen Augenfalte (Mongolcnfalte). Die echte Mongolenfalte ist 
gegenüber der faltenlosen Lidkante deutlich dominant. Tao 
zeigt an F t -Bastarden (chinesischer Vater, europäische Mutter) 
an reichem Material eine einfache Dominanz des Merkmals. 



j* 





Abb. 49. Dominanz der Mon- 
golenfalte" bei einem F^Ba- 
stard aus einem Vater aus Annam 
und deutscher Mutter (Aufnahme 
Dr. Abel). 



Abb. 50. Die sog. „M o ti g o 1 c n- 
ia.lt e" bei einer Hottcntoltin 
(Aufnahme E. Fische r). 



Auch Wagens eil s noch unveröffentlichtes Material von den 
Bonin-Inseln, in das er mir liebenswürdigerweise Einsicht ge- 
stattete, beweist, daß F r Bastarde von Japanern mit Euro- 
päern und mit Europäer-Polynesier-Mischlingen ebenfalls die 
Dominanz der Mongolenfalte zeigen. Neuhaus erwähnt einen 
F t -ßastard von Chinese und Kanakin mit derselben Dominanz 
und Salaman gibt an, daß die sog. chinesischen Juden schief- 
äugig seien. Auch Dunns Material von Chinesen-Hawai- 
Mischlingen verschiedenster Grade und die Mischbevölkerung, 



200 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN 

die Bijlmer 1 ) auf Timor untersuchte, sprechen im Heraus - 
mcndeln der Falte für deren Dominanz. Endlich fand Abel 
dieselbe Dominanz bei F r Mischlingen von Annami ten mit 
Europäerinnen. (Noch unveröffentlichtes Material s. Abb. 49.) 
Die schräge Augenfalte der Ostasiaten ist also gegen Falten- 
losigkeit dominant. Außerordentlich auffällig ist nun die Tat- 
sache, daß im Gegensatz dazu die entsprechende Falte am 
Auge der Hottentotten in der Kreuzung mit Europäern zwei- 
fellos rezessiv ist, wie E. Fischer an den Rchobothcrn 
einwandfrei zeigen konnte. Trotzdem rein anatomisch, „phäno- 
typisch" die beiden Falten gleich sind (s. Abb. 50), zeigt der 
verschiedene Erbgang, daß sie genetisch nichts miteinander 
zu tun haben. Die Falte ist also auf genetisch verschiedene 
Weise zweimal in der Menschheit durch Mutation entstanden. 
Aber damit nicht genug. Die Eskimo haben ebenfalls die 
(anatomisch) gleiche Augenfalte. Da man die Eskimo allge- 
mein zu den Mongoliden rechnet (wobei gerade diese Falte, 
etwa neben der Haarform, als besonderer Beweis gilt), spricht 
man hier bisher stets von Mongolenfalte der Eskimo. Aber sie 
vererbt sich in Kreuzung mit Europäern rezessiv. Es ist also 
genetisch nicht die Mongolenfalte. Ich verdanke der Liebens- 
würdigkeit des Eskimoforschers Lcedcn zwei Bilder von 
Europäer-Eskimo-Bastardmädchen, die keine Spur von Lidfaltc 
und Schiefstellung der Spalte haben. Auch Nordenskiöld 
bildet Mischlinge r. Grades ohne Augenfalte ab. Auch die 
Eskimo-Augenfalte ist also genetisch selbständig entstanden 
und beweist nicht nur kein Mongolentum, sondern spricht ge- 
radezu gegen eine Mongolenverwandtschaft 2 ). Endlich muß 
erwähnt werden, daß Aichel 3 ) bei Indianern in Chile eine 
obere Lidfalte beschreibt, deren Bau und Form von der schrä- 
gen Augenfalte der Mongolen, der Hottentotten und Eskimo, 
die ja unter sich gleich sind, aber auch von Epikanthusbil- 
dungen der Europäer deutlich verschieden ist. Die Falte wird 



1 ) B 1 i 1 m c r. Outlincs of the anthropology of the Timor archipelago. 
Weltev reden 1929. 

2 ) Die Frage der rassischen Stellung der Eskimo wird dadurch neu 
aufgerollt und bedarf als ganz besonders interessantes Problem dringend 
der Bearbeitung. Ich verweise auf die Eigenart der Ilaarform S. 1 60 und der 
Fingerleisten S. 148 und 154, Ich persönlich nehme an, daß sie nicht, zu den 
Mongoliden, gehören. 

3 ) Aichel. Ergebnisse einer Forschungsreise nach Chile-Bolivien. 4. 
Epicanthus, Mongolenfalte, Negerfalte, Hottentottenfalte, Indianerfallc. Zeit- 
schrift Morph. Anthr. Bd. 31. 1932. 



ERBANLÄGEN DER AUGEN 



201 



nicht wie die Mongolen-Hottentotten-Falten von der Haut 
oberhalb des Lidrandes, sondern vom medialen Abschnitt des 
Lidrandes selbst gebildet. Aichel glaubt — mit Recht — , 
daß diese Falte unter den Indianern entstanden ist und sich 
vererbt. Über den Erbgang in Kreuzung wissen wir nichts. — 
Bei Indianern kommt — selbstverständlich von den Mongolen 
her — auch echte Mongolenfalte vor, wahrscheinlich viel sel- 
tener als behauptet wird, denn sehr oft ist wohl die Indianer- 
falte einfach als Mongolenfalte gezählt worden, trotzdem sie 
etwas ganz anderes ist. 

Endlich gibt es auch kleine Faltenbildungen am äußeren 
und inneren Winkel des Auges bei Negern, es sind aber ganz 
kleine Fähchen. Doch sieht man die Neigung des Augenlides, 
selbständig bei verschiedenen Rassen zu mutieren ! 

Die Schiefstellung der ganzen Augenspaltc, so daß der 
äußere Lidwinkcl höher steht als der innere, hängt mit der-) Fal- 
tenbildung nicht fest zusammen, wenn auch bei Mongolen mei- 
stens beides vorhanden ist. Unabhängig von Faltcnbilclung 
wird als schief nur der Fall bezeichnet, wo wirklich der innere 
Augenwinkel (von einer etwaigen Falte entblößt) tiefer steht. 
Tao findet sechs erwachsene F r Mischfinge aus der Verbin- 
dung schief X gerade ausnahmslos schieläugig. Bei Kindern 
von chinesischem Vater mit schiefer und europäischer Mutter 
mit gerader Lidspalte zählt er 75—780/0 schiefe Augen. Aber 
er findet auch einen Fall, wo bei gerader Spalte des chinesi- 
schen Vaters ein Kind schiefe Spalte hatte, was unerklärt bleibt. 
Man darf wohl das Schief als dominant bezeichnen. Auch hier 
ist nun wieder die Abweichung bei Hottentotten in derselben 
Richtung; ihre Kreuzung mit Europäern zeigt, daß gerade do- 
minant ist über schief. 

Über Erblichkeit der sog. Dcckf alten (s. Aichel) und des 
Epikanthus, dessen Bildung aber schon zum Pathologischen zu 
zählen ist, gibt es nicht viele brauchbare Angaben. Richter 1 ) 
bestätigt Scheid t und Keiter, daß eine stark entwickelte 
Deckfalte über eine schwache im Erbgang dominiere. Eine 
nach außen abfallende glaubt Routil erblich erweisen 
zu können, Richter kann es nicht ganz bestätigen. BciAbels 
Zwillingen erwies sich die Zwischenaugenbreite durch ihre 
größere Ähnlichkeit bei EZ als erbbedingt, wenn auch beein- 
flußbar durch Umwelt. Vielleicht ist geringe Zwischenaugen- 
breite dominant. 



i) A. a. O. 



202 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



Aber auch feine und feinste Einzelheiten der Augengegend 
sind offenbar von Erbfaktoren beherrscht. J. Weninger 1 ) 
zeigt an Zwillingen, daß z. B. Weite der Lidspalte, Größe des 
Lidwinkels, Höhe des Oberlides, Form des Brauenstriches und 
anderes bei EZ ganz erheblich ähnlicher sind als bei ZZ. 

Ohr. 

Am Ohr finden sich im Gegensatz zu vielen anderen äuße- 
ren Körperteilen, Nase, Lippe, Augenlid, Haar so gut wie 
keine Unterschiede zwischen den einzelnen Rassen. Mutationen, 
die die Gesamtgrößc oder Gesamtform stärker beeinflußt hät- 
ten, scheinen nicht aufgetreten zu sein. Dies ist auffällig, weil 
bei sehr vielen Haustieren nicht nur jene 
| anderen Organe ebenfalls wie beim Men- 
; sehen Rassenunterschiede zeigen, sondern 
auch das Ohr: Hängeohren, Kurz- und 
* , Langohren. Beim Menschen kommt als 

rassenmäßig auftretende, erbliche Muta- 
tion nur das sog. Buschmannohr vor, aus- 
gezeichnet durch eigenartige Wulstbil- 
dung der Innenseite der Muschel. Nach 
den Beobachtungen an den südwestafri- 
kanischen Bastards muß es ein rezessives 
Gen haben. 

Dagegen finden sich an den Ohren 
aller Rassen individuell eine Unmenge 
Verschiedenheiten aller Teile der Ohr- 
muschel, Läppchen, Rand, Leisten und 
Furchen der Muschel, Stellung des ganzen Ohres usw. Über 
das Bestehen erblicher Unterlagen und die Verschiedenheit des 
Grades der Umwelteinflüsse auf die einzelnen derartigen Bil- 
dungen unterrichten uns eine Anzahl schöner Untersuchungen 
Quelpruds 2 ). Er untersuchte im Dahlemcr Institut über 3000 
Einzelpersonen und 950 Zwillingspaare, das sind mehr als 
1 2 000 Ohren. Auch die kleinen Einzelheiten sind hier von 
Wichtigkeit, weil wir bei Kenntnis ihrer Häufigkeit, ihrer Um- 



-i' 



'•V 



Abb. 51. Buschmannohr 

(von einem Bastard) nach 

E. Fischer. 



!) Weninger, J. Über die Weichteile der Augengegend bei crbglei- 
chen Zwillingen. Anthr. Anzg. 1932. 

2 ) Q u e 1 p r u d. Untersuchungen der Ohrmuschel von Zwillingen. Z. 
ind. Abst. 62. 1932 und 67. 1934. 

Derselbe. Die Ohrmuschel und ihre Bedeutung für die erbbiologische 
Abstammungsprüfung. Erbarzt. Nr. 8. 1935 (Lit.). 



ERBANLAGEN DER OHREN 



203 



weltfestigkeit oder -becinflußbarkeit und ihres Erbcharakters, 
wenn möglich auch Erbganges, ein vorzügliches Material für 
Vaterschaf tsuntersuchungen und dergleichen zur Verfügung 
haben. Zum leichteren Verständnis einiger Einzelheiten diene 
Abb. 52, die deren viele benennt. 

Zur Feststellung einer Erbunterlage für die Ausgestaltung 
der einzelnen Teile genügt (wie überall, so auch hier) der 
Nachweis, daß ein Merkmal bei EZ sehr viel häufiger an 
beiden Paarungen gleich ist, oder daß es bei Ungleichheit 
grundsätzlich eine geringere Differenz aufweist gegenüber ZZ. 
Dieser Nachweis ist für die meisten Merkmale leicht zu er- 
bringen. Das Material ist so groß, daß der Nachweis bindend 
ist. Bekanntlich sind auch das rechte und linke Ohr desselben 



Crus Itelicis 

Incisura anii 1 1 i 
Ühmugencht it 

Tragus 
Iiicisttra intertmgica 

Lobuhts 




Uclix 

A Ütclixäsle 

Pi winsches Höckerchen 

inllislix 
V ! plia 

( oncha. 
h titragiis 



Abb. 52. Ohrmuschel mit den üblichen Bezeichnungen einzelner Teile. 
(Nach Quelpru d.) 

Menschen nicht ganz gleich. Diese Unterschiede sind umwelt- 
bedingt, die entsprechenden bei EZ dann also auch. Bei Zwil- 
lingen werden jeweils alle vier Ohren verglichen. Beim Ver- 
gleich von Photographien ist es praktisch, die der linken Ohren 
spiegelbildlich wiederzugeben, so daß man scheinbar durchweg 
gleichseitige nebeneinander hat (s. Abb. 53). Die Ähnlichkeit 
von 4 Ohren von EZ kann geradezu erstaunlich sein! 

In der folgenden Tabelle sind die Befunde von rechts und 
links desselben Zwillings, dann der gleichseitigen und der 
spiegelbildlichen (entgegenseitigen) Ohren jedes Paares zu- 
sammengestellt 1 ). Zunächst das Ergebnis von igMaßen. Diese 



1 ) Herr Quclprud stellte mir diese Zahlen aus seiner künftigen 
großen Arbeit über die Vererbung der Ohrmuschel freundlichst zur Ver- 
fügung, wofür ihm verbindlichst gedankt sei. 



204 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

umfassen Länge und Breite der Gcsamtmuschel, Lange ihrer 
Ansatzstelle, des Ohrläppchens, des inneren Muschelteiles 
(Concha), Länge und Breite der Incisura intertragica, Tiefe 
des unteren Anthclixastes, Breite des Hclixrandes an verschie- 
denen Stellen usw. (s. Abb. 52). Wenn man den Durchschnitt 
aller Differenzen dieser 19 Ohrmaße nimmt, zeigt es sich 
(s. Tabelle: A), claß die Unterschiede der gleichseitigen wie 
der spiegelbildlichen Ohren von EZ genau so groß sind, wie 
die von rechts und links derselben Person. Die Unterschiede 
der gleichseitigen wie der spiegelbildlichen Ohren von ZZ und 
FZ sind dagegen erheblich größer. Die geringen, Unterschiede 
sind also umweltbedingt, die größeren bedeuten die Erbunter- 
schiede von erbverschiedenen Menschen (Geschwistern). Man 
sieht aber auch, daß PZ noch stärker verschieden voneinander 
sind: darin offenbart sich der Geschlechtsunterschied der Bru- 
der-Schwester- Pärchen. 

Tabelle 

Mittlere Unterschiede zwischen 



den Ohren 

derselben 

Person 



gleichseitigen I spiegelbild- 
Ohren der liehen Ohren 
Paarlinge | der Paarlinge 



19 verschiedene Ohrmaße 
(Durchschnitt) (mm) 



EZ 
ZZ 
PZ 



1,1 
1,1 

1,0 


1,1 


1,0 


1,8 


1,8 


| 2,5 


2,5 



Physiognomischer Ohr- 
index (Indexeinheiten) 



"EZ 


2,0 
2,0 
2,2 


2,0 


2,2 


ZZ 


3,3 


3,3 


PZ 


1 3,7 


3,8 



B 



Stellung des Ohres (oberer 
Winkel) (Winkel grade) 



EZ 


5° 


5° 


6« 


ZZ 


5° 
6° 




90 


8° 


PZ 




13» 


13° 



c 



Verwachsung des Ohr- 
läppchens (im Hundertsatz) 



EZ 


5 
6 
8 


6 


6 


ZZ 


15 


15 


PZ 


| 20 

i 


20 



D 



Größe des Darwinschen 
Höckerchens (Größen- 
klassen) 



EZ 


0,8 
0,9 
0,8 


0,8 


0,9 


ZZ 


1,! 1,1 


PZ 


| 1,3 


1,3 



E 



ERBANLAGEN DES OHRES 



205 



Nimmt man nur das Längen-Breiten- Verhältnis der Ohr- 
muschel, so findet man ebenfalls (Tabelle: B) keinen Unter- 
schied in den Größenabweichungen von rechts und links des- 
selben Menschen und von den beidartigen Ohren der KZ. Aber 
wieder einen erheblich größeren bei ZZ. Auch hier kommt der 
Gcschlcchtsuntcrschied deutlich zum Ausdruck. 

Das Abstehen der Ohren, kann geinessen werden durch Be- 
stimmung des Winkels zwischen der Plinterseite des oberen 
Muschelteil.es und der Seitenfläche des Kopfes. Die Winkel- 




R. 



Zw. 1. 



R. 



Zw. II. 



Abb, 53. Die Ohrenpaare zweier EZ. 

Die beiden linken Ohren sind bei der photographischen Wiedergabe umge- 
dreht worden, so daß sie spiegelbildlich erscheinen. Man beachte die große 
Ähnlichkeit. Die beiden rechten zeigen am oberen Helixrand eine kleine 
Verdickung, aber nicht ganz gleich. 



werte (Tabelle: C) zeigen dieselbe Erscheinung wie bei den 
bisherigen Maßen. Auch hier erscheint eine Geschlechtsver- 
schiedenheit. 

Der Grad des Angewachscnscins des Ohrläppchens wird 
auf dieselbe Art im folgenden Teil der Tabelle (D) und die 
Ausbildung' des Darwinschen Höckerchens in ihrem letzten Teil 
iE) dargestellt. In der Verwachsung des Läppchens zeigt sich 
ein deutlicher Erb unterschied zwischen EZ und ZZ, ebenso 
ein deutlicher Geschlechtsunterschied bei PZ. Beim Darwin- 
schen Höckerchen ist ein geringerer festzustellen. 

Grundsätzlich dasselbe Ergebnis fand Quelprud für die 
Größe des Tragus, des Antitragus, für die Lage der Tragus- 
ebene und der Antitragusebene, dann für das Längen-Breiten- 



206 EUGEN EISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN, 

Verhältnis der Incisura intertragica und für das Größenver- 
hältnis des oberen und unteren Muschclab Schnittes für eine 
Reihe von Maßen und Winkeln. Auch Geschlechtsunterschiede 
ließen sich jeweils nachweisen. Bezüglich der Ziffern muß ich 
auf die Originalarbeiten verweisen. 

Zusammenfassend kann man für alle diese Einzclbildun- 
gen mit Sicherheit Erbanlagen, und zwar als einzelne Fak- 
toren, annehmen, für alle auch deutlich eine in gewissen Gren- 
zen sich bewegende Umweltbeeinflussung. Diese Umweltwir- 
kungen machen sich teilweise schon vor der Geburt geltend. Es 
müssen Lagerungs- bzw. Ernälmings Verschiedenheiten und ähn- 
liche Dinge sein. Aber auch nach der Geburt wirken solche 
noch fort. So konnte Quelprud feststellen, daß das Ohr- 
läppchen bei Kindern bis etwa 
zum 1 5 . Jahre freier ist, dann 
mehr angewachsen bis etwa 
Mitte der 50er Jahre. Im hö- 
heren Alter wird es dann wie- 
der freier. Dabei ist es durch- 
weg beim weiblichen Geschlecht 
mehr angewachsen als beim 
männlichen. Auch das Darwin- 
sche Höckerchen, das bei Kin- 
dern etwa gleich stark ist in 
beiden Geschlechtern, wird im 
Alter bei Männern stärker, bei 
Frauen schwächer. Bei allen 
ist es im Durchschnitt rechts 
deutlicher als links und, wenn 
einseitig, rechts häufiger als 
links. Auch bei einigen von den anderen Merkmalen bestehen 
in Häufigkeit und Ausprägung kleine Geschlechts- und Alters- 
verschiedenheiten. Ein paar Einzelheiten, die sehr viel seltener 
sind als die oben genannten, seien noch erwähnt, weil ihre 
Feststellung bei Gutachten gerade deswegen wichtig werden 
kann. Im oberen Conchateil kommt etwa in der Häufigkeit von 
5 — 60/0 ein nach Form und Größe recht schwankender Längs- 
wulst vor, das Grus eymbae (Abb. 54). Er wurde bei mehreren 
ZZ nie gleich, bei einem EZ-Paar gleich gefunden. Famiüen- 
untersuchungen deuten auf dominanten Erbgang mit ziemlich 
großen Manifestationsschwankungen. Sehr viel häufiger findet 
man auf der Rückseite der Ohrmuschel einen kleinen Höcker 




Abb. 54. Ohr mit gut ausgebil- 
detem ,,Crus eymbae", 
seltenere Bildung. 



ERBANLAGEN DES OHRES 



207 



oder niederen Kamm, bei Männern in 720/0, bei Frauen in 290/0. 
Er ist bei EZ ausnahmslos gleich. Der Erbgang ist noch nicht 
festgestellt. 

Dagegen liegen für den Erbgang einiger anderer Merk- 
male Untersuchungen vor. Hilden*) untersucht (an 247 
Runö-Finnen) das erbliche Verhalten des Ohrläppchens und 
glaubt ein einfaches Faktorenpaar annehmen zu können, wobei 
das freie Ohrläppchen dominant ist. Auch Leicher 2 ) bestä- 
tigt das. Dagegen zeigt Q u c 1 p r u d an seinem außerordentlich 
viel größeren Material, daß die Verhältnisse keinesfalls so ein- 
fach liegen. Die Alters- und Geschlechtsunterschicde erschwe- 
ren die Entscheidung manchmal. Es dürfte eine AUelenreihe 
sein, das größere Ohrläppchen scheint jeweils dominant. Wei- 
ter zeigt L eiche r, daß das „schmale" Ohr dominant ist über 
das „breite" und das „gerade" angesetzte dominant über das 
„schiefe". Endlich erweist Geyer 3 ) an Familienuntersuchun- 
gen in Obersteiermark den sog. „bandförmigen Helixrand" als 
einfach rezessiv vererbt, und eine „ausgerollte FIclix" als 
„wahrscheinlich geschlechtsgebunden rezessiv vererbt". Über 
diese letzteren Dinge liegen von Quelprud keine Unter- 
suchungen vor. 

Leider fehlen ausführlichere Angaben über anzunehmende 
Unterschiede in der Häufigkeit aller dieser als erblich erkann- 
ten Einzelheiten bei verschiedenen Rassen noch fast ganz. Sie 
würden eine verschiedene Häufigkeit der betreffenden Gene 
beweisen und die Feststellung großer Verschiedenheiten würde 
unter Umständen Licht auf ihre Entstehung, d. h. auf Selten- 
heit oder Häufigkeit der Mutationen werfen. Nach dieser Rich- 
tung kann erwähnt werden, daß das Darwinsche Höckerchen 
nach Hilden 4 ) bei Schweden und Finnen ungefähr gleich 
häufig ist wie bei Elsässern (nach Schwalbe). Dagegen haben 
Finnen häufiger eingerollten Helixrand als Schweden. Und 
eben zeigt Hilden 5 ), daß Finnen häufiger fehlendes Ohr- 
läppchen haben als Schweden. 

1 ) Hilden. Studien über das Vorkommen der Darwinschen Ohrspitze 
111 der Bevölkerung Finnlands. Fennia 52. Nr. 4. 1929 (Lit.). 

2 ) Leicher. Die Vererbung anatomischer Variationen der Nase, ihrer 
Nebenhöhlen und des Gehörorgans. München (Ohrenheilkunde der Gegen- 
wart. Ed. 12) 1928. 

3 ) G e y c r. Vererbungsstudien am menschlichen Ohr. Mitl. und Sitzber.. 
Anthr.-Ges. Wien. 58. 1918. 

*) A.a.O. 

5 ) H i 1 d c n. Zur Kenntnis des Vorkommens des freien und angewach- 
senen Ohrläppchens in der Bevölkerung Finnlands. Com. Biol. V. 5.1935. 



208 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Aus allen diesen Erblichkeitsuntersuchungcn ergibt sich, 
daß man beim Verfolgen von Erblinien (Vaterschaftsgutachten 
und dergleichen) die Wirkungen von Alter und Geschlecht und 
allerlei Umwcltwirkungen berücksichtigen muß, daß man we- 
gen zufälliger (nicht genealogischer) Ähnlichkeit zwischen häu- 
figen und seltenen Merkmalen scheiden muß, und daß das Ur- 
teil „vererbt" für die verschiedenen Einzelbildungen sehr ver- 
schieden leicht oder schwer ausgesprochen werden kann. Das 
Darwinsche Höckerchen, die Ausgestaltung des Helixrandcs 
sind keine „guten" Eigenschaften, DieSkapha, ihre Fortsetzung 
in das Läppchen, ein doppelhöckeriger Tragus, die Form der 
Incisura intertragica, besonders auch das Ohrläppchen sind da- 
gegen „gute" Merkmale — nur muß man bei der Beurteilung, 
wie gesagt, an Alters- und Geschlechtsunterschiede denken 1 

g) Erbanlagen für Körpergröße und Körperform. 

Die Körpergröße ist bekanntlich außerordentlich deutlich 
rassenmäßig verschieden, so daß man von pygmäischen, von 
kleinen, mittelgroßen und großen Rassen spricht, wobei selbst- 
verständlich die Einzelmaße in der betreffenden Rasse um 
das betreffende Mittel sehr stark schwanken. Die Beobachtung 
von Kreuzungen macht es zunächst sehr wahrscheinlich, daß 
durch eine Allclcnreihe „Größer" gegen „Kleiner" dominant 
vererbt wird. Daß auch innerhalb von Populationen Erbfaktoren 
stärker als sehr viele Ernährungs- und andere Umwelteinflüsse 
die Körpergröße beherrschen, sieht man ja bei uns, man kann 
sagen täglich, an klein- und großwüchsigen Familien. Bei der 
Gattenwahl scheint hier eine deutliche Siebung vorzuliegen, be- 
sonders für die stärkeren Abweichungen vom Mittel. Ein beson- 
ders schönes Spalten nach Kreuzung von „Groß" und „Sehr klein" 
zeigten Fälle von „Cape people"-Mischungen, die Lotsy und 
Goddijn 1 ) darstellen. Hier erwiesen sich also der Hoch- 
wuchs des Negers und der pygmoide Wuchs des Buschmann- 
Hottentotten als echte mendelnde Erbeigenschaften. Es kann 
kein Zweifel bestehen, daß auch die anderen Wuchsformen der 
verschiedenen Rassen, wie sie durch lausende systematischer 
Messungen festgestellt sind, auf Erbfaktoren beruhen. Dabei 
sind für jede Rasse eine Anzahl Allelen anzunehmen, deren 
Wirkung (zusammen mit solcher der Umwelt) die Schwan- 
kungsbreite der individuellen Körpergrößen innerhalb der Ras- 



i) A. a. O. 



KÖRPERGRÖSSE UND KÖRPEREORM 



209 



sen darstellt. In der Gesamtmenschheit begreift dann natürlich 
die Allelcnreihe recht viele Allelstufen. 

Diese erbliche Unterlage der „Körpergröße" erklärt leicht 
die Erscheinung, daß die Körpergröße von Kindern eines un- 
gleich großen Elternpaares oft über das beide] terliche Maß 
hinausgeht. Scheidt 1 ) hat hier sehr schöne Beobachtungen 
und Erklärungen beigebracht. 

Auch bei Rassenkreuzung werden Kinder eines Kreuzungs- 
paares jenes Verhalten zeigen, aber auch die Gesamtheit der 
Bastarde wird über die Variationsbreite der Eltern nach beiden 
Seiten hinausvariieren. 

Ob es daneben noch ein Überschreiten der elterlichen 
Größe nur nach oben gibt, das man Luxurieren nennt — und 
ebenso nach unten — Pauperieren, ist zweifelhaft ; das Ganze 
wird wohl nur die Folge einer Polymerie sein. — 

Ich habe bei den Rehobother Bastards und für die von B o a s s. Zt. be- 
obachtete Zunahme der Körpergröße bei Indianer-Halbblut gegenüber dem 
Vollblut Bastardluxurieren angenommen. Ich habe übrigens auch dort schon 
vorsichtig dazugefügt : „Ob dieses sog. Luxurieren nicht stets nur eine- 

durch die Umwelt bedingte „Modifikation" ist, möchte ich heute nicht 

entscheiden." Rodenwaldt findet bei seinen Mestizen keine entspre- 
chende Zunahme der Körpergröße. Er sucht nach einer eigenen Erklärung 
für dieses Ausbleiben. Ich glaube, das ist nicht nötig. Man darf keinesfalls 
aus der Feststellung eines Luxurierens in zwei Fällen (Boas und Fischer) 
— einmal angenommen, daß es wirklich ein Luxurieren ist — den Schluß 
ziehen, es müsse jede Rassenkreuzung zu Luxurieren führen. Im Gegenteil, 
das Luxurieren ist immer für eine Ausnahme zu hallen. So bin ich nicht 
überrascht, wenn Bryn Norwegcr-Lappen-Mischlinge klein findet. Bei Mu- 
latten ist von keiner Seite ein Luxurieren festgestellt worden, beiläufig be- 
merkt, auch kein Pauperieren, wie ich das Gegenteil jener Erscheinung 
genannt habe. Als ein Beispiel weise ich auf eine Untersuchung von Stcg- 
gerda 3 ) hin, der an Europäer-Negcr-Mischlingcn in Jamaika (1400 Schul- 
kinder) die Neger etwas größer- als die Weißen, die Mulatten in der Mitte 
zwischen beiden, fand. Solche Angaben ließen sich leicht vermehren, /.. B. an 
Chinesen-Hawai-Mi schlingen (D u n n), die auch gerade in der Mitte zwischen 
ihren Elternrassen stellen. (S. über Luxurieren auch S. 302.) 

Es bedarf kaum besonderer Betonung, daß die Erbanlage 
„Körpergröße" für das betreffende Individuum nicht seine 
Größe in Zentimetern und Millimetern „bestimmt". Wir ererben 
natürlich auch hier wie stets eine Reaktionsbreite, etwa im Be- 
reich hohen oder mittleren oder niederen Wuchses gelegen. 
Welche tatsächliche (in Zentimetern ausdrückbare) Größe jeder 

!) Scheidt. Die Asymmetrie der Körpergrößenkurven und die An- 
nahme der Polymerie. Arch. Rass.Gcs. Berlin. 16. 1925. 

2 ) Steggerda. Physical dcvelopmcnt of negro-white hybrids in Ja- 
maica. Am. Journ. ph. Anthr. 12. 1928. 

Baur-l'ischer-Leiiz, I. 14 



210 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

innerhalb seiner erblichen Reaktionsbreite erreicht, hängt dann 
von Umwelteinflüssen ab, von Ernährung der Frucht und des 
wachsenden Menschen, Krankheiten, Klima usw. (s. „Wachs- 
tum" S. 110 und folg. Kap.). 

Wie vorsichtig man in der Annahme rassenmäßiger, d.h. 
erblicher „Größe" einer Bevölkerung sein muß, lehrt folgende 
Beobachtung Speissers 1 ), die bekannt zu werden verdient, 
weil noch immer so viele nur messende Untersucher mit der 
Feststellung "von „Rassenmerkrnalen" recht unvorsichtig sind ! 
Speisse r konnte auf den Neuen Hebriden zeigen, daß im 
Innern mehrere, wie es der Anthropologe zunächst nennen 
würde, kleinwüchsige Stämme sind, daß diese aber in allen 
anthropologischen Merkmalen den großwüchsigen Küstenleuten 
mehr gleichen als diese Großen anderen Großen der benach- 
barten Inseln I Er macht es sehr glaubhaft, daß diese Klein- 
wüchsigkeit kein Rassenunterschied, sondern eine Modifikation 
ist. Bestätigend gibt der dortige Missionar an, daß in Familien, 
die vom Bcrgland an die Küste übersiedeln, die Eltern klein 
und untersetzt bleiben, die jüngeren Kinder aber später groß 
werden und den Küstenleuten völlig gleichen. 

Diese Erscheinung muß uns beim Versuch, verschiedene 
Rassen nach ihrer rassenmäßigen, cl. h. also erblichen Körper- 
größe zu vergleichen, sehr vorsichtig machen ! 

Unter denselben Gesichtspunkt fällt die Tatsache, daß die 
europäische Bevölkerung sehr vieler Staaten. (Deutschland, 
Holland, Schweden, Italien u. a.) im Laufe der letzten 50 Jahre 
nicht unbeträchtlich an durchschnittlicher Körpergröße zuge- 
nommen hat. Die Erhöhung der Durchschnittsgröße ist haupt- 
sächlich auf Minderung der Zahl der „Kleinen" zurückzu- 
führen. Dieselbe Erscheinung ist in Japan beobachtet worden. 
Die Zunahme ist natürlich, eine rein umweltbedingte, die Einzcl- 
ursachen kennen wir nicht genau. 



Wachstum. 

Weiterhin müssen wir aber die Fragen lösen nach denErb- 
unterlagcn und den Umweltbeeinflussungen derjenigen Vor- 
gänge, die zu diesen als erblich erkannten Körpergrößen füh- 
ren, d. h. der Wachstumsvorgänge. Von äußeren Einflüssen 
räumen wir den Ernährungsverhältnissen eine große Rolle ein, 
dann aber auch den Mangelkrankheiten (Rachitis, Avitaminose 

1 ) Speisse ]'. Anthr. Messungen usw. Verbands!. Nat. Ges. Basel. 
Base] 39. 1928. 



ERDANLAGEN DES WACHSTUMS 



211 



usw.), dem Licht, dem Klima, den Körperbewegungen, dem 
Auftreten und Ablauf von Infektionskrankheiten, mittelbaren 
oder unmittelbaren Schädigungen (Verletzungen, mechanische 
Behinderungen usw.). Weiter wirken Störungen der normalen 
Tätigkeit jener innersekretorischen Drüsen, die das Wachstum 
beherrschen. Wir wissen, daß alle diese Umwelteinflüsse von 
sehr eingreifender Wirkung auf das Wachstum und damit auf 
die Körpergröße sein können. 

Die derart beeinflußten Erbanlagen sind nun wohl als 
Wachstumgene zu bezeichnen, v. Verschrie rG versucht auf 
der Grundlage von Zwillingsuntersuchungen sie im einzelnen 
zu verfolgen. Zunächst zeigen erbliche Wachstumsstörungen 
nvie oben S. 110 schon erwähnt) das Vorhandensein von Genen 
für den normalen Ablauf mit Sicherheit an. Sic äußern sich 
teils vor, teils nach der Geburt, sind teils rezessiv, teils domi- 
nant. Sie dürften für alle Menschen normalerweise gleich sein, 
v. Verse hucr nennt sie „Grundfaktoren des Wachstums 
(analog z. B. dem Grundfaktor A für Pigmentbiklungj". Zu 
ihnen kommen dann „Erbanlagen für Individual- und Rassen- 
unterschiede". Die Beobachtungen über das Wachstum von 
Zwillingen, und zwar an 1176 Paaren (davon 846 aus dem 
eigenen Dahlcmer Institut, die anderen aus der Literatur) zei- 
gen nun, wie sehr das Wachstum des ganzen Körpers und ein- 
zelner Teile in seiner erblichen Anlage verschieden ist und von 
Umwelt gemodelt wird. Die Kurven (Abb. 55) zeigen, diese 
Unterschiede deutlich. Je stärker eine Kurve oder eine Kurven- 
strecke von der senkrechten Linie mit den Altersangaben sich 
nach rechts entfernt, um so verschiedener sind die Paarlinge 
in den betreffenden Zwillingsgruppen. Da grundsätzlich bei 
diesen Zwillingsgruppen die Umwcltwirkungcn für die einzel- 
nen Gruppen (abgesehen von „ Pärchen", wo der Geschlechts- 
unterschied berücksichtigt werden muß I völlig gleich sind, be- 
deutet die durchweg festzustellende größere Ähnlichkeit der 
EZ den Ausdruck der Erbanlagen 2 ). 

Man sieht, daß das Körpergewicht arn stärksten von außen 
beeinflußt ist, dann folgt der Brustumfang. Die EZ sind sich 
meistens bei der Geburt am unähnlichsten, die Folge der star- 
ken Ungleichheit der Ernährung im gemeinsamen Uterus, um 

J i v. V er schuer. Die Erbbedinglheit des KörpenvachsUims. Zlschr. 
Morph. Anthr. 34 (Festband G. Fischer). 1934. 

2 ) Die Lenz scheu Darlegungen (Abschn. 4) zeigen, daß die wirkliche 
erbliche Differenz noch viel großer ist, als es hier erscheint. 

14' 



Jahrs 



Jahre 



212 



Umfang der Brust 



Breite zw. den Akromien 



EZ 
ZI 



überZS 





Jahre 

Körpergröße 



Ott 08 1.Z IE ZU 2>Z8 3.2 3fi 




Zä'/^e des Armes 



EZ 

U 



n-is 
ffi-w 

T 
T 



\ 



ü 1 * 08 n 1,6 2.0 ZA 1.8 3,Z 



0> DB 1Z IG ZD 2> 20 32 



J-jhfE 



Körpergewicht 



fZ 

ZI 

PI 



-i- 
-t- 

T 

9-1! 



3-5 
4- 
D-Z, 




0> 0.8 1,Z IG Z.ü Z> Z.8 3.Z 3.6 V0 
Jahre 

Länge des Beines 



11 




0/r 0,8 XL 1,B Z.Ü 24 2.8 3,2 3,6 



\ 



\ 
\ 
N 
.-**■" 

■J 



Abb. 55, Die durclischnittlichen 
Unterschiede einiger Körpermaße 
zwischen den Paarungen von 
EZ, ZZ und PZ in verschiede- 
nen Altern, (Einzelerklärung im 
Text.) Nach v, Vcrschuer, 



umn \i ig z.o is vi sz 36 <to ^i. w s,z s.e g.o ga 



ERBANLAGEN DES WACHSTUMS 



213 



dann ähnlicher zu werden. In der Pubertätszeit ist sehr häufig 
eine stärkere Zacke in der Kurve, die Umwelteinflüsse an- 
zeigt, v. Verschuer deutet sie als den Ausdruck kleinerer 
zeitlicher Schwankungen im Eintritt der Pubertät oder (und) 
einer stärkeren Beeinflußbarkeit des Körpers in dieser Zeit. 
Sehr interessant ist die Kurve der Körpergröße. Bis ungefähr 
zum 2. Lebensjahr sind EZ und ZZ je unter sich gleich ver- 
schieden, was zeigt, daß die Verschiedenheit umweltbedingt ist. 
Dagegen von 3—5 Jahren und dann zunehmend bis zu 12 oder 
13 Jahren werden ZZ immer verschiedener, EZ behalten die 
gleiche Differenz untereinander, werden sogar in der ersten 
Zeit deutlich einander ähnlicher 1 ) . Hier machen sich also 
Erbunterschiede geltend, diese Wachstumsperiode wird von 
besonderen Erbfaktoren beherrscht. Sie sind zwischen dem 3. 
und 13. Lebensjahre wirksam. „Das Überraschende ist nun", 
so sagt v. Verschuer, „daß diese bemerkenswerte erbbe- 
dingte phänotypische Differenzierung zwischen den ZZ-Paar- 
lingen im weiteren Leben nicht erhalten bleibt, sondern ziem- 
lich weitgehend wieder zurückgeht. Dieses Ähnlicherwerden der 
ZZ in der Körpergröße vom 14. Lebensjahr an kann unmög- 
lich durch Umweltwirkung erklärt werden — sonst müßten 
auch die EZ ähnlicher werden, was aber nicht der Fall ist. Die 
Erklärung unseres Befundes sehe ich vielmehr darin, daß die 
Erbanlagen, die Unterschiede im Wachstums rhy thmus oder 
Wachstums te m p o bedingen, nicht auch Unterschiede im 
Wachstums erfolg, d. h. in der schließlich erreichten Körper- 
größe bedingen. Die letzteren Erbunterschiede haben nicht die- 
selbe Bedeutung. So kann es z. B. vorkommen, daß der eine 
Paarung erst rasch und dann langsam wächst, während der 
andere das etwa gleiche Ziel in gleichmäßigem, langsamcrem 
Wachstum erreicht. Ein solches Zwillingspaar ist zunächst sehr 
verschieden, später wird es ähnlicher. Solche Fälle scheinen so 
oft vorzukommen, daß sie dem Durchschnitt das Gepräge 
geben." 

Boas 2 ) zeigt auch für Geschwisterschaften Wachstums- 
ähnlichkeiten, die er als Ausdruck von Erbanlagen für das 
Tempo deutet. 

v ) K omai und ¥ ukuoka (Journ. Hcred. 25. 1934) beschrieben einen 
Fall, wo einer von EZ vom etwa 10. Jahr an im Wachstum stark hinter 
dem Bruder zurückblieb, zugleich Diabetes bekam und eine Verkleinerung 
der Hypophysengrube hatte ■ — ■ eine Erklärung ist nicht zu geben. 

2 ) Boas, The Tempo of Growlh of Fraternhies. Proc. Nat. Acad. 
Sc. Vol. 21. 1935- 



214 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 

Einen ähnlichen Wachstumstyp wie der Gcsamtkörpcr, zeigt 
die Armlänge und die Beinlänge (s. Abb. 55). Hier konnte v. 
Verschuer an einzelnen Fällen zeigen, wie bestimmteUmwclt- 
einflüsse, hier Leibesübungen, die endgültige Ausgestaltung der 
Proportionen stark beeinflussen. So ist ja auch .die Tatsache zu 
verstehen, daß Menschen bestimmter Berufe auch gewisse 
Eigenheiten der Proportionen zeigen, Schmiede und derglei- 
chen, haben lange Arme, Seeleute lange Arme und Beine, Kopf- 
arbeiter relativ längere Beine als Arme. Auch die sog. Sport- 
typen gehören hierher, Turner, Kurzstreckenläufer, Langstrek- 
kenläufer, Schwerathleten haben je besonderen und charakteri- 
stischen Körperbau. Die Zwillingsuntersuchungen zeigen, daß 
die Grundlagen ererbt sind und den betreffenden Mann gerade 
zu der betreffenden Betätigung geführt haben werden. Dann 
aber hat die Betätigung ihrerseits die Ausprägung des Typus 
vollendet und verstärkt (s. S. 222). 

Entsprechend dürften auch die Proportionsunterschiede 
der verschiedenen Rassen beurteilt werden. Die Unterlage so- 
zusagen dürften jeweils rassenmäßig verschiedene Erbfaktoren 
bilden; Umwelteinflüsse (Lebensweise usw.) modeln aber so 
stark daran, daß bestehende erbliche Unterschiede häufig zu- 
gedeckt werden, und in anderen Fällen Verschiedenheiten auf- 
treten, die nicht erblich sind. Selbstverständlich sind auch von 
den erblichen Unterschieden, die in den v. Verschuer sehen 
Kurven (Abb. 55) zum Vorschein kommen, einzelne als ras- 
sische zu deuten, Unterschiede zwischen den verschiedenen 
Rassebestandteilen innerhalb unseres Volkes. Die Proportions- 
unterschiede zwischen den großen Rassen sind noch wenig 
untersucht. Davenport 1 .) findet bei einer kleinen Anzahl Euro- 
päcr-Australier-Halbblut die europäische Kürze der Beine do- 
minant. Ob aber diese Mischlinge so aufgewachsen sind und 
gelebt haben wie die langbeinigen Australier, ist nicht festge- 
stellt. Einwandfrei sind dagegen die Feststellungen desselben 
Forschers und Steggerdas 2 ), daß bezüglich Beinlänge, 
Klafterweite und Beckenbreite die Jamaika-Mulatten in der 
Mitte zwischen den deutlich voneinander abweichenden Euro- 
päern und Negern stehen, bei gleicher Lebensweise der drei 
ldeinbäuerlichen Gruppen. In Körpergröße und Gewicht stan- 
den dabei Mulatten und Neger gleich. Roden waldt kam bei 



') A. a. O. und 1> a v e 11 p o r t and S i e. g g" c r d a a. a. O. 
2 ) Sieggerda. Pbysica] developmenl of negro-white hybncls in 
Jamaica. Am. jour. ph. Anih. 12. 1928. 



UMWELT UND WACHSTUM 



215 







seinen Mestizen zu keinem brauchbaren Ergebnis. Dagegen 
stellte er die interessante Erscheinung fest, daß deren Gesamt- 
körperbau graziler ist als der der beiden Stammrassen; eben- 
so sind Armlänge, zum Teil die relative Beinlänge, ferner die 
weibliche Beckenbreite geringer als bei beiden Elternrassen. 
Vorsichtigerweise berücksichtigt Rodenwaldt die Möglich- 
keit von allerlei Umweltfaktoren, glaubt aber mit Recht doch 
auch Erbunterlage annehmen zu 
müssen. Es scheint eine Art von 
Pauperieren zu sein. Dasselbe gilt 
für die Erklärung der auffällig 
geringen Gesamtkörperfülle bei 
diesen Mestizen. 

All diese Darlegungen von 
Erb- und Umwelteinflüssen wer- 
den nicht berührt von der Tat- 
sache, daß das gesamte Wachs- 
tum wie das der einzelnen Teile 
und damit die Größe und die Pro- 
portionen von der Tätigkeit inne- 
rer Drüsen — Hypophyse, Thy- 
mus, Keimdrüse, Epithclkörper- 
chen u. a. ( ?) — abhängt. Erb- 
anlagen für Wachstum, Wachs- 
tumstempo usw. wirken also mit- 
tels dieser Drüsen, sie sind letzten 
Endes erbliche Anlagen dieser Ge- 
bilde. Aber auch die Umweltein- 
flüsse sind großenteils (oder 
nur?) solche, die auf die Drüsen 
wirken (chemische). Wie stark 
hier eingewirkt und das Wachs- 
tum willkürlich geändert werden 
kann, zeigen zahlreiche Experi- 
mente (vor allem Evans, dann Johnson, Lit. bei Roth) 1 ). 

In derselben Weise wirken natürlich krankhafte Zustände 
der betreffenden Drüsen, seien es auf Erbanlagen beruhende, 
seien es umweltbedingte (Mangelkrankheiten, Verletzungen, 
Zerstörung durch Geschwülste und dergleichen). In dieser Hin- 
sicht sind die Wuchs- und Proportionsänderungen bekannt, die 

*) Roth, Wachstumsversuche an RaUen. Zeitschr. Morph, und Anthr. 
33- 193 5- 



- -*V- 



Abb. 56. Hochwuchs durch Ho- 
denmißbildimg. (Nach Henckcl.1 



216 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



die Kastration Jugendlicher im Gefolge haben; als Beispiel sei 
Abb. 56 gegeben, wo eine Minderentwicklung der Hoden eine 
eigenartige, langgliedrige, hochwüchsige Körperform bedingt 
hat, die der von Eunuchen gleicht. (Größe [87,7 cm — nach 
Hcnckel.) Über menschliche Kastraten berichten u. a. Wa- 
genseil 1 ) und ausführlich Pittard 2 ). 

Auch sehr viel geringere Störungen des Spiels der Drüsen 
— Erhaltenbleiben kindlicher Zustände usw. — werden die 
Proportionen verändern. Es ist ein sicher ungeheuer verwickel- 
tes Ineinandergreifen umweltbedingter und erblicher Einflüsse. 
Von einigen zu besonders auffälligen Abweichungen führenden 
Entwicklungsstörungen kennen wir die Erbanlagen im einzel- 
nen, so von gewissen Zwergwuchsformen mit und ohne Ände- 
rung der Gliederproportionen; doch soll auf diese krankhaften 
Erscheinungen nicht hier sondern im Abschnitt 3 eingegangen 
werden. 



In einem gewissen Grade ist unabhängig von Wuchs und 
Körpergröße die Ausbildung von Fett, die Derbheit von Binde- 
gewebe und Knochen, die Entwicklung 'der Masse. 

Die Körperfülle selbst und die allgemeine Form des Ge- 
samtkörpers, schlank oder gedrungen, untersetzt oder fein- 
gliederig, hängen sicher zum Teil von Uniweitwirkung ab. Aber 
man sieht doch ganz deutlich auch erbliche sog. Neigung zu 
Fülle oder Magerkeit, noch mehr zu untersetztem, oder schlan- 
kem Körperbau, individuen- bzw. familienweise und auch für 
ganze Rassen. Davenport 3 ) glaubt mehrere sich steigernde 
Erbfaktoren für die Zunahme an Korpulenz und Körperge- 
wicht annehmen zu müssen. Rassisch gelten nordafrikanische 
Jüdinnen als stark geneigt zu Fettablagerung. Wenn man aber 
sieht, wie untätige und übermäßig ernährte Ncgcrhäupthnge 
unendlich viel fetter sind als ihre Untergebenen gleichen Stam- 
mes, wenn man sieht, wie fast fettlose Eingeborene in der euro- 
päischen Siedlung fetten Europäern bald nichts mehr nach- 
geben, wird man mit der Annahme rassenmäßiger Erbfaktoren 
sehr vorsichtig. 



1 ) W a g c 11 s e i 1. Chinesische Eunuchen. Z. Morph. Anlhr. 37. 1933 

(Ut). 

2 ) P i t t a r d. La castration chez l'homme. Paris 1934. 

3 ) Davenport. Body build: its developrncnt and mheritance. Eug. 
Reeord Off. Bul. 24. 1925. 



KÖRPEREORMEN UND KÖRPERBAUTYPEN 



217 



Die Steatopygie, der Fettsteiß der Flottentottenweiber, 
anatomisch dem Fettsteiß und Fettschwanz mancher Schafras- 
sen und dem Fettbuckel des Zebu entsprechend (s. Abb. 57, 58, 
S. 264), tritt bei jenen Frauen ganz regelmäßig auf, meistens 
auch noch die Oberschenkel einschließend, während der übrige 
Körper geradezu mager bleiben kann. Es ist ein sicher erbli- 
ches, auf das weibliche Geschlecht beschränktes Rassenmerk- 
mal der Hottentotten. An Hottentotten-Europäer-Bastarden 
xten Grades konnte ich echte Steatopygie nicht beobachten, 
wohl aber gradweise sehr verschieden und manchmal recht 
starken Fettansatz an Hüfte, Oberschenkel und Gesäß. Bei uns 
unterscheidet man verschiedene Typen der Fettanordnung am 
weiblichen Körper (Reithosentyp usw.). Von Vererbung wissen 
wir nichts. 

Von sonstigen Einzelheiten der äußeren Körperform sei 
die Verschiedenheit der Form des Brustkorbes erwähnt, von 
der v. Verschue r und Zip perlen (s. S. 234) zeigen konn- 
ten, daß sie bei EZ in der ganz erdrückenden Mehrheit gleich 
oder fast gleich, bei ZZ ebenso häufig verschieden ist. Doch 
führt diese Angabe schon aufs Gebiet der sog. Konstitutions- 
typen (s. unten). 

Die verschiedene Größe und Lage der weiblichen Brust 
dürfte auch nicht nur umweltbedingt (Dauer des Stillens, Zahl 
der Schwangerschaften usw.) sondern auch Ausdruck erblicher 
Anlagen sein. Rassenmäßig nimmt nur die Buschmannfrau 
eine Sonderstellung ein, bei der die Brüste ganz hoch und ganz 
gegen den Rand der Achselhöhle gerückt sind ; es ist natürlich 
besondere Erbunterlage anzunehmen, aber über Vererbung 
liegen keine Beobachtungen vor. 

Schließlich noch ein Wort über die sogenannten 

Körperbautypen. 

Ob in eine Aufstellung normaler menschlicher Erbfaktoren 
eine Erörterung des Konstitutionsbegriffes überhaupt gehört, 
ist mindestens sehr zweifelhaft 1 ). Die Antwort hängt von der 
Auffassung dieses Begriffes ab. Ohne im einzelnen zu der gro- 
ßen Diskussion darüber Stellung zu nehmen, sei hier nur ange- 
deutet, daß viele Autoren Genotypus mit Konstitution gleich- 
setzen und alles andere mit T andler Kondition nennen. An- 
dere Autoren begreifen unter Konstitution außer erblichen 



x ) Es sei ausdrücklich auf den Abschnitt „Konstitution" bei Lenz 
verwiesen (Abschn. 3). 



218 EUGEN EISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

auch peristatisch bedingte Momente oder gar nur letztere. Der 
ganze Begriff ist m. M. nach keiner, der sich etwa mit den Be- 
griffen Idiotypus, Paratypus usw. vergleichen läßt, vielmehr 
eine aus der ärztlichen Praxis genommene und für sie unent- 
behrliche Bezeichnung eines bestimmten Komplexes. Wenn es 
nur der Idiotypus sein sollte, brauchten wir überhaupt keine 
Erörterung; dann ist eines der beiden Worte zu streichen. Aber 
ich glaube, Konstitution bedeutet doch etwas anderes ! Zustand 
und Reaktionsart eines Menschen ist damit bezeichnet. Aber 
nicht diese beiden zu jeder Zeit und auf jede Weise. Etwas 
ganz Vorübergehendes darin, alles Wechselnde ist nicht inbe- 
griffen. Das mindestens auf lange Dauer Gleichbleibende der 
Reaktionsart und sie bedingender Zustände eines Menschen be- 
deutet dem Arzt die Konstitution. Der Konslitutionsbegriff ver- 
liert seine Brauchbarkeit, wenn wir uns darunter etwas vor- 
stellen, was je in kurzer Frist sich ändert. Die relative Un Ver- 
änderlichkeit braucht aber durchaus nicht zur Voraussetzung 
nur eine Erbunterlage zu haben. Ganz auszuscheiden ist natür- 
lich das Erbgefüge eines Menschen nie und bei nichts, es läßt 
sich überhaupt nicht wegdenken. Aber wie peristatische Dinge 
jenes modifizieren, braucht meiner Meinung nach nicht nur von 
Art und Intensität dieser Faktoren und vom Idiotypus, der ge- 
troffen, wird, abzuhängen, sondern auch vom Zustand, und das 
ist oft der Zeitpunkt des Treffens innerhalb der Entwicklungs- 
bahn des Individuums. Man denke an die sog. sensible Phase 
z. B. bei Temperaturversuchen mit Schmetterlingslarven. Ich 
habe einmal 1 ) kurz ausgeführt, daß recht viel dafür spricht, 
daß peristatische Wirkungen auf den Embryo von anderem Ein- 
fluß sind, als dieselben Faktoren etwa im späteren Leben. Ich 
stelle mir vor, daß Einflüsse, die in gewissen „kritischen Sta- 
dien" den Embryo treffen, Modifikationen hervorrufen können« 
die ihm als Individuum für sein ganzes Leben eine besondere 
Prägung geben. Dieser entsprechend reagiert er dann, das 
ist bei ihm „konstitutionell". Die Erbanlage kommt dabei 
nur insoweit in Betracht, als natürlich, wie schon oben gesagt, 
auch die peristatische Beeinflußbarkeit des Embryo nach Grad 
und Art von seinem gesamten Erbgut abhängt. Daß solche 
Beeinflussung stattfindet und dann das „konstitutionelle" Ver- 
halten dauernd bestimmen kann, zeigen Beobachtungen an 
Zwillingen. Liier scheinen mir sehr eingehende Beobachtungen 

''} Zum KonstitiUionsbegriff. (Kurzes Referat über einen Vortrag.) Kim. 
Wo eh. 3. 1924. 



ERBE UND KONSTITUTION 



2.19 



W. Lehmanns 1 ) an rachitischen Zwillingen besonders schla- 
gende Beweise zu bringen. Er zeigt, daß für Ausbruch, Verlauf 
und Schwere der Rachitis (natürlich neben Umweltwirkungen) 
eine Erbanlage zugrunde liegen muß. Aber auch EZ zeigen 
gelegentlich Diskordanz. Dabei kann für eine Reihe solcher 
cliskordanter Fälle die Ursache wahrscheinlich gemacht wer- 
den ; sie ist deutlich, derart, daß der Arzt von „konstitutionellen 
Unterschieden" sprechen würde. So ist z. B. bei einem rachi- 
tisch -diskordanten EZ-Paar der erkrankte Paarung bei der 
Geburt schwächlicher und leichter gewesen als seine Schwester 
und behielt diese Unterlegenheit — er erkrankte dann erheblich 
schwerer i Die Unterlegenheit, gelegentlich sogarausgesprochene 
Minderwertigkeit eines Paarlings von EZ bei der Geburt kann 
ja nur durch umweltliche Einflüsse (Lage, Ernährung) vor der 
Geburt verursacht sein — ■ sie ist ein Zeichen ungünstigerer 
„Konstitution", die zeitlebens bestehen bleiben kann. (Viele 
Fälle von nur ungleichem Geburtsgewicht gleichen sich aber 
aus; hier war der Einfluß nicht to tiefgehend, er betraf nur das 
vorgeburtliche Endwachstum.) — Lehmann führt weitere Be- 
obachtungen zu derartigen Konstitutionsschädigungen an, er 
schreibt: „Nach Untersuchungen von S traßmann (zit. nach 
Dichl und v. Verschuer) stirbt der eine Fetus dreimal so 
häufig bei EZ ab als bei ZZ. Die Mortalität bei und kurz nach 
der Geburt ist nach O rel (zit. nach Diehl und v. Verschuer) 
bei EZ größer als bei ZZ. Besonders interessant sind Unter- 
suchungen, die Schatz (zit. nach Diel und v. Verschue r) 
an Zwillingen gemacht hat. Die durchschnittlichen Entwick- 
lungsdifferenzen sind um die Mitte der Schwangerschaft für 

Körperlänge und Gewicht bei EZ größer als bei ZZ 

Schatz konnte dadurch nachweisen, daß die gegenseitige Be- 
einflussung während der intrauterinen Entwicklung bei EZ 

größer ist als bei ZZ Diese Beispiele mögen genügen, 

um zu zeigen, daß durch Einflüsse im vorgeburtlichen Leben 
Schädigungen bei dem einen der Paarlinge auftreten können." 
Ich glaube, diese darf und muß man im wahren Sinne des 
Wortes konstitutionell nennen. Gerade weil sie den sieh ent- 
wickelnden unfertigen Organismus treffen, schädigen sie ihn 
für immer, und solche Dauerä n d e r u n g seines Zustandes 
und damit seiner Reaktionsart nennen wir konstitutionell. Der 
Erwachsene wird durch Ernährungsverhältnisse höchstens vor- 

! j Lehmann, W. Rachitis bei Zwillingen. Zeitschrift für Kinder- 
heilkunde. 1935. 



220 EUGEN EISCI/ER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



übergehend, geschädigt, er gleicht sie leicht wieder aus. Dage- 
gen dürfte gegenüber schwereren Einwirkungen der junge 
Säugling noch empfindlich und auf Dauer beeinflußbar sein. 
Lehmann beschreibt ein anderes EZ-Paar, wo der eine Paar- 
ung als junger Säugling unter besonders günstigen Verhält- 
nissen lebte und dann — wieder mit seinem Bruder in den 
ungünstigen Verhältnissen vereinigt — nur eine ganz leichte 
rachitische Erkrankung durchmachte gegenüber der schweren 
jenes Bruders. 

Weiter sei betont: Man darf vielleicht bei den für die 
Dauer geänderten, also konstitutionell so oder so gewordenen 
Dingen an ganze Keimblätter, etwa auch das Gesamtmesen- 
chym, das Nervensystem usw. denken, vielleicht ebenso an Be- 
einflussung inkretorischer Drüsen und damit konstitutionelle 
Festlegung von Wachstum, allgemeiner Entwicklung und dgl. 
Und unter den peristatischen Faktoren, die auf den Embryo 
wirken, denke ich in erster Linie an hormonale Wirkungen 
von den Drüsen der Mutter her und andere chemische und 
nutritive Einflüsse von ihr. Bei diesen Einflüssen, am leichte- 
sten etwa bei Hyperfunktionen solcher Drüsen, die schon auf 
die Mutter selbst entsprechend wirken, kann man sich „konsti- 
tutionelles" Ähnlichwerden von Kind und Mutter vorstellen, 
das dann fälschlicherweise als erbliche Ähnlichkeit aufgefaßt 
wird. Das ist der Hauptgrund, warum ich hier diese ganze Er- 
örterung doch für nötig hielt. 

Vererbung der Konstitution als solcher ist also ihrer 
Natur nach ausgeschlossen. Ich glaube, es hat auch noch nie- 
mand einen Beweis dafür bringen können, muß allerdings zu- 
geben, es liegt überhaupt kein ernsthafter Versuch vor. Die 
paar Fälle der Ähnlichkeit äußerer Konstitutionstypen bei 
Eltern und Kindern oder Geschwistern halten ernsthafter Kri- 
tik nicht stand, obige „Erklärung" ist für sie immer gegeben. 
Aber damit ist nicht gesagt, daß Erbe und damit auch Rasse 
und Konstitution gar nichts miteinander zu tun haben. Ebenso- 
wenig wie man Erbe und Konstitution für das gleiche halten 
kann, so daß die Konstitution in ihrer Gesamtheit erblich wäre, 
ebensowenig kann man sie voneinander trennen. Das konstitu- 
tionelle Ergebnis der Entwicklung hängt eben auch bei gleicher 
Peristase von der erblichen, d. i. aber auch rassenmäßigen Be- 
schaffenheit des betreffenden Individuums ab. Wenn bestimmte 
Gene verschiedener Individuen sehr verschieden leicht oder 
sclnver „reagieren" (empfindlich sind), oder wenn gewisse Gene 



KONSTITUTION 



221 



etwa fehlen, werden bei gleicher Peristasewirkung konstitutio- 
nell sehr verschiedene Individuen entstehen. Es liegt nun 
nahe, daran zu denken, daß bestimmte Rassen, bei uns etwa 
nordische, alpine usw., derartige Verschiedenheiten in ihren 
Gensätzen haben. Dann wird dieselbe peristatischc Bedingung 
auf jede dieser Rassen mit einem anderen Endeffekt abschlie- 
ßen. Wir würden dann feststellen, daß zwischen Konstitution 
und Rasse eine bestimmte Beziehung besteht. Wenn eine 
äußere Manifestation der Gesamtkonstitution (nur eine 
solche!) durch einen gewissen Körperbautypus, Konstitutions- 
typus genannt, ausgedrückt ist, erscheinen uns auf diesem 
Wege Zusammenhänge zwischen Rasse und Konstitutionstypus. 
In der Tat glauben viele Autoren, diese nachgewiesen zu haben. 
Man sagt, der leptosome, schmale, dünne, früher häufiger als 
asthenisch bezeichnete Körpertyp gehöre zur nordischen, der 
pyknische zur alpinen und der athletische zur dinarischen Rasse. 
Man sagt es häufig so, daß man dabei eine rein erbliche Un- 
terlage des KÖrperbautypus annimmt, also, wenn auch unaus- 
gesprochen, bestimmte Gene für die schmale Thoraxform, die 
dünnen Glieder, den langen Hals usw., Gene, die zum selben 
Bestand gehörten wie solche für die schmale nordische Nase,, 
den nordischen Schädel, die hellen Farben usw. Ich glaube 
nicht, daß die Verhältnisse so liegen, sondern möchte Zusam- 
menhänge, die wohl wirklich vorliegen, so auffassen wie oben 
ausgeführt 1 ). Daß in bestimmten Rassen gewisse psychische 
und psychopathische Erbanlagen verschieden häufig sind, kann 
man natürlich nicht bezweifeln. Dies könnte, wie gleich gezeigt 
wird, dann mit den entsprechenden Pläufigkeiten je eines Kör- 
perbautypus zusammenhängen. 

Bekanntlich hat Kretschmer die Aufstellung seiner 
Körperbautypen zuerst für Geisteskranke vorgenommen. Es war 
ein Schaden für die ganze Konstitutionsforschung, daß man nicht 
von gesunden, normalen, sondern von krankhaften Typen aus- 
gegangen ist, wie Darre betont hat. An dem Zusammenhang 
von Körperbau und Charakter, wie ihn Kretschmer zeichnet, 
kann man nicht zweifeln. Erklärlich ist er wohl nur so, daß man 
annimmt, dieselben, erblich bestimmt geformten und reagieren- 
den endokrinen D rüsen wirken unter bestimmter Peristase, die sie 
konstitutionell beeinflußt, m typischer Art auf den Körperbau und 
zugleich auf bestimmte Dinge des Zentralnervensystems ein. 
So entstünde die feste korrelative Verbindung eines bestimmten 

1 ) Ich hatte früher einen ablehnenden Standpunkt, gebe ihn aber auf. 



222 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Körperbaues mit bestimmtem Charakter. Auch sekundäre typi- 
sche Beeinflussungen des einen durch den anderen, nachdem 
erblich und konstitutionell zuerst nur der eine sein Gepräge 
bekommen hat, wären denkbar. Dieser Modus erklärte etwas 
die Erscheinung, daß der Körpertypus erst mit den Jahren 
„typisch" wird, während man die betreffende psychische Veran- 
lagung schon früher feststellt. 

Wie sich dann im einzelnen die „psychischen Konstitutio- 
nen' ' oder sagen wir die psychischen Anlagen zu. den „Rassen' ' — 
in Europa — verhalten, wird in Abschnitt 5 dargestellt' (Lenz). 

Es sei aber hier noch erwähnt, daß man den unsrigen völlig 
vergleichbare Körperbautypen auch bei außereuropäischen 
Rassen findet. Schon vor langer Zeit hat Bäiz an den Japa- 
nern, auf entsprechende Unterschiede hingewiesen, W agen- 
seil 1 ) hat sie bei Chinesen beobachtet, es gibt noch viele An- 
gaben — aber der Hinweis genüge. 

Weil ich in meinem Versuch, den normalen Gensatz des 
Menschen darzustellen, Rechenschaft schuldig bin, ob ich mir 
besondere Gene vorstelle, die den konstitutionellen Körperbau- 
typus oder die Gesamtkonstitution einschließlich der geistigen 
im einzelnen bestimmen, mußte ich diese Darlegung meines 
Standpunktes geben. Ich bin mir ihrer hypothetischen Natur 
bewußt. 

Die einzelnen „Typen" zu schildern, etwa die Kretschmer- 
schen klassischen Darstellungen für den Pykniker, Leptoso- 
men usw. zu wiederholen, gehört nicht mehr zur „Erblehre". 
Soweit sie für die Erbpathologie Bedeutung haben, werden 
die Fragen, wie gesagt, in den folgenden Abschnitten bespro- 
chen (Lenz). 

Das Schrifttum dieses Gebietes ist ungeheuer; ich glaube, 
ich kann darauf verzichten, eine Übersicht zu geben über die 
zahlreichen Arbeiten, die sich mit dem Begriff der Konsti- 
tution oder mit der Frage „Konstitution und Rasse" befassen, 
aber ebensowenig möchte ich das Schrifttum über Konstitu- 
tionstypen, Körperbau und Charakter, Konstitutions- und Ras- 
sentypen erörtern. 



Neben den sog. Konstitutions-Körperbautypen im engeren 
Sinne unterscheidet man noch andere — von anderem Stand- 



l ) Wagensei], Rassiale, soziale und körperbauliche Untersuchun- 
gen an Chinesen. Z. Morph. Anlhr. 32. 1933. 



LONST/TUTIONSTYPEN - ASYMMETRIEN 



223 



punkt aus und mit anderem Ziel — grundsätzlich lassen, sich 
keine Grenzen setzen. Es sind die Sporttypen. Auch über diese 
kann hier nur eine ganz kurze Bemerkung folgen 1 ). 

Man kann unter sportlich durchgearbeiteten Körpern deut- 
liche Körperbauunterschiede je nach der Art des eingehend 
ausgeübten Sportes finden. Langstrecken- und Kurzstrecken- 
läufer sind deutlich verschieden, ein Schwerathlet ist anders 
als ein Springer, ein Schwimmer hat seinen besonderen „Typ" 
und so weiter, Einzelheiten zu beschreiben, gehört nicht hierher, 
es sei auf das Fach Schrifttum' verwiesen,. Erblich sind diese Sport- 
Korperbautypcn als solchenicht.WieobenfS.214) erwähntwurde, 
dürfte die Sache so liegen, daß bestimmte erbliche Anlagen 
vorhanden sind, die die eigentliche und erste Prägung des 
betreffenden Körpers bedingen. Er ist damit z. B. für „Laufen" 
oder gegen ,, Schwergewicht stemmen" vorausbestimmt. Dann 
wird aber die Ausübung, besonders die energische und dau- 
ernde Ausübung der diesem Körper „liegenden" Tätigkeit 
den Körperbau noch viel mehr nach der betreffenden Richtung 
ausbilden, ihn zum vollendeten Typus des betreffenden Sportes 
machen. So wirken auch hier Erbe und Umwelt untrennbar 
miteinander-). 

Über einzelne Erbfaktoren oder Erbgänge wissen wir 
nichts. Wie weit die betreffenden verschiedenen Erbanlagen 
bei den verschiedenen Rassen etwa verschieden häufig vorkom- 
men und wie sie sich zu deren übrigem Gensatz verhalten, wis- 
sen wir nicht. Untersuchungen wären hier sehr erwünscht — 
aber auch sehr schwierig. 



Asymmetrien. 

Man kann bekanntlich an dem sonst in spiegelbildlicher Ähnlichkeit, 
also ans zwei Hälften streng symmetrisch aufgebauten menschlichen Körper 
zweierlei Asymmetrien unterscheiden. Erstens gibt es Organe, die nicht 
doppelt sondern einfach vorhanden sind und dabei nicht spiegelbildlich 
zweihälflig gebaut sind, so Magen, Darm, Leber, Bauchspeicheldrüse, 
Herz u. a. Sie liegen auch nicht in der Mittclcbcne. Ihre Anordnung- und 
Form bedingen unmittelbar und mittelbar Asymmetrien der von ihnen ab- 
hängigen Gebilde, wie Gefäße und Nerven oder benachbarter Gebilde, wie 
etwa des Bauchfelles usw. 



J i Jaensch, YV. Leibesübungen und Korperkonslitulion. (Just. 
Schriften zur Erblchre und Rasscnhygienc.) Berlin 1935. (Lit.) 

-) Es sei verwiesen auf jaensch W. Körperform, Wesensart und 
Rasse. Leipzig 1 934, 



224 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERB ANLÄGEN. 

Alle diese Asymmetrien entstehen im sog. „normalen" 
Geschehen der Fruchtentwicklung. Wir dürfen also das Wir- 
ken von Erbfaktoren irgend welcher Art für diese Asymmetrien 
annehmen. Ein Fehler an diesen Faktoren oder eine peristati- 
sche Störung ihrer Wirkung kann diese Organ-Asymmetrien 
abändern. Es entsteht dann ganzer oder teilweiser sog. Situs 
inversus, spiegelbildliche Verlagerung des normalen Befundes. 

Allen diesen Bildungen steht nun aber zweitens noch eine große Menge 
anderer Asymmetrien gegenüber, die an paarigen Organen und Körperteilen 
oder an den beiden spiegelbildlichen Hälften unpaarer solcher Gebilde 
bestehen, und zwar in individuell sehr ungleichem Wechsel von Stärke und 
Körperseite. 

Hierher gehören Ungleichheit der rechten und linken Gliedmaßen nach 
Größe und Gewicht, ungleiche Rechts- und Linksbiegung der Wirbelsäule, 
ungleiche Größe und Wölbung der r. und 1. Gesichtshälften, Mund- und 
Nasenhälften, ungleiche Ausbildung oder ungleicher Stand der r. und 1. 
Augbraue, der Kopfhaargrenzen, Brüste, Hoden, ungleiches Verhalten aller, 
im allgemeinen als „Varietäten" bezeichneter, Einzelheiten an Knochen, Mus- 
keln, Nerven, Gefäßen usw., Ungleichheit der Hautleislcn und -furchen, 
der Kopfhaarwirbel, des Haarstriches und endlich Ungleichheit im Ge- 
brauch von r. und 1. Hand, r. und 1. Fuß oder der Gesichtsmuskeln, der 
Augen und anderes mehr. 

Nach unserem heutigen Wissen sind diese letzteren Asym- 
metrien ohne erbliche Unterlage, also rein umweltbedingt, wo- 
bei die bewirkenden Verhältnisse ganz vorwiegend schon bei 
der embryonalen Entwicklung gegeben sind. Lenz spricht von 
„entwicklungslabilen" Eigenschaften (s. die Ausführungen über 
Polydactylie). Auf pathologischem Gebiet scheint es auch eine 
Vererbung gewisser Asymmetrien zu geben (s. Heterochromie). 

Sowohl Zwillingsuntcrsuchungen (Dahlberg, Siemens, 
besonders v. Verschuer) wie Familienuntersuchungen haben 
deutlich gezeigt, daß keine erblichen Unterlagen für die ein- 
zelnen Asymmetrien bestehen. (Zuletzt gaben Bouterwek 1 ), 
Busse 2 ) für Gesichts- und Körperbauasymmetrien, Nehse 3 ) 
für solche der Kopfbehaarung erneute Belege und Zusammen- 
fassungen der früheren Ergebnisse.) 

Zum eigentlichen Gebiet der Erbforschung gehört daher die Untersu- 
chung dieser Asymmetrien zunächst nicht. Aber gerade die Zwillingsfor- 
schung hat sehr eigenartige und fesselnde Fragen dabei aufgeworfen. Bei 
Zwillingen sind bestimmte Asymmetrieverhältnisse gehäuft gegenüber Ein- 
lingen (z. B. nach Nehse, gewisse Haarwirbel), in gewissen Dingen sind 



i) Bouterwek. Asymmetrien und Polarität bei erbgleichen Zwil- 
lingen. Arch. Rass. Ges. Biol. Bd. 28. 1934. 

s ) Busse, H. Über normale Asymmetrien des Gesichtes und im Kör- 
perbau des Menschen. Z. Morph. Anthr. 35. 1936 (noch nicht erschienen). 

3) N eh sc. A. S. 164 a. O. 



ASYMMETRIEN - MUSKELVARIETÄTEN 



225 



EZ und ZZ nicht gleich (v. Verschuer 1 )), Dann gibt es die Erschei- 
nung, daß Zwillinge spiegelbildliche Gleichheit an asymmetrischen Bildun- 
gen aufweisen, was noch mehr an Doppelmißbildungcn auftritt. Und end- 
lich können EZ bestimmte Asymmetrien gleich haben; so können z. B. die 
gleichseitigen Hände zweier E Z im Leistenbild sich ähnlicher sein, als 
rechte und linke Hand desselben Paarlingsl (v. Verschuer 2 ), Meyer- 
Heydenhagen, s.S. 153). Eine Erkenntnis aller dieser umweit ab hängi- 
gen Besonderheiten würde uns mittelbar auch wichtige Einblicke in erbliche 
Unterlagen der betreffenden Gesamtanlagen gewähren. 



h) Erbanlagen für Muskulatur, sogen, innere Organe, 
Nervensystem, Sinnesorgane 

Es liegt wohl an der Schwierigkeit der Untersuchung, daß 
wir über alle nicht am lebenden Menschen feststellbaren Unter- 
schiede von Erbanlagen noch fast nichts wissen. Em deutlicher 
Beweis, daß auch im Bereich der oben genannten Organsysteme 
erbliche Unterschiede vorhanden sind, zeigen die Ergebnisse 
von Zwillingsuntersuchungen und von statistischen Erhebungen 
an Rassen. Für einen folgerichtigen Ausbau der letzteren tritt 
immer wieder und mit größtem Nachdruck Loth 3 ) ein, dem 
wir auch eine Menge grundlegender, eigener Ergebnisse auf 
diesem Gebiet verdanken. 

Untersuchungen der Muskulatur an der Leiche haben ge- 
zeigt, daß bestimmte Ausbildungen und Anordnungen von 
Muskeln, sog. Varietäten, bei den einzelnen Rassen außeror- 
dentlich verschieden sind, vor allem bezüglich der Häufigkeit 
ihres Auftretens. Dabei bilden vielfach Japaner, Chinesen, Ko- 
reaner eine Gruppe, Neger eine solche und Europäer eine. Be- 
sonders häufig zeigen sich ziffernmäßige Unterschiede in dieser 
Reihenfolge. (Loth 3 ), Wagenseil 4 ) u. a.) Das spricht na- 
türlich dafür, daß irgendwelche Erbanlagen, die bei den ein- 
zelnen Rassen verschieden oder verschieden häufig sein müssen, 
im Spiele sind, die sich aber nicht unmittelbar auf den einzelnen 
variierenden Muskel zu beziehen brauchen, wie unsere Unter- 

*) v. Verschuer. Zur Frage der Asymmetrie des menschlichen Kör- 
pers. Z. Morph. Anthr. 27. 1930. 

Derselbe. Die biologischen Grundlagen der menschlichen Mchrlings- 
forschung. Z. induet. Abst. Vor. 61. 1932. 

s } Ders. Zur Erbbiologie der Eingerleisten usw. Ber. v. d. 10. Jahres- 
vers, d. Deutsch. Ges. f. Vererbungswiss. zu Gottingen. 1933. 

s ) L o t h. Anthropologie des parties molles. Warschau-Paris 1931 (L. I). 

4 ) Wagenseil. Muskclbefunde bei Chinesen. Verh. Ges. phys. Anthr. 
1927. (Eine größere Arbeit wird in Z. Morph. Anthr. erscheinen.) 



Baur-Fisclier-i,eaz, I. 



15 



226 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



suchungen an der Wirbelsäule klargemacht haben. Man hat 
auch bei einzelnen Muskeln, eieren Form sich am Leben- 
den erkennen läßt, familienweise Untersuchungen angestellt. 
So fanden beispielsweise Thompson, M c B a 1 1 s und D an- 
forth 1 ) das Fehlen des Muse, palmaris longus bei Eltern und 
deren Kindern gehäuft. Zebrowski 2: ) bringt den Hinweis 
— mehr erlaubt das kleine Material noch nicht — daß das 
Fehlen des Muse, palmaris longus familienweise (dominant?) 
vorkomme, und Posmykiewicz 3 ) macht es wahrscheinlich, 
daß der Muse, peroneus anterior bei Juden etwas häufiger fehlt 
als bei Polen. Für Wangen- und Kinngrübchen, die zum Teil 
von bestimmten Muskelanordnungen abhängen, läßt sich durch 
Zwilling suntersuchung nur sehr teilweise Erblichkeit, d. h. 
also auch starke Umwelt-Beeinflussung, feststellen (v. Ver- 
schuer, Meirow sky). Das macht es erklärlich, daß die 
Versuche, einen Erbgang festzustellen, fehlschlugen. (Br. Rich- 
ter denkt an dominanten Erbgang, Scheidt an rezessiven.) 

Ähnlich wie für die Muskulatur liegen die Dinge für zahl- 
reiche andere Organe. Adachi 4 ) zeigt zahlreiche Unterschiede 
zwischen dem Gefäßsystem der Japaner und dem der Euro- 
päer. Es könnten zahlreiche Einzelarbeiten genannt werden, 
aber über eigentliche Vererbung wissen wir hier noch nichts. 

Auf entsprechende Unterschiede an den großen Zungen- 
papillen, den Gaumenleisten, den Kehlkopf ta sehen, dem Penis 
und anderen Organen sei nur hingewiesen. Interessant ist, daß 
Y o s h i o k a 5 ) an einem EZ-Paar fast völlige Gleichheit in der 
Ausbildung einer Hufeisenniere und sehr große Ähnlichkeit 
des Nieren- Venenverlaufes fand. 

Zwilling5Untcrsuchung zeigt, daß für die Herzgröße, Lage 
der Herzachse und Form des Herzens (Tropfenherz usw.) 
Erbanlagen bestehen müssen, da diese Dinge bei EZ in 32 
Fällen ganz gleich, in 17 teilweise gleich und in 6 verschieden 



L ) T h o m p s o 11 , Mc. ß a 1 1 s and Danf ortb, Heredity and Racial 
Variation in the Musculus palmaris longus. Am. Journ. Phys. Anthr. 4. 1921. 

2 ) Zcbrows fc i. Untersuchungen über den M. palmaris longus an 
Lebenden. (Poln. mit deutschem Auszug.) Fol. morphol. 5. Warschau 1934. 

3 ) Posmykiewicz. Recher ches du peronier ante>ieur sur les vi- 
vants. (Poln. mit franz. Auszug.) Ebenda. 

d ') Adachi. Das Arteriensystem der Japaner. 2 Bde. (fol.) Kyoto 1928. 

Ders. Das Venensystem der Japaner. Bd. I. 1. Kyoto 1933. 

B ) Y s h i o k a. Über die Hufeisenniere bei den beiden Foeten der ein- 
eiigen Zwillinge und Über die Varietäten der Nierenvenen bei 2 Zwillingen. 
Japan. Journ. of Urology. 24. 1935. 



ERBANLAGEN SOG. INNERER ORGANE 



227 



waren, bei ZZ aber nur in 5 Fällen gleich, in 25 Fällen teil- 
weise gleich und in 15 verschieden. Umweltfaktoren spielen 
also sicher auch eine Rolle dabei (v. Vers diu er und Zip* 
perlen 1 )). 

Ebenfalls Zwillingsvergleichungen danken wir die Kennt- 
nis von erblichen Unterlagen vieler Einzelheiten der Blutge- 
fäße. Mayer- Li st und Hübener 3 ) fanden bei der mikro- 
skopischen Untersuchung der Kapillaren am Nagelsaum bei 
27 EZ 221-nal Gleichheit der Anordnung, bei 23 ZZ da- 
gegen nur 3mal. Da der Bau (Typus) dieser Kapillaren offen- 
bar eigenartige Beziehungen zu konstitutionellen Dingen, viel- 
leicht zu krankhaften Zuständen, auch erblichen ( ?) hat — wie 
j aensch 3 ) am stärksten vertritt, wäre eine auf großer Unter- 
lage beruhende Untersuchung über die Erblichkeit der Kapil- 
larformen besonders wichtig — sie fehlt noch. Der Zustand 
der Hautgefäße, wie sie sich in Rötung der Wangen, in Bläue 
von Händen und Füßen oder Neigung dazu usw. äußern, ist bei 
90 EZ 7omal gleich, bei 15 weiteren mit ganz geringen Unter- 
schieden und nur bei 5 deutlich unterschiedlich. (Material 
des Dahlemer Instituts, v. Verschuer.) Siemens hat für 
die Wangenrötung früher schon dieselbe Erfahrung gesammelt. 

Außerordentlich viel Arbeit ist aufgewendet worden, um 
Rassenunterschiede an den Furchen und Windungen der Hirn- 
oberfläche nachzuweisen. Die individuelle Ausgestaltung ist 
hier so vielfältig, daß Rassenunterschiede nicht nachweisbar 
sind. Wohl aber bestehen solche im Gehirngewicht und in 
Struktur und Ausdehnung gewisser Rindenfelder (B r o d - 
mann 4 ), Vogt 5 ) u. a.). Über die erbliche Übertragung wis- 
sen wir indessen nichts. Da aber die Leistungen des Gehirns 
nachgewiesenermaßen stark verschieden und diese Verschie- 
denheiten sowohl zwischen Einzelindividuen wie zwischen Ras- 

1 ) v. Verschuer und Zipperlen. Die erb- und umweltbedingte 
Variabilität der Herzform. Zeitschi", für klin. Media. Bd. 112. 192g. 

E ) Mayer-List und Hübener. Die Capillarmi kr o skopie in ihrer 
Bedeutung zur Zwillingsforschung usw. Münch. m. W. 72. 1925. 

a ) J a e n s c h. Die Hautkapillarmikroskopie. Halle 1929. 

4 ) Brodmann. Vgl. Lokalisationslehre der Großhirnrinde usw. Leip- 
zig 1909. — Ders. Vorkommen der Affenspalte bei verschiedenen Menschen- 
rassen. Arch. Psych. 48. 1909. 

5 ) Vogt. Architektonik der menschlichen Hirnrinde. Allg. Z. f. Psych. 
86. 1927. 

Vogt, C. und O. Die vergleichend-architektonische und die verglci- 
chend-reizphysiologische Felderung der Großhirnrinde unter besonderer Be- 
rücksichtigung der menschlichen. Die Naturwiss. 14. 1935. 



228 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

sen als erblich erwiesen sind, müssen natürlich auch erbliche 
Strukturunterschiede am Gehirn bestehen. Karplus 1 ) glaubt, 
besonders große Ähnlichkeit im Typus der Hirnfurchen an 
Hirnen von Zwillingen, auch von Mutter und Kind und von 
Geschwistern, feststellen zu können. Zufallsähnlichkeiten dürfte 
bei der geringen Zahl der Fälle nicht ganz auszuschließen sein. 
Der einzig wirkliche Nachweis von Vererbung solcher Varie- 
täten ist von Frede für die Anordnung der Extremitätennerven 
bei der Ratte geführt (s. S. 185). 

An den Sinnesorganen kennen wir an den die eigentliche 
Sinnesfunktion ausübenden Teilen einstweilen keine einzelnen 
Erbfaktoren. Aber wir wissen, daß z. B. im Sehvermögen zwi- 
schen einzelnen Rassen Unterschiede sind ; wir kennen gewisse 
Unterschiede im feineren Bau der Fovea centralis der Netz- 
haut und können uns nicht vorstellen, daß hier nur Umwelt- 
wirkung vorliegen sollte. Für das Ohr kennen wir einiges von 
Vererbung auf dem Gebiet der Musikalität; erbliche Struktur- 
unterschiedc müssen zugrunde liegen. Mehr ist aber zur Zeit 
nicht zu sagen. 

■ Dagegen lassen sich erbliche Unterschiede an den Hilfs- 
organen der Sinneswerkzeuge, Augenlidern, Ohrmuscheln, äuße- 
rer Nase usw. in größerer Zahl aufzeigen. Es sei auf die vor- 
angehenden Abschnitte verwiesen. 

i) Erbanlagen für physiologische Vorgänge 

Auf physiologischem Gebiet ist erbbiologisch noch sehr 
wenig erarbeitet, mit Ausnahme des Gebietes der sog. Blut- 
gruppen. Auf den anderen Gebieten haben wir nur einzelne 
Stichproben. Dazu kommen einige Kenntnisse über das Vor- 
handensein von Erbfaktoren für gewisse normale physiolo- 
gische Vorgänge, die gegründet sind auf den Nachweis der 
Vererbung der krankhaften Störungen jener Vorgänge. Es sei 
auf die Ausführungen S. 113 hingedeutet. 



Geschlecht 

Daß sich beim Menschen genau wie bei allen Tieren das 
Geschlecht auf Grund von Erbfaktoren überträgt, ist bekannt. 
Der Mann ist wie bei allen Säugetieren heterogametisch. Das 



') Rarplus. Variabilität und Vererbung am Zentralnervensystem. 
Leipzig und Wien. 1907. 



GESCHLECHT - GESCHLECHTSREIFE 



229 



X-Chromosom ist beim Menschen im Zellkern von den anderen 
Chromosomen nicht zu unterscheiden. Nach Goldschmidt 1 ) 
liegt in den Geschlechtschromosomen ein Gen für Weiblich- 
keit: F. Das weibliche Geschlecht hat die Erbformel FF, das 
männliche hat nur ein F. Golds chmidt nimmt noch in 
einem gewöhnlichen Chromosom einen Männlichkeitsfaktor M 
an und stellt sich vor, daß die Entscheidung über das Ge- 
schlecht vom quantitativen Verhältnis von F und M abhänge. 
Ist der Einfluß von F, bei FF, größer, so entsteht weibliches 
Geschlecht, andernfalls männliches. Bei nicht deutlichem Über- 
wiegen entsteht ein „intersexuelles" Individuum (Zwitter). Die 
geschlechtsbestimmenden Faktoren bewirken dann die Ent- 
wicklung der zunächst neutral angelegten Keimdrüse zu einem 
Hoden oder Eierstock und erst diese bewirken innersekreto- 
risch die Ausbildung der inneren und äußeren Geschlechts- 
apparate nach der männlichen oder weiblichen Seite hin. 

Von den übrigen Genen im X-Chromosom kennen wir 
beim Menschen einige für gewisse Krankheiten, deren ge- 
schlechtsgebundene Vererbung festgestellt ist, s. Bluterkrankheit, 
Farbenblindheit u. a. Lenz führt die Erscheinung der sehr 
hohen Knabenziffer unter den Früh- und Totgeburten auf re- 
zessiv geschlechtsgebundene, krankhafte Erbanlagen zurück, 
die natürlich nur die männlichen Früchte treffen. Welche 
normalen Eigenschaften an das X-Chromosom gebunden sind, 
läßt sich im allgemeinen nicht entscheiden; wir dürfen solche 
für Haar- und Augenfarbe annehmen (s.S. 132) und für manche 
geistigen Anlagen (s. diese). 



Geschlechtsreife und Fruchtbarkeit 

Nach den Erfahrungen am Tier darf man auch beim 
Menschen für Frühreife und Spätreife, sowie für Fruchtbar- 
keit und Unfruchtbarkeit Abhängigkeit von Erbfaktoren an- 
nehmen. Sehr starke Umwelteinflüsse auf jene Erscheinungen 
machen aber den Nachweis sehr schwierig, zum Teil unmög- 
lich. Mit den vielfachen Angaben, daß Geschlechtsreife und 
Altern bei dieser oder jener Bevölkerung durchschnittlich, in 
verschiedenen Lebensaltern eintrete, ist noch kein Nachweis 
der Erblichkeit der Erscheinung gegeben, wenn nicht auch alle 
Umwelt Verhältnisse, klimatische usw., geprüft sind. So zeigt 

1 ) G ol d s chmi d t. Die sexuellen Zwischenstufen. Berlin 1931. 



230 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Skerlj 1 ) eine Abhängigkeit des Menstruationseintrittes vom 
Klima, die erbliche Unterschiede im Durchschnitt verwischt. 
Auch andere wiesen schon auf solche Zusammenhänge hin, 
Müller 2 ) bei den Inderinnen, wo Umweltwirkung Eintritt 
und Erlöschen der Geschlechtstätigkeit hinausschieben soll. Da- 
gegen sprechen die Angaben von einer früheren Geschlechts- 
reife von Jüdinnen, im selben städtischen Leben wie die allge- 
meine Bevölkerung, für einen Rassen-, d. li. Erbunterschied. 
Angaben über fremde Rassen, Neger, Südsee usw., müssen wie- 
der mit dem Umweltfaktor rechnen. 

Aber innerhalb ein und derselben Bevölkerung gibt es 
Erblinien mit früherer und mit späterer Reife. Bolk 3 ) zeigt 
an genügend großem Material die auffällige Erscheinung, daß 
in Holland der Eintritt der Menstruation bei blonden Mädchen 
durchschnittlich mit 13 Jahren 5 Monaten 17 Tagen erfolgt, 
bei braunen mit 14 Jahren 4 Monaten 5 Tagen. Blonde müs- 
sen also häufiger einen Erbfaktor für Frühreife haben. Er fügt 
dazu, daß die Erscheinung nicht ursächlich mit der Pigment- 
büdung als solcher zusammenhängen könne, da holländische 
Jüdinnen, der Hauptsache nach dunkelhaarig, den Termin mit 
13 Jahren 3 Monaten 24 Tagen haben. Stein 4 ) hat am Ma- 
terial der Freiburger Frauenklinik keinen Unterschied zwischen 
Blonden und Dunklen gefunden. Dagegen liegt für das gesamte 
Freiburger Material die Menarche auf 15V2 Jahren, also 
erheblich später als in Holland. Allerdings hat die S t ein sehe 
Arbeit nur die Krankenblätter der Klinik zur Unterlage, wäh- 
rend B olk die Angaben mit außergewöhnlicher Vorsicht und Ge- 
nauigkeit erhoben hat. Trotzdem dürfte an einem realen Unter- 
schied nicht zu zweifeln sein. Auch persönliche Erfahrungen 
des Stadtschularztes Dr. Pauli in Karlsruhe i. B., die er mir 
liebenswürdigerweise mitteilte, bestätigen Stein. Dagegen gibt 
Skerlj an, daß blonde Jugoslawinnen 6 Monate später men- 
struieren als dunkle, das Material ist aber sehr klein. 

Bolk stellt weiter durch familienweise vorgenommene Er- 
hebungen bei 101 Müttern mit 153 Töchtern die Vererbung von 

x ) Skerlj. Menarche und Klima in Europa. Arch. f. Frauenkunde 
und Konstit. -Forsch. Bd. 13. 1932. Ders. Die Menarche in Norwegen usw. 
CR. Congr. intern. Anthr. Ethn. London 1934. 

2 ) Zeitschrift Rass. physioi. 7. 1935. 

3 ) Bol k. Untersuchungen über die Menarche bei der niederländischen 
Bevölkerung. Zeitschi-. Geb. Gyn. 79. 1917. 

4 ) Stein. Der Menstruationseintritt bei. Frauen der nordischen und 
alpinen Rasse. Med. Inaug. Diss. Freiburg 1926. 



GESCHLECHTSREIFE — ALTERN 



231 



Früh- oder Spätlage der Geschlechtsreife fest. Nicht das abso- 
lute Reifealter wird vererbt, sondern die Eigenschaft, innerhalb 
der gegebenen Umwelt relativ früh oder spät zu reifen. Mosz- 
kowski hat schon 191 1 einen ähnlichen Hinweis auf Vererbung 
der Menarche in weiblicher Linie gegeben. Bolk betont, daß 
die väterliche Erblinie dabei ohne Einfluß ist. Dieselben Unter- 
suchungen Bolks beleuchten aber auch noch gewisse nicht- 
erbliche Einflüsse. Die heutigen Holländerinnen menstruieren 
durchschnittlich um i 1 / 2 Jahre früher als die Mädchen der ein 
oder zwei vorhergehenden Generationen. Diese Angabe wird 
am Freiburger Material bestätigt, Badenerinnen, die nach 1900 
geboren sind, menstruieren nach der Freiburger Statistik rund 
ein Jahr früher als vor 1880 geborene. Und A. Schreiner 
berichtet eine ähnliche Vorverlegung für Norwegerinnen. Mit 
welchen Verhältnissen unserer gesamten Lebensführung das 
zusammenhängt, läßt sich nicht sagen. Aber es sei auf die Zu- 
nahme der Körpergröße der Männer hingewiesen, die etwa in 
denselben Zeitraum fiel. 

Wie weit bis ins einzelne Erbanlagen die Menarche regeln, 
zeigt die schone Untersuchung Petris 1 ) an Zwillings- und 
anderen Schwestern. 

Mittlere Unterschiede im Eintritt der 1. Menses, in Monaten: 

(Nach Petri.) 

iiate 



51 EZ 


2,8 Mor 


47 ZZ 


12,0 


Schwestern 


13 — 14 


Mütter und Töchter 


18,4 , 


Gesamtbevölkerung 


18,6 , 



Die Tabelle erweist, wie wenig weit der Menstruationsbe- 
ginn bei EZ auseinanderliegt, und wie weit bei ZZ ; bei diesen 
ist der durchschnittliche Unterschied viermal, bei Mädchen aus 
der Gesamtbevölkerung sechsmal so groß wie bciEZ. Daß der 
Unterschied zwischen Müttern und Töchtern verhältnismäßig 
groß ist, mag in der vorhin erwähnten Verschiebung liegen. 

Altern und Lebensdauer 

Für frühes oder spätes Altern und seine bezeichnenden 

Erscheinungen wird allgemein Vererbung angenommen. Man 

beobachtet frühes oder spätes Ergrauen, langes „Jungbleiben" 

usw. deutlich familienweise. Auch alle auf pathologisches Ge- 

1 ) Petri. Untersuchungen zur Erbbedingtheit der Menarche. Ztschr. 
Morph. Anthr. 33. 



232 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

biet führenden Alterserscheinungen, Arteriosklerose usw. gel- 
ten als erblich. Aber eine Abgrenzung nach einzelnen Faktoren 
ist bisher nicht versucht worden. Die Auswirkung aller jener 
Dinge zeigt sich in der physiologischen Lebensdauer. Pearl 
und seine Schule haben in zahlreichen Arbeiten die Frage 
nach der Erblichkeit der Lebensdauer in sehr schönen genealo- 
gischen und statistischen Untersuchungen durchgeführt. Die 
Verfolgung der Korrelation der Lebensdauer von Eltern und 
Kindern (übrigens auch' als Parallele : Zuchtexperimente an 
Drosophila) haben gezeigt, daß es sozusagen Gene „Lebens- 
dauer" geben muß, selbstverständlich nur mittelbare, d.h. für 
alle möglichen physiologischen Vorgänge. (Widerstandsfähig- 
keit, Langsamkeit des Abbaues in den Organen usw.) Beson- 
ders für die hohen Alter besteht deutliche Erbabhängigkeit. 
In einer neuesten kleinen Zusammenstellung darüber zeigt 
Pearl 1 ), daß die Übersiebenzigjährigen zu 45,80/0 aus Ehen 
stammen, wo beide Teile ebenfalls über 70 wurden, zu 23,30/0 
aus solchen, wo ein Gatte über 70, der andere über 50 wurde. 
17,5 weiter aus Ehen, wo ein Gatte über 70 und der andere 
unter 50 wurde. Dagegen kamen nur noch 5,80/0 Siebziger und 
ältere aus Ehen, wo beide Gatten nur Alter zwischen 50 und 
70 Jahren erreichten, 4,9%, wo nur einer über 50 wurde und 
2,70/0, wo keiner die 50 überschritt. Kontrollserien zeigten, daß 
Zufall ausgeschlossen ist. Ein so erfahrener Forscher wie 
Pearl kommt zum Schluß, daß Vererbung eine der wichtig- 
sten, wenn nicht die beherrschende Unterlage ist für die 
Dauer des menschlichen Lebens. 

Verdauung, Atmung, Blutkreislauf usw. 

Wie obenS. 113 schon gezeigt wurde, ergeben sich aus dem 
Nachweis der Vererbung krankhafter Zustände und Vorgänge 
bindende Schlüsse auf die Vererbung und den Erbgang der 
entsprechenden physiologischen Dinge. Die ganze Erbpatho- 
logie beweist also auch eine Erbphysiologie. Hier kann es ge- 
nügen, wenn auf einige wenige Dinge als Beispiele hingewiesen 
wird. Es ist aber noch besonders zu erwähnen, daß außerdem 
auch für physiologische Vorgänge die Zwillingsforschung in 
vielen Fällen die Erbunterlage im einzelnen erwiesen hat. Man 
kann zeigen, daß das physiologische Verhalten von EZ oft bis 

*-) P e a r 1 , R. Constitulional factors in longcvity. Z. Morph. Anthr. 
Festband Fischer. 34. 1934. 



LEBENSDAUER — STOFFWECHSELVORGÄNGE 



233 



in feinste Einzelheiten im Gegensatz zu dem bei ZZ vollkom- 
mene oder sehr weitgehende Übereinstimmung zeigt. 

Verdauung : Die Abgabe des Magensaftes ist vonGlat- 
zel 1 ) an dem Zwülingsmaterial des Kaiser-Wilhelm-Instituts 
geprüft, Es zeigte sich, daß diejenigen Merkmale beim ge- 
sunden Menschen, „die Ausdruck der Höhe und des zeitlichen 
Verlaufs der Säureab Scheidung sind", zu erheblichem Teil erb- 
bedingt sind. Dagegen scheint die Menge des nicht in Salz- 
säure bestehenden Magensaftes (Schleim) sehr viel stärker um- 
weltbedingt zu sein. 

Der gesamte Stoffwechsel läßt genau dasselbe er- 
kennen. Für den Grundumsatz zeigten in meinem Institut Hil- 
singer (noch unveröffentlicht) und Werner 3 ) die größere 
Gleichheit von EZ gegenüber ZZ. Für den Wasserhaushalt hat 
Geyer 3 ) denselben Nachweis erbracht, er sagt: „Die Blut- 
verdünnungskurve nach Wassertrinken ist bei eineiigen Zwil- 
lingen doppelt so ähnlich als bei zweieiigen." Damit ist der 
Nachweis erbracht, daß die komplizierten Austauschvorgänge 
zwischen Blut und Gewebe von der Erbanlage entscheidend ab- 
hängig sind. Es zeigt sich somit auch am Wasserhaushalt, daß 
die Fu nie tions rieh tung des vegetativen Systems im Genotypus 
vorgezeichnet ist. Im Gegensatz zur Blutverdünnung zeigen 
Harnausscheidung, Harnverdünnung und Wasserstoffionen- 
konzentration bei EZ und ZZ nur geringe Unterschiede, sie 
scheinen stärker umweltbedingt zu sein. Gerade die Unterschiede 
im Verhalten der einzelnen Funktionen bezüglich größerer oder 
kleinerer Umweltbeeinflussung sind besonders interessant. Hier 
liegt noch ein großes Feld dringlicher wissenschaftlicher For- 
schung. 

Wennschon dieErblichkeit der Zuckerkrankheit (s.Absch. 4) 
bewies, daß der Zuckerhaushalt von Erbfaktoren abhängt, so 
konnte Werner 4 ) an Zwillingen zeigen, daß der Ablauf der Blut- 

2 ) Glatzel, FI. Die Erbanlage in ihrer Bedeutung für die normale 
Magenfunktion. 

2 ') Werner, M. Über den Anteil von Erbanlage und Umwelt beim 
Kohlehydratstoffwechsel auf Grund von Zwillings Untersuchungen. Zeitschr. 
für indukt. Abstaramungs- und Vererbungslehre. Bd. 67. S. 306. 1933. 

Derselbe. Blutzuckerregulation und Erbanlage, Belastungsversuche an 
40 Zwillingspaaren. Dtsch. Arch. f. klin. Mediz. 1935. 

3 ) Geyer, H. Der Trinkversuch bei eineiigen und zweieiigen Zwillin- 
gen. Klin. Woch. 1931. 

4 ) Werner. Zwillingsphysiologische Untersuchungen über den Grund- 
umsatz und die spezifisch-dynamische Eiweißwirkung. Ber. D. Ges. f. Ver- 
erb. 1935. 



234 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

zuckerkurven nach Belastung des Körpers mit Traubenzucker 
deutlich von Erbanlagen mitbestimmt ist. Die gesamte Regu- 
lation des Kohlehydratstoffwechsels ist also derart erblich be- 
stimmt. Seite 113 wurde gezeigt, daß ähnliche Vorgänge für den 
Eiweißumsatz anzunehmen sind. Erbliche Fettsucht (Ab seh. 3) 
und die Seite 113 erwähnten krankhaften Änderungen des Fett- 
stoffwechsels zeigen auch dessen Erbbedingtheit. 

Auf dem Gebiet der Atmung konnte Werner aber- 
mals an den Zwillingen des Kaiser-Wilhelm-instituts zeigen, 
daß die vitale Kapazität eine Erbunterlage hat. v. V e r - 
schucr 1 ) erwies, ebenso Curtius 2 ), daß die respiratorische 
Arythmic und damit der Tonus des Herzvagus genotypisch ab- 
hängig sind. Die Zirkulation von Blut und Lymphe zeigt 
ebenfalls bis in viele Einzelheiten hinein die erbliche Fest- 
legung. Es soll hier nur angedeutet werden, daß die Pulsfre- 
quenz nach den ZwÜlingsuntersuchmigen erbliche Regelung be- 
sitzt (Curtius 2 ), Stocks 3 ), v. Verschuer, Weitz 4 ), 
Zipperlen i5 ). Dasselbe gilt vom Blutdruck (dieselben), eben- 
so von der sog. Senkungsreaktion der Blutkörperchen (Cur- 
tius) und endlich vom Elektrokardiogramm (Gupter). Nae- 
geli zeigt erbliche Unterschiede an den Blutkörperchenfor- 
men, Glatzei G ) erbliche Bedingtheit des Hämoglobingehal- 
tes, der Zahl der Erythrozyten, neutrophiien Leukozyten und 
Monozyten. Dagegen scheinen Leukozyten und Basophile in 
ihrer Zahl nur umweltbedingt. Erbliche Unterschiede in den 
Formen der Erythrozyten hat man. .mehrfach gefunden. Am auf- 
fälligsten ist das Vorkommen elliptischer Erythrozyten, und 
zwar fast nur solcher bei einzelnen Individuen, mehrfach ge- 
häuft in einer Familie (s. G r z ego rze wski, Fol. haem. 50, 
1 933}- Die Erscheinung kommt bei Europäern der verschieden- 



2 ) v. Verschuer, O. Die vererbungsbiologische Zwillingsforschung. 
Ergeh, d. Inn. Med. und Kinderheilkunde. Bd. 31, 35. J927. 

Derselbe. Ergebnisse der Zwillingsforschung. Verhandl. d. Ges. £. phys. 
Anthropolog. Bd. VI. Seite 1 — 65. 193 1. 

H ) Curtius und Korkhaus. Klinische Zwillingsstudien. Zeitschr. 
f. Konstitutionslchrc. 15. 2. S. 22g. 1930. 

3 ) Stocks, P. A biometric investigation of twins and their brothers 
and sisters. Annais of eugenics. Bd. IV. Parts I und II. S. 49. 

4 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Ztschr. £. klin. Med. 
101. 115. 1924. 

E ) v. V c r s c h u e r , O. und Zip perlen, V. Die erb- und umweltbe- 
dingte Variabilität der Herzform. Ztschr. f. klin. Med. 112. 69. 1929. 

a ) G 1 a t z c 1. Der Anteil von Erbanlage und Umwelt an der Variabili- 
tät des normalen Blutes. Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 170. 140. 1 93 1 . 



STOFFWECHSELVORGÄNGE - BLUTGRUPPEN 



235 



sten Länder wie bei Negern (Ver. St.) vor — der betreffende 
Erbfaktor dürfte also mehrfach als Mutation entstanden sein 
(Hemmungsmißbildung ?). Gewisse erbliche Störungen der Zahl 
der Eosinophilen verraten Erbanlagen, die diese beherrschen 
(s. Lenz, Absch. 4). 

Die interessanteste Erscheinung aber ist die Vererbung ge- 
wisser chemischer Eigenschaften der Blutkörperchen und des 
Serums (s. u.). 

Noch sehr wenig wirkliches Wissen haben wir vom Rassegeruch. Es 
ist fast nie einwandfrei der bei einzelnen Rassen feststellbare, für andere 
Rassen besonders empfindliche Eigengeruch zu trennen von einem Geruch, 
der von der Eigenart der Ernährung, Körperbehandlung usw. abhängt. 
Immerhin scheint es doch echte, d. h. nicht umweltbedingte, Unterschiede 
im Geruch der Absonderung von Schweiß- und anderen Körperdrüsen zu 
geben, so je zwischen Negern, Mongolen, Europäern u. a. Diese dürften 
dann vererbt sein, aber wir haben keine Einzelkenntnisse. 



Sogenannte Blutgruppen 

Vielleicht das größte Aufsehen auf dem Gebiet der Ver- 
erbung beim Menschen überhaupt hat wohl der Nachweis von 
Vererbungsvorgängen gebracht, die sich in den sog. Blutgrup- 
pen äußern. Auf die Erforschung keiner Erscheinung ist so- 
viel Arbeit verwendet worden wie auf diese. Den ersten Nach- 
weis verdanken wir v. D ungern, dann hat dessen damaliger 
junger Mitarbeiter Hirschfeld das Hauptverdienst, die Frage 
im großen angegriffen und in Fluß gebracht zu haben. Die 
heute allgemein angenommene Lösung der Frage nach den 
Erbfaktoren und dem Erbgang hat Bernstein gegeben. 
Auch nur die hauptsächlichsten Forscher weiter zu nennen, ist 
hier der großen Zahl wegen unmöglich, es sei auf die Über- 
sicht in Steffans 1 ) Handbuch der Blutgruppenkundc ver- 
wiesen. Schiff 2 ) gibt eine vorzügliche „Technik der Blut- 
gruppenuntersuchung für Kliniker und Gerichtsärzte". Für Va- 
terschaftsuntersuchungen sei auch noch Koller 3 ) genannt. Die 
laufend erscheinende Zahl der Arbeiten über „Blutgruppen" 
ist ganz ungeheuer, Hesch 4 ) gibt regelmäßige sehr dankens- 
werte Zusammenstellungen, auf die verwiesen sei. 



') S t e f f a n. Handbuch der Blutgruppenkunde. München 1932. 

3 ) Schiff. Die Technik der Blulgruppenuntersuchung. Berlin 1932. 

3 ) Koller. Statistische Untersuchungen zur Theorie der Blutgruppen 
und zu ihrer Anwendung vor Gericht. Zeitschr. Rassenphys. Bd. 3. 1931. 

4 ) H e s c h. Deutsches Schrifttum über die Blutballung. (Jahr 1931.) 
Ztschr. Rassenphys. 6. 1933. 



236 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



Während Blutkörperchen in ihrem eigenen Serum „aufge- 
schwemmt", d. h. einzeln für sich bleiben, kann fremdes Serum 
Blutkörperchen zu klumpigen Massen zusammenballen. Diese 
Ballung, „Agglutination", tritt aber nicht zwischen Blut und 
Körperchen aller Menschen ein, sondern nur bei manchen. Es 
muß nach Landsteiner zwei verschiedene Blutkörperchen- 
eigenschaften oder baltbare Substanzen geben, sog. Isoagglutino- 
gene, die man mit A und B bezeichnet. Sie können einzeln 
oder beide gleichzeitig vorhanden sein oder fehlen. Diese Eigen- 
schaft bedeutet dann die betreffende sog. „Blutgruppe", die 
mit denselben Buchstaben bezeichnet wird. Es gibt darnach je 
eine Blutgruppe A, B, AB und O, bei welch letzterer jene bei- 
den Substanzen fehlen. Im Serum sind entsprechende Stoffe, 
die die Ballung machen. Ein Stoff a agglutiniert A, also die 
Gruppe A und AB, ein Stoff ß agglutiniert B, also B und AB. 
Gruppe O ist nicht agglu tinierbar. Das Serum eines Menschen 
kann nur die Agglutinine enthalten, die seine eigenen Blut- 
körperchen nicht ballen. Blutgruppe A kann also nur Agglu- 
tinin ß, Gruppe B nur Agglutinin a, Gruppe AB keines von 
beiden und Gruppe enthält alle beide. Die sog. Landsteiner- 
sche Regel besagt: „Es sind stets diejenigen Isoagglutinogene 
wirklich anwesend, welche neben den vorhandenen Isoagglu- 
tinogenen physiologisch bestehen können." Blutgruppe O muß 
im Serum a und ß enthalten. 

Wie erwähnt, gelang nun der Nachweis für die Vererbung 
der Blutgruppen. Bernstein hat festgestellt, daß es sich um 
multiple Allele handelt. Es war der erste Fall multipler Allelie 
für den Menschen. Die Genreihe enthält vier Allele : A^ A 2 , B 
und R (die Gruppe A wurde nach quantitativen Unterschieden 
der Ballung in A x und A 2 geteilt). Das Gen R ist rezessiv ge- 
gen die anderen. A 2 ist rezessiv gegen A ± . Infolge dieser Ver- 
hältnisse hat : 

die Blutgruppe A ± entweder den Genotypus A 1 A 1 oder 
A 1 A 2 oder A-^R (die letzteren beiden als Heterozygoten), 

die Blutgruppe A 2 entweder den Genotypus A 2 A 2 oder A 2 R, 

die Blutgruppe B entweder den Genotypus BB oder BR, 

die Blutgruppe O den Genotypus RR, 

die Blutgruppe AB den Genotypus A 1 B. 

Aus den Dominanz- unclRezessivitätsverhältnissen ergeben 
sich bei feststehender Blutgruppe zweier Eltern die Möglichkeiten 
der Blutgruppen ihrer Kinder, oder, praktisch häufiger verwen- 
det, bei gegebenen Blutgruppen von 'Mutter und Kind die mög- 



BLUT GRUPPEN 



237 



liehen und unmöglichen Blutgruppen des Vaters. Dadurch kann 
die Vaterschaft eines bestimmten Mannes ausgeschlossen oder 
zwischen zwei allein in Frage kommenden Männern unter Um- 
ständen entschieden werden. Die Durchführung solcher Prü- 
fungen kann hier natürlich nicht erörtert werden; es sei auf 
Schiff verwiesen. 

Während die Frage nach der Vererbung auf diese Weise 
glänzend gelöst zu sein scheint, sind alle anderen Fragen nach 
der Bedeutung der ganzen Erscheinung noch völlig dunkel. 
Wozu und wodurch sich beim Menschen die verschiedenen 
Agglutinine bzw. agglutinablen Substanzen ausgebildet haben, 
ist völlig unklar. Die Eigenschaften sind, soweit wir wissen, 
vollkommen umweltstabil. Wir kennen keinerlei Beeinflussung 
durch Geschlecht, Alter (von der frühen Säuglingszeit in ge- 
wisser Hinsicht abgesehen), Ernährungsverhältnisse, Krank- 
heiten oder sonstige Umstände. Es bestehen auch keine Kor- 
relationen zu anderen Eigenschaften. Zuletzt hat Geipel 1 ) 
den Versuch, Korrelation von Fingermustern mit Blutgruppen 
nachzuweisen, als irrig dargelegt. Auch alle früheren Versuche 
— Zusammenhänge mit Krankheiten, psychischen Zuständen 
usw. —gingen fehl. Besonders auf Grund dieser außergewöhn- 
lichen Unbeeinflußbarkeit des Erscheinungsbildes dieser Erb- 
anlagen, hat man immer wieder Versucht, sie auch rassenmäßig 
zu deuten, bzw. zu einer Rasseneinteilung zu benützen. Auch 
hier hat Hirszfeld einen ersten Versuch in dieser Rich- 
tung gemacht. Seitdem ist von zahlreichen Forschern versucht 
worden, Beziehungen zwischen der verschiedenen Häufigkeit 
der Blutgruppen in den verschiedenen Bevölkerungen der Erde 
in Zusammenhang zu bringen mit der Verteilung der anderen 
erblichen Eigenschaften, deren gruppenweise Verschiedenheit 
auf der Erde wir kennen. Die Ergebnisse sind etwa folgende : 
Die Häufigkeit der einzelnen Blutgruppen über die Erde 
hin ist außerordentlich verschieden; alle möglichen Kombina- 
tionen kommen in bestimmten Häufigkeiten auch tatsächlich 
vor. Die Verbreitung bestimmter Kombinationen ist teÜweise so, 
daß man über große geographische Gebiete hin ein Absinken 
derHäuf igkeit der einen undAnwachsen der anderen Blutgruppen 
verfolgen kann. Aber genauere Statistiken haben dann wieder 
derartig unregelmäßige Verteilungen gezeigt, daß einstweilen 
keine Hoffnung besteht, zwischen der Verteilung der Erbfak- 

J ) Geipel. Bestehen korrelative Beziehungen zwischen dem Fingcr- 
leislenmustcr und den Blutgruppen? Z. f. Rassenphys. 7. 1935. 



238 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

toren für Agglutinine und der Erbfaktoren für Haarform, Na- 
senform, Körpergröße und Pigmentverhältnisse u. a. eine Über- 
einstimmung zu finden. Und es ist nicht einzusehen, warum man 
den einen Erbfaktoren mehr Bedeutung für Rasse und Rassen- 
bildung zuerkennen will als den anderen. Aber es haben viele 
Forscher trotz aller Mißerfolge immer wieder großen Fleiß 
und ehrlichste Arbeitskraft daran gesetzt, das Rätsel zu lösen, 
und tun es weiterhin. 

Zur Vergleichung der statistisch erhobenen Häufigkeits- 
zahlen der einzelnen Blutgruppen, deren gegenseitiges Verhält- 
nis in jeder Bevölkerung ein bestimmt gegebenes sein muß, hat 
schon Hirszfelcl selbst versucht, einen sog. Index aufzu- 
stellen. Er nannte ihn „biochemischen Rassenindex". Dieser 
gibt das Mengenverhältnis der Menschen mit Blutgruppe A zu 
denen mit B an. Dieser Index gibt aber keine genaue Vergleich- 
barkeit des statistischen Materiales zur Erbfrage selbst, da aus 
ihm die Anzahl der eigentlichen Gene nicht erhellt. Bei Blut- 
gruppe O erkennt man auch die Anzahl der Gene, weil sie 
rezessiv sind. Aber z. B. bei Blutgruppe A kann der Genotypus 
ÄA oder AR sein. Wir werden also über die Zahl der vorhan- 
denen A-Gene allein durch die Angabe der Häufigkeit der 
Blutgruppe nicht unterrichtet. Bernstein hat die beste Me- 
thode angegeben, nach deren Formeln man aus der Häufig- 
keit der Gruppen die der Gene berechnen kann, und hat eine 
bequeme Tabelle dafür vorgelegt (s. Schiff). Man bezeich- 
net die Häufigkeiten der Gene R, Ä und B mit r, p und q. 
Diese Werte zusammen müssen dann immer i bzw. 100 sein. 
Ihr gegenseitiges Verhältnis in bestimmter Berechnung wird 
bezeichnet als „blutartlicher" und „bluttypischer" Gen-Index. 
Steffans Handbuch gibt von all diesen Indices Tabellen über 
die gesamten Erhebungen nach dem Stand von Ende 1929, 
eine gute Übersicht. Aus den zahlreichen Versuchen, eine 
wirkliche Rassenverteilung klar zu legen, sei abermals auf 
das Handbuch hingewiesen; den letzten Versuch unternimmt 
Hesch 1 ). 

Er hält ihn für beweisend für eine richtige Rassenverteilung, 
ich bin vom Gegenteil überzeugt. Die wichtigsten Tatsachen 
sind folgende. Von Nordwest-Europa nach Osten und Südosten 
nimmt die Häufigkeit von A ab (also wird p kleiner). Rußland 
hat z. B. schon geringere Werte als Vorderasien. Aber Austra- 

l ) Hesch. Die ra ss enge schichtl ich e Bedeutung der Blutgruppenver- 
teilung. CR. Congr. intern. Anthr. Eth. 1934. 



BLUTGRUPPEN - VERTEILUNG 



239 



lien, Polynesien, Ainu und Japan haben ebenso hohe Werte wie 
Nordeuropa. Auch in Nord-Afrika sind hohe A-Werte, ebenso 
auf den Philippinen' und bei Buschmännern. Diese beiden haben 
gleichzeitig niedrige B-Werte. Hohe B-Werte haben viele Ost- 
asiaten außer Japanern. Australien ist annähernd B-frei. Berber 
und Araber sind B-ärmer als Neger, Ägypter wieder sehr 
B -reich. Das Gen R ist in Australien und Süd-Afrika am häu- 
figsten, ähnlich bei den Indianern. Darnach heute schon von 
Strömungen und Wanderungen zu sprechen, ist verfrüht, wir 
haben keinerlei befriedigende Lösung sondern nur Fragen. 

Nirgends lassen sich bisher wirklich feste Beziehungen der 
Blutgruppengene zu den anderen Rassengenen finden — und 
diese sind eben auch beweisbare Erbanlagen; es bedeutet Über- 
schätzung unserer Kenntnisse von den Blutgruppen (wie vor 
Jahren schon Scheidt ausführte), ihretwegen die anderen Erb- 
faktoren für die Lösung der Fragen von der Verteilung und 
Herkunft der Rassen mehr oder weniger zu vernachlässigen 
oder grundsätzlich bei Seite zu lassen. 

Das ist auch die Meinung vieler Forscher — zuletzt z.B. von 
Suk 1 ) —während andere immer wieder versuchen, die verwik- 
kelten Beziehungen aufzudecken, die ja letzten Endes bestehen 
müssen! So glaubt Bijlmer 2 ) aus dem hohen Verbreitungs- 
grad des B-Blutes in Zentralasien auf dessen dortige Entste- 
hung schließen zu können. Wellisch 3 ) weist wiederholt auf die 
Blutgruppen von isolierteren Rassenresten (Australier, Wedda 
usw.) hin — Routil 4 ) nimmt einen vorsichtigeren Standpunkt 
ein — , wie gesagt, wir stehen noch unsicher vor dem Problem. 
Das noch dauernd wachsende Schrifttum ist bei Hesch (a. 
a. O.) nachzusehen, auf die SpezialZeitschrift für Rassenphysio- 
logie sei besonders hingewiesen. 

Um wenigstens einen flüchtigen Hinweis auf die Vertei- 
lung oder besser die Ranggröße der Unterschiede zu geben, 
sei mit folgenden Zahlen der Hundertsatz der Blutgruppen in 
der deutschen Bevölkerung und bei Negern angegeben: 

L ) Suk. Anthropological aspects of blood grouping. C. R. Congr. 
intern. Anthr. Ethn. London 1934. 

3 ) B 1 j .1 m c r. The relation of blood groups to race and some perso- 
nal enquieries in the south-west Pacific. Ebenda. 

3 ) Wellisch. (Zahlreiche Arbeiten.) Ztschr. f. Rassenphys. 7. 1935 
(und frühere). 

*) Routil. Die Bedeutung der Blutgruppenkombination vonO-A-B-AB 
und M-N N-N für Phylogenie. Erblehre und Rassenkunde des Menschen. 
Mitt. Anthr. Ges. Wien. 65. 1935. 



EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



S — 12 O 28—38 



In Deutschland: 

AB 3-5 A' 44-54 B 

Bei Negern: 

AB 3—6 A 20—27 B 20—26 O 41—51 
Das starke Durcheinander gegenüber der Abgegrenztheit 
mancher Rassen in anderen Merkmalen dürfte z. T. tatsäch- 
lich das Ergebnis von Zumischung fremder Bestandteile zu 
diesen Rassen sein. Da kann uns vielleicht künftig doch noch 
Aufschluß werden. Aber die Möglichkeit ist nicht zu über- 
sehen, daß einerseits die Mutationen von AB, die zu den Un- 
terschieden geführt haben, mehr als einmal in der Menschheit 
entstanden sind. Dann lehrt uns die heutige Verteilung nichts. 
Und andererseits darf man nicht vergessen, daß die Häufig- 
keit der einzelnen Gene in einer Bevölkerung ganz gewaltig von 
Zufällen abhängen kann, nämlich davon, daß bei der Entste- 
hung einer sehr vielköpfigen Bevölkerung von verhältnismäßig 
geringer Ausgangszahl (bei Wanderungen und dgl.) zufällig 
die Zahl der Träger des einen oder anderen 'Gens sehr ungleich 
groß und die Träger sehr ungleich fruchtbar waren. 



Die Blutgruppen bei Affen 

Es ist ganz besonders interessant und für die Frage, ob 
man auf Grund der verschiedenen Blutgruppenhäufigkeit in 
menschlichen Gruppen wirklich Rassenunterschiede annehmen 
darf, von ausschlaggebender Bedeutung, daß sich bei den Men- 
schenaffen Schimpanse, Gorilla und O rang die vier menschlichen 
Blutgruppen ebenfalls feststellen lassen. Leider sind erst ganz 
kleine Untersuchungsreihen vorhanden. Nach der letzten An- 
gabe von Weine rt besitzt man einen Blutgruppenbefund von 
65 Schimpansen, 4 Gorillas, nOrangs und 16 Gibbons. Aber 
schon das kleine Material zeigt, daß die Schimpansen O undA, 
die Gorillas A und dieOrangsA, B und AB aufweisen. Vor allen 
Stücken bei der kleinen Zahl der untersuchten Gorillas ist da- 
mit noch nicht gesagt, daß diese etwa nur Blutgruppe A haben. 
Wenn aber alle Blutgruppen bei den menschenähnlichen Affen 
vorkommen, ist die Annahme, daß der Urmensch eine einzige 
Rasse gebildet habe, und dann die einzelnen späteren Rassen 
gewisse Blutgruppen selbständig erworben hätten, nicht mehr 
und nicht weniger wahrscheinlich als die, daß schon von vorn- 
herein in der noch nicht in Rassen zerfallenen Menschheit alle 
Blutgruppen vertreten waren. Damit aber wird jede Hoffnung, 



BLUTGRUPPEN BEI AFFEN — BLUTEIGENSCHAFTEN 241 

auf Grund der Blutgruppenverteilung ehemalige Rassen unter- 
scheiden zu können, zerstört. 

Stammesgeschichtlich ist nun weiter von besonderer Wich- 
tigkeit, wie Weinert 1 ) mit Recht betont, daß die Gibbons sich 
nicht wie die Menschenaffen in die menschlichen Blutgruppen 
einordnen lassen. Eine Anzahl Gibbons reagieren mit ihrem 
Blut auf menschliche Testsera überhaupt nicht oder ganz un- 
bestimmt. Auf alle Fälle zeigen sie auch hier deutlich, daß 
sie zu den wirklich Menschen-Ähnlichen nicht gehören. Es soll 
dazugefügt werden, daß erst recht alle niederen Affen, der 
Alten wie der Neuen Welt, in ihrem Blut- und Serumverhalten 
vom Menschen gänzlich abweichen. So ist hier durch die Mög- 
lichkeit des Ausschließens dieser Affen und des Einschließcns 
der menschenähnlichen für die Frage von Abstammung und 
Verwandtschaft viel gewonnen. 

Die Eigenschaften M, W und P. 

Landsteiner und Levine haben bekanntlich noch 
Eigenschaften gefunden, die sich nicht durch Isoagglutination, 
sondern nur auf dem Umweg über Immunkörperbüdung nach- 
weisen lassen. Bei der Immunisierung von Kaninchen mit 
Menschenblut bekommt man nicht nur Antikörper gegen Men- 
schenblut im allgemeinen, sondern auch spezifische solche ge- 
gen Blutsorten mit bestimmten von einander verschiedenen 
Eigenschaften. Diese werden mit M, N, P bezeichnet. 

M und N scheinen sich ersetzen, aber auch vertragen zu 
können. Mindestens eines ist immer da. Darnach gibt es die 
Klassen M, N und MN. Nach Schiff gibt es beispielsweise in 
der Berliner Bevölkerung ungefähr 500/0 MN, 30% M, 200/0N. 
Bei Indianern soll M viel häufiger und N sehr selten gefunden 
werden. Größere Statistiken fehlen noch. 

Die Eigenschaften sind ganz konstant und unbeeinflußbar. 
Sie vererben sich auf Grund eines einzigen Genpaares. Der 
Erbfaktor M bedingt die Eigenschaft M, sein alleler Faktor m 
die Eigenschaft N. Bei Heterozygoten (Mm) treten beide Eigen- 
schaften M und N auf. Es ist also keine völlige Dominanz. 
Nach Bernstein liegen M und N mit den Blutgruppen-Genen 
nicht im selben Chromosom. Er hat das Vorkommen von Kop- 

x ) Weine r t. Neue Blutgruppenuntersuchungen an Affen im Jahre 
1932. Ztschr. f. Rassenphys. 6. 1933. 

Derselbe. Blutgruppenuntcrsuchunge.il an Gibbonalfen im Jahre 1934, 
Ebenda 7. 1935. 

Baur-Pisciicr-I, eiiK,I. 15 



242 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 



pelung als ausgeschlossen nachgewiesen. Auch Routil konnte 
(1. c.) statistisch den Erbgang zeigen. Die Eigenschaft P kommt 
ab und zu, bei Europäern häufiger als bei Negern, vor. Sie ist 
von den anderen unabhängig, ihre Ausprägung gradweise sehr 
verschieden (nach Land st einer und Levine). 

Es dürften sich im Laufe der Zeit noch einige weitere 
„Faktoren" nachweisen lassen. So fand Schiff 1 ) einen sol- 
chen Faktor H, der unabhängig von den „Blutgruppen" sich 
dominant zu vererben scheint ; einen weiteren, G, meldet der- 
selbe Forscher an 2 ). Endlich scheint (nach Schiff und Sa- 
saki) 3 ) das Vermögen, Gruppeneigenschaften im Speichel aus- 
zuscheiden oder nicht, auf einem einfach mendelnden Genpaar 
zu beruhen. 

Ein erster Schritt, innerhalb der Blutgruppen, die ja so un- 
erhört umweltbeständige Erbanlagen darstellen, nun noch fei- 
nere Unterschiede ebenfalls erblicher Art zu entdecken, gelang 
Buhle r 4 ) im Nachweis, daß bei EZ der Titer der Isoagglu- 
tinine, d.h. etwa der Grad des Agglutinierens konkordanter ist 
als bei ZZ. Ein einziges stark diskordantes EZ-Paar zeigt, 
daß es aber auch stark beeinflussende (vielleicht sehr seltene) 
Um weit Wirkungen geben muß. Plier bedarf es noch vieler wei- 
terer Arbeit. 

Auch andere Serumeigenschaften müssen in großer Zahl 
erblich bedingt sein: Wir haben darüber einige Vorstellungen 
auf dem sog. Immungebiet. Die Antikörperbildung im Serum 
gegen artfremdes Blut ist bekanntlich für alle Tierarten spezi- 
fisch und richtet sich gegenseitig nach dem verwandtschaft- 
lichen Verhältnis. Es müssen also für den Ablauf dieser Reak- 
tionen im Genbestand auch' des Menschen eine Reihe gesonder- 
ter Anlagen vorhanden sein, teils solche, die ihm mit allen an- 
deren Primaten gemeinsam sind, teils solche, die er unddie Anthro- 
poiden gemeinsam haben und endlich' Ihm allein eigene (Molli- 
son) 5 ). Über Erbgang und gegenseitiges Verhältnis und anzu- 

l ) Schiff. Über einen eigenartigen serologischen Faktor des Men- 
schen. Acta Soc. Med. Fen. Bd. 15. 193z. 

s ) Schiff. Ein neues serologisches Erbmerkmal des Menschen. Die 
Naturwiss. 1932. 

3 ) Schiff und Sasaki. Über die Vererbung des serologischen Aus- 
scheidungstypus. Ztschr. Imm. Forsch. Bd. 77. 1932. 

4 ) Bühler, E. Untersuchungen über die Erblichkeit des Isoagglutin- 
mlitcrs. Ber. D. Ges. Vererbg. 1935. 

B ) Mol Li son. Arteiweiß und Erbsubstanz, Ztschr. Morph. Anthr. 
(Festband Fischer.) 34. 1934. 



ÄNDERE SERUMUNTERSCHIEDE - INNERE DRÜSEN 243 

nehmende Zahl dieser Gene wissen wir nichts. Ob Antikörper- 
bildung zwischen den Sera verschiedener Rassen auftritt, ob 
wir also hier, rassenmäßig verteilt, besondere Gene haben, ist 
noch nicht sichergestellt. Gewisse positive Angaben in dieser 
Hinsicht über Unterschiede von Europäern und Javanen be- 
dürfen der Nachprüfung mit modernen Methoden. 

Ein Vergleich der auftretenden Trübungen verschiedenen Grades bei 
der Mischung von Seren blutsverwandter, rassisch gleicher und rassever- 
schiedener Personen — von Zangemeister zuerst versucht — hat keine 
deutlichen Ergebnisse gebracht, ist aber sicher methodisch ausbaufähig. (Ber- 
liner, Fol. haemat. 46. 1931.) 

Über die Frage besonderer Erbanlagen für die Verschie- 
denheit der Immunität gegen Infektionskrankheiten und des 
Ablaufs erworbener Immunität vergleiche Lenz Absch. 3. 

Die Erbgleichheit von Serum und Gewebe bei EZ beleuch- 
tet ein von Bauer 1 ) erwähnter Fall, wo bei einem EZ chirur- 
gische Hautüberpflanzung von seinem Paarung mit glattem 
Heilerfolg durchgeführt wurde, was bekanntlich zwischen be- 
liebigen Menschen im allgemeinen nicht gelingt. 



Innere Drüsen. 

Besonders erwähnt werden muß wohl noch die Tätigkeit 
der endokrinen Drüsen. Da die Ausbildung von Form 
und Größe, Wachtum, Aus- und Rückbildung und endlich 
die Tätigkeit selbst aller Organe und des Gesamtkörpers 
durch Hormone geregelt sind, müssen natürlich auch diese 
selbst nach Umfang, Wirksamkeit usw. erblich bedingt sein. 
Wenn wir sagen, Körpergröße vererbt sich, so heißt das 
eigentlich : die Beschaffenheit, bzw. die Tätigkeit der betref- 
fenden innersekretorischen Drüsen (Hypophyse, Thymus, Keim- 
drüse usw.) vererben sich. Wachstumsunterschiede, Reifeunter- 
schiede usw. zwischen Rassen bedeuten also dann rassenmäßig 
erbliche Drüsenunterschiede. Bolk führt die ganze Mensch- 
werdung und die Rassenentstehungj auf Mutationen von Drüsen 
zurück, die sich vererben; ich glaube nicht, daß man das in 
dieser Form darstellen und erklären kann. (Näheres führte hier 
zu weit.) Von Einzelheiten auf dem Gebiet jener Drüsen sei die 
größere Ähnlichkeit der Reaktion auf Adrenalin bei EZ gegen- 
über ZZ erwähnt (Schröder 2 ). 



!) Z. indukt. Abst. Ver. 1928. Suppl. S. 151 5. Disk. Bemerkung. 
a ) Schröder. Klin. Wochenschrift Bd. 8. S. 1638. 1929. 



244 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Auf dem Gebiet des vegetativen Nervensystems 
haben wir die ersten Ergebnisse, daß eine Menge von einzel- 
nen Abläufen von Reaktionen erblich bestimmt sind. Die nor- 
male Pupille in Ruhe und der Kontraktionstypus der Pupillen 
auf Licht zeigen bei EZ in deutlichem Gegensatz zu ZZ eine 
starke Ähnlichkeit (Löwenstein) 1 ). Sehr aufschlußreich ist 
ferner der Nachweis von Werner 2 ) an Zwillingen des Kai- 
ser- Wimelm-Instituts, daß die Reaktion des Pulses, des Blut- 
drucks, der Atmung, der Schweiß-, Speichel- und Magensaft- 
absonderung, ebenso des Blutbildes und des Blutzuckergehaltes 
bei EZ nach Injektion von Adrenalin, von Policarpin, von 
Atropin und Histamin erheblich gleichartiger sind als beiZZ. 
Alle diese komplizierten Funktionen des vegetativen Nerven- 
systems hängen also von individuell verschiedenen Erbfaktoren 
ab, die man wohl im allgemeinen als kleinere Ailelenreihen für 
die einzelnen auffassen muß. Wie weit sie voneinander abhän- 
gen oder übergeordnete Faktoren haben, wissen wir nicht. Erst 
in diesem Zusammenhang gewinnt die vorher nur als Sonder- 
barkeit mitgeteilte Beobachtung von Chenund Poth 3 ) wirk- 
liches Interesse, daß Kokain, Euphtalmin und einige ähnliche 
Stoffe auf die Iris des Europäers um ein Mehrfaches stärker 
einwirken als auf die des Negers, während der Chinese in der 
Mitte zwischen beiden steht. 

Auch die Erscheinung der Erbbedingtheit der sog. Aller- 
gien, Idiosynkrasien, also Überempfindlichkeit gegen bestimmte 
chemische Stoffe in Nahrungsmitteln, Arzneimitteln und gegen 
bestimmte Hautreize gehört wohl in dieses Gebiet (s. Absch. 3) 
und zeigt, daß umgekehrt die normalen Reaktionen der vom 
vegetativen Nervensystem beherrschten Teile (Gefäße, Flaut, 
Darm usw.) ebenfalls einzeln erblich mitbestimmt sind. 

Auf dem Gebiet des anderen Nervensystems liegen Einzel- 
untersuchungen über Vererbung normaler Vorgänge erst in 
ganz geringem Maße vor. 

Um so mehr Schlüsse erlauben die zahlreichen Erbkrank- 
heiten dieses Gebietes. 



NERVEN PH YSIOL 00 IE 



245 



') Löwensicin, O. Muskeltonus und Konstitution. Monatsschrift 
für Psychiatric. Bd. 70. 

s ) Werne r. Erbunterschiede bei einigen Funktionen des vegetativen 
Systems nach experimentellen Untersuchungen an 30 Zwillingspaaren. Verh. 
D. Ges. inn. Med. Wiesbaden 1935. 

a ) Che n and P o t h. Racial differences in mydriatic action of" cocaine, 
eiiphthalmine, and ephedrine. Am. Journ. ph. Anthr. 13. 1929. 



Curtius und Schnitzler 1 ) konnten zeigen, daß eine 
Vergleichung von EZ mit ZZ und mit Nichtgeschwistern für 
die Ausschläge des Patellarsehnenreflexes Unterschiede im Ver- 
hältnis von 1:1,95:2,55 für die mittlere Differenz des höch- 
sten Anfangsausschlages eines Paares und im Verhältnis von 
1:1,94:2,81 für die mittlere Differenz des tiefsten Rückschla- 
ges ergibt. Die Anzahl der Schwingungen war bei EZ in 
66,30/0 gleich, bei ZZ in 57,7% und bei Nichtgeschwistern in 
44,30/0. Auch hier besteht also irgendeine Erbunterlage. 

Schon über das Gebiet der Nervenphysiologie im engeren 
Sinne hinaus gegen sog. psychologische Erscheinungen führen 
die ausgezeichneten Untersuchungen von Frischeisen-Köh- 
ler 2 ) über das Tempo. Sie konnte nicht nur an EZ und ZZ 
(zusammen 118 Paare des K.-W.-Instituts) den Beweis führen, 
daß dem individuellen Tempo eine Erbeigenschaft zugrunde 
liegen, muß, sondern an 85 Familien mit 318 Kindern auch den 
Erbgang ziemlich sicher stellen. Das beschleunigtere Tempo ist 
stufenweise dominant über das langsamere. 

Ebenfalls an Zwillingen desselben Instituts hat C a r - 
mena 3 ) gezeigt, daß der „psychogalvanische Reflex" und — 
ein ganz anderes Gebiet — der „Schreibdruck'' bei EZ viel 
ähnlicher sind als bei ZZ. Erst die weitere Untersuchung 
vieler solcher Dinge wird uns über das Vorhandensein und ge- 
genseitige Verhältnis entsprechender Erbanlagen unterrichten. 

Noch weniger ist einstweilen über Untersuchungen von 
sinnesphysiologischen Erscheinungen bezüglich der Erblichkeit 
zu berichten. Wie allgemein diese dabei beteiligt sein muß, zei- 
gen alle erblichen Störungen auf diesem Gebiet (Sehstörungen, 
Farbenempfindungsstörungen, Hörstörungen usw. s. Absch. 3). 
Von Untersuchungen an Zwillingen (Kaiser-Wilhehn-Institut) 
sei erwähnt, daß Malan eine größere Ähnlichkeit des Raum- 
orientierungssinnes bei EZ gegenüber ZZ fand (noch nicht 

1 ) S c h n i t z 1 e r , Karl. Über die Erblichkeitsverhältnisse des Patellar- 
sehnenreflexes nach Untersuchungen an 31 Zwillingspaaren. Med. Diss. 

Bonn 1933. 

3 ) Frischeisen-Köliier. Das persönliche Tempo. Sammlung 

psychiatr. neur. Einzeldarstellungen. Bd. 4. 1933. 

Dieselbe. Über die Empfindlichkeit für Schnelligkeitsuntcrschiede. 
Psychol. Forsch. Bd. 18. 1933. 

Dieselbe. Das persönliche Tempo und seine Vererbung. Charakter. 
Bd. 2. 1933. 

3 ) C armen a, Ist die persönliche Affektlage oder „Nervosität" eine 
ererbte Eigenschaft? Z. ges. Neurol. u. Psych. 150. 1934. 

Derselbe. Schreibdruck bei Zwillingen. Ebenda [52. 1935. 



246 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN, 

veröffentlicht), während es nicht gelang, Geschmacksdifferen- 
zen zwischen beiden Gruppen nachzuweisen (S chri j ve r x ). 

Als Anhang mag hier über die Vererbung der Sing- 
st i m 111 e berichtet werden. 

Bernstein hat sie zum Gegenstand wiederholter Erb- 
forschung gemacht. Er glaubt den Nachweis zu führen, daß 
die Stimmlage des Menschen von einem einfach mendelnden 
Genpaar abhänge, das dann, bei Mann und Weib hormonal ge- 
ändert, entsprechend wirke. 

AA soll beim Mann Baß, bei der Frau Sopran bedingen. 
Aa äußert sich in Bariton bzw. Mezzosopran und aa ist männ- 
licher Tenor, weiblicher Alt. Bei Kindern ist die Stimme schon 
festgelegt. Der spätere Tenor hat als Knabe eine Altstimme 
(aa), der spätere Baß einen Kindersopran. Die Häufigkeit die- 
ser Gene wurde in verschiedenen Bezirken Mittel- und Nord- 
westdeutschlands, dann in Süditalien untersucht. Das Baß- 
Sopran-Gen kommt darnach z. B. in Friesland und benachbar- 
ten Gebieten in 6io/ 0) in Sizilien in 12 o/o, in Pisa in 170/0 vor. 
B ernstein bringt es in Beziehung zur nordischen Rasse, da- 
gegen das Alt-Tenor-Gen zu anderen europäischen Rassen. Bei 
Zigeunern standen 30 0/0 Baß-Sopran gegenüber 20 0/0 Alt-Tenor 
des deutschen Stimmtypus und 500/0 eines neuen Alt-Tenor- 
typus, der dem deutschen gegenüber klanglich tiefer hegt. Hier 
wird ein etwas anderes Gen angenommen ( ?). Ich möchte 
glauben, daß diese ganze Erscheinung an Zwillingen und an 
Einzelfamilien eine Nachprüfung erhalten sollte. 

Grundsätzlich würde hierher die Schilderung der Erban- 
lagen auf psychischem Gebiet gehören. Da ihre Untersuchung 
zum Teil mit anderen Methoden arbeitet und die Ergebnisse 
im Zusammenhang mit der kulturellen Leistungsfähigkeit und 
Leistung der Rassen und Völker seine Hauptbedeutung erhält, 
wird dieses Gebiet weiter unten in besonderem Abschnitt be- 
handelt werden (Lenz, Absch. 5), 



3. Die Erbanlagen der Rassen 
a) Der Rassenbegriff 

Die vorstehende Übersicht hat gezeigt, wie die zahllosen 

Schwankungen von Zahl, Größe und Form aller einzelnen Teüe 

des Körpe rs sowie aller seiner Vorgänge vom Vorhandensein 

1 ) Schrijver. Über die Erforschung erblicher Abweichungen beim 
Geschmacksinn. Z. f. Rassenphys. 6. 1933. 



RASSENBEGRIFF 



247 



oder Fehlen bestimmter Erbanlagen und von der Wechselwir- 
kung der Umwelt auf diese Anlagen abhängen. Es sei noch 
einmal betont, daß wir niemals den erblich bedingten Teil, den 
Idiotypus als solchen, in die Erscheinung treten sehen, sondern 
nur seine Reaktion auf Umwelteinflüsse. Wir sehen das Er- 
scheinungsbild, den Phänotypus. Daß dabei manche Erban- 
lagen auf Verschiedenheiten der Umwelt verhältnismäßig stark 
ansprechen und daher in weitem Maße schwanken, wie z. B. 
die Körpergröße, während andere gegenüber den allerver- 
schiedensten Umweltwirkungen fast gänzlich unveränderlich 
sind, wie z. B. die Ballungseigenschaften im Blut (Blutgrup- 
pen), ist grundsätzlich einerlei, aber für die Erkennung von 
Erbe und Umwelteinflüssen von großer Bedeutung. 

Überblickt man nun die Gesamtheit aller Gene, die wir für 
den normalen Aufbau des Menschen kennen oder annehmen 
dürfen, so finden wir große Unterschiede bezüglich regel- 
mäßigen oder nur gelegentlichen Auftretens. Es gibt eine große 
Anzahl Gene, die zum normalen Bestand des Körpers und sei- 
ner Organe und zu deren normaler Tätigkeit unbedingt ge- 
hören, die daher bei allen Menschen vorhanden sind, wie schon 
oben S. 109 ausgeführt wurde. (Bei diesen bedeutete ein Feh- 
len oder eine Veränderung Lebensunfähigkeit [Letalfaktoren].) 
Jene Gene sind also tatsächlich ausnahmslos bei allen Men- 
schen in gleicher Art vorhanden. Bei anderen Eigenschaften 
bedeutet eine Änderung oder ein Fehlen des Gens eine Erkran- 
kung oder eine Mißbildung. Sie erscheinen als Ausnahmen, 
häufigere oder seltenere, gegenüber der Mehrzahl der norma- 
len Menschen. Hier können wir nun schon die Erscheinung be- 
obachten, daß Häufigkeit oder Seltenheit verschieden sind, 
wenn wir hier oder dort eine größere Anzahl Menschen unter- 
suchen. (Über den Grund dieser Erscheinung wird in anderem 
Zusammenhang berichtet, s. S. 269.) Weiter finden wir nun aber 
außer den normalen Genen, die zum Bestand des Körpers und 
seines Lebens gehören, zahlreiche andere, die bei manchen 
Menschen vorhanden, bei anderen fehlen oder in anderer Form 
vorhanden sind. Offenbar sind sie alle normal, sie engen die 
Lebenserwartung (mindestens im allgemeinen) nicht ein. Diese 
erblichen Eigenschaften bedingen also Unterschiede erblicher 
Art zwischen den einzelnen Menschen. Sie sind in ungeheurer 
Zahl vorhanden, wie die Darstellung im vorigen Abschnitt 
zeigte, wobei die ebenso zahlreichen Unterschiede auf psychi- 
schem Gebiet noch dazu kommen. Eine genauere Untersuchung 



EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

dieser Erbeigenschaften nach ihrer Verbreitung in der Mensch- 
heit zeigt nun ein sehr ungleiches Verhalten. Einzelne solcher 
Erbeigenschaften kommen überall in der ganzen Menschheit 
vor, aber überall sind es nur einzelne Individuen bzw. Erb- 
linien, die sie aufweisen. Als Beispiel sei die Rothaarigkeit er- 
wähnt. Bei allen Bevölkerungen der Erde kommen auf erb- 
licher Unterlage Rothaarige vor, hier häufiger, dort seltener. 
Diese verschiedene Häufigkeit kann die Folge von verschieden 
starker Inzucht zwischen solchen Linien oder etwaiger Auslese 
bzw. Ausmerze solcher Linien sein, oder aber auf verschieden 
häufiger Mutation beruhen; wir wissen darüber noch fast nichts. 
Manche solcher Erbeigenschaften zeigen aber recht deutlich 
eine Verschiedenheit in der Häufigkeit ihres Auftretens nach 
ganzen Bevölkerungsgruppen über die Erde hin. So wurde 
z. B. oben gezeigt (S. 148), daß deutliche Unterschiede in der 
Häufigkeit bestimmter Muster der Fingerleisten zwischen Ost- 
asien und Afrika und Europa sind. Dasselbe gilt für das Vor- 
kommen von Blutgruppen, Wir kennen alle Grade verschiede- 
ner Häufigkeit solcher Erbeigenschaften, so daß ein allmäh- 
licher Übergang besteht zur extremen Verschiedenheit, nämlich 
zu dem Fall, daß eine Erbeigenschaft bei einer menschlichen 
Gruppe ganz fehlt und bei einer anderen ausnahmslos vorhan- 
den ist. Diesen äußersten Fall kennen wir für eine große An- 
zahl. Es dürfte sich keinesfalls um einen im Wesen der Gene, 
der Eigenschaften selbst, gelegenen grundsätzlichen Unter- 
schied handeln. Vielmehr sind auch liier wohl nur Inzucht und 
Kreuzungsverhältnisse, die Wirkung der Auslese, vielleicht auch 
verschiedene Häufigkeit von Neumutationen anzunehmen, über 
welch letzteren Punkt wir allerdings, wie gesagt, nichts wissen. 
Diese Erscheinung, daß also einzelne Erbeigenschaften, das 
heißt Gene, deren bald mehr, bald weniger in ihrem Vorkom- 
men auf bestimmte Gruppen von Menschen beschränkt sind, 
hier aber in der Gruppe bei allen Menschen vorhanden sind 
und außerhalb derselben bei allen fehlen, erlaubt uns, Grup- 
pen überhaupt voneinander zu unterscheiden. Es sind also 
Gruppen bestimmten, erblichen Genbestandes, die von anderen 
Gruppen mit anderem Genbestand unterscheidbar sind. Und es 
sind immer nur eine Anzahl Gene, die die Abgrenzung machen, 
während zahllose andere Gene mehreren Gruppen oder der ge- 
samten Menschheit gemeinsam sind. Es sei als Beispiel hin- 
gewiesen etwa auf die Buschmänner. Diese haben Erbfaktoren 
für Pygmäenwüchsigkeit, für Fil-Fii-Haar, für bestimmte For- 



RASSENBEGRIEL 



249 



men von Nase, Backen, Lippen, sonstige physiognomische 
Dinge, für die Form des Penis und manches andere. Das ist 
ein ihnen in dieser Kombination allein zukommender Bestand. 
Da alle Buschmänner diese Anlagen haben, müssen die Gene 
bei jedem homozygot sein. (Ich sehe dabei von offenbaren 
Rassenkreuzungen ab.) Die Buschmänner haben nun aber wei- 
ter Gene, die sie gemeinschaftlich haben mit Hottentotten, 
z. B. für die Hautfarbe, für die Lippenform u. a. Andere mensch- 
liche Gruppen haben diese nicht. Jene zwei stehen sich also 
durch den gemeinsamen Besitz dieser bestimmten Gene näher 
als jede von ihnen irgendeiner dritten. Umgekehrt haben auch 
die Hottentotten Gene, die den Buschmännern fehlen, z. B. 
für die Lidfalte (s.S. 199). Weiter besitzen nun die beiden zu- 
sammen (von S c h ul t z e mit dem Rassennamen „Koisan" 
zusammengefaßt) gemeinsame weitere Gene mit der gesamten 
eigentlichen afrikanischen Negerbevölkerung, etwa die eigen- 
tümlich flachlange Form des Schädels, bestimmte Farbtöne 
der Haut, die allgemeine Spiraldrehung des Haares usw. Diese 
Eigenschaften fehlen dagegen in Europa oder Zentral-, Nord- 
und Ostasien ganz. Jener gemeinsame Genbestand faßt also 
offensichtlich die Koisan und die Neger näher zusammen als 
einen davon mit Europäern oder asiatischen Mongolen. Nur 
die allen Menschen gemeinsamen Gene verbinden dann diese 
letzten großen Gruppen. Auf diese Weise ist also eine Grup- 
pierung verschiedener Nähe und Ferne tatsächlich gegeben. 
Diese Gruppen nennen wir Rassen. Man kann die Benennung 
als solche mißbilligen, wie es z. B. Fritz Sarasin in seinem 
Neukaledonienwerk tut, der grundsätzlich nur von mensch- 
lichen „Varietäten" spricht, weil er das Wort Rasse auf will- 
kürlich, womöglich auf bekanntem Weg, gezüchtete Haustier- 
rassen beschränkt wissen will. Man kann weiter der Benen- 
nung Rasse vorwerfen, daß sie willkürlich bald auf einen ganz 
engen Kreis von Besitzern bestimmter Gene, z. B. oben ge- 
nannte Buschmänner, angewandt wird, bald aber auch ebenso 
auf einen größeren Kreis, der zwar auch noch einen gemein- 
samen und gegen andere Kreise sie auszeichnenden Genbestand 
hat, jedoch in sich aus zwei oder mehreren genmäßig verschie- 
denen Untergruppen besteht, wie z. B. oben die Koisan. Und 
ein drittes Mal wird das Wort Rasse auf noch größere Grup- 
pen, hier etwa Neger und Europäer angewandt. Es wäre sicher 
besser, für alle diese Rangordnungen eigene Namen zu haben, 
und es wäre wirklich an der Zeit, solche zu schaffen. Ich selbst 



250 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

nenne die größten umfangreichsten Gruppen jeweils Zweig 
(Ramus). Aber das Wort Rasse ist einstweilen für kleinere 
und größere Gruppen unentbehrlich. 

Rassen sind also Gruppen mit gemeinsamem Besitz be- 
stimmter Gene, die anderen Gruppen fehlen. Wie erwähnt, 
weisen alle Individuen der Gruppe jene Gene auf. Sie sind 1 also 
homozygot. Das kann natürlich nur sein, wenn die Gruppen 
Fortpflanzungsgemeinschaften sind. Auch typische Bastard- 
gruppen können einen Genbestand haben, der anderen Grup- 
pen fehlt, z. B. wenn beide Elternrassen, aus denen die 
Bastards entstanden sind, verschwunden sind. Aber in solchen 
Bastardgruppen ist keine der betreffenden Eigenschaften bei 
allen Individuen anzutreffen. Immer zeigt die Bastardgruppe 
bezüglich aller betreffenden Eigenschaften heterozygote Indi- 
viduen neben einer Minderzahl von homozygoten. Sie ist des- 
halb nicht als Rasse zu bezeichnen. Rasse ist also, genauer ge- 
sagt, eine Gruppe von Menschen in Fortpflanzungsgemeinschaft, 
die eine Anzahl Gene homozygot besitzt, welche anderen fehlen. 

Unter natürlichen Verhältnissen unterscheiden sich Rassen 
wohl immer durch eine ganze Anzahl gemeinsamer Sondergene. 
Aber grundsätzlich würde schon ein einziges genügen. Folge- 
richtig bezeichnet auch . tatsächlich der experimentelle Erb- 
forscher als Rasse Individuen, die sich von anderen nur durch 
ein einziges Gen unterscheiden. Zahlreiche Drosophilarassen 
oder Löwenmäulchenrassen sind uns bekannt, die voneinander 
jeweils durch ein einziges Genpaar verschieden sind. Man kann 
ja jede solche Erbeigenschaft züchten, und man benennt die 
Rasse nur nach dieser und übersieht dabei die Gleichheit oder 
Ungleichheit aller übrigen Eigenschaften. In der Haustier- 
zucht dagegen züchten wir Rassen, die eine ganze Anzahl (uns 
wertvoller und daneben wohl auch uns gleichgültiger) Erb- 
eigenschaften haben. Und auch beim Menschen nennen wir 
Rasse nur solche Gruppen mit einer ganzen Anzahl von an- 
deren Gruppen verschiedenen Genen. Warum nicht alle norma- 
len oder wenigstens nicht sehr schädlichen Erbeigenschaften, 
die wir beim Menschen beobachten können, zur Gruppen-, d.h. 
Rassenbildung geführt haben, läßt sich nicht sagen. Wir haben 
überall auf der Erde einzelne Rothaarige erblich, aber keine 
rothaarige Rasse. Wir haben auch nicht etwa eine sechsfing- 
rige Rasse oder eine Rasse der Sommersprossigen. BeiDroso- 
phila sprechen wir beispielshalber von einer flügellosen oder 
einer weißäugigen Rasse, auch wenn solche Individuen durch 



RASSEN BEGRIFF - RASSENENTSTEHUNG 



251 



gleichsinnige Mutation ganz unabhängig voneinander (aber am 
gleichen Gen) in europäischen oder amerikanischen Zuchten 
entstehen, und unbekümmert darum, daß diese pathologischen 
Rassen ohne Kunsthilfe nicht lebensfällig sind. Es ist folge- 
richtig, denn aus jedem solchen Individuum läßt sich züchte- 
risch eine homozygote Gruppe herstellen. Beim Menschen könnte 
man durch Zucht ohne weiteres eine rothaarige Rasse oder 
Polydaktylie-Rasse züchten. (Bei manchen Haustieren haben 
wir Rassen mit mehr oder weniger oder verwachsenen Zehen, 
z. B. Schweine, Hunde, Hühner.) 

Man kann die gezüchteten Haustier- und die menschlichen 
Rassen zum Unterschied jener nach einem einzigen Merkmal 
benannter Rassen des Experimentes auch als Systemrassen be- 
zeichnen. Es wurde gelegentlich mißverstanden, weshalb betont 
sei, daß dabei kein grundsätzlicher Unterschied besteht, son- 
dern nur angedeutet werden soll, daß man diese durch eine 
Anzahl von Eigenschaften gekennzeichneten Rassen nach dem 
Bestand einzelner mehreren gemeinsamer Gene systematisch 
einteilen kann. Der Name soll also lediglich andeuten, ob ich 
im präzisen Sinn des Genetikers oder nach dem Sprachgebrauch, 
wenn auch selbstverständlich nach der obigen präzisen Defi- 
nition, das Wort Rasse gebrauche 1 ). 

Auf die Geschichte des Rassenbegriffes, auch auf die zahl- 
reichen Versuche seiner Abgrenzung und Definition möchte ich 
hier nicht eingehen. 

Wenn bisher versucht wurde, die normalen menschlichen 
Gene und ihre Erscheinungsbilder einzeln und systematisch 
darzustellen, soll im folgenden die Gruppierung der Gene in 
den einzelnen Bevölkerungsgruppen untersucht werden. Ent- 
sprechend obiger begrifflicher Auseinandersetzung ist dieses 
dann der Inhalt einer allgemeinen Rassenlehre, dagegen wird 
auf eine Beschreibung des Erscheinungsbildes der einzelnen 
Rassen nicht eingegangen werden, 

b) Rassenentstehung 

Die Entstehung der menschlichen Rassen hängt in ihren 
Anfängen eng zusammen mit der Entstehung des Menschen 
überhaupt. Seiner Gesamtorganisation nach gehört der Mensch 
unstreitig zusammen mit sämtlichen Affen zu den Primaten 
(Herrentieren). Innerhalb dieser Ordnung bilden Anthropoiden 

1 ) Ploetz benützte das Wort Systemrasse in anderem Sinn, worauf 
aber hier nicht eingegangen werden kann. 



252 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

oder menschenähnliche Affen und die Hominiden, d. h. ausge- 
storbene und heutige menschliche Formen je eine Sondergruppe, 
die eng zusammengerückt sind und den übrigen Familien der 
Primaten (niedere Affen der Alten und Neuen Welt) gegen- 
überstehen. Gegen Ende des Tertiärs gab es eine reiche Ent- 
faltung der Anthropoiden, wie uns zahlreiche fossile Funde 
lehren. Damals verbreiteten sich diese Formen von China aus 
quer über ganz Asien und Europa, von Indien über Ostafrika 
bis zum Kap. Die Verbreitung dürfte nach den Vorstellungen 
von Othenio Abel von Zentralasien her erfolgt sein. Die reiche 
Entfaltung der tertiären menschenähnlichen Affen birgt For- 
men, die den heutigen gegenüber generalisiert, und unter wel- 
chen die äf fischen Ahnen des Menschen zu suchen sind. Aus dieser 
ganzen formen reichen und weit verbreiteten Gruppe haben sich 
in die Gegenwart nur Gibbon, Orang, Gorilla, Schimpanse und 
Mensch entwickelt und erhalten. Auf das gegenseitige Verhält- 
nis der heutigen Formen untereinander und mit den Fossilen 
kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf Fak- 
toren, Ort und Zeit der Menschwerdung. Es sei nur betont, 
daß uns vergleichende anatomische und entwicklungsgeschicht- 
liche Untersuchungen einerseits und zahlreiche fossile Funde 
andererseits in den Stand setzen, eine genauere Entstehungs- 
geschichte des Menschen aufzustellen als von den allermeisten 
Säugetieren. Es sei auf die zusammenfassenden Darstellungen 
von Schwalbe 1 ), von Weine rt 2 ) und von O. Abel 3 ) ver- 
wiesen. Hier sei nur angedeutet, daß wir als Zeugnis der letz- 
ten Zwischenstufe von Anthropoiden und Hominiden den Pi- 
tliecanthropus erectus aus Java und den Sinanthropus aus der 
Gegend von Peking haben. Der letztere ist sicher nicht später 
als allerfrühestes Diluvium. Ob diese beiden, morphologisch 
sicher eng zueinander gehörenden Funde in unserer wirklichen 
Ahnenreihe standen, ist noch nicht entscheidbar, aber gut mög- 
lich, wobei dann der Pithecahthropus seine ersten menschlichen 
Nachfahren in. der alten Form eine Zeitlang überlebt hätte, 

Für das Verständnis der Rassenentstehung ist es wichtig, 
darauf hinzuweisen, daß nach Ansicht seiner EntdeckerBlack, 
Pei und Anders son (1921—30) und ebenso des Prä- 



1 ) Schwalbe. Die Abstammung des Menschen und die ältesten Men- 
schenformen. Kultur der Gegenw. III. 5. Leipzig 1923. 

2 ) Weine rt. Der Ursprung der Menschheit. Stuttgart 1932. 

3 ) Abel, O. Die Stellung des Menschen im Rahmen der Wirbeltiere. 
Jena 1931. 



RASSENENTSTEHUNG — FOSSILE FORMEN 



253 



liistorikers Breuil, der an Ort und Stelle Untersuchungen 
durchgeführt hat, Sinanthropus nicht nur Steinwerkzeuge be- 
stimmter Formen benützt hat, sondern auch im Besitz von 
Feuer war. Weithin zeigen die Felsen seines Fundortes Wir- 
kung von Feuer, und zwar von solchem, das lange Zeit ge- 
dauert hat. Ich möchte von den Wesen, die sich vom Affen 
zum Menschen entwickelt haben, denjenigen erstmals den Na- 
men Mensch zubilligen, die durch den Besitz von Feuer, d. h. 
die Kenntnis künstlicher Feuererhaltung (noch nicht Entzün- 
dung) und durch den Besitz künstlich hergestellter Werkzeuge 
sich als denkend (im Sinne des heutigen Menschen) erweisen. 
Ich nehme als sicher an, daß sie dann zugleich im Besitz der 
ersten Sprachbildungen waren. 

Über den Bestand von Erbanlagen dieser Geschöpfe wis- 
sen wir natürlich nicht viel. Aber wir können folgendes sagen: 
der Genbestand des heutigen Menschen hat eine große Anzahl 
Gemeinsamkeiten mit dem der drei Großaffen, es sind die Gene 
für alle morphologischen und physiologischen Gleichheiten 
zwischen ihnen und uns. (Nur als Beispiele: Bau der Retina, 
der Spermien, gewisser Gehirnteile, Blutgruppen usw.) An- 
dererseits besitzt der Mensch eine große Reihe erblicher Eigen- 
schaften, die bei allen Menschen über alle Rassen weg voll- 
kommen gleich sind und von allen Affen verschieden. Es han- 
delt sich dabei auch um sicherlich nicht lebenswichtige Einzel- 
heiten sondern oft geringfügige, aber äußerst charakteristische 
Bildungen. Als Beispiel sei die Grenze des Kopfhaars von der 
Stirn über die Schläfe um das Ohr herum bis gegen den 
Nacken erwähnt. Bei allen Menschen ist ganz charakteristisch 
die haarfreie Stelle hinter dem Ansatz der Ohrmuschel. Es sei 
weiter die grundsätzliche Anordnung der Tastleisten vor allem 
am Fuß erwähnt, die Anordnung der großen und kleinen Zehe, 
zahlreiche Einzelheiten im Gehirnbau, im Aufbau des Blut- 
serums ; es könnte noch eine lange Liste gebracht werden. Die 
vollkommene Gleichheit dieser Bildungen (d. h. also auch der 
ihnen zugrunde liegenden Gene) beweist einwandfrei und bin- 
dend, daß die Vollendung der stammesgeschichtlichen Fort- 
entwicklung bis zum Menschen selbst nur ein einziges Mal und 
aus einer einzigen Wurzel heraus stattfand. Es ist ganz undenk- 
bar, daß jene äußerst komplizierte Kombination neuer, bei 
keinem Affen vorhandener Gene, die im Genbestand ausnahms- 
los aller Menschen vorhanden sind, sich mehrfach und unab- 
hängig voneinander gebildet hat. Auf dem Sinanthropuszustand 



254 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



dürfte also die Menschheit ganz einheitlich gewesen sein. Ras- 
senbiidung hatte noch nicht eingesetzt. 

Die nächste Stufe, die wir kennen, ist uns erhalten im Unter- 
kiefer von Mauer bei Heidelberg aus der vorletzten Zwischeneis- 
zeit 1 ). Wir wissenüberseineErbeigenschaften, vom Unterkiefer ab- 
gesehen, nichts. Um eine Eiszeit (die Riß- oder zweitletzte) undum 
ein gut Teil der letzten Zwischeneiszeit später sehen wir in dieser 
warmen Zwischeneiszeit den als homo primigenius bezeichneten 
Neandertalmenschen auftreten. Auch hier wissen wir von erbli- 
chen Einzeleigenschaften nichts außer den charakteristischen, 
ihn von allen spätdiluvialen und rezenten Menschenrassen ganz 
eindeutig scheidenden Kennzeichen seines Schädels und seiner 
Extremitätenknochen. Aber mir scheint es sehr wichtig, fest- 
zustellen, daß diese Form sich schon von Asien bis Westeuropa, 
von Belgien bis zur Südspitze Südafrikas verbreitet hatte. Auf 
dieser Stufe also hat der Mensch schon eine Ausbreitung über 
die Erde erlebt wie kein Tier. Dabei möchte ich betonen, daß, 
so weit man es nach den Resten beurteilen kann, die Form 
mindestens von Vorderasien bis Belgien und von Neandertal 
(bei Elberfeld) bis Spanien und Rom völlig gleich war. (Ich 
erkenne die Formunterschiede, die Gorjanoviö-Kram- 
berger an den zusammengeflickten Resten eines Schädels 
feststellen wollte, nicht an.) Ich möchte also glauben, daß hier 
jedenfalls eine stärkere Scheidung in Rassen noch nicht statt- 
gefunden hat. Höchstens der Fund von Brokenhill zeigt 
etwas Sonderbildung gegen die übrigen Neandertalformen. 

Nach Ablauf jener letzten Zwischeneiszeit und der Haupt- 
vereisung der letzten Eiszeit, in deren schwankungsreichen Aus- 
klingen, ist mit neuen Formen von Steingeräten, von Hörn- und 
Knochenwerkzeugen und von eigenartiger Schnitz- und Mal- 
kunst, der sog. jungpaläolithischen Kultur, ein neuer Typ von 
Menschen da, samt und sonders artmäßig dem heutigen Men- 
schen, der Spezies homo sapiens, zugehörig. Und in schärfstem 
Gegensatz zur vorhergehenden Primigeniusform ist die neue 
Form, wie jene über die ganze Alte Welt verbreitet, deutlich 
und zweifellos in Rassen aufgelöst. Ob diese Rassen alle oder 
einzelne davon unmittelbar aus dem uns bekannten einheit- 
lichen Neandertalmenschen entstanden sind, läßt sich weder 
beweisen noch widerlegen. Aber sicher ist, daß im Laufe jener 

*) Neuester Fund von, größter Wichtigkeit: der Schädel von Steinheim 
(Württbg.). (Vorl. Mitt. von Berckhemer, Anthr. Anz. 10. 1923.) Aus- 
führliche Bearbeitung von W e i n e r t demnächst in Z. Morph. Anthr. 1936. 



RASSENENTSTEHUNG — FOSSILE FORMEN 



255 



letzten Zwischenzeit und der darauf folgenden Eiszeit die Ras- 
senbildung eingesetzt hat, und daß es zur Ausbildung einzelner 
Rassen gekommen ist. Wir finden bei diesen Jungpaläolithikern 
mit Sicherheit einerseits Rassen, die zu den heutigen Europäern 
unzweifelhaft in stamm esg-escliichtlicher.Beziehung stehen (Aurig- 
nac -Rasse, Brünn-Rasse, Cro-Magnon-Rasse, Kurzkopf rasse) 
und andererseits eine solche, die zu den Negriden gehört (Gri- 
maldi-Rasse) . Vorfahren-Rassen von Mongoliden und vielen 
anderen heutigen Gruppen kennen wir nicht; für die Australier 
dürften die wohl schon postcliluvial anzusetzenden Wadjak- 
(Java) und Talgai- (Australien) Funde ebenfalls Ausgangsras- 
sen darstellen. 

Es ist nicht Aufgabe der Erblehre, auf die fossilen Funde 
im einzelnen einzugehen 1 ) . Aber für den Versuch, die Ent- 
stehung der erblichen Rassenunterschiede zu erklären, sind die 
genannten Tatsachen von grundlegender Wichtigkeit. Wir haben 
also auf dem Sinanthropus-Pithecanthropusstadium den Men- 
schen im Besitz von Feuer und Werkzeugen. Auf dem folgen- 
den Stadium — Primigenius-Neandertal — ist er noch (an- 
nähernd) einheitlich, aber schon über die Kontinente ausgewan- 
dert, und eine Periode später, wiederum ausgewandert und im 
Besitz verschiedenartiger und verschieden entwickelter Stein- 
kulturen, ist er in die ersten Rassen zerfallen. Man darf anneh- 
men, daß die Rassenbildung dann noch weiterging. Wie kön- 
nen wir uns nun die Rassenbiklung als solche erklären ? 

Erbliche Unterschiede zwischen einzelnen Individuen oder 
ganze Gruppen von solchen kennzeichnende entstehen durch Mu- 
tationen (s.Absch. r, S.75). Bei freilebenden Tieren, wobei wir 
uns hier auf Säugetiere beschränken wollen, treten immer ein- 
mal Mutationen auf, d. h. Veränderungen von Genen, die dann 
ein neues Außenmerkmal erkennen lassen. Nach allen unseren 
Erfahrungen über das freilebende Tier und besonders auch aus 
unseren Experimenten mutieren bestimmte Gene häufiger als 
andere. Eine der häufigsten Genveränderungen ist die des Pig- 
mentfaktors für das Säugetierhaar zu einer Verlustmutanten. 
Es entsteht ein Albino. Die Annahme ist berechtigt, daß die 
Haarpigmentierungsgene bei allen Säugetieren teilweise glei- 
cher Natur sind. Deswegen wird diese Mutation bei allen gleich 
sein. Sie ist, wie gesagt, bei zahlreichen Säugetierarten (auch 



1 ) We inert. Menschen der Vorzeit. Stuttgart 1930. (Lit.) 
G i e s e 1 e r. Abstämmlings- und Rassenkunde des Menschen. I. Oehrin- 
jen 1936. (Lit.) 



256 EUGEN EISCH ER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



Vögeln) die häufigste. Eine andere Mutation führt zu Melanis- 
mus, wieder eine andere zu Rutilismus, beides ebenfalls bei 
einer ganzen Reihe von Säugetieren. (Schwarze Eichhörnchen, 
schwarze Panther, Puma, schwarze Haustiere. — Rote Katzen, 
Kaninchen, Pferde usw.) Eine andere Mutation bewirkt die 
Drehung oder Lockenbildung des Haares, ebenfalls bei den 
verschiedensten Tieren zu beobachten (Angora- Ziegen, Angora- 
Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Pudelhunde, sogar kraus- 
haarige Rinder und Schweine). Auch diese Gene dürften grund- 
sätzlich bei allen Säugetieren gleich sein und verhältnismäßig 
leicht mutieren (ich glaube aber, seltener und schwieriger als 
die Pigmentierungsgene). Dagegen sind z. B. Mutationen der 
Gene für das Haar nach der Seite der Haarverdickung, Bor- 
stenbildung, offensichtlich im Säugetierstamm außerordentlich 
selten. Kurz, es gibt leicht und schwer mutable oder, wie man 
auch sagen kann, labilere und stabilere Gene. Dies gilt sicher 
auch für den Menschen. 

Über die Ursachen der Mutation wissen wir, wie Ab seh. 3 
ausgeführt werden wird (Lenz), abgesehen von unseren künst- 
lichen Röntgenmutationcn so gut wie nicht 1 -). Vergleichen wir 
aber den Menschen mit der Säugetier weit, finden wir an ihm 
unendlich viel mehr auf Mutationen zurückgehende Erbunter- 
schiede als dort, vor allem auch pathologische. Nur die Haus- 
tiere kommen ihm an Zahl und Mannigfaltigkeit des normalen 
und krankhaften Genbestandes etwas näher. 

Eher noch mehr krankhafte Gene als beim Menschen kennen wir bei 
Drosophila, wo in vielen Tausenden von Zuchten jedes Auftreten der klein- 
sten Mutation beobachtet und deren Träger sorgfältig gezüchtet werden. 
Hier kennen wir erbliche Mißbildungen an ausnahmslos allen Körperteilen 
und beobachten zahllose letale Mutationen. Zucht und künstliche Auslese! 

Es kann kein Zweifel sein, daß alle Tiere im Zustand der 
Domestikation sehr viel stärker und vielseitiger mutiert sind, 
also erbliche Sondereigenschaften, Rassenbildung, aber auch 
krankhafte Mutationen zeigen, als freilebende. Der Hauptgrund 
dürfte der Mangel an Ausmerze sein. Die meisten Mutationen 
stellen ungünstigere Eigenschaften her als die nichtmutierten. 
Im Freileben werden solche Mutanten und 'ihre Nachkommen 



') Auf die theoretischen Vorstellungen über die Entstehung von Mu- 
tationen kann hier natürlich nicht eingegangen werden, es sei aber auf die 
außerordentlich interessante, anregende und vielversprechende Arbeit von 
T i m o f 6 e f f - R e s s o v s k y , Z i m m e r und Delbrück, Über die Na- 
tur der Genmutation und der Genstruktur mit allem Nachdruck hinge- 
wiesen. (Nachr. Ges. d. Wissensch., Göttingen (Biologie), N. F. B. 1. 1935.) 



RASSENENTS TEE ENG: MV TATI ONEN. 



257 



offenbar aufs schärfste ausgemerzt. In der Domestikation kön- 
nen sie sich erhalten oder werden sogar künstlich gehegt. Aber 
die Vermutung liegt nahe, daß außerdem durch die Domesti- 
kation als solche Mutationen in größerer Zahl entstehen. Die 
Domestikation ändert sehr stark den gesamten Stoffwechsel 
der betreffenden Tiere, (Nahrungsmengen, Nalrrungsart, Ernäh- 
rungsrhythnius, Wärmehaushalt, Körperbewegung usw.) eben- 
so die Fortpflanzungs Verhältnisse (willkürliche Eingriffe in 
den Beginn, die Begattungshäufigkeit, die Aufzucht der Jun- 
gen usw.) Es ist mir mehr als wahrscheinlich, daß im Zusam- 
menhang mit solchen Änderungen Mutationen ausgelöst wer- 
den. Die labilen Gene mutieren dann am häufigsten. So kommt 
es, daß wir bei allen Haustieren bestimmte Erbeigenschaften 
stark mutiert sehen in fast völliger Parallele. Bei fast allen gibt 
es Albino, albinotisch gescheckte, schwarze, rote, blonde, bunt- 
gescheckte, kraushaarige, kurz- und langhaarige, Zwerge, Rie- 
sen, Dackelbeinige (Hund, Schaf, Ziege) und vieles andere. 
Diese selben Erscheinungen zeigt der Mensch in seinen 
Rassen. Diese Gleichheit ist kein Zufall. Biologisch ist heute 
die gesamte Menschheit, auch die sog. Primitiven, in derselben 
Lage wie die domestizierten Tiere. Keine menschliche Gruppe 
besteht, die nicht ihren Stoffwechsel gegenüber dem etwa der 
Affen künstlich und willkürlich beeinflußt. Die stärkste Rolle 
dabei spielt der Besitz des Feuers, mit welchem der Mensch 
Nahrung konserviert (Rösten oder Braten des Fleisches, das 
sonst in den Tropen besonders schnell verdürbe) mit welchem 
er weiter ungenießbare, harte, schwer verdauliche und vom 
Darm nur wenig ausnützbare oder gar in rohem Zustand gif- 
tige pflanzliche Erzeugnisse genießbar und nahrhaft macht, 
mit welchem er seinen Wärmehaushalt verändert und endlich 
als Jagdmittel seinen Nahrungserwerb erleichtert. Und weiter 
gibt es keine Gruppe, die nicht ihre Fortpflanzung durch Sitte 
und Brauch und Recht künstlich geregelt hätte (Exogamie, 
Endogamie, Brautkauf, Kindstötung, Abtreibung usw.). Was 
beim Flausticr für die Erhaltung aufgetretener Mutationen 
Wille, Nutzziel oder Laune des Züchters ist, sind beim Men- 
schen kulturelle Einrichtungen, Sitten, Willkür und wohl auch 
Laune, die die natürliche Auslese und Ausmerze auf den primi- 
tiven Kulturstufen mindestens beeinflussen, auf den hohen ge- 
radezu ausschalten und z. T. ins Gegenteil verwandeln. Ich 
fasse also den Menschen von der Zeit an, da er Feuer besitzt 
und durch den Gebrauch echter Werkzeuge verrät, daß er 

B a 11 r - F i s c h e r - 1, e 11 z I. 17 



258 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

wohl auch soziale Einrichtungen und Sitte und Brauch hat, auf 
als in einem biologischen Zustand lebend, der dem des dome- 
stizierten Tieres völlig gleicht. Vor allem sei das steigende 
Ausgeschaltetsein der natürlichen Auslese betont! Damit wer- 
den auftretende Mutationen mindestens in viel größerer Zahl 
erhalten als beim freilebenden Tier, sehr wahrscheinlich aber 
auch in sehr viel größerer Zahl entstehen als dort. Man kann 
nun leicht zeigen, daß sämtliche Rassenunterschiede auf Genen 
beruhen, die ihre vollkommene Parallele in den Mutationen 
der Hausticrc haben. Ich komme unten darauf zurück 1 ). 

Wie entstanden nun die einzelnen Rassen ? 

Wir haben oben gesehen, daß schon der Sinanthropus 
Feuer und Werkzeuge besaß. Seit jener Zeit würde also der 
Mensch biologisch einer domestizierten Form entsprechen und 
mutieren. Daß nun einzelne aufgetretene Mutationen, die ja zu- 
nächst nur ein Einzelindividuum betreffen, sich auf eine Gruppe 
ausbreiten und damit Rassenmerkmal werden, hängt von be- 
sonderen Umständen ab. Entweder muß eine solche Mutation 
zu ungefähr gleicher Zeit bei einer größeren Anzahl von Indi- 
viduen einer Gruppe auftreten und dann positiven oder negati- 
ven Auslcscwcrt haben; wenn sie selbst sich rezessiv vererbt 
und biologisch große Vorteile im Kampf ums Dasein gegen die 
vorhergehende (nicht mutierte) Eigenschaft hat, wird sie durch 
positive Auslese rasch verallgemeinert werden können. Oder 
aber es bedarf der Isolierung. In sehr vielen Fällen — und in 
allen mindestens unterstützend — wird Isolierung einzelner mu- 
tiert er Individuen die Vermehrung der Träger der neuen Eigen- 
schaft bewirken. Und wir dürfen annehmen, daß solche Isolie- 
rung in weitestem Umfang z. Zt. der beginnenden Rasscnglie- 
derung der Menschheit stattfand. Wir sahen oben, wie der 
Mensch schon auf der Neandertalstufe und erst recht nachher 
über die Kontinente verbreitet war. Es ist ganz unmöglich, 
sich vorzustellen, daß er damals Länder füllende Völker bil- 
dete wie später oder heute. Von einem Bevölkerungsdruck, der 
von einem Entstehungszentrum des Menschen in wiederholten 
Schüben ausging, kann für diese frühen Zeiten gar keine Rede 
sein. Jene Menschheit zog in kleinen Trüppchen, familienweise, 



v ) Ich habe diese Vorstellungen zuerst 1914 dargelegt (Zeilschr. Morph. 
Anthr, t8. Festb. Schwalbe), seitdem aber nach der Seite der Mutations- 
ichre ausgebaut. — - Montandon nennt in seinem sehr interessanten Buch 
La race, les races (Paris 1933) den Vorgang „self-domeslicalion" und mißt 
ihm dieselbe Bedeutung bei. 



ISOLIERUNG 



WANDERUNG. 



259 



aus und offenbar über weite Strecken. Es wird viel zu wenig 
beachtet, daß das „Wandern" des Menschen etwas ganz ande- 
res ist als das irgendeines Tieres. Ein echtes Wandern führt 
Tiere innerhalb eines an sich geschlossenen Verbreitungsgebie- 
tes im Laufe eines oder auch mehrerer Jahre hin und her. Auf 
diese Weise wandern Antilopenherden, Lcmminge und viele 
andere. (Auch der Zug der Zugvögel gehört grundsätzlich 
hierher.) Wenn wir dagegen sonst von Wanderungen, vor allem 
vom Einwandern von Tierarten, z. B. in der Erdgeschichte und 
bezüglich der geographischen Verbreitung der Tiere, sprechen, 
ist dies ein ganz anderer Vorgang. Da wandert nicht das ein- 
zelne Tier, sondern da schiebt sich langsam das Verbreitungs- 
gebiet, beim Vogel etwa die Nistplätze, im Laufe mehrerer Ge- 
nerationen über die bisherige Grenze vor. Vielfach zieht sich 
das Verbreitungsgebiet auf der entgegengesetzten Seite ent- 
sprechend zurück. Es wandern also nicht die betreff enden Tiere 
im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie sterben an be- 
stimmten Stellen ihres Gebietes aus und schieben an anderen 
Stellen ihre Wohn- und Futterplätze langsam vor. Auf diese 
Weise dürfte sich aber niemals der vorhistorische Mensch ver- 
breitet haben. Er ist aktiv und wirklich gewandert. Hier dürfte 
die einzelne Familie innerhalb von Wochen und Monaten Meile 
um Meile zurückgelegt haben. Dann hat sie sich wohl in gün- 
stigen Gebieten dauernd aufgehalten, vielleicht vermehrt, und 
dann sind einzelne Trupps der gleichen, meist aber erst der 
folgenden Generationen abermals ausgewandert. Anders können 
wir uns die zeitliche und räumliche Verteilung der paläolithi- 
schen Funde nicht deuten. Es dürfte nicht ganz abwegig sein, 
wenn man sich vorstellt, daß auch der mit solcher Art Wan- 
derung verbundene Wechsel klimatischer und anderer Umwelt- 
einflüsse ähnlich mutationserregend gewirkt haben dürfte wie 
die Domestikationseinflüsse. Erst recht und ganz sicher haben 
aber diese Verhältnisse als scharfe Auslese gewirkt. Und end- 
lich hat diese Isolierung kleinerer Inzuchtkreise die Entstehung 
von Gruppen mit gleichen Mutationen aus den mutierten und 
sich kreuzenden Einzelindividuen bewirkt. Welche aller dieser 
Vorgänge bei den einen oder anderen der heutigen Zweige und 
Rassen stärker und schwächer gewirkt haben, und wie und wo 
diese Rassenbildungen im einzelnen stattfanden, entzieht sich 
völlig unserer Kenntnis. Aber wichtig scheint mir noch der 
Hinweis, daß alle diese Verhältnisse, Wanderung, Isolierung, 
Einwirkung neuer klimatischer Faktoren, Domcstikationscin- 



260 EUGEN TISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



flüsse, Auslese, außerordentlich lange Zeiten immer wieder an 
den verschiedensten Stellen der Erde auf alle möglichen ein- 
zelnen Gruppen in grundsätzlich gleicher, im einzelnen aber 
immer wieder verschiedener Weise eingewirkt haben. Man darf 
nicht vergessen, daß das nicht eine Erdperiode langer gleich- 
mäßiger Klimaverhältnisse war, sondern eine mit mächtigen 
säkularen Schwankungen, Kältevorstößen (Achen-Bühlschwan- 
kung usw.) Wärmeperioden, Trocknung und Feuchtigkeit gro- 
ßer Erdteile, Kommen und Gehen von Wald und Steppe und 
Wüste. So hat Rassenbildung an vielen Orten und zu vielen 
Malen stattgefunden im Gegensatz zürn einmaligen Ablauf des 
Prozesses der Menschwerdung selbst. Ich bin überzeugt, daß 
von jenen zahlreichen Vorgängen beginnender Rassenbildung 
nur eine Anzahl zu wirklichen Rassen geführt haben, in vielen 
anderen Fällen dürfte Mutation und Anpassung der Umwelt 
gegenüber versagt haben, so daß die Gruppe im Kampf ums 
Dasein ausstarb. Wir wissen ja auch aus viel späteren, aus ge- 
schichtlichen Zeiten, daß einzelne, in fremde Umwelt vorge- 
schobene Gruppen sich nicht halten konnten sondern ausstar- 
ben, wie z. B. die Dänen im 14. Jahrhundert an der Ostküste 
Grönlands oder die ersten nordischen Siedler in Nordamerika 
und andere. Es dürfte manche „Rasse" untergegangen sein, 
ohne daß wir Spuren von ihr erkennen können. 

Aus diesen Vorstellungen über die Entstehung der Rassen 
ergeben sich nun einige Folgerungen, die für die bisherige, 
rein äußerlich beschreibende Rassenlehre (Anthropographie) 
eine vernichtende Verurteilung darstellen. Eine Unterschei- 
dung der Rassen nur nach äußeren. Merkmalen ohne Entschei- 
dung darüber, ob die betreffende Ausprägung nicht zufällige 
Um weit wirkung darstellt, führt auf falschen Weg. Nur wenn 
wir die Erbanlage einer Eigenschaft kennen, dürfen wir diese 
als Rasseeigenschaft bezeichnen. Aber die Erbuntcrsuchung 
schützt noch gegen einen weiteren Irrtum. Die beschreibende 
Rassenkunde versuchte selbstverständlich immer auch eine 
systematische Einteilung der einzelnen Rassen nach Gleichheit 
oder Ähnlichkeit einzelner Merkmale. Häufig wurde ein einzi- 
ges Merkmal der Haupteinteilung zugrunde gelegt. So hat man 
die Menschheit etwa in Schlichthaarige, Kraushaarige und 
Straffhaarige eingeteilt oder in Weiße, Schwarze, Gelbe, Braune 
und Rote. (Die alte Blumenbachsche Einteilung.) Weiterhin 
hat man versucht, die Rundschädel und die Langschädcl als 
zwei große, genetisch je einheitliche Gruppen aufzufassen. 



VIELHEIT DER RASSENENTSTEHUNG, 



261 



Und heutige Ansichten von der Zusammengehörigkeit der alpi- 
nen Rasse mit der ostischen, mongolischen und der dinari- 
schen sind nichts anderes als die Folge dieser Überschätzung 
der Bedeutung eines deskriptiven Merkmales, über dessen Erb- 
unterlage die betreffenden Autoren nichts wissen. Die lang- 
schädelige Nordrasse hat auch nichts zu tun mit der langschä- 
dcligen Rasse, etwa der Eskimo, oder den langschädeli- 
gen Negern. Endlich gehört hierher die Theorie, daß alle sog. 
Pygmäen, seien sie in Afrika, in Indien oder in der Südsee 
eines gemeinsamen Stammes sind, nur weil sie denselben Klein- 
wuchs haben. Dabei wird ganz willkürlich die Grenze dessen, 
was man Pygmäen nennt, auf eine mittlere Körpergröße bis 
zu 150 cm angesetzt (nach M artin), und was als Mittelmaß der 
Körperlänge etwa 154 cm hat, ist nicht mehr Pygmäe, ist höch- 
stens „pygmoid" und dann, sozusagen wegen dieser vier Zenti- 
meter nicht mehr jenes gleichen gemeinsamen Stammes I Mit 
der Grenze der Rund- oder Langschädcl machen es gewisse 
Systematiker ebenso! Diese auf gänzliche Vernachlässigung des 
Biologischen zurückgehenden falschen, aber leider sehr ver- 
breiteten Ansichten können auf Grund der Ergebnisse der Erb- 
lehre nicht scharf genug bekämpft werden. 

Die Tatsache, daß alle Rassen durch Mutationen von vor- 
hergemeinsamen und gleichartigen Genen entstanden sind, daß 
es dabei eine Anzahl leicht labile Gene gibt, und daß endlich 
die Auslösung von Mutationen durch ähnliche Wirkungen im- 
mer wieder erfolgt sein muß, ,muß auch bewirkt haben, daß die 
gleichen Mutationen an mehreren Stellen der Menschheit auf- 
getreten sind. Es wird kaum jemand glauben, daß der erho- 
bene konvexe Nasenrücken der vorderasiatischen Rasse und 
der der nordamerikanischen Indianer und der gewisser Mela- 
nesier eines einheitlichen Ursprunges sind I (Auch kein Syste- 
matiker hat dies bisher angenommen.) Es müssen also an den 
genannten drei Stellen die Gene, die der ursprüngdichen, kon- 
kaven Form der primitiven menschlichen Nase zugrunde lagen, 
sich je selbständig abgeändert haben. So entstand die Mu- 
tation Konvexnase dreimal. (Sie ist tatsächlich auch noch an 
anderen Orten entstanden, worauf ich hier nicht eingehe.) 
Sollte es mit der Entstehung der Mutation ,, Spiraldrehung des 
Haares" anders gewesen sein? Wie bei der konvexen Nasen- 
form sind es zwei Mutationsschritte, die das Gen „schlicht- 
haarig" erfahren hat, um über wellig zu spiralgedrcht zu kom- 
men. Ich bin überzeugt, daß die Spiraldrehung des afrikani- 



262 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

sehen Negei-haares und die der Papua-Melanesier völlig selb- 
ständige und voneinander unabhängige Mutationen darstellt. 
(Man vgl. die Unterschiede am Kinderhaar beider, s. S. 157.) 
Ich bin weiter überzeugt, daß die Spiraldrehung des Tasma- 
nierhaares ebenfalls selbständig aus der Form des welligen 
Australierhaares entstanden ist. Wir haben also nicht die 
leiseste Veranlassung, verwandtschaftliche Beziehungen zwi- 
schen den genannten Gruppen auf Grund der äußerlichen 
Gleichheit der Haarform anzunehmen. Und ganz dasselbe gilt 
für die Pygmäen. Zwergwüchsigkeit ist eine außerordentlich 
häufige Mutation bei allen möglichen Tieren ; es ist mit Sicher- 
heit zu erwarten, daß sie auch beim Menschen an verschiede- 
nen Stellen selbständig auftrat. Es waren dann jeweils beson- 
dere Anpassungsverhältnisse, teilweise an Kümmerräume, ge- 
ringeres Nahrungsbedürfnis, die zur Erhaltung dieser Pygmäen 
führten, sie nur dort erhalten haben, wo wir sie heute ausnahms- 
los finden, in sog. Rückzugsgebieten. Aus gewissen Ähnlichkei- 
ten, die durch diese besonderen Lebensverhältnisse bedingt 
sind und in der Mentalität und Kultur vieler Pygmäen zum 
Ausdruck kommen, lassen sich noch immer Systematiker ver- 
leiten, Kleinwüchsige als solche genetisch für einheitlich zu 
halten. Warum hält niemand die Ergebnisse entgegengesetzter 
Mutationen, die ganz Groß wüchsigen, für einheitlich ? Man 
würde lachen, wenn man die Großwuchsmutationen etwa der 
ostafrikanischen Watussi und die der Schotten und endlich die 
der Patagonier genetisch zusammentun wollte ! 

Die Gründe also dafür, daß wir ganz unmöglich aus äußer- 
lich gleichen Merkmalen, die auf erblichen Mutationen beru- 
hen, auf verwandtschaftliche, nahe Beziehung schließen dürfen, 
sind die Labilität bestimmter Gene und die Gleichheit der mu- 
tationauslösenden Umstände über weite Zeiten und Räume. 
Selbstverständlich gilt das nicht nur für diejenigen Mutationen, 
die durch die oben geschilderten besonderen Umstände der 
Isolierung und Auslese zur Rassenbildung führten, sondern 
ebenso für zahlreiche andere, immer wieder bald häufiger, bald 
vielleicht nur unter Millionen ein oder das andere Mal auftre- 
tende Mutationen. So sehen wir bei allen Rassen als Einzcl- 
mutation und dann bei rezessivem Erbgang nach Kreuzung 
von Anlage-träge rn, sporadisch auftretend, Albinismus oder 
albinotische Fleckung oder die Erbanlagen von Krankheiten; 
epileptische oder sechsfingerige oder diabetische Neger 
oder Mongolen oder Europäer sind selbstverständlich durch 



VIELHEIT DER RASSENENTSTE/iU NG. 



263 



die betreffenden Gene nicht miteinander (genealogisch) „ver- 
wandt" i 

Für eines unter den zahlreichen sog. Rasscnmerkmalcn 
kann man die verschiedene genetische Entstehung der äußer- 
lich ganz gleichen Bildung bei geographisch voneinander weit 
entfernten Rassen einwandfrei beweisen. Und dieser Beweis ist 
dann eine unzweideutige Stütze für die gleiche Erklärung der 
anderen Merkmale, wie ich sie eben gab. 

Es handelt sich um die sog. Mongolenfalte. Wie oben 
(S. 199) gezeigt wurde, ist die schräge Augenfalte der Chinesen 
und Japaner in der Kreuzung mit Europäern dominant (s. Taf. 
13, Abb. 73, 7S u - 78). Bei diesen Mongolen, ist also diese Falte 
auf Grund eines dominanten Gens herausmutiert. Der Form 
nach genau dieselbe Falte ist (wie oben erwähnt) bei den. Hot- 
tentotten vorhanden, sie verhält sich aber in Kreuzung mit 
Europäern rezessiv (s. Taf. ir, Abb. 61, 62). Bei dieser 
Rasse ist also die Falte auf Grund eines rezessiven, neuen Gens 
herausmutiert. Der Vorgang war also ein selbständiger. End- 
lich haben die Eskimo dieselbe Falte. Auch bei ihnen vererbt 
sie sich in Kreuzung rezessiv. Sie ist also bei den Eskimo nicht 
im Zusammenhang mit den Mongoliden entstanden sondern 
selbständig. Die Wichtigkeit dieser Tatsachen für unsere Auf- 
fassung von. der Entstehung und gegenseitigen Stellung der 
Rassen kann gar nicht genug betont werden 1 ). 

Eine Folge dieser „polyphyletischen", also vielfachen, viel- 
stämmigen Entstehung der Rassen ist die Notwendigkeit, viele 
uns gewohnt und lieb gewordene Vorstellungen über verwandt- 
schaftliche Beziehungen mancher Rassen aufzugeben. Auf die- 
sem Gebiet muß das meiste neu überprüft und erforscht wer- 
den. Darstellungen wie die in dem großzügigen und sehr ver- 
dienstvollen Werk v. Eickstedts über Zusammenhänge und 
Massenwanderungen unter bestimmt gerichtetem Bevölkerungs- 
druck halte ich für verfrüht und nicht für haltbar. Rassenge- 
schichte setzt später ein, vorher brauchen wir Rassennaturge- 
schichte, d. h. Biologie, deren wichtigste Erscheinung die Ver- 
erbungserscheinungen sind. 

*) Es ist der Parallclfall z. B. zu der von St and fuß und Gold- 
schnitt! t gemachten Feststellung, daß der Schmetterling Callimorpha 
clominula in Deutschland und in Italien je eine gelbe Lokalform (bzw. Mu- 
tante) hat, die in der Erscheinung völlig gleich sind, aber auf ganz ver- 
schiedener genetischer Unterlage beruhen. — Es gibt solcher Beispiele 
mehr. (Goldschraidl, Die Naturwissensch. 23. Jg. 1935. S. 170.) 



264 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Neben den labileren Genen mutierten offenbar auch sta- 
bilere. So kommt es, daß einige wenige, gruppenweise vorkom- 
mende Mutationen, d. h. Rasseneigenschaften, nur ganz ver- 
einzelt oder nur an einer einzigen Steile auftreten. Die Mu- 
tation „Fettsteiß" kommt unter allen Haustieren nur beim Schaf 
vor und unter allen menschlichen Rassen (übrigens eine schöne 
Parallele und damit ein schöner Reweis meiner Vorstellungen 




Abb. 57. Fettstciß-Schai. Aufn. Zoologischer Garten Berlin. 



■'S - 

■A 









Abb. 58. FeUstciß der Hottentottin (Steatopygie) nach L. Schul 



VIELHEIT DER RASSEN ENTSTEHUNG. 



265 



von der Domestikationswirkung) nur als Hottentottensteiß bei 
dieser Gruppe (Abb. 57 u. 58). Auch das Fil-Fii-Haar der 
Buschmänner, die Bartform derWedda u. a. wären hier als ein- 
zigartig zu nennen. 

Es bedarf keines Wortes, daß unter die mutierenden Gene 
auch solche für geistige Anlagen gehören. Auch liier sind zwei- 
fellos verschiedenste Mutationen aufgetreten und einzelne im 
Kampf ums Dasein ausgelesen worden. Auch hier dürfte es 
Parallelen geben, die keine nähere Verwandtschaft einschließen 
und andererseits seltene, sei es selten entstandene oder nur 
durch ganz besondere seltene Umstände gezüchtete, Mutationen, 
wie etwa die außergewöhnlich hohe Begabung der nordischen 
Kasse oder die sicher von ihr völlig selbständig entstandene, 
hohe, aber andersartige Begabung gewisser Ostasiaten. 

Alle diese Tatsachen und Vorstellungen von der Entstehung 
der Rasseneigenschaften und Rassen führen unbedingt zu einer 
besonders starken Betonung des realen und beweisbaren Be- 
stehens einzelner, voneinander deutlich unterschiedener Rassen. 
Aus der Darstellung ihrer Entstehung könnte sich der irrige 
Eindruck bilden, daß nun der Mensch sozusagen fortwährend 
mutiere. Das ist sicher nicht der Fall. Die Mutationsprozessc, 
die die Rassenbiklung bewirkten, vollzogen sich in den unge- 
heuren Zeiträumen der letzten Zwischeneiszeit, Eiszeit und 
Nacheiszeit. Das waren also viele Jahrzehntausende und Zeiten 
unerhört en, wiederholten Klimawechsels, Zeiten, wo die junge 
Menschheit unendliche, vorher niemals von Menschen betre- 
tene Räume beschritt, Zeiten, wo sie erst im Beginn ihrer gei- 
stigen Entwicklung war und damit ihrer geistigen Überlegen- 
heit über die Tierwelt und die Naturgewalten. Wir können uns 
die Schärfe von Auslese und Ausmerze in diesen Zeiten und 
die Größe der Opfer an Erblinien, die diese Entwicklung der 
Menschheit gekostet hat, gar nicht groß genug vorstellen. 
Wenn die letzte Eiszeit samt ihren Ausklängen vorbei ist, sehen 
wir die Menschheit sozusagen in Stämme und Völker konsoli- 
diert. Neolifhische Völker sitzen in Europa, neolithische Mon- 
golen in Ostasien und Neger in Afrika. Da sind die heutigen 
Rassenverteilungen gegeben. Die Bildung der Rassen erfolgte 
also ausschließlich vorher. Die Mutabilität mit der Entstehung 
normaler morphologischer und physiologischer Mutationen ist 
stark geschwunden, sei es, daß jetzt die früheren Reize fehlen, 
sei es, daß die Möglichkeiten lebensgeeigneter Mutationen er- 
schöpft, oder Auslesevorgänge ausgeschaltet sind. Mutationen, 



266 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

die auftreten, sind meist solche krankhafter Art. Die ungeheure 
Zahl menschlicher Erblcidcn ist der Ausdruck davon. 

So ist Rasse, wenn wir von den einzelnen Ausnahmen der 
Mutation absehen, ein konstantes Erbbild. Wie alle 
Erbeigenschaften sind die Rasseneigenschaften unveränderlich 
und unbeeinflußbar von den durch die Umwelt bedingten Ver- 
änderungen des Körpers. Änderung eines Merkmales am Kör- 
per bedingt niemals und unter keinen Umständen eine entspre- 
chende Änderung der Erbanlagen. Rasse ist erblich gegeben 
und kann willkürlich vom Menschen nicht beeinflußt werden, 
es sei denn durch Kreuzung oder durch Ausrottung, worüber 
im nächsten Abschnitt gehandelt wird. 

Die geschilderten Vorgänge der Rassenentstchung haben 
also die ursprünglich einheitliche Menschheit in deutlich und 
scharf voneinander verschiedene Rassen zerlegt. Die einzelnen 
derart gewordenen Rassen, gefestigt und einheitlich geworden 
in sich durch Inzucht innerhalb der Gruppe und schärfste über 
Jahrzehntausende gehende Auslese, sind körperlich und geistig 
deutlich voneinander unterschieden. Biologisch war jede an den 
Ort und die Zeit ihrer Entstehung sehr weitgehend angepaßt 
und damit optimal erhaltungsfähig. Die nicht angepaßten sind 
untergegangen. Von unserem kulturellen Standpunkt aus kön- 
nen und müssen wir anders werten, eben nach unserer eigenen 
kulturellen Leistungsfähigkeit. Ihr gegenüber gibt es Abstu- 
fungen höchster geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit 
bis zur ausgesprochenen Minderwertigkeit. 

Die Abgeschlossenheit und Rassereinheit der ursprüng- 
lichen Rassen ist erst im Lauf der Zeiten dadurch geändert 
worden, daß sich nun wandernde Menschengruppen verschie- 
dener Rassen begegneten und kreuzten. Dieser Vorgang hat 
dann später, als größere Stämme und richtige Völker entstan- 
den waren, ungeheuer zugenommen. Völkerwanderungen, Er- 
oberungen, Überschichtung und damit Rassenkreuzung fand in 
großem Umfang statt. Jetzt erst trittEcvölkerungsdi'uck (v.Eich- 
stedt) auf, und bestimmte Druck- und Zugrichtungen sind 
immer wieder wahrnehmbar. Jetzt kommt zur „Wanderung" 
auch echte Ausbreitung im Siccllungsraum und über den ersten 
solchen hinaus. Wie daraus die heutigen Völker wurden, und wie 
weit man später nach den fremden Einschlägen und Kreuzungen 
noch von Rasse sprechen kann, wird unten erörtert werden. 

Die letzten, paar Jahrtausende Menschheitsentwicklung ha- 
ben es also fertiggebracht, daß man von den ursprünglichen 



TRENNUNG DER RASSEN. 



267 



Rassen nur an wenigen Stellen Reste in ihren reinen ursprüng- 
lichen Formen findet. Es sei hierfür etwa auf Buschmänner, 
Wedcla, Australier, Eskimo und ähnliche, man kann schon 
sagen, — Reste hingewiesen. Zahlreiche andere sind nicht nur 
durch die erwähnte Rassenkreuzung, Überschichtung und dau- 
ernde Verschiebung geändert worden, sondern auch durch die 
ausschließlich nur beim Menschen in dieser Art einsetzenden 
Vorgänge der immer zunehmenden Ausschaltung jeder natür- 
lichen Ausmerze und der sich steigernden Einführung natur- 
widriger einseitiger und verkehrter Auslese. 

Daraus ergibt sich, daß nur die angedeuteten isolierten 
Reste der Australier usw. noch heute als Rassen den Rassen 
der Tiere, auch der Haustiere, teilweise auch den freilebenden 
Lokalrassen verglichen werden dürfen ; mit Recht spricht von 
ihnen Sarasin als von Varietäten. Alle anderen lassen sich 
mit irgendwelchen Varietäten oder Rasscnbildungen der Tiere 
überhaupt nicht völlig vergleichen. Man kann, wie es Lenz- 1 ) 
tut, von der geographischen Verteilung der Erbanlagen undErb- 
linien sprechen, aber mit den geographischen freilebenden Tier- 
rassen hat das meiner Meinung nach nichts zu tun. Die Be- 
standteile waren einmal durch weite leere Zwischenräume von- 
einander getrennte Rassen, und der heutige Zustand ist durch 
Vorgänge, wie angedeutet, entstanden, die spezifisch kulturell, 
menschlicher Art sind und im Tierreich niemals vorkommen. 
(Auch nicht beim Haustier in dieser Form, weil hier dauernd 
zielbewußte Zucht und Auslese stattfindet.) 

Man muß das aus jahrtausendelanger Kreuzung einander 
relativ naher Rassen entstehende Gemisch, in dem die Erb- 
linien der Bestandteile untrennbar verwoben sind, als etwas 
Neues auffassen. Aichel nennt es sekundäre Rasse. Ichhalte 
das nicht für gut — jedenfalls muß man sich des biologisch 
anderen Charakters bewußt bleiben. 

Es wäre nun aber falsch anzunehmen, daß nun die ande- 
ren Rassen — es sind die wichtigsten und leistungsfähigsten 
der Menschheit -- wirklich verschwunden, und daß ihre Rassen- 
cigenschaften untergegangen wären. Im Gegenteil I Wie vor- 
hin angedeutet, haben einzelne, den anderen stark überlegene 
Rassen ihren Bestand gewaltig vermehrt, so z. B. die euro- 
piden, aber auch viele mongoliden. Da wuchsen also große 
Volkskörper heran, ursprünglich reinrassig, die nun für ihre 
wachsende Menge und vermöge ihrer rassenmäßigen Eroberer- 

l ) L e n z , a. S. 27 i, u. O. 



268 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPEREICHEN ERBANLÄGEN. 



VERTEILUNG DER ERBANLAGEN. 



269 



natur, Aktivität und ihres Ausdehnungsdrangs neue Räume 
suchten. Wohl die aktivste derartige war die „nordische Rasse". 
Ihre Eroberungen und Übcrschichtungen haben von der frühen 
jungen Steinzeit an über einige Jahrtausend die europäischen 
Völker bilden helfen. Dabei ging sie Kreuzungen ein mit den 
anderen Rassen Europas, und insofern ist es berechtigt zu 
sagen, es gibt liier keine reinen Rassen mehr 1 ). Alle europäi- 
schen Völker bestehen aus der Kreuzung nach solchen Über- 
schichtungen (nur mit anderen europäischen Rassen). Die ger- 
manischen Völker haben dabei den stärksten Restandteil jener 
nordischen Rasse gewahrt. Da die Kreuzung selbstverständlich 
nie eine über ein ganzes Volk weg so gleichmäßige und für 
beide Kreuzungsteile zahlengleiche war, wie wir es im künst- 
lichen Kreuzungsversuch mit Tier und Pflanze durchführen, 
blieben selbstverständlich in allen diesen Völkern massenhaft 
Bevölkerungsteile mit nur wenig Einschlag' je des betreffenden 
fremden Bestandteiles, sozusagen Horste der alten Rasse. Ger- 
manische Völker haben nachweisbar viel und teilweise fast ge- 
schlossen sitzende Reste der nordischen Rasse, romanische ent- 
sprechende Anteile der mediterranen. 

Und erst recht sind die einzelnen Rasseneigcnschaften der 
ursprünglich reinen Rasse nicht verloren gegangen. Die Erb- 
anlagen, körperliche und geistige sind alle noch da. Sie kom- 
binieren sich nur mit irgendwelchen anderen. Deswegen kann 
man nach der Strenge der Definition, die homozygote Eigen- 
schaften verlangt, nicht von wirklicher Reinrassigke.it sprechen. 
Aber dem ganzen Gepräge eines Volkes verleiht diese Haupt- 
rasse ihre Sonderheit, man vergleiche etwa Schweden mit 
Spanien. Die Rasseneigenschaften der ursprünglichen Rassen 
sind also in Tausenden von Erblinien vorhanden und wirksam. 
So eigenartig, fast widersinnig es klingen mag, die Mensch- 
heitsgeschichte hat es fertig gebracht, daß die paar zoologisch 
als reine Restrassen zu bezeichnenden Grüppehen, die es in 
ihrer Passivität nur zu dürftigem Leben in Rückzugsgebieten 
gebracht haben, in der Menschheit überhaupt keine Rolle spie- 
len, daß aber „ Rasse" die größte Rolle spielt, nämlich das un- 
verbrauchte und erhaltene Rassenerbe bestimmter Rassen 
vor allem der nordischen — als Unterlage leistungsfähiger 
Völker. Es ist die Menge und Qualität dieser bestimmten Ras- 



l ) Hier ist nur von Kreuzungen in Europa die Rede 
Negern haben gänzlich andere Folgen. 



solche etwa mit 



senbestandteile, deren Leistung die eigentliche Unterlage der 
kulturellen Entwicklung der Menschheit ist. 

Betrachtet man dieses Aufgehen ursprünglich reiner Ras- 
sen, eben kraft ihrer Leistung und ihres Herrentums, in Völker, 
so kann man feststellen, daß in der Mehrzahl der Fälle später, 
wie auch heutzutage, die kulturellen Einrichtungen (Auslese- 
hemmung, verkehrte Auslese usw.) das leistungsfähige Ras- 
senclcment verringern oder zerstören (siehe Rand II dieses 
Werkes). 'Aber daraus folgt auch, daß diese selbe ,, Kultur", wenn 
sie, wie heutzutage endlich unsere eigene, Einsicht und festen 
Willen hat, durch entgegengesetzte Maßregeln, d. h. Rassen- 
hygiene und Revölkerungspoiitik, die Schäden ausschalten und 
positiv die Rasse pflegen, wieder heben und im Ganzen oder 
ein Rassenelement zur Vermehrung bringen („züchten") kann 1 -). 



c) Verteilung der rassenmäßigen Erbanlagen 

Allgemeines 

Nach den obigen Ausführungen über die vielfache, selb- 
ständige Entstehung einzelner Rasseneigcnschaften (Mutatio- 
nen) bei verschiedenen menschlichen Gruppen ergibt sich die 
schon oben erwähnte Unmöglichkeit, die menschlichen Rassen 
einfach nach einzelnen Merkmalen genealogisch anzuordnen. 
Aber es wäre falsch, anzunehmen, daß nun jede Einteilung un- 
möglich geworden ist. Sic muß nur von der Zugrundelegung 
einzelner, rein deskriptiver Merkmale absehen, sich vielmehr 
auf Eigenschaften stützen, deren erbliche Unterlage nachge- 
wiesen ist, und ihre Entstehungsmöglichkeiten berücksich- 
tigen. Den Nachweis kann nur Beobachtung des Erbganges 
bei der Kreuzung erbringen. Außer den einzelnen Rassen hat 
mau schon lange einige größere Gruppen unterschieden, die 
dann erst in sich wieder in Rassen zerfallen. Auch einer Gen- 
analyse erscheinen diese größeren „Zweige" grundsätzlich als 
Rassen. Sie setzen sich aus einzelnen Rassen zusammen 
mit je besonderen Erbeigenschaften, aber alle diese haben 
eine Reihe gleicher Eigenschaften, die den Zweig als sol- 
chen kennzeichnen. Auch die Eigenschaften dieser Zweige 

1 ) Die dem widersprechenden Ausführungen am Schluß des B ;i u r - 
sehen Teiles gehen von der irrigen Voraussetzung aus, daß die Kulturvölker 
gleichmäßig durchgekreuzte Gemische seien. Baur hätte den Irrtum 
sicher richtiggestellt, eine letzte Überprüfung war ihm nicht mehr vergönnt. 



t 



270 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



müssen natürlich durch. Mutationen entstanden sein. Diese Muta- 
tionen ergaben die eigentümliche Gesamtkombination von Eigen- 
schaften, die dem Zweig eigen ist. So sicher nun ein und die- 
selbe Mutation an vielen Stellen der Menschheit aufgetreten 
ist und auftritt, so unwahrscheinlich ist es, daß eine ganze 
Reihe von gleichen Mutationen ingenau derselben 
Kombination mehr als einmal entstanden ist 1 ). Je größer 
die Zahl mutierter Erbeigenschaften ist, die in einer bestimm- 
ten Kombination dauernd zum Erbbild eines solchen Zweiges 
durch den Prozeß der Auslese zusammengeschlossen sind, desto 
größer ist die Sicherheit für die Annahme, daß solch ein Zweig 
genetisch eine Einheit und einmalig ist. in diesen Fällen müssen 
wir uns also vorstellen, daß zunächst auf dem früher angegebe- 
nen Wege der Mutationen, Isolierung und Auslese eine Rasse ent- 
standen ist. Diese behielt nun eine bestimmte Menge der sie 
kennzeichnenden Eigenschaften bei, während andere innerhalb 
ihres Schoßes bald so, bald so mutierten. Damit sondert sich 
also nun die ursprüngliche „Rasse" in mehrere Unterrassen, 
die durch neuaufgetretene Mutationen sich voneinander unter- 
scheiden, aber vom ursprünglichen Erbbestand noch eine Reihe 
Gemeinsamkeiten bewahrten. Die ursprüngliche „Rasse" nen- 
nen wir jetzt „Zweig", die daraus entstandenen Bildungen kurz- 
weg Rassen. Dieses ist sicher das Verhältnis bei drei großen 
Gruppen, die wir als curopiden, negriden und mongoliden Zweig 
bezeichnen. Über das gegenseitige Verhältnis bei der Entste- 
hung läßt sich heute noch nichts aussagen. Ob neben diesen 
großen Zweigen auf dieselbe Weise noch mehrere andere 
Zweige oder gleichzeitig mit ihnen einzelne Rassen, d. h. 
Gruppen, die sich nicht mehr in Unterabteilungen sonderten, ent- 
standen sind, ist schwer zu sagen. Ich möchte annehmen, daß 
lange wirkende und scharfe Auslese eine erste Teilung der 
Menschheit in drei Gruppen bewirkt hat, die sich dann je durch 

1 ) Hier unterscheide ich mich stark von den Auffassungen Montan- 
d o n s , mit denen ich sonst in vielen Punkten einig gehe. Er hält es für 
wahrscheinlich, daß genau die gleichen Rassen — - also ganze Rassen, d. h. 
deren gesamte komplizierte Erbanlagcnkombination.cn — gleichzeitig und 
genau gleichartig an vielen Stellen entstehen! So sollen z. B. die Eskimo 
überall an der ganzen arktischen und subarktischen Oberfläche, der nördlichen 
Erdhalbkugel entstanden sein. Andere Rassen werden ähnlich abgeleitet. 

Dagegen stimme ich in vielen Punkten mit M o n t a n d o n s Gedanken 
einer ,,Hologenesc" über ein, daß vielfach, durch Spaltung neue Rassen, 
eine aus der andern, entstehen. Eine Einzelerörterung muß hier wegbleiben. 
Seine beiden sehr interessanten Werke sind: Montandon, G. L'ologe- 
nesc humaine. Paris 1928, und La rare, les races. Paris 1933. 



DIE MUTATIONEN. 



271 



besonderen Genbestand unterschieden. Der einen davon, der 
europiden, steht aber offensichtlich ein weiterer Zweig sehr 
nahe, ob als selbständig aufzufassen oder mit dem europiden 
zwei Unterzweige bildend, muß offen bleiben; es ist der austra- 
lide Zweig. Das Verhältnis zwischen den. beiden wird sich ein- 
mal aufklären lassen, wenn wir von den Beziehungen des Nean- 
dertalers einerseits zu den spätpaläolithischen Rassen und an- 
dererseits zum heutigen Australier mehr wissen, und wenn wir 
die Erbanlagen der Australier in Kreuzungen mit anderen 
Rassen mehr verfolgt haben, werden. 

Die Entstehung der einzelnen Mutationen muß man sich 
etwa folgendermaßen vorstellen. Der Ausgang ist der in seinen 
Eigenschaften noch einheitliche Urmensch mit einem bestimm- 
ten Gensatz. Für die Form des Skelettes dürfen wir etwa den 
Neandertaler zugrunde legen und eine ziemlieh geringe Kör- 
pergröße von etwa 1,60 bis 1,63 m, eine Langschäcleligkeit mit 
dem mittleren Index von 75, ein niederes, massiges Gesicht 
und fliehendes Kinn annehmen. Aus den Erbeigenschaften der 
heute als die primitivsten angesehenen Rassen und als Erbe 
von den anthropoiden Stadien her dürfen wir schlichtes bis 
weitwelliges Haar, schwarzbraune Haarfarbe, dunkle Augen 
und mittelbraune Elautfarbe annehmen. An dem Gensatz, der 
diese (und natürlich die allgemein menschlichen, heute allen 
Rassen gemeinsamen) Erbeigenschaften bedingt, vollzogen sich 
nun die Mutationen. Wie ausgeführt, ein und dieselben an meh- 
reren Stellen. Es soll daher hier zunächst eine kurze Betrach- 
tung dieser einzelnen Mutationen- und dann eine solche der gan- 
zen Rassenzweige erfolgen 1 ) (s. für das Folgende die Abb. auf 
S. 276, 277). 

v ) Ausführliche Darstellung in Einzelheiten und Begründung der An- 
nahmen behalte ich mir an andrer Stelle vor. Dort möchte ich mich auch 
mit ähnlichen oder entgegengesetzten Meinungen anderer Autoren auseinan- 
dersetzen. Vorliegende Darstellung legte ich im Auszug zuerst 1:931 in 
einem Vortrag in Rom vor (Atti del congr. int. per gli studi s. popolazione. 
Roma 1933). Ich halte ins Einzelne gehende Erörterung des einschlägigen 
Schrifttums hier im Rahmen des Lehrbuches nicht für angezeigt. Ich nenne 
aber folgende Schriften: 

Rensch, B. Das Prinzip geographischer Rassenkreise und das Pro- 
blem der Artbildung. Berlin 1929. 

Dcrs. Zoologische Systematik und Artbildungsproblcm. Leipzig 1933. 

Ders. Umwelt und Rasscnbildung bei warmblütigen Wirbeltieren. Arch. 
Anthr. N. F. 23. 1935. 

Lenz. Über Rassen und Rassenbildtmg. Unlerrichtsbl. (. Math, und 
Nat. 40. 1934. 



272 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



D e r K r a u s h a a r - F aktor (s. S, 158) ist einmal aufge- 
treten bei der Entstehung des gesamten negriden Zweiges, so 
daß dieser ausnahmslos kraushaarige Gruppcen hat. Innerhalb 
des Zweiges dürfte ein zweiter ähnlicher Faktor, ,,Fil-Fil", für 
die Buschmänner-Hottentotten dazugekommen sein. Innerhalb 
des australiden Zweiges nehme ich dreimal vollkommen selb- 
ständiges Auftreten dieses Faktors an. Einmal geschah es bei 
der Entstehung der Negrito-Gruppe (Scmang, Andamancn 
usw.), dann bei der Abspaltung der Papua-Melanesier, deren 
Kraushaarigkeit ich also gegenüber der der Neger für völlig 
selbständig halte. Und endlich halte ich die Tasmanier durch 
diesen Faktor für abgetrennt von den Australiern. Im Euro- 
piclenstamm ist der Kraushaar-Faktor als gruppenbildend nicht 
aufgetreten. Wohl aber möchte ich annehmen, daß diese Mu- 
tation ab und zu in einzelnen Erb Linien spontan auftrat bzw. 
auftritt, woraus stärkere Lockung oder Kraushaarigkeit in ein- 
zelnen europäischen Familien erklärt würden, van Bemme- 
1. e 11 hat deren Vererbung verfolgt. (Manche Kraushaarigkeit 
bei Europäern ist natürlich auch das Wiederauf treten weit 
zurückliegender, eingekreuzter, echt negrider Erbanlagen.) Im 
mongoliden S tamm endlich ist dieser Faktor nirgends nach- 
weisbar, was wohl damit erklärt ist, daß beim Mongolenhaar 
ein geradezu entgegengesetzter Faktor, der für Straffhaarig- 
keit, rassebildend auftrat. Er ist dominant. Ein Mutieren zur 
Kraushaarigkeit müßte hier sozusagen drei Mutationsschritte 
machen. Einer davon, nämlich ein Rückwärtsmutieren von 
der Straffheit zur Schlichtheit, kommt sporadisch und ohne 
Gruppenbildung bei den Mongoliden vor. 

Der P y g m äen- F akto r ist keinesfalls ein einfach spal- 
tendes Genpaar Groß-Klein, so daß man natürlich nicht die 
ziffernmäßige Grenze des Systematikers für ,, Pygmäen" als 
eine Art Bestimmung eines Erbmcrkmales annehmen darf. 
Man muß vielmehr sog. Pygmäen, sog. Pygmoiclc und alle 
Kleinwüchsigen auffassen als Gruppen, die durch Minus-Muta- 
tionen der Gene für mittlere Körpergröße entstanden sind. 
Wir sehen solche mindestens zweimal im negriden Zweig 
(Koisan und übrige Afrika-Pygmäen), weiter mindestens zwei- 
mal im australiden Zweig (Wedda-Ncgrito und Neu-Guinea- 
Pygmäen). Im mongoliden Zweig sind es die Lappen und wohl 
noch andere Kleinwüchsige, im europiclen die kleinwüchsigsten 
M.editerranen und, falls wirklich vorhanden, die von Koll- 
mann angenommenen neolithischen Kleinwüchsigen. 



DIE EINZELNEN RASSEN-ERBANLAGEN 



273 



Ein Großwüchsigkeitsfaktor-Gen ist in allen Zweigen an 
einzelnen Stellen deutlich sichtbar. 

B rachy z eph alie-F ak t o ren müssen wir als Muta- 
tionen der dolichoiden ursprünglichen Schädelform in brachy- 
zephale annehmen, und zwar in allen Zweigen je selbständig, 
bei der Schwierigkeit der Frage der Vererbung der Schädel- 
form offenbar verschiedenartige. Am ausgiebigsten und, wie ich 
annehmen möchte, am frühesten, trat der Faktor im mongo- 
liden Zweig auf, der in seiner Gesamtheit brachyzeplial wurde. 
Nur che Eskimorasse dürfte, sich vorher abgespalten haben. Im 
europiden Zweig halte ich die Brachyzephalie-Gene der al- 
pinen Rasse, der dinarischen Rasse und der ostbaltischcn Rasse 
je für selbständig aufgetreten. Es liegt kein Grund vor, diese 
Rassen nur wegen der Gleichheit des Längenbreitenindex als 
zusammengehörig aufzufassen, während Körpergrößen, Nasen- 
formen, Gesichtsformen und Farben jeweils stark voneinander 
abweichen. Auch die Schädel dürften nur den Index, nicht die 
Einzelgestaltung der Schädelknochen übereinstimmend haben. 
Diese letztere aber hängt von besonderen Genen ab. Innerhalb 
des australiden Zweiges trat ein selbständiges Brachyzephalie- 
Gen der Papua-Melanesier auf. Und endlich finden wir im ne- 
griden Zweig ein solches Gen bei den Koisan, bei den zentral- 
afrikanischen Pygmäen, aber auch mehrfach deutlich bei echten 
Negergruppen (einzelnen Negerstämmen). 

Nasenform-Faktoren : Daß die sog. australoide und ne- 
groide Nasenform, wie sie außer Australiern und Negern auch 
den weddideo, den breitnasigen Papua, den afrikanischen Pyg- 
mäen und anderen zukommen, eine primitive Ausgangsform 
(Formen?) darstellen, kann als gesichert gelten. Der erste Mu- 
tationsschritt bringt wohl eine etwas erhobene, geraderückige 
Nase hervor, ein weiterer Schritt von dieser aus die konvexe, 
vielleicht noch ein solcher die sehr stark vorspringende Plaken- 
nase. Die Erbverhältnisse sind noch nicht in allen Punkten klar 
(s. obenS. 195). Es ist nun sehr deutlich, daß gerade und kon- 
vexe Nasenformen innerhalb der Menschheit in fast allen Zwei- 
gen herausmutiert sind. Im negriden Zweig fehlt diese Mutation 
völlig. Im australiden führte sie zu den schmalen konvexen Na- 
sen gewisser (Papua-)Melanesier. Im europiclen Stamm dürfte 
das Gen für gerade Nase ziemlich an der Wurzel aufgetreten 
sein (wobei die Frage der Nasenform der alpinen Rasse und 
derAino genetisch noch besonderer Erforschung bedarf). Einen 
deutlichen weiteren Mutationsschritt bedeutet wohl die Entste- 



Baur -Fischer - 1, e 11 z, I. 



274 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 

hung der Hakennase für die vorderasiatische und dinarische 
Rasse. Wie ich glaube, ist selbständig davon und in etwas an- 
derer Form— und das spricht gerade für die Selbständigkeit 
der Mutation — bei der orientalischen Rasse die gebogene Nase 
entstanden. Endlich dürften manche sog. Adlernasen in der 
nordischen Rasse als Neumutationen und deren Vererbung auf- 
zufassen sein, soweit nicht die Folge dinarischer Einkreuzung 
vorliegt. Im mongoliden Stamm endlich kommen diese Fak- 
toren ebenfalls zur Ausprägung. Gerade oder leicht konvexe 
Nasenrücken sieht man im feinen japanischen Rassentyp (B alz), 
wobei wohl wegen der etwas verschiedenen Ausgangsform das 
Ergebnis dieser Mutation der geraden Nase des Europäers nicht 
genau gleicht. Diese Dinge bedürfen dringend der Erforschung 
ihres Erbgangs, eine sehr lohnende Aufgabe für die Forscher 
im Fernen Osten. In sehr viel größerem Ausmaß führte die 
Alutation in diesem Zweig zur Geradnasigkeit bei vielen mittel- 
und südamerikanischen Indianergruppen und, als letzter Mu- 
tationsschritt, zur Adlernase einerseits bei nordamerikanischen 
Indianern wie andererseits in Asien etwa bei gewissen Kirgisen 
und anderen. 

Pigmentfaktoren treten im Sinne einer Pigment- 
steigerung wie vor allem auch eines Pigmentschwundes in 
allen Zweigen auf. Eine besondere Rolle dürfte der Gelbfaktor 
spielen. Daß Mongolen einen dominanten, Neger einen rezes- 
siven Gelbfaktor haben, zeigt die Selbständigkeit der betreffen- 
den Mutationen. Daß ein Gelbfaktor den Australiern fehlt, 
macht die Selbständigkeit der Braunfaktoren bei ihnen und 
Negern mindestens wahrscheinlich. 

Unbekannt ist uns noch, ob die Faktoren der sog. 
Blutgruppen ebenfalls mehrfach selbständig durch Muta- 
tion entstanden sind. Daß sie in grundsätzlich derselben Form 
und Verschiedenheit bei anthropoiden Affen vorkommen, wider- 
legt die Ansicht derer, die glauben, daß die verschiedenen Blut- 
gruppen ursprünglich Rassenunterschiede in dem Sinne waren, 
daß die einzelnen Zweige oder bestimmte Rassen innerhalb 
derselben je einer einzigen Blutgruppe angehören. Dieses Ge- 
biet enthält noch sehr viele ungeklärte Rätsel. Dasselbe gilt 
auch einstweilen für die Entstehung der Gene für die Tastleisten, 
deren rassenmäßig verschiedene Häufigkeit auffallend genug 
ist, und für viele andere Erbeigenschaften. 

Schließlich sei noch einmal betont, daß andere Mutatio- 
nen, im Gegensatz zu den bisher angeführten, innerhalb der 



DIE EINZELNEN RASSEN-ERBANLAGEN 



275 



ganzen Menschheit nur ganz selten oder auch nur ein einziges 
Mal gruppenbildend aufgetreten sind. Unter ersteren wurde die 
mediale Augenfalte, sog. Mongolenfalte, schon erwähnt (S. 263). 
Es wären besondere Schmalgesichtigkeit, Verstärkung der ur- 
sprünglichen Dolichozephalie, Verstärkung oder Verlust des 
männlichen Bartes und manches andere als weitere Mutatio- 
nen zu nennen. Zu einmalig auftretenden rechne ich den Ver- 
lust des Sakralfleckes im europiden Zweig, den Hottentotten- 
steiß, den Weddabart. Man darf wohl auch bestimmte geistige 
Anlagen der nordischen Rasse und andere einzelner anderer 
Rassen hierher rechnen. 

Ich bin mir bewußt, daß diese Darstellung ein. erster Ver- 
such ist, und daß manche Einzelheiten noch herausgearbeitet 
werden müssen. Aber gerade deshalb hielt ich die Darstellung 
auch in diesem Lehrbuch für berechtigt und notwendig, auch 
weil sie die Mitarbeit alier Forschenden hervorrufen soll. 

Faßt man nun das Ergebnis der Betrachtung der einzelnen 
Gene zusammen, so erhält man etwa folgendes Bild davon, wie 
der menschliche Erbstrom mit seinen unveränderten und durch 
Mutation veränderten Genen in die einzelnen Zweige und Ras- 
sen geflossen ist. In den folgenden Abbildungen sind die 
mutierten Gene durch einzelne Zeichen bei allen Zweigen auf 
gleiche Weise dargestellt. Man vergleiche die einzelnen Ver- 
zweigungen, die zu den Rassen führten. Es sei besonders be- 
tont, daß die Führung der einzelnen Zweigchen im Bild nach 
oben oder unten keinerlei Wertung bedeutet. Ebenso möchte 
ich mich mit den Bildern bezüglich des verwandtschaftlichen 
Nebeneinander s oder Fernerstehens der einzelnen Rassen auf 
keine Weise festlegen. Ebensowenig soll eine zeitliche Reihen- 
folge der Entstehung gegeben sein. Das Schema soll aus- 
schließlich das Auftreten der Mutationen, vor allen Stücken 
das selbständige Auftreten, gleicher Mutationen an vielen Stel- 
len dartun. Viele einzelne Mutationen sind weggelassen, so z.B. 
alle an Erbanlagen für geistige Leistungen. Daß im selben 
Zweig sehr verschiedenartige und einander heute sehr fremd 
gegenüberstehende Rassen vorkommen, vor allem auch geistig 
sehr verschiedene, kann nicht verwundern, wenn man die Mu- 
tationsmöglichkeiten im Tier- und Pflanzenreich kennt. Es ist 
interessant zu sehen, daß in einzelnen Zweigen neben geistig 
zurückgebliebenen sehr hoch entwickelte Rassen stehen, z. B. 
im europiden die nordische und die Aino, im mongoliden die 
Chinesen-Japaner und gewisse nordsibirische Jägerstämme. 



xs* 



276 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 




.ZWERGWUCHS 



) BRACHyKEPH '/// PIMENT - 



j PIGMENT- ®@ VERLUST f?Sl SPIRAL HAAR 
I VEHNEHHUNG @ DES 

SACRAL FLECKS 



BART 



GERADE 
NASE 



CONVEXE 
NASE 



Abb. 59. Australidcr Zweig. 




HOCHWUUHS D P1GM.VERIUST ggt BRACHyKEPH. vL; schXdei- 

■//, PIGMENT- W ^ u.HIRN- 

ZVER&WUCH5 ^VERMINDERUNG n SCHMALGESICHT MUTATIONEN 

SAKfiftECKVEmuST LLi HELLBLOND ü f BART 



GERADI 
NA5£ 

C0NVES1 
HASE 



Abb. 60. Europidcr Zweig. 

Abb. 59 bis 62. Die wichtigsten Mutationen in den vier hauptsächlichsten 

Rasse zweigen. 



Ich glaube, nach' den Ausführungen der vorigen Seiten 
brauchen die obigen Bilder keine besondere Erklärung mehr; 
auf viele Einzelheiten wird im folgenden Abschnitt eingegangen. 

Es ist klar, daß die dargelegten Vorstellungen von der 
Entstehung der Rassen, die ganz folgerichtig auf der Erblehre 
aufgebaut sind, viele rein auf äußerlicher Beschreibung von 



DIE RASSENZWEIGE, 



277 




CS) SPISAtHAAP 



HOCHWUCHS 
ÜPPEN 
Abb. 61. Negridcr Zweig. 



PIGMENT - 
VEPMEHRUNG 



BRACHyKEPH 
^5 HOTT.5TEI5S 




W BRACHV" 

.ZWERGWUCHS g 5CHMALGE5(CHT 



V 



BAPT- 

VERU5T 



SCHMALE 
NA5E 



CONVEXE 
NASE 



Abb. 62. Mongolider Zweig. 



Merkmalen beruhende Vorstellungen umwerfen. Zugleich stel- 
len sie ein Programm wichtiger Forschung dar. Noch schneller 
als die Reste primitivster Rassen in Rückzugsgebieten, zentral- 
afrikanische Pygmäen oder Andamanen, Wedda usw., dem Aus- 
sterben entgegengehen, schwindet die Möglichkeit, Kreuzungen 
ersten Grades zwischen allen möglichen Rassen zu beobachten 
und dadurch die rassenbildenden Gene zu analysieren. .Denn Mi- 
schung und Kreuzung geht mit dem heutigen, unerhört gestei- 
gerten Aufschluß der unwegsamsten Gebiete ebenso schnell. 



278 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERDANLAGEN. 

Die Anthropologie hat Jahrzehnte lang beschrieben und gemessen. 
Ein ungeheurer Vorrat, gewiß auch wissenswerter, morphologi- 
scher Tatsachen liegen vor. Es hat heute keinen Sinn mehr, 
Einzelbeobachtungen über den Längenbreitenindex etwa an 
Schädclscrien zu vermehren, solange wir nicht wissen, wie im 
einzelnen Form und Größe des Kopfes erblich oder umwelt- 
bedingt sind. Das gilt ebenso für zahllose andere Merkmale. 
Dagegen ist jede einzelne Verfolgung von Merkmalen im Erb- 
gang, vor allen Stücken bei Kreuzung deutlich verschiedener 
Rassen, von allei'größter Bedeutung. 

Auf dieser neuen Grundlage wird dann eine neue Eintei- 
lungsmöglichkeit erstehen, die uns auch erlaubt, innerhalb der 
Zweige die einzelnen Rassen genealogisch anzuordnen. Heute 
halte ich das nur hier und da für möglich. Ich möchte dabei 
nicht verhehlen, daß manche der alten Forscher, Blumen- 
bach, Broca u. a. mit bemerkenswert sicherem Blick heute 
als erblich erkannte Zusammenhänge gesehen haben. Sie wa- 
ren eben biologisch denkende, vorzügliche Morphoiogen, nicht 
messende Statistiker. 

Eine Vergleichung der verschiedenen bisherigen Einteilun- 
gen zu geben, hätte nur geschichtlichen Wert; es kann hier 
darauf verzichtet werden. Und da ich, wie gesagt, eine genea- 
logische Einteilung aller einzelnen Rassen innerhalb der gro- 
ßen Zweige für verfrüht halte, beschränke ich mich auf ganz 
kurze Andeutung des Erbbestandes der wichtigsten Einzel- 
rassen hintereinander. 



Übersicht über die einzelnen Rassen 
Das vorliegende Buch ist eine Erblehre, keine systematische 
Rassenlehre. Zur systematischen Darstellung der Rassen des 
Menschen gehört mehr als nur die Erblehre. Die Rassenlehre 
umfaßt auch die Vorgeschichte und Geschichte der Rassen, ihr 
Schicksal innerhalb von Völkern, ihre Beeinflussung durch 
Natur und Kultur. Weiter wird die eigentliche Rassenbeschrei- 
bung außer den Erbeigenschaften auch die Umweltwirkungen 
im einzelnen verfolgen müssen. Dies alles geht über den Rah- 
men dieses Lehrbuches weit hinaus. Es muß sich daher inner- 
halb der Darstellung der sog. rassenmäßigen Erbanlagen des 
Menschen darauf beschränken, die im Erscheinungsbild der 
wichtigsten Rassen sich jeweils zusammen findenden Erbeigen- 
schaften ganz kurz zu zeichnen und durch eine Anzahl Abbil- 
dungen zu belegen (Taf. I — 13). Die Beschränkung dürfte auch 



DIE RASSENZWEIGE: DER EUROPIDE, 



279 



insofern keine empfindliche Lücke bedeuten, als wir in den vor- 
züglichen Darstellungen H. F. K. Günthers eine ausgezeichnete 
„Rassenkunde des deutschen Volkes" und in dem großzügigen 
Werk v. Eickstedts eine „Rassenkunde und Rassengeschichte 
der Menschheit" besitzen, auf welche Werke hier ausdrücklich 
verwiesen sei. Einige kleinere Bücher, die die Rassenkunde 
darstellen, sind im Schriftenverzeichnis aufgeführt 1 ). Selbst- 
verständlich kann auf das ganz ungeheure Einzelschrifttum 
überhaupt nicht eingegangen werden, es sei auch diesbezüglich 
auf die eben genannten Werke verwiesen. 



Euro pi der Zweig 

Die zahllosen vorgeschichtlichen und geschichtlichen, teilweise 
ungeheuer ausgedehnten Völkerwanderungen, die in Europa und 
über Europa hinweg stattgefunden haben, haben das Rassenbild 
Europas zu einem außerordentlich schwer zu enträtselnden ge- 
macht. So ist die Rekonstruktion der ursprünglichen Rassen aus 
der heute Europa bewohnenden Gesamtbevölkerung besonders 
schwer. Bei jenen Wanderungen, Eroberungen, Überschichtun- 
gen und Verschmelzungen, die die Entstehungsgeschichte aller 
Völker und Staaten Europas umschließen, handelt es sich in der 
Hauptsache um gegenseitige Kreuzung der europäischen Rassen 
untereinander, wobei die aktive Beteiligung der einzelnen an 
Wanderung, Einkreuzung und Staatenbildung außerordentlich 
verschieden war, am stärksten bei der nordischen Rasse. Ge- 
genüber diesen Beziehungen der europäischen Rassen unter- 
einander ist der Einschlag europafremder (nicht curopider) 
Rassen außerordentlich gering, unvergleichlich geringer als 
auf allen anderen Erdteilen. Höchstens Asien nördlich des Hi- 
malaja hat ebensowenig ihm rassenfremde Einwanderung. 

Trotz dieser Schwierigkeiten ist es möglich, eine verhält- 
nismäßig deutliche Vorstellung von den ursprünglichen Rassen 
zu erhalten; das Bild ist für deren einzelne recht verschieden. 
Die Möglichkeit dazu ergibt sich einmal aus der Tatsache, daß 
zahlreiche Rasseneigenschaften noch heute in geographisch ge- 
sonderten Räumen in verhältnismäßig großer Menge auftreten, 
in anderen nur selten oder gar nicht. Man kann die einzelnen, 
etwa ihrer Verbreitung nach in Landkarten eingetragen, kom- 
binieren (nicht etwa die individuellen Träger bestimmter Merk - 

*) Eine allgemeine Kenntnis des Erscheinungsbildes der die europäische 
Bevölkerung zusammensetzenden Rassen kann heute bereits vorausgesetzt 
werden. — Die nicht-europiden Äste sollen nur ganz kurz angedeutet werden. 



280 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN 

malskombinationen, s. S. 309). Derartige Untersuchungen hat 
zuerst in größerem Maß und für ganz Europa Deniker vor- 
genommen, worauf unsere neuen Erkenntnisse von den euro- 
päischen Rassen (übrigens auch deren Benennung) zurück- 
gehen. Wir können heute solche Ergebnisse dadurch erst voll 
und ganz — und jeder Kritik standhaltend — ausnützen, 
daß wir bei der Auswertung von Vorkommen und Häufigkeit 
von Erbeigenschaften deren Erbgang — rezessives oder do- 
minantes Verhalten — als wichtigsten Punkt mit in Rechnung 
stellen. Aber als noch viel wichtigere Quelle unserer Kennt- 
nisse geben uns Vorgeschichte und Geschichte Kunde vom 
Aussehen der verschiedenen europäischen Gruppen aus den 
verschiedensten zurückliegenden Zeiten. Weitaus am reichsten 
fließen diese Quellen für die nordische und die mediterrane 
Rasse. Es handelt sich um körperliche Reste (der Haupt- 
sache nach Skelette aus allen Zeiten der Vergangenheit von 
der ersten diluvialen Besiedehmg Europas an), dann um bild- 
liche Darstellungen und geschichtliche, schriftliche Nachrichten. 
Es ist dabei für uns besonders erfreulich, daß, wie gesagt, die 
verschiedensten Quellen gerade für die nordische Rasse am 
alle rreichs ten fließen. So ist z. B. der weitaus bestbekannte Typ 
von Schädel- und Skelettform, den wir aus der gesamten Vergan- 
genheit überhaupt kennen, und zugleich derjenige, der sich mit 
völliger Sicherheit als Träger ganz bestimmter Kultur erweist, 
der schon 1865 von Alexander Ecker aufgestellte Reihen- 
gräbertypus, die Schädel- und Skelettform der Germanen der 
Völkerwanderungszeit, also nordische Rasse. Gegen sämtliche 
sonst als Typen oder Rassen aufgefaßte Formen und Funde ist 
gelegentlich Widerspruch und Ablehnung erfolgt; viele erwie- 
sen sich als irrig gedeutet, andere als kulturell falsch bezogen, 
alle aber umstritten. Jener Typus ist bis heute allgemein aner- 
kannt. 

Aus allen vorliegenden Untersuchungen geht hervor, daß 
einmal Zeiten in Europa waren, etwa im Abklingen der letzten 
Eiszeit, also dem späten Paläolithikum, dann im Meso- und im 
beginnenden Neolithikum, wo sich die europiden Rassen teils 
auf europäischem, teils auf benachbartem asiatischem und be- 
sonders auch 110 rcl afrikanischem Boden gebildet haben. Wie 
oben ausgeführt, gehörte dazu Isolierung. Diese nehme ich ge- 
rade für die werdenden europiden Rassen in jenen eis- und 
zwischeneiszeitlichen Verhältnissen in reinem Maße an, sie 
war anthropologisch (Wanderung) und klimatisch-geographisch 



DER EUROPIDE ZWEIG. 



281 



bedingt. Da bildeten sich die Rassen, deren Erblinien wir heute 
in so starker Mischung sehen. Ich nehme also an, daß sie ein- 
mal als einzelne, reine Rassen bestanden. Die Reinheit wird für 
die einzelnen Eigenschaften je nach deren Wert für die natür- 
liche Züchtung und den Mutationsverhältnissen nicht ganz 
gleich gewesen sein, aber ich stelle sie mir im ganzen doch 
außerordentlich weitgehend vor, so wie man sie für weit aus- 
einander wohnende, geographische (lokale) Varietäten einer 
Säugetierart findet oder etwa für die Wedda, Australier, Busch- 
männer usw. In diesen letzteren haben wir tatsächlich solche 
isolierte Rassen. Das gibt uns die volle Berechtigung, auch für 
die europäischen in jener fernen Vergangenheit einen solchen 
Zustand anzunehmen. Damals gab es meiner Meinung nach 
wirklich eine nordische, eine mediterrane Rasse. Aber schon 
bei der Bildung vollneolithischer Kulturen und Völker begann 
mit Eroberung und Überschichtung die Kreuzung und damit 
die Zerstörung der alten reinen Rassenbeständc. Daß sie in 
Anbetracht der ungeheuren geschichtlichen Umwälzungen und 
Entwicklungen Europas in den seitdem verflossenen 7—8 Jahr-' 
tausenden nicht viel weiterging, sondern ganz erstaunlich große 
Reste wenigstens relativ reinen Rassentums übrig gelassen hat, 
zeigt die schier unzerstörbare Widerstandsfähigkeit, aber wohl 
auch die ursprüngliche Reinheit und den großen Umfang der 
durch Auslese angepaßten Rassen. 

Wenn man den europiden Zweig in seiner Gesamtheit be- 
trachtet, findet man zunächst eine Reihe von Erbeigenschaften, 
die seine Zusammengehörigkeit deutlich erweisen und ihn in 
dieser Kombination eigenartiger Gene von den anderen Zwei- 
gen der Menschheit deutlich trennen. (Vgl. die Tafeln.) 

Mit dem australiden hat er die Anlagen für die Haarform, für den Bart 
und in seinen ältesten und primitivsten uns bekannten Formen (Schädel 
von Corabe capclle, Prdmost u. a.) gewisse Anklänge der Schädelform ge- 



Der Zweig erlebte im Verlaufe seiner Entstehung ziemlich 
zahlreiche Mutationen. Für dengesamten Zweig trat eine starke 
Aufhellung des Haut- und eine ebensolche des Haar- und Iris- 
pigmentes ein. Diese Verlustmutationen erfolgten innerhalb des 
Zweiges in sehr verschiedenem Grade. Kein anderer mensch- 
licher Zweig zeigt so geringe Stufen der Pigmentfaktoren 
(s. S. 120). Auch im mongoliden Zweig gibt es als Verlust- 
mutationen Anlagen für sehr geringe Pigmentation, wie ge- 
wisse recht hellhäutige Ostasiaten zeigen (vom Gelbfaktor ab- 



282 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 



DER EUROPIDE ZWEIG. 



283 



gesellen). Aber die Aufhellung beschränkt sich auf die Haut 
und erreicht auch hier die Stufen etwa der nordischen Rasse 
niemals, der alpinen vielleicht gerade noch. Die Pigmentfak- 
toren für Haar- und Augenfarben bleiben aber im mongoliden 
Zweig unverändert, ich glaube, ganz unveränderte bestehen 
auch innerhalb des europiden Zweiges noch bei der mediter- 
ranen ( ?), der indiclen, der polynesischen und der Ainorasse. 
Bei anderen, wie der alpinen •und teilweise der dinarischen, tritt 
eine erste Stufe der Aufhellung, bei nordischer, fälischer und 
ostbaltischer dagegen vollige Aufhellung auf, so daß die be- 
kannten blauen, grauen und hellgrünÜchen Irisfarben entstehen. 
Auch die Gene für den Sakralfleck mutierten und schwanden 
völlig bei der nordischen, teilweise bei den anderen Rassen 
Europas. Weiter besaß wohl in seinen ältesten Ausgestaltungen 
der europide Zweig noch verhältnismäßig wenig veränderte An- 
lagen für die Nasenform, wenn auch die alte, australoide Form 
in vollem Ausmaß wohl schon ummutiert war. Solche älteren 
Formen zeigen noch die Aino und wohl auch die Polynesier. Bei 
allen anderen sind dagegen Mutationen vollzogen worden, die 
teilweise in mehreren Schritten zu einer stärker erhobenen und 
schmäleren, eben der „europäischen" Nase, dann hier und da 
zur gebogenen führten. Ich verweise auf das oben S. 273 Ge- 
sagte. Wie ebenfalls schon ausgeführt, traten in mehreren Ein- 
zelzweigen höhere Allelenstufen der Gene für Flöhenwachstum 
auf. So haben wir die großwüchsige nordische, fälische und 
dinarischc und, Ihnen wohl nicht ganz gleichkommend, die ost- 
baltische, andererseits die hochwüchsige polynesische Rasse. 
Über das Auftreten der Brachyzephaliefaktoren vergleiche man 
oben S. 273. (Vergleiche die Abbildungen der Tafeln.) 

Auf zahlreiche, einzelne Erbanlagen, die den übrigen mor- 
phologischen, z. B. physiognomischen, vielen physiologischen 
und den psychologischen Eigenschaften zugrunde liegen, kann 
hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Hier gab es die 
folgenschwersten Änderungen, vor allem innerhalb des euro- 
piden Zweiges, jene, die zu der Bildung des körperlichen und 
geistigen Erbgutes der nordischen Rasse führten. So ist die 
große Mannigfaltigkeit des europiden Stammes entstanden. 
Über den Weg, der dahin führte, sind wir erst geringen Gra- 
des aufgeklärt. Nur über gewisse Einzelheiten der Schädel- und 
Gesichtsbildung und über Körpergröße geben uns einzelne fos- 
sile Funde Auskunft. So dürfen wir mit Sicherheit die fälische 
Rasse auf die eiszeitliche Cro-Magnon-Rasse zurückführen. Und 



andererseits dürfte die nordische durch Erwerb von Genen 
giazilen Körperbaus, Schmalgesichtigkeit und sonstiger physio- 
gnomlscher Einzelheiten, von den geistigen Eigenschaften ganz 
abgesehen, aus derselben Stammrasse entstanden sein. Die 
mediterrane Rasse mag die späteiszeitliche Brünnrasse zum 
Ahnen haben, und Formen mit dem Brachyzephaliefaktor der 
alpinen Rasse 1 ) haben wir in den spät- und nacheiszeitlichen 
Rundkopfrassen in Zentral- und bis Südwesteuropa. Für einen 
Zusammenhang mit dem. mongoliden Zweig, etwa nur der 
Brachyzcphalie und der etwas kleineren Nase wegen, erkennt 
der Genetiker keinen Grund und daher keine Berechtigung. 
Arno und deutliche, europide Reste in gewissen nordsibirischen 
und zentralasiatischen Stämmen und Völkerresten, sicher auch 
in den Lappen, weisen auf die Zeit des Erwerbs der europiden 
Sondergene zurück. Aber, wie gesagt, es kann hier weder ins 
einzelne gehende Rassenbeschreibung noch Rassenvorgeschichte 
und Geschichte gegeben werden. 

Es sei noch einmal auf Tafel 1 bis 9 verwiesen. 

Vergleicht man im einzelnen den Genbestand der einzelnen 
Rassen des ganzen europiden Zweiges, findet man deutlich 
einander näher und einander ferner gerückte Einzelzweige, 
d h. solche mit größerem oder mit geringerem Besitz jeweils 
der gleichen Gene. Dabei muß aber betont werden, daß wir 
la nur eine gewisse Anzahl und Art der Gene kennen und über- 
sehen. Von all denen, die den geistigen Begabungen zugrunde 
liegen, wissen wir nicht soviel, daß wir sie einzeln in Rechnung 
stellen und in unser Schema eintragen könnten. Sie sind aber 
sicher großenteils zahlreicher und tiefgreifend und biologisch' 
und kulturell unendlich viel bedeutungsvoller als die anderen ! 
Ihre Unterschiede merken wir aus der Verschiedenheit der gei- 
stigen Leistungsfähigkeit der einzelnen Rassen. Nach clcn uns 
bekannten Erbanlagen stehen nordische und fälische Rassen 
einander am nächsten. Auf der anderen Seite sind sich im Be- 
sitz körperlicher Anlagen mediterrane und orientalische nahe, 
im Besitz gewisser seelischer scheint es mir erheblich weniger. 
Der anzunehmenden, gemeinschaftlichen .Wurzel der beiden steht 
in ihrem Gensatz vermutlich die indide Rasse nahe. Die dina- 



1 ) Günther nennt diese Rasse ostisch (nicht östliche, wie er aus- 
diucklich betont) und fügt oft „(alpin)" dazu — aber zu zahlreichen Miß- 
verständnissen eines näheren Zusammenhanges mit Ostasien hat es doch ge- 
fuhrt — der Name alpin ist besser, übrigens auch historisch bevorrechtigt 
(Dcniker). 



284 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

lisch e hängt ganz sicher irgendwie zusammen mit der vorder- 
asiatischen, soweit wir aus Erbanlagen körperlicher Rasse- 
eigenschaften schließen dürfen. Aber ich bin überzeugt, daß 
die Anlagen für geistig-seelische Fähigkeiten sich zwischen bei- 
den sehr stark differenziert haben. Daß ich die drei europäi- 
schen Kurzkopfrassen für je vollkommen selbständige Muta- 
tionen innerhalb des europiden Zweiges halte, ist schon erwähnt. 
Ich neige auch nicht dazu, die ostbaltische wegen der Blond- 
mutation der nordischen besonders nahe zu stellen. Am wenig- 
sten mutiert, vor allen Stücken auch bezüglich der primitiveren 
psychischen Erbanlagen, scheinen die Aino, ebenso die ange- 
deuteten alten, unter der heutigen asiatischen Bevölkerung fast 
verschwundenen Reste (einschließlich der Lappen). Alle diese 
zeigen vor einem kulturellen Wertmesser keinen Vorzug gegen- 
über zahlreichen Rassen der anderen menschlichen Rassen- 
zweige. Um so auffälliger und wichtiger aber sind die zahl- 
reichen anzunehmenden Mutationen, die die Gesamtleistungs- 
fähigkeit der europäischen Rassen bedingt und diese Gruppe 
geistig zur höchsten Entwicklung geführt haben, die in der 
Menschheit überhaupt beobachtet wird. Unter ihnen ragt ein- 
zigartig, weil im höchsten Grade schöpferisch ausgestattet, die 
nordische Rasse besonders hervor. Aber die Schilderung der 
Erblichkeit der geistigen Begabung ist Abschnitt 5 vorbehal- 
ten; ich möchte über die kleinen Grenzüberschreitungen meiner 
obigen Darstellung nicht weiter hinausgehen. 

Es muß schließlich noch betont werden, daß nach dem 
Erbgut, körperlichem und geistigem, das wir kennen, die eigent- 
lichen europäischen Rassen einander sehr viel näher stehen als 
irgendwelchen außereuropäischen. Die Zahl der verschieden 
gerichteten Mutationen scheint mir bei diesen sehr viel größer 
und die Mutationsschritte sehr viel weiter gehend als innerhalb 
des europäischen Zweiges. Aber mir scheint ebenfalls die imi- 
tative Entfernung der ihm zugehörigen Rassen, soweit sie ihre 
letzte Entwicklung nicht mehr auf europäischem Boden erlebt 
haben, erheblich größer zu sein als die der binneneuropäischen. 
Das betrifft also dann die orientalische, besonders stark die 
vorderasiatische Rasse und ebenso die Aino, vielleicht nicht 
weniger stark die indide, 

Schließlich kann hier, als zur Rassenge s chi cht e ge- 
hörig, die Verteilung der einzelnen Rassen des europiden Astes 
auf die verschiedenen Völker nicht im einzelnen geschildert 
werden. Es mag der Hinweis genügen, daß die Beteiligung der 



DER EUROPIDE ~ DER AÖ ST RÄUDE ZWEIG. 



285 



einzelnen Rassen an deren Zusammensetzung ihre kulturelle 
Leistungsfähigkeit und ihr geschichtliches Schicksal grund- 
legend und ausschlaggebend bedingen. 

Australider Zweig 
Im australiden Zweig haben sich unter allen Zweigen wohl 
am meisten Erbanlagen erhalten aus der Zeit, da die Mensch- 
heit noch einheitlich war. Nach dem gewöhnlichen anthropo- 
logischen Sprachgebrauch bezeichnet man die entsprechenden 
Merkmale als primitive. Es sei an das Erscheinungsbild der 
Australier selbst, der Wedda, gewisser Negrito, der Tasmanien 
gewisser Papua erinnert. Da der europide Zweig von allen, so- 
weit wir es übersehen können, die unmittelbarsten Beziehungen 
zum Neandertalmenschen hat, etwa über die Pfdmostform, den 
Aurignac-Menschen u. a., wobei ich auf die Frage der unmittel- 
baren Abstammungsfolge und der örtlichen Verhältnisse gar 
nicht eingehen will, und da andererseits der Australier noch 
heute am Schädel die größte Neandertalähnlichkeit, d. h. 
Bestand an entsprechenden Erbanlagen aufweist, muß man 
wohl den europiden und australiden Zweig für einander in 
tiefer Wurzel etwas näher stehend halten als den anderen bei- 
den. Auch haben negrider und mongolider Zweig eine Anzahl 
Mutationen, jeder nach seiner Seite, erlebt, wie Haarform, 
Farben, mediale Äugenfalte u. a., die sie abermals mehr von 
jenen getrennt haben. Um so auffälliger und für die ganze 
Menschheit schicksalsschwerer sind dann aber die Unterschiede 
zwischen den stehen gebliebenen Australiden und einzelnen 
ummutierten europiden Zweigen — Mutationen geistiger An- 
lagen ! — geworden. Auf die einzelnen Mutationen des austra- 
liden Zweiges und ihre Verteilung in ihm einzugehen, liegt nicht 
im Zweck dieses Buches. Es sei als genügende Übersicht auf 
Abb. 59 und das dort Gesagte über das selbständige Auftreten 
von Mutationen verwiesen. 

Negrider Zweig 

Die Erbanlagen des negriden Zweiges interessieren inso- 
fern rein praktisch, als sie mit solchen des europiden, wie schon 
oben angedeutet, auf weiten Gebieten in Kreuzung gekommen 
sind. Die gesamten Hamitenvölker haben diese Unterlage. Das 
wird vor allem für die Beurteilung ihrer geistigen, also kul- 
turellen, Leistungen und die vergleichende Untersuchung der 
Negerleistung oder der Leistung der Negermischlinge Arne- 



286 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

rikas in Betracht kommen. Im Abschnitt d. wird darüber aus- 
führlich berichtet. Daß die Frage der Erbanlagen des negriden 
Zweiges auch in Europa eine Rolle, und zwar selbstverständ- 
lich eine verhängnisvolle spielt, läßt der Daueraufenthalt schwar- 
zer Truppen in Frankreich (leider auch die vorübergehende 
farbige Besatzung deutscher Gebiete) deutlich erkennen. Die 
Gefahr der sicher kommenden, rassenmäßigen Verschlechterung 
besteht nicht nur für Frankreich, wenn auch für dieses zuerst 
und weitaus am meisten ! 

Der Genbestand des negriden Zweiges ist im Verhältnis 
zu dem der anderen Zweige, nachdem er sich gebildet hatte, 
offenbar weniger häufig durch sekundäre Mutationen abge- 
ändert. Die verschiedenen Mutationen gehen aus der Übersicht 
der Abb. 6t, S. 277 und der Tafel 10 hervor. 

Mongolider Zweig 

Innerhalb dieses Zweiges haben Mutationen jener Erb- 
anlagen, die wir für unsere geistigen Leistungen haben, eine 
zwar andersartige und eigenartige, aber, wie die einzelner Euro- 
piclen, zu sehr hohen Leistungen befähigende Ausgestaltung er- 
fahren. Der gesamte Zweig ist an Kopfzahl und Verbreitung 
der größte. Auch seine ihn bezeichnenden Sondergene dürften 
an Häufigkeit und Vielfältigkeit den europiclen mindestens 
gleichkommen. Aber auch hier muß sich unsere Darstellung, 
will sie sich nicht zu einer förmlichen Rassenkunde und Ras- 
sengeschichte ausdehnen, auf die Übersicht in Abb. 62 be- 
schränken. Es sei daher nur noch angemerkt, daß darin be- 
züglich der Stellung der Eskimo zum gesamten Zweig nichts 
festgelegt sein soll (vgl. meine angeführten Zweifel S. 200). 
Aber auch die Anfügung des Zweiges der Indianer an den 
Hauptast entspricht nur bisherigen Gepflogenheiten, genetische 
Prüfung zur Berechtigung dieser Ansichten fehlt noch. Auf 
Abb. yi und 72 auf Taf. 12 und (die Rasse in Kreuzung) 
Taf. 1 3 sei verwiesen. 

d) Allgemeine Lebenserscheinungen der Rassen 
(Rassenbiologie) 

Die menschlichen Gruppen, die sich durch bestimmten 
homozygoten Genbestand abgrenzen, die wir also Rassen nen- 
nen, zeigen als solche selbstverständlich bestimmte Lebens- 
erscheinungen. Es sind einmal rein biologische, d. h. die rein 
natürlichen Erscheinungen, die an diesen Fortpflanzungsge- 



DER NEGRIDE — DER MONGOLIDE ZWEIG. 



287 



meinschaften auftreten. Aber es sind andererseits auch die 
Wechselwirkungen zwischen ihnen als Gesamtheit von Erb- 
innen und den sozialen Verbänden mit ihren kulturellen Er- 
scheinungen, in die sie eingegangen sind und deren Träger sie 
sind. Diese höchst verwickelten Verhältnisse der Wechselwir- 
kung von Erbanlagen, also auch Rasse und Kultur, einfachste 
wie höchst entfaltete, geschichtliche wie gegenwärtige, unter- 
sucht die „Sozialanthropologie", und die Ergebnisse sind eine 
Hauptunterlage der Rassenhygiene. Sie finden, soweit nötig, 
in diesem Zusammenhang ihre Darstellung im zweiten Band 
(Lenz). Hier beschränken wir uns auf die vorhin zuerst ge- 
nannten Erscheinungen, auf die Untersuchung der rein natur- 
wissenschaftlich erfaßbaren Lebenserscheinungen der Rassen, 
selbst, das andere kann nur angedeutet werden. 

Wie beim Einzelindividuum ist auch für die Rasse als Gan- 
zes die uns am meisten interessierende Erscheinung die der 
Erblichkeit aller in ihr zusammengeschlossenen Eigenschaften 
und die Ausgestaltung von deren Wirkungen durch die Umwelt. 
Gerade die Untersuchung der Rassen gibt für die Erforschung 
der normalen menschlichen Erbanlagen, wie oben schon ein- 
mal erwähnt, die allergrößten Möglichkeiten. Das Vorhanden- 
sein aller mehr oder weniger gruppenweise auftretender nicht 
krankhafter Erbanlagen und die Beeinflussung ihrer Wirkung 
durch die Umwelt läßt sich nur nachweisen durch Beobach- 
tung von Kreuzungen von Individuen je zweier solcher ver- 
schiedener Gruppen und deren Nachkommen. So ist die Ras- 
senkreuzung für uns die anziehendste und wichtigste Erschei- 
nung im Leben der Rassen. Daß für den Ablauf der Kulturen 
und dann für Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik ebenfalls 
die Rassenkreuzungen von Bedeutung sind, negativer und posi- 
tiver, sei hier nur nebenbei erwähnt, es wird unten noch er- 
örtert werden. 

aa) Umfang und Verbreitung der Rassenkreuzung 

Über den Umfang der Kreuzung einander ferner stehender 
Rassen, etwa der Gesamteuropiden mit anderen, machten jüngst 
D avenport 1 ), dann Davenport und Fischer 2 ) einige 
Angaben, auch auf Lundborg sei hingewiesen. Reines Kreu- 

v ) Davenport. Preliminary report of the comiüee 011 race crossing. 
Conf. Int. Fcd. of Eug. Org. Rom 1929. 

2 ) Davenport und Fischer. Untersuchungen über Rassenkreu- 
zungen beim Menschen. Rep. 9. Conf. intern. Union. Pop. Probl. Dorset 1930. 



288 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



zungsgebiet zwischen Europiden (mediterrane und orientalische 
Rasse) und Negriden (Neger und Pygmäen) sind das gesamte 
Nordafrika, die gesamte afrikanische Ostküste und weite Ge- 
biete des mittleren westlichen, ja zum Teil sogar südlichen 
Afrika (Hamitenvölker, viele Sudanvölker u. a.). Ein fast eben- 
so großes Kreuzungsgebiet, diesmal zwischen Europiden und 
Mongoliden, reicht vom östlichen Europa (Slaven) über das 
ganze russische Reich bis weit nach Asien hinein. Die ehe- 
malige und heutige Lappenverbreitung in Skandinavien ist 
ebenfalls Kreuzungsgebiet. Ganz Vorderasien ist Kreuzungs- 
gebiet vorderasiatischer-orientalischer und mehrerer anderer 
Rassen. Ein weiteres Gebiet stellt der gesamte Malaiische Ar- 
chipel dar, einschließlich vorder- und hinterindischem Fest- 
land. (Mongoliden mit Weddaisch-negritischer-mclanider Ur- 
schicht; vielfach noch Europide dazu.) Jüngere riesige Kreu- 
zungsgebiete sind Süd- und Mittelamerika (mongolide In- 
dianer, Europide und Negride), in geringerem Grad Gebiete 
von Nordamerika. Man sieht, es bleiben wenige Gebiete auf 
der Erde, die von derartigen, großenteils unmittelbar nach- 
weisbaren Mischungen zwischen den großen menschlichen Ras- 
senzweigen frei sind, und in diesen mischen sich dann in teil- 
weise wieder unmittelbar geschichtlich verfolgbaren Wande- 
rungen die Einzelrasscn. Es sei auf die sog. Völkerwanderung 
Europas hingewiesen, die Ausbreitung der Indogermanen und 
Germanen, Kreuzung etwa aller europäischen Rassen. Es sei 
ferner hingewiesen auf die Züge der Mandschu und anderer 
Mongolen (Turkvölker usw.), auf die arabische Bewegung, auf 
die Einwanderung der Japaner in ihr heutiges Gebiet, auf die 
Wanderungen der Polynesier, auf die zahllosen Wanderungen 
von Negerstämmen (im weitesten Sinn dieses Wortes) Mas- 
sai, Zulu, Haussa, Fulla usw. Und schließlich gehören hierher 
all die Wanderungen, die sich seit mehr als hundert Jahren in 
den Büros der großen Schiffahrtslinien organisieren. 

Gegenüber der ungeheuren Größe dieses Problems ist es 
geradezu auffällig, wie wenig Bearbeitung seine Einzelheiten 
gefunden haben, vor allen Stücken, wie wenig grundsätzliche 
Untersuchungen der eigentlichen Unterlagen vorliegen im Ge- 
gensatz zu Spekulationen über Wirkungen und Folgen. 

Eingehende biologisch-anthropologische Bearbeitung des Kreuzungs- 
vorganges stark differierender Rassen gibt es bisher nur folgende: Eugen 
Fischer hat 1908 die Rehobothcr Bastards, Mischlinge zwischen Buren- 
männern und Hottentottenfrauen, "untersucht und darüber eine wohl als Un- 
terlage unserer gesamten Bastardierungskenn Inisse anzusehende Monogra- 



UMFANG DER RASSENKREUZUNG. 



289 



phie vorgelegt (ic.i3).'Es dürfte keine Bastardbevölkerung geben, die gleich 
günstige Verhältnisse darbietet. Dann folgte Rodenwaldt (1927) mit 
einer prächtigen, umfangreichen Untersuchung über die Mestizen von Kisar, 
Kreuzungen zwischen Europäern und Malaien. Diese beiden Werke sind die 
einzigen, wo die erbbiologische Untersuchung einer Gesamtbevölkerung an 
einzelnen, genealogisch bekannten, also stammbaummäßig nach Art und 
Grad der Rassenmischung bestimmten Familien möglich war. Die anderen 
nehmen „Mischlinge" und „Elternrasscn" aus dem betreffenden Mischge- 
bict. Es sind folgende: Davcnport and Steggerda, „Race cros- 
sing in Jamaica" (1929) untersuchten Mischlinge zwischen Europäern und 
Negern. Weiter zu nennen ist Dünn (1928) über Rassenk rcuzimgen zwischen 
Polyncsiern, Europäern und Chinesen auf Hawai, dann Lotsy and God- 
dij n (1928) über Kreuzungen verschiedener Grade zwischen Negern, Euro- 
päern, Hottentotten und Indern in Südafrika, weiter Hcrskovits (1930) 
über Neger und Negermischlinge in den Vereinigten Staaten, endlich Wil- 
liams (1931) über Rassenkreuzung zwischen Indianern und Europäern in 
Mexiko, und Tao (1935) über Chinesen-Europäermischlinge. Zu diesen 
wenigen monographischen Darstellungen kommen eine verhältnismäßig ge- 
ringe Zahl von Einzelbearbeitungen bestimmter Merkmale oder einzelner 
Fälle, z. B. Goldschmidt (1928), Gates (1929) u. a. Die vollstän- 
digste Zusammenstellung (bis 1929) gibt E. Fischer in seiner „Genana- 
lyse" (s. oben); Lundborg (1931) stellt Gesamtergebnisse dar 1 ). 



!) Fischer, Eugen. Die Rchobother Bastards und das Bastardie- 
rungsproblem beim Menschen. Jena 1 9 1 3 (Lit.). 

Rodenwaldt. Die Mestizen auf Kisar. 2 Bde. Weltevrcdcn (Java) 
1927. 

Davcnport and Steggerd a. Race crossing in Jamaica. Washing- 
ton 1929. 

D 11 n 11. An anthropometric study of Hawaiians of pure and mixed 
blood. (Pap. Peab. Mus. 11.) Cambridge (Mass.) 1923. 

Lotsy and G o d d i j n. The human hybrids (. . . . South Afrika). 
Genetica 10. 192S. 

H e r s k o v i t s. The anthropometry of the American negro. (Columb. 
Univ. Contrib. to Anthr. XI.) New York 1930. 

Williams. Maya-spanish crosses in Yucatan. (Pap. Peab. Mus. 13.) 
Cambridge (Mass.) 1931. 

Lundborg. Die Rassenmischung beim Menschen. Bibl. genet. S. 
1931. (Großes Lit.-Verz. — s. auch Lit.-Vcrz. bei Fischer, Genanalyse, Z. 
induet. Abst. Vererb. 54. 1930.) 

Tao. Chinesen-Europäcrinnenkreuzung. Z. Morph. Anthr. 33. 1935. 

Gates, R. R. A pedigry study of Amerindian crosses in Canada. I. 
R. Anthr. Inst. 58. 1928. 

Goldschmidt. Die Nachkommen der alten Siedler auf den Bonin- 
inseln. Mitt. D. Ges. Nat.- und Völkerkunde Ostasiens. 22. B. 1928. (W a- 
genscil hat seitdem diese Bevölkerung untersucht, Veröffentlichung steht 
n,och aus.) 

Fischer, E. Europäer-PoIynesierTCreuzung. Z. Morph. Anthr. 28 

{1930). 

Leb zeit er. Über Khoisanmischlinge in Südwestafrika. Z. Morph. 
Anthr. (Fischer, Feslb.) 34. 1934. 

B a u r - F i s c h e r - 1, e 11 z , I. 19 



290 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



Nur noch geschichtliches Interesse hat der größte Teil der sehr zahl- 
reichen Benennungen der verschiedenen Mischlinge, wie sie vor allen Stücken 
in Latein-Amerika sich entwickelt haben. Mulatte wird vielfach für alle Grade 
von Mischlingen zwischen Weißen und Negern gebraucht, ursprünglich war 
es die Bezeichnung für den Nachkommen eines Weißen mit einer Negerin. 
Mit einer Mulattin erzeugte dann ein Weißer den Terzeron (d. h. a / 4 weiß), 
Weiße und Terzeron erzeugen dann Quarteronen, dann entsprechend Quin- 
teronen usw. bis Oktavonen. Darnach sollten die Kinder wieder als reine 
Weiße gelten. (Biologisch natürlich unhaltbar.) Mulatte mit Mulatte ergibt 
Kasko, Mulatte mit Neger Sambo, Neger mit Mulattin Griffe, Weißer mit 
Quarteronen Mameluco. Es gibt noch zahlreiche Mischlingsnamen, Caboclc, 
Cafuso, Cholo usw. Mischlinge zwischen Portugiesen und Farbigen werden 
häufig als Metis, solche mit überwiegend Negerblut als Mestize be- 
zeichnet. Mestize im allgemeinen nennt man aber oft die Mischlinge zwi- 
schen Weißen und Indianern. Die Mischlinge in Südafrika heißen Cap- 
People, die zwischen Buren- und Hottentotten Bastards. Nachkommen 
von Europäern mit Inderinnen heißen häufig Eurasier oder einfach 
Halfcast, solche von Javaninnen gelegentlich Liplap. Die Benennungen 
hatten in Amerika zum Teil politisch rechtliche Bedeutung. Jedenfalls 
zeigt diese Übersicht, wie groß und vielartig diese Rassenkreuzungen 
waren und sind. 

Gegenüber den genannten Kreuzungsgebieten sei aber nun 
besonders betont, daß umgekehrt große Rassengebiete von 
Kreuzungen einander ferner stehender Rassen so gut wie frei 
geblieben sind; es sei auf weite Gebiete Zentral- und Ostasiens, 
Zentral- und Westafrikas, vor allem aber Nordwest- und 
Zentraleuropas hingewiesen. Das sind dann Stellen, von denen 
umgekehrt Bevölkerungswellen ausgegangen sind, die ihrer- 
seits ihr Blut zu anderen getragen haben. Was das für die Kul- 
tur bedeutet, wird weiter unten erörtert. In diesen Gebieten 
sind dagegen die Kreuzungen zwischen einander sehr viel näher 
stehenden Rassen von besonderer Bedeutung. Ihr Grad hängt 
großenteils ab von der Expansionskraft einzelner Rassen. Es 
sei z. B. daran erinnert, wie die nordische Rasse in einer lan- 
gen Reihe von Schüben ganz Europa und außereuropäische 
Bezirke besiedelt und dort ihr Blut mit den anderen europäi- 
schen Rassen, der mediterranen, alpinen usw. gekreuzt hat; sie 
ist die Rasse Europas mit der weitaus stärksten Expansions- 
kraft. 

Grundsätzlich sehen wir Kreuzung in diesem engeren Sinne 
im eigenen Volk täglich vor unseren Augen. Das Durchein- 
ander von blond und dunkel, schmal- und breitnasig, klein 
und groß, usw. deutet nicht nur als solches auf umfangreich 
weitergehende Rassenkreuzung hin, sondern kann auch histo- 
risch als solche erwiesen werden. Es muß liier offen gesagt 
werden, daß wir die Erforschung dieses naturwissenschaftlich 



BAST ARDFRUCHTBARKEIT. 



291 



wie für Kultur und Geistesleben unendlich wichtigen Vorgan- 
ges noch nicht annähernd in dem Umfang auch nur angefan- 
gen haben, den sie wirklich verdient. Auch diejenige Kreuzung, 
die uns hier in Europa heute am meisten interessiert, die mit 
Juden, ist nach ihrer erbbiologischen Seite noch nicht nennens- 
wert Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit geworden. Wir ha- 
ben z.B. im Jahre 1923 nach Markuse 2004 christlich 
jüdische Mischehen in Deutschland gehabt, worunter natürlich 
nur die gezählt sind, bei denen zweierlei religöses Bekenntnis 
angegeben wurde. Alle, bei denen der eine Teil zur Religion 
des anderen übertrat, kamen nicht in diese Zählung. Seitdem 
sind, vor allen Stücken rassenmäßig betrachtet, noch ganz 
andere Zahlen solcher Mischehen Wirklichkeit geworden. Und 
außer den paar Beobachtungen von Leicher (a. a. O.) über 
die Vererbung der Nase und einigen noch kleineren solchen 
von anderen Seiten (Salaman) haben wir keine erbbiologi- 
schen Einzeluntersuchungen über diesen Kreuzungsvorgang 1 ). 
Es muß hier die dringliche Forderung ausgesprochen werden, 
daß über sämtliche Rassenkreuzungen, die sich vor unseren 
Augen vollziehen, gründliche Beobachtungen in ganz großem 
Maße durchgeführt werden 2 ). Das Ergebnis, fast muß man 
heute bei manchen erst sagen das Ziel der Bastarduntersuchung 
ist eine Darstellung der Biologie der Bastarde, deren Grund- 
züge im folgenden kurz gezeichnet sind. 

bb) Biologie der Bastardbevölkerung 

Die Fruchtbarkeit 

Es steht wohl fest, daß alle Rassen untereinander unbe- 
schränkt und unvermindert fruchtbar sind. Über Durchschnitts- 
zahlen von rassenungleichen Paaren gibt es nur wenige, die 
sozialen und andere Einflüsse ausschließende, einwandfreie 
Angaben. Buren-Hottentotten-Mischung hat y,y Kinder auf 
die Ehe im Durchschnitt (Fischer). — Weiter steht wohl 
fest, daß alle Mischlinge mit ihren beiden elterlichen und mit 
beliebigen anderen Rassen fruchtbar sind. Es gibt Mischlinge, 
die drei und vier stark voneinander abweichende Ahnenrassen 
haben, z. B. Neger-Europäer-Indianer (Amerika) oder Polyne- 
sier-Europäer-Chinesen (Hawai) oder Europäer-Neger-Mikro- 

!) Über das Aussehen von Mischlingen sind gute Angaben bei Gün- 
ther, Rassenkunde des jüdischen Volkes u. a. 

2 ) Fische r. Fragebogen über Rassenkreuzung beim Menschen. Boll. 
del Comit. internaz. per l'unific. dei metodi etc. (S.A. S.) I. Bologna 1934. 



292 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



nesier- Japaner (Bonin-Inseln) (Taf. 13, Abb. 73, 74; Taf. 12, 
Abb. 67, 68). Auch auf die Dauer zeigen Bastards, ingezüchtet, 
in manchen Fällen sicher keine Beeinträchtigung der Frucht- 
barkeit, dagegen ist vielleicht in anderen Fällen, z. B. Nord- 
europäer-Neger-Mischung, auf die Dauer Minderfruchtbarkeit 
eingetreten (Wie th- Knudsen, Fehlinge r u. a. vgl. bei 
Fischer, Rehobother Bastards und Scheidt, Allgemeine 
Rassenkundc) . Hier fehlen Untersuchungen, die soziale und 
klimatische Einwirkungen von den biologischen Erscheinungen 
trennen. 

Diese ganze Erscheinung der Fruchtbarkeit darf zweifel- 
los für die Frage der Abstammung und Einheitlichkeit der 
Menschheit verwertet werden. Sie spricht dafür, daß die 
Menschheit nachträglich in Rassen zerfallen ist, nicht aber aus 
verschiedenen tierischen Wurzeln mehrfach entstanden. 

Das Geschlechts Verhältnis von Bastardgeburten ist bei den 
südafrikanischen Bastards nicht abweichend von dem gewöhn- 
lichen (Fischer), genauere Angaben über andere Fälle fehlen. 

Das Erscheinungsbild 

Das Ergebnis der Kreuzung zweier Rassen ist das Auf- 
spalten der Eigenschaften. Wir kennen keine Ausnahme von 
den Mendelschen Gesetzen. Man kann also für alle Eigenschaf- 
ten in den verschiedenen Kreuzungen dominanten oder rezes- 
siven oder intermediären Erbgang feststellen. In sehr vielen 
Fällen handelt es sich um Allelenreihen (s. Haar, Blutgruppen, 
Körpergröße usw.). Davon ist dann das Aussehen einer be- 
stimmten Bastardbevölkerung abhängig. (Ich sehe dabei einst- 
weilen von Ausleseverhältnissen ab.) Diese Erkenntnisse lassen 
uns ältere Vorstellungen als irrig ablehnen. Sog. Präpotenz 
einer Rasse als solcher, wie man etwa früher dachte, einer 
kräftigen, wilden Urrasse gegenüber dem kultivierten Euro- 
päer, gibt es nicht. Eine besondere Durchschlagskraft einer 
Rasse als solcher gibt es ebenfalls nicht. Aber trotzdem wird 
nach der Kreuzung bestimmter Rassen in den Nachkommen 
etwa die eine mit ihren Eigenschaften stärker und häufiger in 
die Erscheinung treten als die andere. Das hängt ab von der 
Verteilung der ihrem Erbgang nach dominanten Eigenschaften 
auf che beiden Elternrassen. Bei der Kreuzung von Europäern 
mit Negern vererben sich Haar form, starke Pigmentierung, 
Lippenform, Form der Backenknochen und einige andere Dinge 
der Negerrasse dominant. Infolgedessen treten diese Eigen- 



ERSCHEINUNGSBILD VON MISCHLINGEN. 



293 



schaften in der ersten Bastardsgeneration allein herrschend 
und in den folgenden zahlenmäßig die Gegenteile überwiegend 
in die Erscheinung (s. Taf. 9, Abb. 53 und 10, Abb. 55—60). 
Daher die Behauptung, die Negerrasse schlage stärker durch. 
Die Erbgesetze lehren uns also hier den wahren Sachverhalt. 
Als weiteres Beispiel in genau demselben Sinn sei auf die Kreu- 
zung von Juden in Mittel- und Nordeuropa hingewiesen, wo die 
Dominanz der vorderasiatisch-orientalischen Nase, des sehr 
dunklen Flaares und einer Reihe physiognomischer Eigenschaf- 
ten, alle diese Merkmale in den späteren Mischlingsgeneratio- 
nen so auffällig in die Erscheinung treten lassen; auch in Kreu- 
zung mit Neger und Mongolen ist das der Fall (s. Taf. 9, Abb. 
53 und 54). 

Das Aufspalten der einzelnen Eigenschaften aus den Ba- 
starden bedingt also dann eine recht große Vielgestaltigkeit 
der späteren Generationen. Die von der einzelnen Elternrasse 
kommenden Eigenschaften haben keinen festeren gegenseiti- 
gen Zusammenhalt als die gekreuzten. Die Eigenschaften erben 
völlig unabhängig voneinander. Bei wirklicher, völliger Durch- 
kreuzung einer Bastardbevölkerung (also ohne Auslesevor- 
gänge) muß sich eine Verteilung der einzelnen Erbanlagen 
nach Dominanz und Rezessivität nach dem Mendelschen Zah- 
lenverhältnis herausstellen. Die Verteilung auf die Einzelindivi- 
duen erfolgt nach der mathematischen Wahrscheinlichkeit. 
Darnach treten die zahllosen einzelnen Kombinationen in be- 
stimmten Mengenverhältnissen auf (s. z. B. Taf. ro, Abb. 55 
bis 60 und Taf. 11, Abb. 61—66). Das Erscheinungsbild einer 
Bastardbevölkerung ist also ein sehr buntes. Es ist hier natür- 
lich unmöglich, die Ergebnisse der verschiedensten Arten von 
Rassekreuzungen auch nur andeutungsweise zu schildern. Es 
kann nur auf einiges Grundsätzliche hingewiesen werden. 

Die F 1 -Generation kann verhältnismäßig einheitlich sein. 
Bei allen Individuen dieser Generation treten natürlich die 
dominanten Eigenschaften der beiden Elternrassen einheitlich 
auf. In einzelnen Fällen beherrschen sie fast ausschließlich das 
Bild, was dann eine äußerliche Einheitlichkeit bedingt. (Aber 
nur für diese Generation !) In den meisten Fällen aber handelt 
es sich nicht um reine Dominanz im Erbgang, sondern um 
multiple Allelie. Auch einfach' intermediäre Vererbung kommt in 
Betracht. Dann wird schon die F 1 -Generation im Erscheinungs- 
bild ungleichmäßig. So zeigen die echten Mulatten, also Misch- 
linge ersten Grades von Weißen und Negern, einheitlich das 



294 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



dominant sich vererbende Kraushaar, im allgemeinen gleich- 
mäßig braune Haut (die höheren [je über die folgenden do- 
minanten] Stufen der Pigmentfaktoren) eine noch als negroid 
zu bezeichnende Nasenform, dagegen eine Reihe von anderen 
Eigenschaften der Physiognomie usw. stärker schwankend 
(Taf. 10, Abb. 56). Sehr viel bunter aber wird das Bild in den 
folgenden Generationen. Diese sind sich bei gleichmäßiger 
Kreuzung und Ausschaltung aller Auslesevorgänge immer 
gleich (s. Absch. 1). Die Buntheit dieses Erscheinungshildes 
von F x - Bastarden ist vor allen Stücken dadurch bedingt, daß 
sämtliche rezessiven Eigenschaften neben den intermediären 
und dominanten theoretisch zu 250/0 in die Erscheinung treten. 
Da nun etwa die rezessive Eigenschaft a, die bei 250/0 der 
Individuen tatsächlich vorhanden ist, sich nicht bei denselben 
Individuen befindet, die die rezessive Eigenschaft b tragen und 
weiter die Eigenschaften c, d usw. immer wieder bei anderen 
Individuen oder nur einzeln und zufällig einmal auch bei den- 
selben auftreten, kann man sich die Vielgestaltigkeit des Bil- 
des leicht vorstellen. Erst unter Millionen Individuen wird ein- 
mal eines auftreten können, das, soweit übersehbar, ausschließ- 
lich die Eigenschaften der einen Elternrasse wieder rein ver- 
einigt. So kommt es, daß in einer solchen Bevölkerung auch 
Bastarde gleicher Blutmischung, also gleichen Grades, selbst 
Geschwister sehr ungleich aussehen (5. Taf. 12, Abb. 67 u. 68). 

Tritt bei solcher Bastardierung ganz unregelmäßig auch 
wieder Rückkreuzung von Bastarden mit bald der einen, bald 
der anderen Elternrasse auf, wird das Erscheinungsbild noch 
scheckiger. Und sind gar noch Einkreuzungen von mehr als 
zwei Rassen zu verzeichnen, wechselt es noch stärker. 

Die Erbgänge der einzelnen Eigenschaften können hier 
nicht noch einmal gesondert verfolgt werden. Es sei auf ihre 
einzelne frühere Behandlung verwiesen, vor allem aber auch 
auf die Tafeln, insbesondere Tafel 10 bis 13. Hier sieht man an 
den vorgeführten Beispielen vor allen Stücken die Mannigfal- 
tigkeit von Bastarden späterer Generationen. Man kann aus 
F -Bastarden bestimmter Rassen ohne weiteres Individuen in 
Reihen stellen, die sozusagen ein Abklingen der Merkmale der 
einen Elternrasse und bei einer anderen Reihe der anderen 
Eltcrnrasse vor Augen führen. Man vergleiche z. B. Tafel 11. 
Ebenso ist etwa an dem Beispiel Tafel 11, Abb. 62, Tafel 12, 
Abb. 67 und Tafel 13, Abb. 73 und 74 das starke Auftreten 
der elterlichen Rasse zu sehen, durch die eine Rückkreuzung 



ERSCHEINUNGSBILD VON MISCHLINGEN. 



295 



erfolgt ist. Das Herausmendeln rezessiver Eigenschaften bei 
einzelnen Individuen der Fx -Generation zeigt als Beispiel der 
Somali, Tafel 12, Abb. 69, bei dem das eigentümlich wellige 
Haar nach Kreuzung von schlicht und kraus wieder hervor- 
getreten ist. Dieselbe Erscheinung zeigt Tafel n, Abb. 66, 
ganz anderer Rassenherkunft. 

Wie verschieden stark die einzelnen europiden Rassen (ein- 
schließlich derer auf vorderasiatischem Boden) sich in Kreu- 
zung mit der mongoliden in ihren einzelnen Eigenschaften im 
Erscheinungsbild durchsetzen, zeigt sehr lehrhaft ein Vergleich 
zwischen der chinesisch-jüdischen Kreuzung (Tafel 11, Abb, 54) 
und der chinesisch- englischen (Tafel 13, Abb. 76). 

Die Dominanz des Negerhaares gegenüber schlichtem 
Europäerhaar wird in zahlreichen Fallen deutlich, so z. B. 
Tafel 10, Abb. 60, erwartungsgemäß nach dem übrigen Er- 
scheinungsbild noch mehr Tafel r o, Abb . 5 7 und 58. D er 
Knabe, Abb. 56 derselben Tafel, hat sein Kraushaar künst- 
lich etwas gestreckt.) Auch in der Mehrfachkreuzung von 
Inder, Europäer und Neger, Tafel 12, Abb. 67 und 68, zeigt 
sich die Dominanz dieser Haarform, und zwar bei den beiden 
Brüdern offensichtlich genetisch ungleich (wohl heterozygot 
und homozygot). 

Von Erscheinungen der Rassenkreuzung innerhalb der 
Rassen Europas zeigen die Typentafeln nur sehr wenig, weil 
die Typen eigens nach Individuen ausgesucht sind, die je mög- 
lichst viele Erbeigenschaften einer einzigen Rasse zeigen, der- 
jenigen, che sie eben bezeichnend darstellen sollen. Immerhin 
ließen sich einzelne Fälle mit Verbindung eines oder des an- 
deren Rassemerkmals einer anderen als der für die Darstel- 
lung gewünschten Rasse nicht ganz vermeiden. Es sei auf 
Tafel 2, Abb. 3, verwiesen, wo die Form des Nasenrückens 
entweder dinarische Rasse oder eine in der betreffenden Erb- 
linie weitergegebene Mutation der nordischen Nasenform an- 
zeigt. Auf derselben Tafel hat der junge Mann, Abb. n, eine 
Haarfarbe, die am wahrscheinlichsten alpiner Rassenherkunft 
ist. Auf mehreren anderen Abbildungen sind ähnliche Dinge 
festzustellen und in deren Unterschrift angedeutet. Es sei aber 
auch auf die zahllosen Abbildungen von Rassetypen verwiesen, 
die sich in den verschiedensten Rassewerken befinden, Gün- 
ther, v. Eickstedt u. a., wo fast immer der Verfasser 
einzelne Züge verschiedener Rassenherkunft innerhalb der euro- 
päischen Rassen vermuten muß. Das zeigt eben die ungeheuer 



296 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



VERTEILUNG VON ERBANLAGEN. 



297 



starke Durchkreuzung der europäischen Rassen innerhalb der 
einzelnen Bevölkerungsgruppen. Die Erkennung der rassischen 
Herkunft ist wirklich nicht immer leicht. Selbstverständlich ist 
die Schwierigkeit einer Diagnose bei Mischlingen aus Rassen, 
deren jede eine größere Anzahl der der anderen fe Menden Gene 
besitzt, also einander fernstehender Rassen, im Erscheinungs- 
bild sehr viel leichter als bei einander nahestehenden Rassen. 
Es sei noch einmal auf die Abbildungen verwiesen und hierbei 
noch besonders betont, daß es sich bei dem rassischen Auf- 
bau der europäischen Volker nicht um eine regelmäßige F x - 
Bevölkerung handelt. Wie eine solche aussehen würde, und 
zwar unter der Voraussetzung, daß keinerlei Auslesevorgang 
eingegriffen hat, und daß keine Zufuhr von Blut der einen 
Rasse nachträglich dazu gekommen ist, das schildert an Bei- 
spielen aus dem Tierreich der Abschnitt 3, S. 81. Bei der 
Bevölkerung der europäischen Staaten sind 
aber diese Voraussetzungen nicht gegeben. We- 
der ist die Kreuzung je eine gleichmäßige gewesen, noch sind 
Auslese und Siebungsvorgänge unbeteiligt. So kommt es, 
daß in manchen Bevölkerungsteilen eine sehr starke Durch- 
kreuzung von nordisch, ostbaltisch, alpin, dinarisch vorliegt, 
so daß man ein ungeheuer buntes Bild der Einzelindividuen er- 
blickt. In anderen Teilen der Bevölkerung aber besteht der 
Hauptsache nach noch ein starker Kern einer bestimmten 
Rasse, etwa der nordischen, z. B. in gewisser fest ansässiger 
Bauernschaft, und die Eigenschaften der anderen genannten 
Rassen kommen einzeln und ausgestreut, die einen an diesem, 
die anderen an jenem Individuum zum Vorschein. Daß eine 
zielbewußte Bevölkerungspolitik den Bestand solcher Rasse 
heben, diese also gegenüber den anderen vermehren könnte — 
züchten — scheint mir zweifellos; selbstverständlich nicht ein- 
fach nach einzelnen äußerlichen Merkmalen, sondern aus den 
alten Beständen heraus (5. Anm. S. 269). 

Über die Zahl und Verteilung jener Erbanlagen macht man sich zu- 
meist ein durchaus falsches Bild. Es muß leider auch gesagt werden, daß 
die vielfach in jüngster Zeit erschienenen Rassenkarten nicht geeignet sind, 
das Bild richtig zu stellen. Wohl bilden sie ein nicht unwichtiges Mittel 
zur Verliefung der allgemeinen Kenntnisse vom Vorhandensein der Rassen 
und ihrer Hauptbeteiligung an den Völkern. Aber alle Farbgrenzen, auch 
wenn die Farben strichweise weiter gezogen sind, erwecken viel zu sehr die 
Vorstellung von irgendwie im Raum verlaufenden wirklichen Grenzen. Solche 
Grenzen etwa innerhalb des deutschen Volkes gibt es nicht. Es gibt nur 
Landstriche und größere oder kleinere Räume, wo Erblinien mit bestimmten 
Rasseneigenschaften in erdrückender Masse beieinander sitzen, andere, wo 



sie weniger häufig, aber Immer noch in der Mehrzahl der Bevölkerung und 
andere, wo sie seltener oder endlich nur noch ganz vereinzelt anzutreffen 
sind. Das laßt sich in Kartenform vollkommen richtig überhaupt nicht dar- 
stellen 1 ). 

Um ein Beispiel der verwickelten Verhältnisse zu geben, 
sei auf folgende Verteilung einiger Erbanlagen in Deutschland 
und Europa hingewiesen. Innerhalb Deutschlands sind be- 
kanntlich die meisten Blonden im Norden und Nordwesten. 
Nach der Vir cho w sehen Schulkinderuntersuchung (der Ein- 
fluß des Nachdunkeins ist berücksichtigt) sind die meisten 
Blonden in Friesland und Oldenburg, dann Pommern, Meck- 
lenburg, Braunschweig, Hannover. Die geringste Zahl Blonder 
ist in Ostbayern und im Oberelsaß. So hat z. B. das Amt Wil- 
deshausen in Oldenburg rund 50 0/0 rein Blonder und Roding in 
der Bayrischen Oberpfalz nur 90/0 rein Blonder. Und umge- 
kehrt hat dasselbe Wildeshausen nur 40/0 Schwarzbraune, 
Schlettstadt im Oberelsaß deren 3i (| /o. Aber man hat sich noch 
selten klar gemacht, daß, wenn in Roding 90/0 Blondheit hn 
Erscheinungsbild vorhanden ist, dann nach einer bekannten 
Berechnung bei 470/0 der Bevölkerung rein blonde Erban- 
lagen verborgen vorhanden sind 2 ). Dagegen stellen die 31% 
Schwarzbraun in Schlettstadt alle solchen Erbanlagen restlos 
dar, verborgene gibt es nicht noch daneben. Dagegen stecken 
in den 69 übrigen Prozenten dieses Bezirkes, unter denen ver- 
mutlich nur ein kleiner Hundertsatz wirklich Blonder ist, eine 
ganz große Zahl verborgener blonder Erbanlagen unter den 
Hellbraunen, Mittelbraunen und einem Teil jener 31 0/0 Schwarz- 
brauner. Erblinien für blond sind es also außerordentlich viel 
mehr, als eine einfache Auszählung der Haarfarben uns zu- 
nächst zu zeigen scheint. Noch ein Beispiel aus Baden (aus 
Animo ns Werk) soll die Verhältnisse beleuchten. Während 
es unter den badischen Wehrpflichtigen 43 0/0 Blonde, 39 0/0 



: ) Die zweite Auflage dieses Buches brachte wohl einen der ersten Ver- 
suche einer solchen Rassenkarte. Heute, wo uns der unerhört verwickelte 
Aufbau des Erbgutes eines ganzen Volkes noch klarer geworden ist, möchten 
wir vorläufig auf eine Karte ganz verzichten. Wohl aber läßt sich sehr gut 
die verschiedene Häufigkeit der einzelnen Merkmale auf Karten wieder- 
geben, wie es die Denikerschen Karten für den Schädelindex, die Körper- 
größe usw. taten. Solche, auf genauen Aufnahmen beruhende Karten sollten 
wir für möglichst viele Merkmale haben. 

2 ) Dabei wird einmal Blond einfach als rezessiver Faktor aufgefaßt; 
— in Wirklichkeit sind die Verhältnisse viel verwickelter, die Zahl der ver- 
borgenen Anlagen noch viel größer. 



298 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



VERTEILUNG VON ERBANLAGEN. 



299 



Braune und 180/0 Schwarzbraune gab, kamen rein helle Ge- 
samttypen, also die Verbindung von blondem Haar, rosiger 
Haut und ganz hellen Augen, nur bei 25 0/0 und rein dunkle Ge- 
samttypen nur bei 2°/ vor. Auch hier kann man die Ziffern 
nur richtig würdigen, wenn man sich überlegt, daß unter den 
genannten 39 o/ Braunen und 180/0 Schwarzbraunen eine ganz 
große Zahl verborgener Blondanlagen .heterozygot vorhanden 
sein müssen. Die Hundert satzzahlen der genannten reinen 
Typen zeigen ein ungeheures Abweichen von dem Zahlenver- 
hältnis, das eintreten würde, wenn Helle und Dunkle in glei- 
cher Anzahl in die ursprüngliche Kreuzung bei Bildung des 
Volkes eingetreten wären. Dann müßten die rein dunklen 
Typen die hellen ganz erheblich an Zahl übertreffen, helle 
würden es weniger sein, sogar als es jetzt dunkle sind. Die nor- 
dischen Erblinien sind also auch hier in der Südwestecke des 
Reichs noch in gewaltiger Überzahl in der Bevölkerung. Die 
in vielen Schriften zutage tretende Vorstellung (auch auf 
Rassekarten vielfach vorhanden) von dem sehr starken Ge- 
schwundensein und Fehlen der nordischen Rassenanlagen in 
Süddeutschland bedarf einer sehr starken Verbesserung. Sie 
dürfte verursacht sein durch das ebenfalls auf manchen Kar- 
ten, z. B. Indexkarte, gezeichnete Bild von der Verteilung lan- 
ger und runder Schädel. Die Vorstellungen von der Verteilung 
des Schädelindex, der, als auf exakter Messung beruhend, den 
Eindruck besonderer Wissenschaf tlichkeit in weiten Kreisen 
hervorruft, beeinflußten unser Vorstellungsbild von der Ver- 
breitung der nordischen Erbanlagen in Deutschland beson- 
ders stark und ganz gewiß falsch. Von keinem Erscheinungs- 
bild eines Merkmals wissen wir über Erb- und Umweltanteil 
so wenig wie gerade von der Schädelform. Hatten war statt 
Karten der Verbreitung des Schädelindex in Deutschland 
solche von der Verbreitung der Nasenformen, der Gesichts- 
form, der hellen Farben 1 ), würden die landläufigen Vorstel- 
lungen von der Mächtigkeit des Vorhandenseins nordrassischer 
Erblinien in unserem Volle sehr viel besser der Wirklichkeit 
entsprechen. 

Endlich sei noch auf ein Beispiel der Verteilung der Erb- 
linien außerhalb Deutschlands hingewiesen. Wie ich einer älte- 
ren, aber im ganzen noch völlig zutreffenden Statistik ent- 



L ) W. Abel hat in seiner Lichtbildrcihe (Nat. Werbedienst, Reihe 29. 
Berlin 1935) erstmals eine Karte der Verteilung des hellen Typus in Mit- 
teleuropa nach Virchows Erhebung gebracht. 



nehme, gibt es in Skandinavien rund nur 0,8 o/ Schwarzbraune, 
220/0 Braune und 770/0 Blonde. Umgekehrt sind in Süditalien 
80/0 und in Portugal 20/0 Blonde. Man muß wiederum stark 
betonen, wieviele verborgene Blondanlagen bei diesen Zahlen- 
verhältnisscn des Erscheinungsbildes für Blond vorhanden sein 
müssen. Aber auch der Block der Schwarzbraunen ist in Süd- 
italien nur noch in 310/0, in Portugal in 200/0 erhalten. Die 
übrigen (61 o/ bzw. 780/0) sind Braune. Das Vorkommen von 
Erblinien für Blond ist also bis Süditalien und Portugal hin- 
unter unendlich viel häufiger als das für Schwarzbraun im 
Norden. Dasselbe gilt für Augenfarbe und Hautfarbe. Wenn 
man im „dunkelsten Italien", der Provinz Kalabrien, noch 25 0/0 
Colorito roseo, also helle Haut findet, läßt das ahnen, wie- 
viele Erbanlagen für hell hier in die Gesamtbevölkerung Süd- 
europas gebracht worden sind. 

Die Beispiele sollen nur einprägsam zeigen, daß eine ein- 
fache Beschreibung und Statistik uns die wirklichen Verhält- 
nisse der rassenmäßigen Erbanlagen nicht erschließen. 

Noch einige allgemeine Bemerkungen lassen sich hier bei- 
fügen. Man kann also bald hier, bald dort die einzelne Rassen- 
eigenschaft als solche feststellen, d. h. man kann etwa Neger- 
haar als solches ansprechen und den Schluß ziehen, daß unter 
den Ahnen des betreffenden Individuums einmal ein Neger 
war. Oder man wird blondes PI aar an einem Individuum mit 
Recht zurückführen dürfen auf Erblinien aus den Blondrassen 
Europas. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß wir in einer 
rassengekreuzten Bevölkerung (jetzt bloß die europäischen Ras- 
sen berücksichtigend) nur für einige wenige Merkmale des Er- 
scheinungsbildes die Herkunft von bestimmter Rassenscite an- 
geben können. Was das betreffende Individuum an rezessiven 
Ras5eneigen5C.haften besitzt, können wir überhaupt nicht fest- 
stellen, und ebensowenig sind wir in der Lage, zahlreiche auch 
im Erscheinungsbild hervortretende Einzelheiten, z. B. manche 
physiognomische, manche des Wuchses und der Maß verhältnisse 
usw. rassenmäßig nach ihrer Herkunft zu unterscheiden. Diese 
Lücken in unseren Diagnosemöglichkeiten werden heute sehr 
vielfach vollkommen verkannt. Man ist auf Grund zweier oder 
dreier auffälliger Merkmale sehr häufig mit einer Rassendia- 
gnose fertig, in anderen Fällen mit der Diagnose eines Ein- 
schlages der einen oder anderen weiteren Rasse. Es muß in 
diesem Zusammenhang noch mit allem Nachdruck darauf hin- 
gewiesen werden, daß, wie an mehreren Stellen schon aufge- 



300 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



führt. (S. 293), die Eigenschaften unabhängig voneinander im 
Erbgang übertragen sind. Man kann also vom Vorhandensein 
einer Erbeigenschaft, die wir einer bestimmten Rassenherkunft 
zuschreiben dürfen, z. B. Blondhaar, nicht darauf schließen, 
daß dieses Individuum irgendweiche anderen Erbeigenschaften 
derselben Rassenherkunft haben muß. Besondere Wichtigkeit 
erhält dieser Hinweis bezüglich der geistigen Eigenschaften. 
Ein blondhaariges Individuum kann auf geistigem Gebiet ganz 
erheblich weniger Erbanlagen von der nordischen Rasse haben 
als ein schwarzhaariges. (Dieses kann ja außerdem wenigstens 
von einer Seite her eine Blondanlage rezessiv besitzen.) Selbst- 
verständlich können wir bei einem Individuum, das sehr viele 
körperliche Erbeigenschaften nordischer Rassenherkunft erken- 
nen läßt, mit viel größerer Wahrscheinlichkeit auch das Vor- 
handensein von solchen gleicher Herkunft auf geistigem Ge- 
biet vermuten, und für eine große Anzahl von derartigen In- 
dividuen wird im Durchschnitt die Vermutung richtig sein. 
Aber, wie gesagt, der einzelne Fall oder gar nur das eine oder 
andere körperliche Merkmal erlauben schlechterdings keinen 
Schluß. Gegen diese Erkenntnis wird sehr viel gesündigt. 

Nur angedeutet sei endlich, daß bei den vielfachen Ras- 
sendiagnosen aus einigen wenigen Eigenschaften des Erschei- 
nungsbildes in diesem eine große Anzahl Erbeigenschaften und 
Umweltwirkungen völlig verkannt oder übersehen werden, die 
mit Rasse nichts zu tun haben, Wirkungen geringerer oder 
größerer Störungen des inneren Drüsenapparates (der das 
Wachstum regelt), Umweltwirkungen auf Wachstums- und Reife- 
vorgänge, zahlreiche individuelle Besonderheiten erblicher Art, 
was alles höchstens der auf diesem Gebiet erfahrene Forscher 
analysieren kann. Und gerade dieser wird bei vielen Punkten 
die Grenzen seines Wissens enge sehen. 

Bei der ungeheuren praktischen Bedeutung der Erschei- 
nung der Kreuzungen in einem Volk ist es nötig, noch einige 
Ausführungen anzufügen über jene Fälle von Kreuzung, bei 
denen nicht gleiche Anteile zweier Elternrassen und dann 
gleichmäßige Weiterkreuzung der Bastarde und die Entste- 
hung eines richtigen Bastardvolkes in Betracht kommen, sondern 
einmalige oder auch von Zeit zu Zeit immer einmal sich wie- 
derholende, bald geringere, bald größere, gelegentliche Ein- 
kreuzung einzelner rassefremder Individuen in eine rassen- 
mäßig geschlossene Bevölkerung. Das wären also die Fälle, 
daß einzelne Neger in ein europäisches Volk eingekreuzt wer- 



VERTEILUNG VON ERBANLAGEN. 



301 



den oder ein Europäer etwa in das japanische Volle oder Juden 
in die europäischen Völker und viele andere. Biologisch wirken 
natürlich dieselben Gesetze wie bei der Kreuzung im großen. 
Beim Mischung ersten Grades zeigen sich, wie oben erwähnt, 
die dominanten oder auch intermediären Eigenschaften. Die 
nächste Generation aber entsteht nun aus Rückkreuzung mit 
der einen Elternrasse und die folgenden immer wieder ebenso 
mit derselben. Beim Urenkel sind es also 7 Urgroßeltern der 
betreffenden einheimischen und 1 Urgroßelterntcil der frem- 
den Rasse. Man spricht sowohl in der Tierzucht wie häufig 
auch beim Menschen von 1 / S; 7 lß , i/ 32 usw. „Blut". Erbbio- 
logisch heißt das aber nicht, daß ein solcher Urenkel von 
jeder einzelnen Eigenschaft jedes seiner Großeltern je 1 / 8 An- 
teil besitzt sondern von allen Eigenschaften zusammenge- 
nommen, durchschnittlich Vs- Durch das Spalten und die 
gegenseitige Unabhängigkeit der Erbanlagen teilen sich diese 
ganz verschieden auf. Man wird von jedem seiner Urgroßeltern 
entsprechendes Erbe besitzen, aber es können bcispielshalber 
die sichtbaren sog. Rasseneigenschaften, etwa Haarfarbe, Na- 
senform, Körpergröße, physiognomische Einzelheiten ganz von 
diesem oder jenem und gar nicht von einem anderen aus 
der Urgroß- oder weiteren Ahnenreihe stammen. Das gilt auch 
für die geistigen Eigenschaften. Nach Kreuzung mit Juden 
kann daher ein Ururenkel von dem einen jüdischen Ahnen ge- 
rade von den Eigenschaften, die wir an Leib und Seele erken- 
nen können, zufällig viele oder verschwindend wenige haben. 
Eine Berechnung nach Bruchteilen ist dabei für die einzelnen 
Eigenschaften unmöglich. Er wird außerdem welche haben, die 
wir nicht erkennen, oder die uns belanglos erscheinen. Und end- 
lich werden noch von allen oder einzelnen dieser Ahnen her rezes- 
sive Anlagen da sein, die also am Träger überhaupt nicht in 
die Erscheinung treten können, die aber im Erbe weitergetra- 
gen werden. Diese letztere Tatsache erklärt es, daß nach Gene- 
rationen einmal wieder fremde Rasseneigenschaften auftreten, 
wenn in zurückliegender Zeit eine solche fremde Einkreuzung 
stattgefunden hat. Es trafen sich dann zufällig zwei Träger 
dieser selben, etwa in der Gesamtbevölkerung nur ganz selte- 
nen, rezessiven, fremdrassigen Erbanlagen. Am seltensten tritt 
ein solches Merkmal in das Erscheinungsbild, wenn zu seiner 
Manifestation zwei oder mehr Faktoren zusammenwirken müs- 
sen, so daß die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich aus verschie- 
denen Erblinien treffen, besonders gering wird. Auf dem Zu- 



302 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

sammen treffen seltener, rezessiver Erbanlagen beruht also dann 
das plötzliche und scheinbar unvererbte Auftreten gewisser 
negrider oder vorderasiatisch-orientalischer (jüdischer) Eigen- 
schaften. Genau wie bei krankhaften rezessiven Eigenschaften 
wird auch bei solchen sog. rassenmäßigen die Wahrscheinlich- 
keit des Zusammentreffens in Inzuchtskreisen größer. Wenn 
einzelne Fälle von Einkreuzung einer fremden Rasse sich un- 
gefähr gleichmäßig über ein Millionenvolk verteilen, wird 
selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit, daß sich nach eini- 
gen Generationen Erblinien mit den gleichen fremden Erb- 
anlagen treffen, sehr viel geringer sein, als wenn eine Anzahl 
solcher Kreuzungen in einer bestimmten sozialen Schicht und 
an bestimmten Orten (z.B. bestimmten Städten) stattfindet. Das 
ist von wesentlicher Bedeutung für die Beurteilung der Ein- 
kreuzung von Juden und anderen fremden Rassen. Wie gesagt, 
gilt das Angeführte auch für die Erbanlagen unserer geistigen 
Eigenschaften. Und hier wird bei verhältnismäßiger Beschrän- 
kung der Einkreuzung auf bestimmte, etwa führende soziale 
Schichten die Wirkung auf deren geistige Leistung und gei- 
stige Richtung eine verhältnismäßig sehr starke sein können. 
Diese für eine nationale Bevölkerungspolitik jeder Nation 
wichtige Tatsache sei hier schon betont, ich komme S. 319 
darauf zurück. Die genauere Darstellung der Vererbung gei- 
stiger Eigenschaften ist Abschnitt 5 vorbehalten. 

Sogenanntes Luxurieren 

Es ist unsicher, ob die Erscheinung des Luxurierens über- 
haupt beim Menschen vorkommt. Es gibt bei Pflanzen und 
vielleicht auch bei der Kreuzung von Tierarten Fälle, wo 
Wuchs und Gedeihen von Bastarden über die betreffenden 
Eigenschaften beider Elternrassen mehr oder anders hinaus- 
gehen, als es die sich kreuzenden Anlagen der betreffenden 
Eigenschaften nach unseren Kenntnissen bedingen würden. Ob 
aber bei eigentlichen Rassekreuzungen an Säugetieren eine 
solche Erscheinung auftritt, scheint sehr zweifelhaft. Auch für 
den Menschen ist sie kcinenfalls festgestellt. Ich selbst habe 
in meinem Bastardbuch die Erscheinung, daß bei den südwest- 
afrikanischen Bastards die Körpergröße, teilweise wohl auch 
Kräftigkeit und Fülle des Körperbaues im Durchschnitt beide 
Stammrassen übertreffen, als Luxurieren bezeichnet. Die viel 
früher angestellte Beobachtung von Boas, daß europäisch- 
indianisches Halbblut an Körpergröße beide Elternrassen über- 



SOGENANNTES LUXURIEREN. 



303 



traf, habe ich als Stütze beigezogen. Selbstverständlich wird 
man diese Erscheinung nicht bei Rassenkreuzungen anderer 
Rassen auch ohne weiteres erwarten dürfen, sie hängt eben, 
soweit genetisch bedingt, von der Natur der sich kreuzenden 
Genkombinationen ab. So fand Davenport ein Überschrei- 
ten der elterlichen Körpergröße bei manchen Gruppen von 
Mulatten auf Jamaika. Dagegen konnte umgekehrt R Oden- 
wald t den Nachweis erbringen, daß die Mestizen auf Kisar 
(Europäer-Malaien-Bastarde) kleiner und von grazilerem Kör- 
perbau sind als beide Elternrassen. Ich nannte diese Erschei- 
nung im Gegensatz zur ersteren Paupcrieren. Aber vielleicht 
sind alle beide Erscheinungen von ganz anderen Ursachen ab- 
hängig. Mit Recht betont R Odenwald t die Schwierigkeit 
der Beurteilung dieser Erscheinung, die Tatsache, daß wir nur 
ganz selten die verschiedenartigsten Umweltwirkungen auf 
Elternrassen und Bastarde einwandfrei beurteilen und in Rech- 
nung stellen können. Ein wirklicher Nachweis von Luxurieren, 
so wie er für zahlreiche Pflanzen, z. B. viele unserer schönsten 
Gartenblumen erbracht ist, besteht also für den Men- 
schen nicht 1 ) Bei diesser Sachlage bedarf es wohl keines 
Wortes darüber, daß wir keinenfalls ein etwaiges sog, Luxu- 
rieren irgendwelcher anderer Erbanlagen etwa physiologischer 
oder gar psychologischer Art erwarten dürfen. Kern Kenner 
auch nur der einfachsten erbbiologischen Tatsachen wird 
das tun. 

Im Anschluß daran sei erwähnt, daß auch andere Kör- 
perteile bei Rassekreuzung in bestimmten Fällen die elterlichen 
Größenmaße überschreiten. So beobachtete man bei Malaien- 
Indier (Tamilen) - Mischlingen, ebenso bei Chinesen -Malaien-, 
bei Indianer-Europäer- und bei Europäer-Hottentotten-Misch- 
lingen eine deutliche, oft sogar recht starke Verlängerung des 
Gesichtes. Die Mischlinge sind häufig lang- und schm algesich- 
tiger als beide Elternrassen. Man will Ähnliches in Europa bei 
der Kreuzung von Nordeuropäern mit Südeuropäern, mit Zi- 
geunern und mit Lappen und auch bei Kreuzung jener mit 
Juden beobachtet haben. Für all diese Behauptungen fehlt 
noch ein einwandfreies, mit zuverlässigen Ziffern belegtes um- 
fangreiches Material. Die Erscheinung ist interessant genug, 
sie sollte gründlich geprüft werden. Einstweilen muß man hier 
gleichfalls an die oben genannten Spaltungsvorgänge denken, 

] ) Wie ich schon in der Genanalyse sagte (1930). 



304 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



vielleicht auch an hormonale Störungen; auch an unmittelbare 
Umweltwirkungen auf in neue Umwelt versetzte Einzelindivi- 
duen ist zu denken. 

Sogenannte Disharmonien 

Während alles etwaige Luxurieren uns praktisch über- 
haupt wenig interessiert, sind eine Reihe von Erscheinungen, 
die man mangels genauerer Einzelkenntnisse wohl oder übel 
gelegentlich als Pauperieren (Fischer) bezeichnet hat, von 
sehr großer, allgemeiner und praktischer Bedeutung. Es han- 
delt sich um die Frage, ob Kreuzung zweier Rassen, vielleicht 
am stärksten, Kreuzung einander sehr ferne stehender Rassen 
oder vielleicht Kreuzung zweier irgendwie besonders „schlecht" 
zueinander passender Rassen als solche eine Schädigung, 
Schwäche, Hinfälligkeit oder Widerstandsunfähigkeit der Misch- 
ling'e erzeugen können. Man spricht dann von deren Disharmo- 
nie auf körperlichem und geistigem Gebiet. Hierher zu rech- 
nende Erscheinungen wurden schon vor langen Jahren be- 
obachtet. 

Tillinghast wies z. B. darauf hin, daß Mulatten im 
Sezessionskrieg weniger leistungs- und gegen Blutverluste und 
Krankheiten weniger widerstandsfähig waren als die reinen 
Rassen. Dabei soll der Blendling von Engländern (Nordische 
Rasse) und Negerin (z. B. in Jamaika) hinfälliger sein als der 
von Spaniern oder Portugiesen (mediterrane Rasse) mit der- 
selben Negerin (etwa in Haiti, Kuba, Portoriko). Lund- 
borg 1 ) undM j o een 2 ) haben auf die Schwächung von Misch- 
lingen zwischen Lappen und Schweden-Norwegern aufmerk- 
sam gemacht. Mjoeen 2 ) versucht, die Erscheinung auf fal- 
sches Zusammenwirken der auf rassenverschiedenen Erban- 
lagen entstandenen, innersekretorischen D rüsen zurückzuführen. 
Er findet gehäuftes Vorkommen von Diabetes bei solchen Ba- 
starden etwa auf Grund von. Störungen der Pankreas anlagen. 
Er und Lundborg glauben auch eine geringere Wider- 
standsfähigkeit dieser Mischlinge gegen Tuberkulose gegen- 
über beiden Elternrassen bemerkt zuhaben. Mjoeen 2 ) zeigt 



!) Lundborg. Hereditas Bd. 2. 1921 und Rassenmischung. Bibl. 
genet. 8. 193 1. 

2 ) M j o e e n. Harmonische und unharmonische Kreuzungen. Zeit. Ethn. 
52. 1921. 

Derselbe. Rassenmischung beim Menschen. C. R. III Sess. Inst., intern. 
d'Anthr. Amsterdam 1927. 

Derselbe. Rassenkreuzung beim Menschen. Volk und Rasse. 4. 1929. 



SOGENANNTE DISHARMONIEN. 



305 



weiter, daß die Lungenkapazität dieser Mischlinge geringer ist 
als die beider Elternseiten. Auch Davenport 1 ) nimmt bei 
manchen Kreuzungen Disharmonien an, etwa für Zähne und 
Kiefer (s. auch S. 179). Er glaubt, ebenfalls hormonale Stö- 
rungen annehmen zu müssen, z. B. „pituitary disturbance". Bei 
allen derartigen Ausführungen bleiben aber große Zweifel be- 
stehen. Das Material ist weder groß genug, noch von anderen 
Seiten nachgeprüft, noch schließt es alle Fehlerquellen aus. 
Aber keinenfalls kann man umgekehrt die betreffenden Erklä- 
rungen als falsch erweisen. Viel schwieriger wird die Frage, 
wenn es sich um die Kreuzung der einzelnen Erblinien inner- 
halb der einzelnen europäischen Völker oder gar Gaue handelt. 
Man hat schon daran gedacht, die größere Neigung zu Krebs 
und anderen bösartigen Neubildungen, die Verbreitung man- 
cher Stoffwechselstörungen, aber auch gröbere organische Stö- 
rungen, zu geringe Herzgröße, Insuffizienz der Nieren oder 
gar des Gehirns auf ein „Rassenchaos" zurückzuführen. Hilde- 
brandt hat eine förmliche Theorie dafür aufgestellt. Alle diese 
Dinge sind zum allermindesten völlig unbewiesen. Es ist sehr 
leichtfertig, mit diesen Dingen etwa gar schon in der Praxis 
arbeiten zu wollen, Aber sie 'seien hier erwähnt, um auf die Not- 
wendigkeit einwandfreier und umfangreicher Beobachtungen 
und Unterweisungen hinzudeuten. 

Besonders wichtig ist auf diesem Gebiet die Frage der 
Disharmonie geistiger Eigenschaften. In fast allen Kolonial- 
ländern gelten Bastarde nach Charakter und wohl auch son- 
stigen geistigen Anlagen für schlechter als beide Elternrassen. 
Es ist kein Zweifel, daß sie es in vielen Fällen sind. Aber 
sicher ist das häufig nicht eine biologische Folge der Kreu- 
zung als solcher sondern eine Folge sozialer Verhältnisse. 

Wenn es sich um Bastarde von Weißen mit Farbigen han- 
delt, ist die durchschnittlich ganz erhebliche Minderheit der ge- 
samten geistigen Veranlagung der Mischlinge gegenüber dem 
Weißen ohne weiteres sichtbar, was hier keines besonderen 
Nachweises bedarf (für die Südwest afrikanischen Bastards ver- 
weise ich für diesen Punkt auf mein Buch). Aber gegenüber der 
farbigen Stammrasse scheinen mir Bastarde im Durchschnitt 
geistig überlegen, so daß sie im allgemeinen in ihrer Leistungs- 
fähigkeit zwischen weißer und farbiger Stammrasse stehen. 



1 ) Davenport. Race crossing in Man. C. R. III. Sess. Inst, intern. 
d'Anthr. Amsterdam 1927. 

Baur-l*isclier-I,eiiz,I. 20 



306 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Davenport hat das für Mulatten gezeigt. Die geistigen 
Führer der heutigen Negerbewegung in den Vereinigten Staa- 
ten, die Gründer der Neger-Universitäten, deren Lehrer usw. 
sind keine reinen Neger sondern haben auch europäische Erb- 
anlagen (vgl. Lenzens Ausführungen über Prüfungen von 
„farbigen" Gruppen Absch. 5). Diese Mittelstellung zwischen 
weißer und farbiger Stammrasse bezüglich der geistigen Lei- 
stungsfähigkeit, die wir als Regel annehmen dürfen, schließt 
in sich, daß einzelne Individuen nach beiden Seiten in den Be- 
reich der Leistungsfähigkeit der Stammrassen hineinragen. So 
erklärt sich das Vorkommen einzelner solcher Mischlinge mit 
auffällig hoher Begabung. Es sind gegenüber der Masse der 
übrigen verschwindende Ausnahmen. Wenn irgendwo, wird 
gerade hier durch die Ausnahme die Regel bestätigt. Es ist 
einfach lächerlich oder aber bewußte Irreführung, wenn diese 
verschwindenden Ausnahmen als Beweis für die höhere Lei- 
stungsfähigkeit solcher Mischlingsbevölkerungen angeführt wer- 
den. Sie sind nur berühmt geworden, weil sie eben derartig auf- 
fällige Ausnahmen sind. Hierher gehört der russische Dichter 
Puschkin, dessen Mutter von einem Abessinier abstammt, man 
soll dem Dichter das Negererbe deutlich angesehen haben. 
Auch der französische Romanschriftsteller Alexander Dumas, 
der ältere, ist Mischling gewesen, seine Großmutter väter- 
licherseits war Negerin. Negermischlinge sind auch die Führer 
der geistigen Negerbewegung in den Vereinigten Staaten, Boo- 
ker Washington, Dubois u. a. 

Nach der anderen Seite, also an Leistungsfähigkeit noch 
unter der durchschnittlichen der farbigen Stammrasse ste- 
hend, kommen ganz sicher erheblich mehr Fälle vor. Besonders 
dann, wenn wir hier nicht Intelligenz oder Fähigkeit zur Aus- 
übung allerlei einfachster Berufe sondern Charakter und Le- 
bensführung bewerten. Jenes Urteil von der Minderwertigkeit 
der Bastarde aber und die oft zu beobachtende Verkommenheit 
gewisser Bastardbevölkerungen beruht auf ihrer Umwelt. In 
Hafen- und Minenstädten der Übersee, am Rand überseeischer 
Großstadtsiedelungcn entstanden und entstehen die Tausende 
von Mischlingen aller Hautschattierungen und Rassen, die jene 
Behauptung entstehen ließen. Ohne Kenntnis ihres Vaters, aus- 
gestoßen von der weißen Seite, in Gesellschaft aller Elemente, 
die auch die untere Schicht der Weißen von sich gestoßen hat, 
sogar von reinen Farbigen ausgeschlossen, die jene illegitimen 
Verhältnisse mit oft feinem Empfinden verachten, so wächst 



SOG. DISHARMONIEN — BERECHNUNGSVERSUCHE. 307 

jenes Bastardgesindel auf. Dieses ist wirklich schlechter als 
beide Elternrassen. 

Der durchschnittliche Bastard, in normalen Verhältnissen 
zwischen zwei Rassen aufgewachsen, hält, wie gesagt, ungefähr 
die Mitte. Aber die Natur seiner Entstehung bedingt doch 
offensichtlich eine starke Disharmonie. Es ist eine doppelte. 
Einmal sind disharmonisch die Einflüsse von außen; das Halb- 
blut, etwa in Indien, in Südafrika usw. bekommt von Anfang 
an in der Erziehung, im Umgang mit den Menschen beider 
Rassen die Eindrücke, daß es zu keiner von beiden ganz ge- 
hört. Das muß unbedingt geistig entsprechende Wirkungen 
haben. Rodenwaldt 1 ) hat in einer ausgezeichneten kleinen 
Betrachtung aus seiner reichen Erfahrung heraus darauf hin- 
gewiesen und die Wichtigkeit dieser Wirkung betont. Aber zu 
ihr kommt auch die Uneinheitlichkcit, der starke Wechsel der 
ererbten geistigen Anlagen. Es kombinieren sich in der wech- 
selndsten Form bei den einzelnen Mischlingen die verschie- 
denen beidelterlichen Anlagen. Und beides trifft sicher nicht 
nur zu für sog. Halbblut in Übersee sondern auch für Misch- 
linge aus der Kreuzung der vorderasiatisch-orientalischen Rasse 
(Juden) mit den europäischen Rassen, vor allen Stücken der 
nordischen. Das Bestehen disharmonischer Umwelteinflüsse 
auf solche Individuen bedarf keines besonderen Beweises. Aber 
ganz offensichtlich besitzen viele solche auch sehr deutlich dis- 
harmonische psychische Anlagen, wie man gelegentlich ge- 
sagt hat, zwei Seelen in einer Brust. Es sind eben die erb- 
mäßigen Rassenanlagen des Psychisch-Seelischen in mannig- 
facher Kombination von zwei darin recht verschiedenen Rassen 
gekreuzt. Es werden alle möglichen Kombinationen auftreten. 
Natürlicherweise nicht nur disharmonische, aber doch in fast 
allen Fällen deren mehr oder weniger. Für alle Einzelheiten 
sei auf Abschnitt 5 verwiesen. 

Berechnungsversuche der Variabilität. 
Aus dem Gesagten war zu erwarten, aber der Nachweis 
an meinem Rehobother Bastardvolk war mir seiner Zeit doch 
recht überraschend, daß man die Vielgestaltigkeit und noch 
weniger die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der Merk- 
male weder durch Variationskurven noch durch Variations- 
koeffizienten und Korrelations rechnung nachweisen kann. Die 

!) Rodenwaldt. Vom Seelenkonflikt des Mischlings. Z. Morph. 
Anthr. (Festband Fischer) 34. 1934. 



308 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN. 

Einzclmerkmale jener Bastardbevölkerung glichen in den an- 
gegebenen Punkten anthropologischen Serien, die wir für ganz 
rassenreine halten. Auch Herskovits*) findet das für Mu- 
latten. Rechnerisch ist die Variabilität der Merkmale bei die- 
sen nicht größer als bei reinen westafrikanischen Negern oder 
„old Americans" (Hrdlicka) oder Delaware-Indianern u. a. 
Auch Todd 2 ) findet dasselbe. Herskovits schließt irriger- 
weise daraus, der Variationskoeffizient zeige zwar nicht Rassen- 
reinheit oder Rassenmischung an, aber „Homogenität" oder 
„Heterogenität" des Typus einer Gruppe. Man kann doch eine 
Gruppe nicht homogen nennen, in der Herskovits selbst 
nach Augenmaß und Schätzung ungemischte Neger, Neger 
mit Indianereinschlag, mehr Neger als Weißer und andere Stu- 
fen unterscheidet. Von Homogenität einer Bastardbevölkerung 
kann gar keine Rede sein. Der richtige Schluß aus den rech- 
nerischen Ergebnissen jener Bastarduntersuchungen ist der, 
daß jene mathematischen Mittel für diese Zwecke unbrauchbar 
sind. Daß ab und zu, z.B. bei Davcnport, für einzelne 
Merkmale die Mischlinge auch nach Variationskoeffizienten- 
oder Standardabweichung stärkere Variabilität zeigen, wider- 
spricht dem grundsätzlich nicht. Nur wenn man ganz bestimmte 
Merkmale, in denen die Elternrassen sehr stark voneinander 
abweichen, und die zugleich in jeder Elternrasse eine sehr ge- 
ringe^ Variabilität zeigen, herausnimmt und daran Variations- 
koeffizienten berechnet, wird dieser jenen gegenüber bei Ba- 
starden besonders auffällig sein. Wagner 3 ) bringt darüber 
einzelne Nachweise. Früher hat sich schon Scheidt 4 ) mit 
den betreffenden Irrtümern auseinandergesetzt und gute Kri- 
tik geübt. Dasselbe gilt für Korrelationsrechnungen. Fear- 
son fand in der englischen Bevölkerung keine Korrelation 
zwischen Kopfform, Körpergröße, Haar- und Augenfarbe. Auch 
A. Schreiner findet bei Norwegerinnen keine Korrelation 
zwischen starker Langköpf igkeit und hellen Augen, wohl aber 
für Rundköpfigkeit und dunkles Haar. Korrelationsrechnung 
.ist für solche Rassenfragen unbrauchbar. Einfach nach der 
Häuf igkeit vorkommender Korrelationen eine Rasse A und B 

!) Herskovits a.a.O. und Variability and racial Mixture. Amer. 
Natural. 6l. 1927. 

3 ) Todd. Entrenched negro physical features. Iium. BioL 1. 1929. 

3 ) Wagner. The variability of hybrid popuiations. Am. J. phys. 
Anthr. 16. 1932. 

4 ) S c h e i d t. Annahme und Nachweis von Rassenmischung Z Morph 
Anthr. 27. 1928. 



BERECHNUNGSVERSUCHE DER VARIABILITÄT 



309 



und C usw. als Ausgangsrassen für eine ras seilgekreuzte Be- 
völkerung anzunehmen, ist vollkommen unberechtigt und wert- 
los. Das kann man mit jedem einfachen Kreuzungsprodukt von 
Löwenmäulchen oder Drosophila ohne weiteres beweisen. Lenz 
hat mehrfach auf jene Annahmen als auf einen „viel verbrei- 
teten Irrtum" hingewiesen. Leider unterlagen dem auch eine 
Reihe anthropologischer Forscher. Lenz betont mit vollem 
Recht, daß man in einer „Bevölkerung von F„- Charakter mit 
keinen Mitteln die Ausgangsrassen feststellen" kann; dabei 
meint er erbstatistische Mittel (Korrelationsrechnungen s. Ab- 
schnitt Methoden) und bezieht sich ausdrücklich auf eine Be- 
völkerung von durchgemischtem F n -Charakter. Haben wir da- 
gegen für die Herkunft einer stark rassegekreuzten Bevölke- 
rung die Möglichkeit, urgeschichtliche und geschichtliche Be- 
lege zu erbringen, hat die Bevölkerung stellenweise noch kei- 
nen vollen F „-Charakter, d. h. bestehen in ihr, örtlich oder 
sozial gesondert, minder- oder fast ungekreuzte Bestandteile 
der Bevölkerung aus der früheren Zeit, dann wird man sehr 
wohl zu einer Analyse der Ausgangsbestandteile kommen kön- 
nen. Bei der biologischen Untersuchung hat die Berücksich- 
tigung der Rezessivität oder Dominanz der zahlenmäßig fest- 
gestellten Eigenschaften für die Beurteilung des Verhältnisses 
der ursprünglichen Rassen eine viel größere Bedeutung als 
die wertlosen, schematisch errechneten Korrelationen. 

cc) Biologisches Endergebnis von Rassenkreuzung 

An der Untersuchung des Rehobothcr Bastardvolkes konnte 
erstmals an einer nachgewiesenermaßen nur aus Rassenkreu- 
zung, und zwar solcher voneinander sehr verschiedener Ras- 
sen, entstandenen Bevölkerung gezeigt werden, daß durch die 
Kreuzung selbst keine neue Rasse entsteht. Die einzelnen Eigen- 
schaften der beiden Elternrassen vererben sich, unabhängig von- 
einander, wodurch eine ganz ungeheure Zahl von Kombinatio- 
nen entstehen muß. Der rezessive Erbgang vieler Eigen- 
schaften bedingt es, daß bei fast jedem Individuum, deren 
einzelne vorhanden sind, die also an ihm nicht in Erscheinung 
treten, aber unter seinen Nachkommen wieder zum Vorschein 
kommen. Immer vorausgesetzt, daß alle Auslesevorgänge aus- 
geschaltet wären, entsteht dadurch eine um so größere, gleich- 
bleibende, mosaikartige Buntheit einer solchen Bastardpopula- 
tion, je zahlreicher die Erbeigenschaften sind, durch die sich 
die beiden Elternrassen unterscheiden. Gleiche Ausgangsmen- 



310 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



gen der Elternrassen und, wie gesagt, Fehlen aller Auslesevor- 
gänge vorausgesetzt, wird dauernd dieses geschilderte Erschei- 
nungsbild bestehen bleiben. Eine neue Rasse ist das also nicht 
geworden, denn in einer solchen sind eben eine bestimmte An- 
zahl Rasseneigenschaften homozygot, also bei allen Individuen 
nicht nur anlagenmäßig sondern auch 1 im Erscheinungsbild 
vorhanden. 

Den eben angenommenen theoretischen Fall, daß jeglicher 
Auslesevorgang fehle, wird man in Wirklichkeit kaum je sicher 
finden. Treten aber solche auf, so wird natürlich das biolo- 
gische Endergebnis der Kreuzung ganz anders aussehen. Je 
nach dem Grad der ausmerzenden Vorgänge oder auch einer 
positiven Auslese, aber auch je nach der Art der in die Kreu- 
zung eingebrachten Erbeigenschaften und dem Zahlenverhält- 
nis der Elternrassen wird ein ganz verschiedenes Endergebnis 
der Kreuzung entstehen. Beide Elternrassen können Eigen- 
schaften mitbringen, die biologisch für den betreffenden Le- 
bensraum besonders günstig oder besonders ungünstig sind. Je 
nach Umständen kann geringe, aber auch allerschärf ste Aus- 
lese einsetzen. Durch sie können z.B. dominant sich vererbende, 
biologisch ungünstige Eigenschaften beider Rassen ausgemerzt 
werden. Für rezessiv sich vererbende ist ein solcher Vorgang 
erheblich langsamer und bietet unseren Vorstellungen bezüglich 
durchgreif ender Wirksamkeit große Schwierigkeiten ( s . Absch. i ) . 
Durch derartige Ausmerzung bestimmter dominanter Eigen- 
schaften nach Kreuzungen kann offensichtlich für bestimmte 
andere in einer vorher nicht vorhandenen neuen Kombination 
Homogenität entstehen, weil eben auch die heterozygoten In- 
dividuen die Eigenschaft wirklich tragen und daher der Aus- 
merze unterhegen. Tatsächliche Erfahrungen über solche Vor- 
gänge haben wir nicht. An den Rehobother Bastards oder an 
den Mestizen auf Kisar ließen sich keine nachweisen. Die Zeit 
seit Beginn der betreffenden Kreuzungen ist aber auch in die- 
sen Fällen zu kurz, als daß man tiefgreifende biologische Wir- 
kungen erwarten könnte, die sich in der Natur erst an sehr 
langen Reihen von Generationen abzuspielen pflegen. 

Aber es gibt noch einen anderen Vorgang der Wechsel- 
wirkung von Kreuzung und Auslese, der offensichtlich der an 
Umfang und kulturhistorischer Bedeutung wichtigste ist, ja das 
geschichtliche Leben der Menschheit geradezu beherrscht. 
Keine Bildung eigentlicher Völker oder gar Staaten ist abge- 
laufen ohne Überschichtung nach Eroberung auf fremdem 



ENDERGEBNIS DER RASSEN KREUZUNG, 



311 



Volksboden und ohne Mischung ursprünglich getrennter Ele- 
mente. Immer hat es dabei Rassenmischung, meist Rassenkreu- 
zung gegeben, deren Ausmaße ungeheuer verschieden gewesen 
sind. Wenn ein Volk — d.h. also auch die rassenmäßigen Träger 
dieses Volkstums — in sehr andersartige neue Umwelt kommt, 
und wenn es sich gegen viele Umwelteinflüsse ungeschützt 
findet (z. B. Seuchen, Tropenklima usw.), werden stärkste Aus- 
lese- und Ausmerzevorgänge einsetzen. Sie sind wohl um so ein- 
greifender, je einfacher die Kulturen und je andersartiger die 
neue Umweit gegen die alte. Sie treffen die Rasse der An- 
kömmlinge stärker als die von ihnen schon lange betroffenen 
Ansässigen. Das sind also rein „biologische" Vorgänge im Sinne 
von Tierbiologie. Aber sie werden wohl ausnahmslos abge- 
ändert, vermischt, verbunden mit anderen, mit sozialen, also 
mit all den tausend Vorgängen der geschichtlichen Entwick- 
lung des neuen Volkes (Schichtung, Siebung, soziale Auslese 
usw.). Auf sie soll unten eingegangen werden. — Wenn nun 
jene biologische (und auch die soziale) Auslese den einen Ras- 
senbestandteil einer solchen in Mischung und Kreuzung be- 
griffenen Bevölkerung ausmerzt, ist eben das Endergebnis die 
Wiederherstellung des alten Zustandes (abgesehen von Resten 
nicht ausgetilgter Erbanlagen). Im anderen Fall folgt auf die 
Mischung tatsächlich immer eine Kreuzung. Umfang und zeit- 
licher Ablauf sind sehr verschieden. In vielen Fällen aber ist 
es zu einer ungeheuren Durchkreuzung (meist einander nahe- 
stehender Rassen) gekommen, so bei fast allen Völkern Euro- 
pas; bei den Kulturvölkern Asiens und Nordafrikas wird es 
nicht anders sein. So entstand das ungemein bunte Bild der 
unübersehbar zahlreichen Kombinationen von Erbeigenschaf- 
ten, das diese Völker bieten. Es sind alles Heterozygoten — 
eine neue Rasse im Sinne meiner Definition und im Sinne der 
Reste tatsächlich bestehender Rassen, bei denen wir keine 
Kreuzung nachweisen können, ist es also dann, wie gesagt, nicht. 

Es ist eine reine Frage der Benennung oder Namengebung, also rein 
willkürlich, wenn man auch Gruppen Rassen nennen will, bei denen die Zu- 
sammengehörigkeit durch eine bestimmte Anzahl homozygot und hetero- 
zygot dauernd variierender Eigenschatten bedingt ist. Auch solche Kom- 
binationsbilder werden sich naturlich von anderen Kombinationsbildern, die 
aus anderen Elternrassen durch Kreuzung entstanden sind, unterscheiden. 
Aichel wollte sie sekundäre Rassen nennen. Das Rehobother Bastardvölk- 
chen ist sicher eine biologisch bestimmte, charakterisierte ,, Population", 
eine Gruppe, die sich rassenmäßig von „reinen" Hottentotten, „reinen" Wei- 
ßen oder erst recht Negern unterscheidet. Wir haben keine treffende Be- 
nennung für eine solche Gruppe. (Daß in diesem Fall die Rassemmter- 



312 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 



RASSE UND VOLK. 



313 



schiede der Elternrassen viel größer und ganz anders zu bewerten sind als 
bei den Rassenzusammensetzungen europäischer Völker, spielt für die grund- 
sätzliche Auffassung keine Rolle.) Jedenfalls muß man biologisch zwischen 
Rasse im Sinne meiner Definition und dem, was man etwa mit Aichel als 
Sekundärrasse bezeichnen wollte, scharf scheiden. Man müßte dann doch 
mindestens auch jenes erstere Primärrassc nennen. Hier sind wohl noch wei- 
tere Auseinandersetzungen der verschiedenen Meinungen nötig (vgl. oben 
S. 267). 

Gewiß sind oft die sozialen Vorgänge auf das Endergeb- 
nis von Rassenkreuzung im großen von. viel stärkerer Be- 
deutung als die anderen, sie stellen das „biologisch" Entschei- 
dende für die Kulturmenschheit dar! Daher sollen sie hier 
noch ganz kurz erwähnt werden; sie finden ihre eigentliche Be- 
handlung im Abschnitt 5 und im zweiten Band des Werkes. 

Rasse und Volk 

Für die Biologie der Rasse, ja man kann sagen, für ihr 
Leben und Sterben und damit für die Menschheit ist die wich- 
tigste und eingreifendste Erscheinung ihr Verhältnis zu Volk 
und Staat. Es gibt keine menschlichen Rassen, die unter rein 
„natürlichen" Verhältnissen leben, dies im Sinne der natür- 
lichen Lebensverhältnisse frei lebender Tiere und Pflanzen auf- 
gefaßt, Alle Rassen, Rassenmischungen und Rassenkreuzungen 
leben zusammengeschlossen je zu einem Volkstum, sei es die 
Stammesorganisation sog. kulturarmer Stufen, seien es Völker 
im engeren Sinne und Staaten. Die Frage ist, wie diese kul- 
turell beeinflußte Lebensform der Rasse in diesen sozialen Ver- 
bänden sie selbst biologisch beeinflußt und wie umgekehrt die 
Rasse an der Sonderheit der Ausbildung je ihres Volkstums 
beteiligt und dafür verantwortlich ist. 

Begrifflich sind Rasse und Volk scharf zu trennen. Auf die 
gegebene Definition von Rasse als Fortpflanzungsgemeinschaft, 
von homozygot eine Anzahl gleicher Erbanlagen besitzender 
Menschen, sei verwiesen (S. 246). Ein Volk ist im Gegensatz 
dazu eine in gemeinsamer Fortpflanzung lebende Gruppe von 
Menschen, die gemeinsames Kulturgut besitzt. Das wichtigste 
davon ist die Sprache. Es gehört aber hierher alles das, was 
die betreffende Gruppe als ihr „Volkstum" geschaffen oder er- 
worben hat, Sitte und Brauch und Recht, Glaube und Aber- 
glaube, Kunst und alle die materiellen Kulturerzeugnisse, Ge- 
schichte und Überlief erungsinhalt. Darnach ist der Gegensatz 
der Begriffe Rasse und Volk deutlich. Die Rasseeigenschaften 
sind gegeben, -sie ändern sich durch Einflüsse von außen nicht, 



einzelne können einmal mutieren, aber, wie oben gezeigt wurde, 
sind sie sonst über Jahrtausende unveränderlich. Nur dadurch, 
daß Erblinien aussterben, ausgetilgt werden, kann die Gesamt- 
heit der Rassccigenschaften geändert werden. Das Volkstum 
dagegen wird erworben, es ändert sich, es nimmt neue Ele- 
mente auf, schafft altes um. Auch jeder einzelne kann fremdes 
Volkstum erwerben. Man denke sich beispielshalber ein neu- 
geborenes Kind italienischer Eltern zu niederdeutschen Bauern 
gebracht und vielleicht ohne Ahnung seiner Herkunft dort auf- 
gezogen. Es wird deutsch als Muttersprache empfinden, in 
fremde Kultur hineinwachsen und sich für zum deutschen Volle 
gehörig ansehen. Seine etwaige dunkle Haarfarbe aber, seine 
Bewegungen, sein Gesichtsausdruck, sein Temperament, kurz- 
um seine ererbten Rasseneigenschaften werden nicht verändert 
werden und ebensowenig sein eigentliches, inneres Denken 
und Fühlen. Es ist Bestandteil eines Volkes geworden, aber 
rassisch geblieben, was es war, Begrifflich bestehen also scharfe 
Grenzen, ja Gegensätze zwischen Rasse und Volk, im Raum 
aber, wo sich die Dinge stoßen, gibt es kein Volk, dessen In- 
dividuen nicht bestimmter Rasse oder Rassenmischungen und 
Kreuzungen angehören und, wie gesagt, keine Rasse, die 
nicht Teil wäre eines Volksganzen. Wenn nun die gesamte Kul- 
tur eines Volkstums, sein ganzes geistiges Leben über die Jahr- 
tausende hinweg von Menschen bestimmter Rassen geschaffen 
wird, muß selbstverständlich die Art des Geschaffenen von den 
geistigen Fähigkeiten der Schaffenden abhängen. Diese aber 
beruhen auf den rassenmäßig verschiedenen, erblichen Anlagen 
für die geistige Begabung des Menschen. Wir sehen die kul- 
turellen Leistungen, das gesamte Volkstum der einzelnen Völ- 
ker (Völker im weitesten Sinne, vom sog. primitivsten Volks- 
stamm bis zum höchsten Kulturvolk) ganz außerordentlich 
verschieden. Und wir sehen ebenso verschieden das Erbgut, 
körperliches und geistiges, der jene Völker zusammensetzenden 
Rassen. Die Entwicklung jeder völkischen Kultur hängt — 
selbstverständlich neben anderen Faktoren — von der rassen- 
mäßigen Begabung ihrer Schöpfer und Träger ab. Die Art 
jedes Volkstums ist also rassenmäßig bedingt. (Die übrigen, ihre 
Ausgestaltung manchmal vielleicht recht stark beeinflussenden 
Faktoren, geographische, historische usw. werden dabei keines- 
wegs verkannt, können aber hier, wo es sich um Rasse handelt, 
nicht im einzelnen betrachtet werden.) Nicht nur die tiefgrei- 
fenden Rassenunterschiede etwa zwischen uns Europäern und 



314 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

den Negriden oder Mongoliden bewirken die Verschiedenheit 
von Inhalt und Entwicklung der betreffenden Kulturen. Auch 
schon die Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen 
Rassen und die Unterschiede im Grad der Mischung und Kreu- 
zung einzelner europäischer Rassen unter sich bei den ver- 
schiedenen Völkern Europas sind der letzte und eigentliche 
Grund für die Unterschiede der Einzelkulturen und des ver- 
schiedenen Geisteslebens der europäischen Völker, ja sogar der 
einzelnen Volksstämme innerhalb jeden einzelnen Volkes. Das 
deutsche Geistesleben etwa, wie es sich im Spiegel seiner Kul- 
tur- und Kunstgeschichte wie der übrigen Geschichte zeigt, hat 
in allen seinen Äußerungen besondere Eigentümlichkeiten, die 
es etwa vom französischen deutlich unterscheidet. Das ist ganz 
sicher nicht etwa nur eine Folge des verschiedenen „Milieus", 
sondern eine solche der verschiedenen rassenmäßigen Zusam- 
mensetzung beider Völker. Wenn wir aber beide Gruppen zu- 
sammennehmen und sie etwa vergleichen mit der chinesischen, 
ägyptischen oder altperuanischen Geisteswelt, so werden wir die 
beiden etwa, als abendländisch zusammengehörig empfinden 
gegenüber den genannten fremden. Die Ähnlichkeit der Ras- 
senzusammensetzung von Deutschen und Franzosen trotz der 
starken Unterschiede im Mengenverhältnis der in ihnen ge- 
kreuzten europäischen Einzelrassen steht der Verschiedenheit 
der Rassen des chinesischen, ägyptischen oder altperuanischen 
Volkes genau so gegenüber, wie es gegenseitig die Kulturen 
tun. Es ist unbedingt falsch und einseitig, für alle jene kultu- 
rellen Unterschiede nur immer Zeit und Raum und äußere Ein- 
flüsse verantwortlich zu machen, weitaus che tiefgreifendste und 
stärkste Ursache sind die Rassenunterschiede. Es wäre leicht, 
die Vergleiche in zahllosen Fällen durchzuführen. Selbst inner- 
halb eines Volkes, z. B. des deutschen, wäre es lohnend zu 
zeigen, wie die kleineren Rassenunterschiede, die verschieden 
starke Beteiligung von nordisch, alpin, dinarisch usw., die die 
einzelnen deutschen Stämme, Schwaben, Niedersachsen, Bayern 
usw. besitzen, ihrer verschiedenen geistigen Art und Leistung 
entsprechen, auch wenn wir die Zusammenhänge heute noch 
nicht in ihren Einzelheiten bestimmt erfassen können. Darnach 
ist also die Ausgestaltung aller Kulturen, alles Volkstums von 
den erblichen Anlagen der betreffenden Rassen abhängig. 
Selbstverständlich besteht also dann eine solche Abhängigkeit 
auch für den ganzen Ablauf der Geschichte jedes Volkes. Die 
führenden Männer, und „Männer machen die Geschichte", wie 



RASSE UND VOLK. 



315 



Treitschke sagt, haben ihre geistigen Anlagen eben ausschließ- 
lich aus dem Rassegut des Volkes, dem sie entstammen. Für 
den wirtschaftlichen, künstlerischen und politischen Aufschwung 
eines Volkes wird es darauf ankommen, daß es jederzeit in 
genügender Menge jene (rassenmäßigen) Anlagen enthält, die 
für die Träger der betreffenden Leistungen notwendig sind, 
und noch mehr, daß es jederzeit einzelne wenige Begabungen 
birgt, die als Führer und Leiter auf wirtschaftlichem, künstleri- 
schem und politischem Gebiet dienen können. Dabei müssen 
ganz offenbar die Begabungen dieser Führer Steigerungen sol- 
cher oder mindestens teilweise solcher Eigenschaften sein, die 
auch im Volke vielfach vertreten sind, sonst verstehen sich 
beide nicht. Der Führer muß eine seinen Gedankenflug ver- 
stehende Gefolgschaft haben. 

So besteht also die engste Verbindung zwischen Rasse und 
Volk, und so deutlich getrennt rein begriffsmäßig die beiden 
sind, so eng und unlösbar hängen sie in Wirklichkeit zusam- 
men. Man betont so oft, der Mensch unterscheide sich vom 
Tier durch Gedanken und Sprechen; aber am eingreifendsten 
für den Ablauf der Lebenserscheinungen an der Menschheit 
und am stärksten abweichend von tierischem Leben ist der Um- 
stand, daß sie Völker und Staaten gebildet hat. Der Ablauf 
der sog. Weltgeschichte, sagen wir der Geschichte der Kultur- 
völker der letzten rund viertausend Jahre, ist zugleich Rassen- 
geschichte, und die Staaten- und Völkerbildungen wie deren 
Untergänge sind Erscheinungen der Rassenbiologie. Gerade in 
dieser Geschichte zeigen sich die rassenmäßigen Unterschiede 
der Begabung und der Fähigkeit, Kulturen zu schaffen. Erb- 
liche geistige Anlagen, d. h. Rassenanlagen sind es, die die 
eine menschliche Gruppe nicht über gewisse Stufen kultu- 
reller Entwicklung hinauskommen lassen und andere zu uner- 
hörten Kulturschöpfern machen. Auf beide wirken aber neben 
den der historischen Erklärung zugänglichen Faktoren die 
biologischen der Auslese und Ausmerze. Die einen Gruppen 
lassen sozusagen passiv die Ausmerze über sich ergehen. Sie 
erreichen dabei — wie wir es auch im Tierreich sehen — eine 
außerordentliche Anpassung an ihre Umwelt. So entstanden 
die kulturarmen Stämme und Völker in ungünstigsten Gebie- 
ten, Kümmerrassen in Rückzugsgebicten oder gewisse Noma- 
den in außerordentlicher Anpassung an Steppe und Wüste. 
Andere aber erlebten sozusagen mehr aktive Auslese, Rassen 
mit Erbanlagen, die durch Zucht steigerungsfällig waren, Ras- 



316 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

sen 3 deren Anlagen von Energie, Charakter, Phantasie, Intelli- 
genz darnach waren, daß sich die Gruppen ungünstiger Um- 
welt erwehrten, vor allem aber sich selbst günstigere suchten. 
Es war sicher eine Auslese schärfster Art — aber an einem 
dafür günstig mutierten Material! Das sind jene Rassen, die 
eine teilweise ungeheure Expansion aufweisen. Auswanderung, 
Eroberung, Staatengründung war die Folge. Das uns nächst- 
liegende, aber gleichzeitig überhaupt das glänzendste Beispiel 
bietet die Nordische Rasse 1 ), gezüchtet in schärfster Auslese 
unter jenen einzigartig schwierigen Verhältnissen des eiszeit- 
lichen Europa — dann aber an Ausdehnungskraft und Leistungs- 
fähigkeit ohnegleichen. Die Nordische Rasse ist es gewesen, die 
die Indogermanenkultur nicht nur geschaffen, sondern dann 
über die halbe Welt ausgebreitet hat. Dieser Rasse verdankt 
Griechenland seine Blüte, diese Rasse schuf Rom, sie gab den 
Grund zur Hochkultur Indiens und Persiens, auf sie geht die 
Blüte der sog. Renaissance, ihr verdankt die Welt die deutsche 
Kulturleistung. Ich lege Wert darauf, hierbei die Worte zu ge- 
brauchen, die ich 1922 prägte (Kultur der Gegenwart, Leip- 
zig und Berlin, 1923), die ich auch heute nicht besser aus- 
drücken kann : „Die nordische Rasse hat jene eigenartige Be- 
gabung gehabt, die sie dazu befähigte. An vielen Orten ist von 
dieser Grundlage aus keine große weitere Entwicklung gewor- 
den, an anderen aber, wo sie hinkam, eine glänzende und an 
keiner Stelle, wo sie nicht hinkam in Europa, irgendeine! 
Die Mischung der nordischen Einwanderer mit gewissen an- 
deren Komponenten muß ein äußerst begabtes, kulturfähiges, 
produktives, ja stellenweise geradezu glänzendes Menschen- 
material geschaffen haben — nur da wurde in Europa noch 
heute bewertetes Kulturgut geschaffen. Und jeweils, wenn an 
solchen Stellen die nordische Komponente ausgetilgt war, ging 
die Kultur zurück. Noch heute ist ganz zweifellos der Ein- 
schlag nordischer Rasse in den Völkern Europas das, was sie 
zu Kulturträgern, zu Denkern, Erfindern, Künstlern macht. 
Wer all dies nicht einsieht, ist blind oder schließt absichtlich 
die Augen — aber, ebenso blind ist, wer nun verallgemeinert 
und sagt, was hier nachweisbar, muß überall gelten, die ganze 
Kultur Vorderasiens und Ägyptens oder gar noch fernere ist 
ebenfalls nur Inclogermanenschöpfung I Man ist Schwärmer, 
wenn man Dinge sieht, die nicht sind — um einer Liebe wil- 



l ) Hier im weiteren Sinne, in ihrer Verschmelzung mit der fälischen. 



RASSE UND KULTUR. 



$17 



len, aber auch, wenn man Dinge nicht sieht, die sind — , um 
eines Hasses willen." 

Ausführungen von Einzelheiten muß ich mir versagen. 
Ehre umfassende Darstellung des Verhältnisses von Rasse und 
Geschichte ist noch Zukunftsmusik. Für die Einzelheiten 
sei auf Abschnitt 5 und den zweiten Band (Lenz) verwiesen. 

Aus dem Vorhergesagten geht schon hervor, daß mit jeder 
Eroberung und darnach folgenden Staatenbildung Rassen- 
mischung und Kreuzung verbunden sind, und insofern gehört 
die ganze Erscheinung in den Bereich der Rassenbiologie. Die 
rein natürlichen Vorgänge der Kreuzung spielen sich ebendann 
hier während dieser geschichtlichen Entwicklung ab, wie oben 
schon angedeutet wurde. Historische oder kulturelle Einflüsse 
aber bedingen den Umfang und den zeitlichen Ablauf der Kreu- 
zung. Aber umgekehrt wird die kulturelle Leistungsfähigkeit 
eben von diesen Kreuzungen wieder abhängen. Es kommt auf 
die rassenmäßigen Anlagen der beiden sich kreuzenden Rassen 
an, der der Eroberer und der der Unterschicht. Als Beispiel 
sei auf die Kreuzung einwandernder Mongoliden mit den wecl- 
diden, negritiden, melaniden und anderen Rassen des Sunda- 
archipels verwiesen, aus der dann die malaiischen Völker (sog. 
Deuteromalaien) entstanden sind. Ihre wechselnde Kulturhöhe 
dürfte von Umfang und Art der Kreuzung abhängen. Oder 
noch einmal zur Nordischen Rasse zurückkehrend, möchte ich 
andeuten, daß ihre Kreuzung als Eroberer mit stark mongolid 
durchsetzten Bevölkerungen im Osten keine kulturelle Leistung 
zeitigte, ihre Kreuzung mit der ihr sehr viel näher stehenden 
mediterranen Rasse dagegen jene Blüten der Kultur hervor- 
brachte, die vorhin erwähnt wurden, ihre Kreuzung mit der ihr 
ebenfalls im europiden Zweig nahe stehenden alpinen die Kul- 
tur Zentraleuropas. Es sei dabei noch einmal betont, daß das 
nordische Rassenelemcnt dabei das ausschlaggebende, führende, 
schöpferische ist. 

Aber nicht nur die Bildung der Völker und der Aufstieg 
der Kulturen hat ein Rassenproblem und Rassenkreuzungs- 
problem zur Unterlage, sondern ebenso sehr ihr Abstieg und 
Untergang. Völker mögen altern, wie es der Geschichtsforscher 
darzustellen pflegt. Rassen altern nicht. Für den biologischen 
Betrachter ist jenes Altern der Vorgang der Ausmerzung eines 
leistungsfähigen Rassenelementes und seine Ersetzung durch 
ein minderwertiges oder seine Verschlechterung durch minder- 
wertige Einkreuzung. Auf die Vorgänge selbst, die verwickelten 



318 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

Wechselwirkungen von Auslese, Gegenauslese, Hemmung 
von Auslese usw., die durch die Kulturen geschaffen werden, 
geht der zweite Band unseres Werkes (Lenz) ausführlich ein. 
Hier sei nur grundsätzlich auf zwei biologische Vorgänge hin- 
gewiesen, die Niedergänge von Kulturen bedingen. Einmal 
kann man verfolgen, wie eine bestimmte Rasse mit hohen gei- 
stig seelischen Anlagen, die höchste Kulturleistungen bedingt 
haben, durch Aufnahme eingekreuzter minderwertiger Rassen 
ihre Leistungsfähigkeit einbüßt. Hier wären etwa anzuführen 
die Vorgänge von „Vernegerung" verschiedener Volker medi- 
terraner oder orientalischer Rasse Nordafrikas, aber mehr 
fesseln uns dieselben Vorgänge in Lateinamerika und ander- 
wärts. An der Leistungsunfähigkeit jener Bevölkerungsschich- 
ten, die mehr oder weniger Negerblut aufgenommen haben, 
an der Leistungsunfähigkeit der Mulatten-Bevölkerung Ame- 
rikas kann kein Zweifel sein. Die Ausnahmen bestätigen ja 
nur die Regel, wie oben Seite 306 dargelegt wurde. Das „Ras- 
senchaos" des niedergehenden Rom ist ein weiteres Beispiel, 
Es kann für den Erb- und Rasseforscher als Folgerung aus 
allem, was er nach Einkreuzung von Farbigen, bei denen die 
Unterlegenheit ihrer erblichen, geistigen Eigenschaften erwie- 
sen ist, beobachten kann, nur den Standpunkt der Rassen- 
hygiene, d. h. der restlosen Ablehnung solchen fremden Ein- 
schlages geben. Auch hier lege ich den größten Wert darauf, 
dieses mein Urteil aus früherer Zeit zu belegen und führe des- 
halb aus meinem Bastardbuch von 19 13 folgende Stelle an: 
„[Aber] das wissen wir ganz sicher: ausnahmslos jedes euro- 
päische Volk (einschließlich der Tochtervölker Europas), das 
Blut minderwertiger Rassen aufgenommen hat — und daß 
Neger, Hottentotten und viele andere minderwertig sind, kön- 
nen nur Schwärmer leugnen — hat diese Aufnahme minder- 
wertiger Elemente durch geistigen, kulturellen Niedergang ge- 
büßt eine Verbesserung unserer Rasse ist durch solche 

Kreuzung unmöglich, eine Verschlechterung, im günstigsten 
Falle nur durch disharmonische Anlagen, sicher zu gewärtigen. 

Aber wenn auch nur die Wahrscheinlichkeit, ja 

die bloße Möglichkeit bestände, daß Bastardblut unsere 
Rasse schädigt, ohne daß dem auf der anderen Seite eine gute 
Chance gegenüberstände, daß es uns verbessere, muß jede 
Aufnahme verhindert werden. Ich halte diese Sachlage für 
so absolut klar, daß ich einen anderen Standpunkt eben nur als 
den vollkommenster biologischer Unkenntnis ansehen kann. 



KULTUR UND RASSENKREUZUNG. 



319 



Auf die ethische Seite, auf die rechtliche Seite der Frage, 
wie das im einzelnen zu regeln ist, brauche ich hier nicht ein- 
zugehen — liier handelt es sich geradezu um den Bestand — 
ich sage das in vollem Bewußtsein — unserer Rasse, das muß 
in jeder Beziehung der oberste Gesichtspunkt sein, da haben 
sich eben ethische und rechtliche Normen darnach zu richten 
— oder aber — falls man das als Unrecht gGgen die farbige 
Bevölkerung empfindet — weg mit der ganzen Kolonisation, 
denn die ist natürlich von einem ewigen Friedens- und Gleich- 
heitsstandpunkt aus Unrecht, glücklicherweise herrscht nicht 
dieser, sondern eine gesunde Expansionskraft des Stärkeren." 

Dieser Standpunkt der Ablehnung fremder Einkreuzung 
gilt grundsätzlich auch für solche Rassen, die man nicht an 
sich als minderwertig, aber als der eigenen gegenüber fremd 
und andersartig bezeichnen muß. Das Volkstum mit der ganzen 
Kultur eines jeden Volkes ist, wie oben gesagt, so geworden, 
wie es ward, nur auf Grund der ganz bestimmten rassenmäßi- 
gen Zusammensetzung eben dieses Volkes. Nur die seiner Ras- 
senzusammensetzung gemäßen Erblinien konnten geistig das 
schaffen, was eben dieses Volkstum eigenartig und einzigartig 
schuf. Die Einkreuzung einer mit anderen geistigen Erban- 
lagen versehenen Rasse ändert unter allen Umständen die gei- 
stige Gesamtveranlagung und die Richtung der geistigen, kul- 
turellen Weiterentwicklung und Weiterbildung. Ein auf sein 
Volkstum und seine originale Kultur stolzes Volk muß daher 
jeden Rasseeinschlag eben schon allein wegen dessen Anders- 
artigkeit grundsätzlich ablehnen. Es muß seine reine eigene 
Art für die bessere halten. Dieses ist die erbbiologische Unter- 
lage einer auf Rassenreinheit gerichteten Bevölkerungspolitik, 
bei uns in Deutschland die biologische Rechtfertigung der 
Ablehnung jeder Einkreuzung jüdischer und sonstiger fremd- 
rassiger Erbinnen. Diese bewußte Bevölkerungspolitik muß 
alles fremde Blut ablehnen — daß sie es gegenüber dem 
jüdischen am leidenschaftlichsten tut, ist die Folge der Größe 
des Zustromes gerade dieses. Daß unsere Kultur nicht nur 
in Gefahr war, in ihrem tiefsten deutschen Wesen durch jüdi- 
schen Geisteseinfluß geändert zu werden — man vergleiche 
Literatur und Kunst, aber auch andere geistige Seiten unseres 
Lebens — sondern schon deutlich erste Änderungen erlebt hat, 
kann nicht geleugnet werden. — So führt hier Betrachtung der 
Biologie der Rassen unerbittlich zu einer bewußten, folge- 
richtigen Bevölkerungspolitik. Zu einer solchen kamen übri- 



Tafel / 



320 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN. 

gens z. B. die Vereinigten Staaten, nur mit etwas anderer 
Front, schon lange ! 

Der zweite biologische Vorgang der Rassenänderung beim 
Niedergang eines Volkes ist geschichtlich wohl noch bedeut- 
samer, vor allen Stücken, weil er ungleich umfangreicher ist 
und nicht so leicht, wie der erste, ausgeschaltet werden kann. 
Es ist die Ausmerzung der leistungsfähigen Erblinien durch 
unbeabsichtigte Wirkung eben der Kultur, die sie selbst ge- 
schaffen hat. Das sind recht eigentlich die Vorgänge, deren Ab- 
wehr die Rassenhygiene unternimmt. Es ist das Ausgetilgtwerden 
der leistungsfähigen Erblinien durch stärkeren Verbrauch der 
Männer (Kriege, Verbannungen, Ächtungen, gegenseitige Be- 
kämpfungen usw.), vor allem aber— und weitaus am wirksam- 
sten — die Erscheinung des Geburtenrückganges bei sozialem 
Aufstieg. Das ist der eigentliche Mord, den Kultur an Rasse 
übt. Wie mehrfach gesagt, behandelt der zweite Band diese 
wichtigste Frage der heutigen Menschheit, die Frage, wie dem 
Aussterben der begabten Linien in unserer Kultur Einhalt ge- 
boten und unser Volk gerettet werde vor dem Schicksal an- 
derer untergegangener Kulturvölker. Es ist zugleich die Ent- 
scheidungsfrage für die Nordische Rasse. 



1 ^tr- s-PM k 



Aus Nieder Jeulschland, Merkmale der nordischen Rasse. K. W. 1. Anthr. 





Aus Hessen, Merkmale der nordischen Rasse. Aula. Dr. I)r. Richter (k W I. Anüir.) 




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Aus Baden, Merk irdischen Rasse 

K. W. T. Anthr. 



Aus Flandern, Merkmale der nordischen Rasse 
Aufu. F. I,eii£ 



Tafel, 2 



Tafel 3 



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Aus Niedermachst), Merkmale der nordischen Rasse Aus Ilaml uifi Maiamle dti nur Indien k i-.=e 

Aufn. K. W. I. Anthr. 




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«fehjÜ, J^ ' 



\us nbrrhi.=scii Mcikinalf dir f ihs. heu Rasse Ans Oberhessen, Merkmale der Mischen Rasse 

(Ilaai rtnas dunkel) \ufn. Dr. Er. Richter (K.W. r, Anthr.) 



AusNorddcutschland, Merkmale der nordischen Rasse 
Aufn. C, Ruf, Freiburg 






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Aus Ilhnn iLi Mirkimlc kl iurdiM.l)ui Raa>* 
Aui NoirtiM_!n Rt; (uktpfi. 






Aii=. iNicdirins^tii Miikmalc ili_r filiithea Rasse Aus Nicrlcihc^si-n Mc.il milr 1 r i ifi ch n 1 is e 

Aufn. Perret (K.W. T. Antlu ) {iliai e \sis 1 kl ) 



Aus Norddeulsehlaud, Merkmale der nordischen Kasse Aus Ingland Merkmih dci nnidisclien Rasse (Fnn.i 

(Haarfarbe nicht nordisch). Aufn. C, Ruf. Freiburg des Nasenruckt ua nicht nurdisih) \ns ,(,< ip«s jm.iyiiuni' 





\ni MedtrliLWca Merknnlr der f ilisclicn Rasse. (Haar etwas dunkler). Aufn. Perret (K."\V. I. Anthr.) 



Tafel 4 



Tafel 5 




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Aus !NiL(lrihrt;s( ii, ftlerkm lr ilci f ih'-rhi h Kasse 
Aufn. Ferret (K. W. I. Anüir.) 



Alts Teneriffa, Merkmale der Cro-Magnoii~(füliSL'!ieti) I 
Kasse, Farbe der medilcrr. Rasse. Aufn, 15. Fisdier f- 







\us der Hamburger Gegend, Merkmale der ostbal tischen Rasse (das Haar ist chuikclrot) K. W. I. Anl.hr. 







Aus Teneriffa, Merkmale der Cro-Magnon- [täuschen) 
Kasse, Farben der mediterranen Rasse. 






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Desgl., Gesichtszüge z. T. mediterrane Rasse, < 
Auf ii. E. Fischer f 



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Dieselbe. 






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Aus Si 



kmale der ostbal tischen Kasse 
Auf«. V. I,cnz 



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Aus Lettland, Merkmale der ostbaltischen Rasse. Auf«. F. I,eiiz 




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Franzose aus den Seealpen, Merkmale der alpinen Rasse. Aufm F. I,cuz 



Tafel 6 



Tafel 7 




Ans Mitteldeutschland, Merkmale der alpinen Rasse Aufn K W ! Antlir 



t&js«?' 



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Aus Mitteldeutschland, Merkmale der alpinen, auch 
etwas der nordischen Kasse. (Sammlg. K. W. I. An Ihr.] 



Alis dem Sdmaivwald, Meiktualc dei itpinen Ras-* 
(Farben der nordischen K,.tv>e] Aufn C Rut, I n lhurfi 
(Sammlung h. T\ I inlhi ) 














Aus dem Schwarzwald, Merkmale der alpinen Rasse 
(Sammlung K. "W. f. Antlir.) Aufn. Ruf, Krbg. 





\ **"* 






Aus Siidfrankreich, Merkmale der mediterranen Rasse 
Aus Günther „Rassenktmdc" 



Aus portugiesischer Familie Mnknnlc der mediterranen 
Rasse, Aufn. v. EickstcdL 









Italiener aus Fiemun t, Merkmale der mediterranen 
Rasse. Auf!?. K. W. I. Auihr. 












Vus ()t>erhf satn Mtikmilr d< i -ilruiicii k is=c 
Aufn ]>r l'i Ruhtet (K W I inlhi ) 



Vus Schlesien. Merkmale der diuarischcn Rasse 
Aufn. Dr Abel (K. W. I. Antlir.) 




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ij-i. 




Franzose aus den Ostpyreuaen, 
mediterranen Rasse, Aufn I 




Aus Tirol, Merkmale der diuarischcn, und etwas der 
nordischen Rasse, Aufn. Antlir. Inst. Univ. Wien 



Tafel S 



Tafel 9 



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HW, 



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Aus Südbaden, Mcikma'c iiri dmanschrii Rasse 
Auf ii. Malten!, Hcidcllicisj (Sammle ls. "U 1 Authr.) 












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Aus O 

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V. 



Aus Bcssarabieij, Merkmale der vorderasiatischen Rasse. Aufn, F. Lenz 




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Aus Algier, Merkmale der orientalischen Ra 






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!e der orientalische!! und etwas dci vonkn liscl en ri^se 
K.W.I. Anthr. 



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52 



Derselbe. 



Jüdin aus Belgien, Merkmale der orientalischen 
und etwas der vorderasiatischen Rasse. Aufu. C. Huf 




Kllllhlrlll 

a tischen 



tun pcl, Merkmale der orientalischen, 
und negrideu Rassen. Aufn. Stiehl 




ailiLhlllli? V Chiur^p 
volder.i=ialisi licii u mtmgr 



Tafel '10 



Tafel U 



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J-Iererofnui, Merkmale dci ue^tidcn Rasse. 
Aufn. E. Fischer 



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F.-Bastaid, V ruhoHie-Nccrer, M: Deutsche, iilerkiu; ^ 
haupl sächlich der uegridcu Rasse. Aufn. K. W. I. Aul ' 




Fj-Bastardmätlchen Eehobotli 
(V ; Europäer, M : Hotten tot tili) 







62 



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L ist mtm i Iclicii Ivth >1 ( t!i 
Rii i kii uzun., ins B stiitlfi iu m t L,urop i< r 



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/as der Ovambomanii, Meri; 

Aufn. IJ. Fischer Hassen 



iliscii! 



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Bastard Rchoboth (!■",), etwas mehr europäisches als 
hotlcntottischcs Blut 




Bastard (F s ), etwas mehr europäisches als hotten- 
tuUisches Blut 




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und negädeii Aus Westrußlaud, Merkmale 

uschall) Rassen. Au 



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Aufnahmen 
13 . Fischer 




Bastar 1 [1 j) etw is mchi hrttent ttisthes als 
euiup.iist.ho Blut 



Bastardfrau, ctivi "lei IimcI hottet l 1t acl eb und 
eun. paischcs Blut 



Tafel 12 



Tafel 13 




Mischling aus Südafrika, \ mdisdn i Mulrvmmt rianer, 
i\l: Mulattin aus suiiotiiscliLin \-itei null ihutomutter 



69 



\*tfi. 








Bruder von Abb. 67 
Aus I,otsy and Goddijn 



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Nordsomali, Merkmale der mediterranen und negriden Hassen. Auf», l'uceioiil. 
Archiv für Rasse nbildcr 



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Uasciikire. Audi. Wasti. Ardüv f. Rasscnbiklet 



Vornehmer [apauci Auf« C Ruf 



Merkmale der mongolklen Rasse 





M.iddicn miu den Bonm luschi (\ Tapaufi, M: Mischling aus europäisch ein, polynesischem und negridem Blut} 

Auf». Wagenscil 




\ * <* 

Misclmiis {F,) p V Chinese, M rianzcwin 




Mischling {!'',), V Sii(3chiui_bf M Lutdnnderiu 
Auln Dr. Tao (K. \V. I. Anthr.) 





Ruckkieu/uui; Sohn -von Ni 7h und deutscher Mutter Mehrfach -Mi schling, "V: Anatnese, M: Mulattin aus 

Aufn Pr Tao Neger und Europäerin, Aufn. Dr. Abel (K . W, I. Anthr.) 



Dritter Abschnitt 



Die krankhaften Erbanlagen. 



Von 
Professor Dr. Fritz Lenz. 



Da bei der Fülle der Neuerscheinungen einzelne Arbeiten sonst leicht über- 
sehen werden könnten, bitte ich die Verfasser einschlägiger Arbeiten mir 
Sonderdrucke zugchen zu lassen. 

F. Lenz 

Beiiin-Zehlendorf, Forststr, 45,. 



Es ist kennzeichnend für lebende Wesen, daß sie sowohl in 
ihrer Bauart als auch in ihren Reaktionsweisen im allge- 
meinen an ihre gewöhnliche Umwelt angepaßt sind; und wir 
nennen ein Lebewesen angepaßt an seine Umwelt, wenn seine 
Bauart und die davon abhängigen Lebensäußerungen in dieser 
(Jmwelt die Erhaltung des Lebens gewährleisten. 

Nicht selten begegnen uns aber auch Lebewesen, die 
diese Anpassung, sei es infolge äußerer Einwirkungen, sei es in- 
folge der Bauart des Lebewesens selber, mehr oder weniger ver- 
missen lassen, bei denen also die Erhaltung des Lebens beein- 
trächtigt ist. Den Zustand eines Lebewesens, das an den Gren- 
zen seiner Anpassungsfähigkeit lebt, bezeichnen wir als krank. 
Es gibt also alle Übergänge zwischen voller Gesundheit und 
schwerster Krankheit. Einen biologischen Wesensunterschied 
zwischen Gesundheit und Krankheit gibt es nicht. 

Volle Gesundheit bezeichnet den Zustand der vollen Anpas- 
sung, und ein Lebewesen ist in um so höherem Maße krankhaft, 
je stärker seine Anpassung, beeinträchtigt ist. Wird es durch 
innere oder äußere Ursachen über die Grenze seiner Anpas- 
sungsfähigkeit hinausgedrängt, so tritt der Tod ein. Der tote 
Körper zeigt keine Anpassungsreaktionen mehr; das unterschei- 
det ihn vom lebenden. Unter Krankheit verstehen wir dem- 
gemäß den Zustand eines Organismus an den Gren- 
zen seiner Anpassungsfähigkeit. 

Leichtere Abweichungen vom Zustande voller Anpassung 
bezeichnen wir noch nicht als Krankheit. Eine Schwäche des 
Farbensinnes z. E. ist keine Krankheit, sondern eine Anoma- 
lie. Unter Anomalien verstehen wir dauernde Abweichungen 
vom Zustande voller Anpassung, die zwar eine gewisse Be- 
einträchtigung der Erhaltungsfähigkeit bedeuten, aber keine so 
schwere, daß davon das Leben unmittelbar bedroht wäre, die 
also von den Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Organismus 
noch ziemlich weit entfernt sind. Viele Anomalien stellen zu- 
gleich Dispositionen zu Krankheiten dar, z. B. die sogenannten 
Diathesen (Anfälligkeiten), von denen noch zu reden sein wird. 
Damit behaftete Organismen können durch äußere Schädlich- 



324 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

fceiteii leichter als normale den Grenzen ihrer Erhaltungsfähig- 
keit genähert, also krank gemacht werden 1 ). 

Man hat sich lange Zeit vorgestellt, daß jeder Art von Lebewesen 
eine bestimmte „normale Variationsbreite" zukomme und daß Abweichun- 
gen vom mittleren Typus innerhalb eines gewissen Spielraumes als normal 
anzusehen seien, Abweichungen, die diese „normale Variationsbreite" 
überschritten, dagegen als krankhaft. Eine solche Grenze kann es indessen 
nicht geben; denn vor die Frage nach den Grenzen der „normalen 
Variationsbreite' ' gestellt, kann man doch nicht antworten, daß sie da 
aufhöre, wo das Krankhafte anfange. 

Es ist auch ganz unzweckmäßig, einfach den Durchschnittstypus einer 
Bevölkerung als Maß des Normalen anzusehen. Der Durchschnitt braucht 
durchaus nicht immer die größte Anpassung zu haben. Aus demselben 
Grunde eignet sich auch der häufigste Typus nicht als Maßstab des Nor- 
malen. Auch in einer Bevölkerung, deren meiste Mitglieder einen Kropf 
haben, wird man den Kropf nicht als normal bezeichnen wollen 3 ). Alle 
Versuche, „für diio Norm in einheitlicher Weise Grenzwerte zu be- 
stimmen" (Rautmann) sind verfehlt. Es ist ein Vorurteil, daß es einen 
bestimmten Normaltypus oder ,,Normotypus" geben müsse. Die Frage nach 
der Abgrenzung des Normbegriffs ist keine Frage der inhaltlichen Er- 
kenntnis, sondern eine solche der Definition. „Den Kern seines Wesens 
zu erkennen' ', kann man nur versuchen, wenn man das nicht merkt. 
Definitionen sind frei; andererseits aber auch nicht vogelfrei. Man muß 
sich ihre Konsequenzen klarmachen und auf den Sprachgebrauch Rücksicht 
nehmen. Beiden Forderungen entspricht meine Definition, welche als be- 
grifflichen Gradmesser die Lebenstüchtigkeit nimmt. Nach dieser Auffassung 
ist es durchaus nicht nötig, daß es nur einen normalen Typus in einer 
Bevölkerung gebe. Mehrere recht verschiedene Typen dürften vielmehr gleich 
erhaltungsgemäß sein. Besonders im Hinblick auf menschliche Völker muß 
dabei die Arbeitsteilung berücksichtigt werden. Für die Gesamtleistung eines 
Volkes sind sehr verschiedene Begabungen nötig. Ein Volk, in dem nur ein 
einziger Typus vertreten wäre, würde im Daseinskampf unterliegen. Das gilt 
übrigens auch von Bienen-, Ameisen- und Termitenvölkern. 



I ) A. Fischer hat behauptet, ich hätte die Definition von Krankheit 
und Gesundheit nach Maßgabe der Anpassungsfähigkeit erst im Jahre 1921 
gegeben, und zwar hätte ich meine Anschauungen in dieser Hinsicht von 
dem Freiburger Pathologen Aschoff übernommen (A. Fischer, „Der 
Begriff Gesundheit". Sozialhygienische Mitteilungen, Jg. 16, H. 3, 1932.) 
Beides ist unzutreffend. Ich habe meine Krankheitsdefinition schon im Jahre 
1912 in meiner Schrift „Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes", 
Jena, Fischer) gegeben; und ich habe den Krankheitsbegrilf in bewußtem 
Gegensatz zu meinem verehrten Lehrer Aschoff entwickelt, der die von 
mir gewählte Orientierung an dem Anpassungsbegriff damals tadelte und 
ablehnte. 

s ) Daher können auch die Versuche von Rautmann, J. Bauer 
u. a. nicht befriedigen. 

Rautmann, H. Untersuchungen über die Norm. Jena, Fischer, 
1921. 

Bauer, J. Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und Ver- 
erbungslehre. Berlin, Springer 1923. 



KRANKHEIT, GESUNDHEIT UND NORM. 



325 



Die Mittelmäßigkeit darf nicht zur Norm erhoben 
werden. Ist das schon auf körperlichem Gebiet bedenklich, so ist ein 
solches Ideal auf geistigem Gebiet geradezu verhängnisvoll. Freilich bestehen 
gewisse Beziehungen zwischen Norm und Durchschnitt. Die am häufig- 
sten vorkommenden mittleren Typen werden im allgemeinen auch lebens- 
tüchtig sein, weil im Kampf ums Dasein unter gewöhnlichen Bedingungen 
eben diese am häufigsten überleben. Starke Abweichungen vom Durch- 
schnitt werden meist krankhaft sein; aber ausnahmslos gilt das keineswegs; 
und zur Bestimmung des Normbegriffs ist diese Beziehung daher nicht 
geeignet. 

Die Definition der Begriffe Krankheit und Gesundheit wird 
zweckmäßig letzten Endes nicht auf die Erhaltung des Indivi- 
duums, sondern auf die der Rasse bezogen. Unfruchtbarkeit z.B. 
wird allgemein als krankhaft angesehen, obwohl dadurch die Er- 
haltung des Individuums nicht gefährdet wird. Andererseits brin- 
gen Geburt und Wochenbett unvermeidlich gewisse Gefahren für 
die Mutter mit sich ; und doch rechnen wir Geburt und Wochen- 
bett nicht zu den Krankheiten, obwohl die Frau daran ähnlich 
darniederlegt wie an einer Krankheit. Diese Vorgänge sind eben 
notwendig zur Erhaltung der Rasse und darum sind sie normal. 
Das Greisenalter wie das Säuglingsalter rechnen wir nicht zu den 
Anomalien, obwohl die individuelle Anpassungsfähigkeit gerin- 
ger ist als in mittleren Jahren, Der Alterstod der Individuen ist 
normal, weil er die Erhaltung der Rasse nicht beeinträchtigtund 
die Erneuerung der Individuen durch die Geburt notwendig zur 
Erhaltung der Rasse ist. jene Anpassung, an der wir die Be- 
griffe Gesundheit und Krankheit scheiden, ist also letzten 
Endes nicht auf die Erhaltung des Individuums, sondern auf 
die der Rasse gerichtet. Die Erhaltung der Individuen ist 
nur ein Mittel dazu. Auch seelische Anlagen, die zur Aufopfe- 
rung der Individuen führen (z.B. im Kriege), sind nicht krank- 
haft, sondern normal, insoweit als sie der Erhaltung der Rasse 
dienen. 

Eine absolute Anpassung gibt es nicht; angepaßt ist ein 
Lebewesen immer nur an eine bestimmte Umwelt. Wenn ein 
Neger im tropischen Afrika mit der .geringen Widerstandsfähig- 
keit des Nordeuropäers gegen Hitze geboren würde, so wäre er 
nicht normal, sondern krankhaft, und ebenso ein Nordeuropäer 
mit der Kälteempfindlichkeit des Negers. Wir nehmen daher als 
Maßstab des Normalen die Anpassung an die Umwelt der 
Rasse, und die Maßstäbe des Normalen sind für die verschie- 
denen Rassen verschieden. 



326 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 







tememe 



In der Regel sind die Ursachen einer Krankheit nicht aus- 
schließlich entweder in Einflüssen der Umwelt oder in den 
Erbanlagen zu suchen, sondern gewöhnlich wirken beide Grup- 
pen von Krankheitsursachen zusammen. Nur verhältnismäßig 
selten kommt dabei allerdings beiden Gruppen die gleiche Be- 
deutung zu; in der Regel pflegt vielmehr entweder die eine 
oder die andere praktisch ausschlaggebend zu sein. So liegt 
bei gewissen Infektionskrankheiten die entscheidende Ursache 
in dem Eindringen besonderer Kleinlebewesen in den Kör- 
per und ihrer Vermehrung auf seine Kosten. Als erbliche 
Krankheiten bezeichnen wir dagegen solche, bei deren Zu- 
standekommen krankhafte Erbanlagen die entscheidende Rolle 
spielen. 

'Die Ursache einer erblichen Krankheit liegt demgemäß in der Erb- 
masse, insofern als man die Krankheit des Individuums ins Auge faßt, oder 
in der krankhaften Mutation bzw. Idiokinese, sofern man die Krankheit auf 
die betroffene Sippe bezieht. Die Erbpathologie hat -demgemäß der erste 
und grundlegende Teil der ätiologischen Pathologie zu sein und gleichbe- 
rechtigt neben die Erforschung der aus der Umwelt stammenden Krankheits- 
ursachen zu treten. 

Bei der Benennung der Krankheiten hat man vielfach die binäre No- 
menklatur Linnes nachgeahmt; bei den Bezeichnungen Typhus abdominalis 
und Typhus exanthematicus ist das Wort Typhus gewissermaßen als Gat- 
tungsname, die Worte abdominalis und exanthematicus als Artnamen ge- 
dacht. Entsprechend hat man von Asthenia universalis gesprochen. Das 
ist indessen nur scheinbar biologisch gedacht; man kann die Krankheiten 
nicht in Gattungen und Arten einteilen. Die biologische Einteilung der durch 
Kleinlebewesen verursachten Krankheiten muß sich vielmehr nach der dieser 
Lebewesen richten. Die durch den Typhusbazillus verursachte Krankheit hat 
mit dem durch ein Protozoon verursachten Fleckfieber („Typhus exan- 
thematicus") keine biologische Verwandtschaft Bei den erblichen Krankhei- 
ten andererseits handelt es sich um Varietäten des Menschen; so könnte 
man von einem Homo sapiens var. asthenicus sprechen. 

Die krankhaften Erbanlagen folgen in ihrer Erblichkeit 
grundsätzlich derselben Gesetzlichkeit wie die normalen. Für 
den, der eingesehen hat, daß zwischen Krankheit und Gesund- 
heit kein biologischer Wesensunterschied besteht, ist das eigent- 
lich selbstverständlich. Die Erfahrung an den experimentel- 
ler Forschung zugänglichen Lebewesen, besonders an den in 
dieser Beziehung am besten bekannten, der Obstfliege (Droso- 



KRANKHAFTE ERBANLAGEN. 



327 



phila) und dem Löwenmaul (Antirrhinum) hat einerseits gezeigt, 
daß die allermeisten von den zahlreichen Mutationen, die man 
schon kennt, in geringerem oder höherem Grade krankhaft sind, 
andererseits, daß man diese krankhaften Mutanten so gut wie 
alle als einfach dominant oder rezessiv erblich einordnen kann. 
Entsprechendes ist von vornherein auch für die beim Menschen 
vorkommenden krankhaftenErbanlagen zu erwarten ; und die tat- 
sächliche Erfahrung entspricht dem durchaus. Andererseits zeigt 
die experimentelle Erfahrung bei der Kreuzung in der freien 
Natur vorkommender (nicht krankhafter) Rassen und Arten, 
daß deren Unterschiede in der Regel nicht nur durch einzelne 
Erbeinheiten (monomer), sondern durch viele (polymer) bedingt 
sind. In gleichem Sinne sprechen auch die Erfahrungen 
über die Kreuzung normaler menschlicher Rassen bzw. über 
die Erblichkeit normaler menschlicher Anlagen. Wir können 
daher die Regel aufstellen: krankhafte erbliche Zu- 
stände sin dm eist durch einzelne Erbanlage n (mo- 
nomer), normale Eigenschaften durch viele (po- 
lymer) bedingt. Dieses Verhalten erscheint leicht verständ- 
lich, wenn man folgendes bedenkt : Wenn eine bestimmte Erb- 
einheit eine so starke Abweichung ihres Trägers vom Durch- 
schnitt bewirkt, daß man ihn daran ohne weiteres von anderen 
Individuen unterscheiden kann — und darin besteht ja das 
Wesen monomerer Merkmale — , so wird eine derartige Ab- 
weichung meist eine Störung der Erhaltungstüchtigkeit, d. h. 
einen krankhaften Zustand, bedingen. Erbeinheiten, die für sich 
allein ihren Trägern nicht ein bestimmtes Merkmal aufzuprägen 
vermögen, sondern irgendeine Eigenschaft nur ein wenig beein- 
flussen und die erst in Mehrzahl stärkere Abweichungen be- 
dingen, werden meist keine pathologische Bedeutung haben, 
sondern nur Unterschiede innerhalb der sogenannten Breite des 
Normalen bedingen. 

Weil manche krankhaften Anlagen ihre Träger besonders 
deutlich von der übrigen Bevölkerung unterscheiden, hat man 
ihren Erbgang sogar besonders gut verfolgen können. So kommt 
es, daß man gerade an krankhaften Anlagen am besten die Gül- 
tigkeit des Mendelschen Gesetzes für den Menschen hat zeigen 
können. Verführt durch die besondere Augenfälligkeit der Erb- 
lichkeit gerade krankhafter Anlagen hat man wohl gelegent- 
lich in der Vererbung als solcher ein Verhängnis zu sehen ver- 
meint. Davon kann aber gar keine Rede sein. Die Vererbung 
normaler und krankhafter Anlagen geschieht mit genau der- 



328 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLÄGEN. 

selben Treue. Man darf nie vergessen, daß der Grundstock 
jedes Lebewesens sich' aus seiner Erbmasse aufbaut und daß 
die Einflüsse der Umwelt nur bei der Ausgestaltung der An- 
lagen im einzelnen mitwirken. 

b) Erbliche Augenleiden. 

In diesem und den folgenden Kapiteln sollen nur Krank- 
heiten und Anomalien, die entweder wesentliche Bedeutung für 
das praktische Leben haben oder die für die menschliche Erb- 
lehre theoretisch bedeutsam sind, besprochen werden. Eine voll- 
ständige Darstellung, die auch alle seltenen Zustände, von denen 
Erblichkeit berichtet worden ist, umfassen würde, ist nicht an- 
gestrebt. Da das Buch sich nicht nur an Ärzte, sondern an einen 
weiteren Kreis von Gebildeten wendet, habe ich die einzelnen 
Krankheiten mit wenigen Worten zu kennzeichnen gesucht, was 
der Natur der Sache nach nur unvollkommen gelingen kann. 
Einige Seltenheiten, die nur für ärztliche Leser Interesse haben, 
wurden nur mit ihrer fachmäßigen Bezeichnung kurz in klei- 
nem Druck erwähnt. Vollständigkeit anstrebende Listen erb- 
licher Krankheiten und Anomalien sind irreführend, weil darin 
schwere und leichte, häufige und seltene Zustände scheinbar 
gleichwertig nebeneinander stehen und weil daraus von Laien 
leicht der falsche Schluß gezogen wird, daß bei andern Leiden 
die Erblichkeit keine Rolle spiele. 

Eine Darstellung erblich bedingter Krankheiten und Ano- 
malien beginnt zweckmäßig mit denen des Auges. Bei kei- 
nem andern Organ ist so viel über krankhafte Erbanlagen be- 
kannt wie bei dem Sehorgan, und das ist kein Zufall. Das Auge 
ist das komplizierteste und wichtigste unserer Sinnesorgane; 
verhältnismäßig geringe anatomische Abweichungen im Bau des 
Auges haben schon beträchtliche Störungen der Leistung zur 
Folge. Dazu kommt, daß das Auge besonders übersichtlich und 
der ärztlichen Untersuchung zugänglich ist. 

Wieviel über erbliche Augenleiden bekannt ist, zeigt die 
umfassende Darstellung des holländischen Augenarztes Waar- 
denburg 1 ), die 631 Druckseiten umfaßt. Dieses vorbildliche 
Werk war mir für die Neubearbeitung des .Kapitels über erb- 
liche Augenleiden eine große Hilfe. Es wäre sehr zu wünschen, 
daß auch Vertreter anderer klinischer Spezialfächer die ent- 
sagungsvolle Arbeit auf sich nehmen würden, die erbpatholo- 



!) S. Literaturverzeichnis. 



ÄUGENLEIDEN. 



329 



gische Literatur ihres Gebietes zu sammeln und kritisch zu 
sichten. 

Die Erblichkeit der Augenfarbe (Irisfarbe), soweit sie keine 
krankhafte Bedeutung hat, ist schon in dem Abschnitt von 
Fischer besprochen worden. Ausgesprochen krankhaft ist 
aber der hochgradige Farbstoffmangel des Auges, der einer- 
seits als Teilerscheinung des allgemeinen Albinismus, anderer- 
seits auch als auf das Auge beschränkte Anomalie vorkommt. 
Da die krankhaften Störungen bei dem allgemeinen Albi- 
ni s m u s in erster Linie vom Auge ausgehen, möge er hier unter 
den Augenleiden besprochen werden. 

Bei diesem Zustand sind die Haare infolge Farbstoffman- 
gels von Jugend auf schneeweiß bis gelblichweiß. Die Haut 
ist rosig-weiß von durchscheinendem Blut. Auch die Regen- 
bogenhaut (Iris) sieht von dem durchschimmernden Blut der 
Blutgefäße rötlich aus; und die Pupillen leuchten eigentüm- 
lich rötlich auf, weil einfallendes Licht von der Aderhaut, der 
das normale dunkle Pigment fehlt, zurückgeworfen wird. In- 
folge schmerzhafter Blendung durch Tageslicht halten albino- 
tische Personen in hellem Licht die Augen fast ganz geschlos- 
sen und den Kopf gesenkt. Diese Lichtscheu hat ihnen im Volks- 
mund den Namen „Kakerlaken" eingetragen, der ursprünglich 
die lichtscheuen Küchenschaben bezeichnet. Neben dem Pig- 
mentmangel als solchem besteht bei albinotischen Augen eine 
Hemmungsmißbildung der Fovea centralis der Netzhaut, die 
normalerweise die Stelle des deutlichstens Tagessehens ist. Da- 
durch wird Schwachsichtigkeit bedingt, die also nicht nur die 
Folge von Blendung ist. Mit der Schwachsichtigkeit gehen 
eigentümliche rhythmische Zuckungen der Augen (Nystagmus) 
einher. 

Die Erblichkeit des Albinismus ist in mehreren eingehenden 
Arbeiten untersucht worden, so von Pearson, Nettlesh'ip 
und Usher 1 ) sowie von Seyfarth 2 ). Im ganzen sind gegen 
700 Sippentafeln über Albinismus veröffentlicht worden. Aus 
diesen geht hervor, daß der allgemeine Albinismus sich ein- 
fach rezessiv vererbt oder, anders ausgedrückt, daß die nor- 
male Pigmentierung sich gegenüber dem Albinismus dominant 



*) P. e a r s o n , K., Nettleship, E„ and Usher, C. H. A mono- 
graph on albinism in man. 3 Bde. London 1911. Dulan, 

s ) Seyfarth, C. Beiträge zum totalen Albinismus. Virchows 
Archiv Bd. 228 (1920). 



330 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

verhält. Eine Sippentafel nach Tertsch*), die zugleich für 
den Erbgang rezessiver Anlagen überhaupt lehrreich ist, sei 
hier wiedergegeben. 

Wir sehen in dieser Sippenlafel links eine Ehe zwischen Onkel und 
Nichte dargestellt, aus der vier albinotische und zwei normale Kinder 
hervorgehen. Die albinotische Mutter ist als homozygot 2 ) aufzufassen, der 
Vater als heterozygot. Durch die Verwandtenehe ist die rezessive Anlage 
zum Albinismus von beiden Seiten zusammengeführt worden. In der Mitte 
der Sippentafel sehen wir aus einer Vetternheirat ein albinolisches und zwei 




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Fig. 63. ■ 
Allgemeiner Albinismus nach T e r t s c h. 

normale Kinder hervorgehen. Da beide Eltern gesund sind, so sind beide 
als heterozygot anzusehen. Daß die Anlage nicht dominant ist, folgt daraus, 
daß In drei Ehen albinotischc Kinder von beiderseits gesunden Eltern 
stammen. Der allgemeine Albinismus ist vielmehr rezessiv und scheint auch 
beim Menschen auf dem Felden einer Erbeinheit zu beruhen, die weiter oben 
auf S. 86 bei Kaninchen mit A bezeichnet wurde. Die Sippentafel ist ein Bei- 
spiel für die Bedeutung der Verwandtenehe für das Manifestwerden rezessiver 
Leiden. Ein großer Teil aller albinotischen Personen (ein Fünftel bis ein 
Drittel) stammt von blutsverwandten Eltern, während sonst die Häufigkeit 
näherer Verwand tenelicn rund 1 0/0 beträgt. Recht lehrreich sind auch einige 
Fälle, wo albinotische Individuen aus Inzest hervorgegangen sind. Zwei 
solcher Fälle sind in Fig. 64 und 65 dargestellt. Bei diesen geschlechtlichen 
Verbindungen engster Blutsverwandter ist die Gefahr des Zusammentreffens 
zweier krankhafter Erbanlagen natürlich ganz besonders groß. 

Mit dem rezessiven Erbgang hängt es zusammen, daß der allgemeine 
Albinismus in gewissen Inzuchtgebieten relativ häufiger als sonst beobachtet 



1 ) Tertsch. Albino mit bemerkenswertem Stammbaum. Zeitschrift 
für Augenheilkunde. Bd. 25. S. 107. 191 1. 

a ) Sprachlich richtiger würde man statt homozygot und hetero- 
zygot eigentlich homogametisch und h e t e r o g a m e t i s c h sagen, 
da nicht Gleichheit von Zygoten, sondern Gleichheit von Gameten, aus 
denen eine Zygote hervorgeht, bezeichnet werden soll. Ich habe daher in den 
früheren Auflagen diese korrekteren Ausdrücke gebraucht, sehe nun aber 
doch davon ab, da die Worte homozygot bzw. heterozygot einmal einge- 
bürgert sind und die Worte homogametisch bzw. hetero gametisch nur für den 
Spezialfall der Geschlechtschromosomc gebräuchlich sind. . 



AUGENLEIDEN, 



331 



wird. So hat Hanhart auf der Insel .Veglia an der dalmatinischen Küste 
mehrere albino tische Individuen angetroffen, während sonst erst auf 10- bis 
20 000 Einwohner ein Albino zu kommen pflegt. 

Drei Familien sind bekannt geworden, in denen beide Eltern und sämt- 
liche Kinder albinotisch waren; das entspricht der Erwartung bei einfach 
rezessivem Erbgang. Es wäre aber nicht notwendig, daß die Kinder zweier 
albinotischcr Eltern in jedem Fall albinotisch waren. Vielmehr wäre es theo- 




9 



cf- 



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Fig. 64. 
Albinismus nach Bemiss 1 ) 



Albinismus nach P e a r s o 11 



retisch möglich, daß es verschiedene Arten rezessiven Albinismus gäbe, 
ßateson und P u u 11 e t s ) habe'n eine weiße Rasse des Bantamhuhns und 
eine weiße Seidenhuhnrasse gefunden, deren jede gegenüber gefärbten Hüh- 
nerrassen sich einfach rezessiv verhielt, die aber bei Kreuzung untereinander 
nicht weiße, sondern gefärbte F r Nachkommen gaben. In F g trat eine Spal- 
tung im Verhältnis von 9 farbig zu 7 weiß auf. Es handelte sich also um 
zwei verschiedene rezessive Weißanlagen, die nicht einander allel waren, 
deren jede vielmehr durch das normale Allel der anderen Rasse über- 
deckt wurde. 

B a t e s o n hat auch eine Beobachtung von S t e d m a n aus dem Jahre 
1806 in Erinnerung gebracht, nach der ein Europäer eine albinotische Nege- 
rin heiratete und von ihr nur dunkle Mulattenkinder bekam. Offenbar war 
die Albinoanlage der Negerin durch die allele Anlage des Europäers über- 
deckt worden, so daß nun die übrigen Farbanlagen zur Wirkung kommen 
konnten. Das normale „Weiß" der europäischen Haut ist eben etwas ganz 
anderes als das Weiß der Albinohaut. 

Außer dem vollständigen Albinismus gibt es eine weniger hochgradige 
Form, bei der die Augen nicht rötlich, sondern blaugrau bis grünlichgrau 
sind und die Haare im Alter des Heranwachsens bis zu einem gewissen Grade 
nachdunkeln. Schwachsichtigkeit und Lichtscheu besteht auch bei diesem 
„Albinoidismus", jedoch kein Nystagmus. Nach den wenigen, nicht sehr sorg- 
fältig untersuchten Sippen, die bekannt geworden sind, scheint es sich um 
eine dominante bzw. intermediäre Erbanlage zu handeln. Es wäre möglich, 
daß die Anlage homozygot einen viel schwereren Albinismus bedingen 
würde, vorausgesetzt, daß solche Individuen überhaupt lebensfähig wären. 



!) Bemiss, S. M. Report on influence of marriages of consanguinity 
upon offspring. Transactions of the American Medkal Association. Bd. 11. 
Philadelphia 1858. 

2 ) Bateson, VV. Mendels Vererbungstheorien S. ) 00 — 101 (s. Lite- 
raturverzeichnis). 



332 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

Mit dem allgemeinen Albinismus haben wir eine Erbanlage 
kennen gelernt, die sich nicht nur in einem Organ, sondern in 
mehreren (Auge, Haut, Haar) auswirkt und die zugleich so 
verschiedene Eigenschaften wie Farbstoffmangel, Schwachsich- 
tigkeit und Augenzittern bewirkt. Man nennt derartige Erban- 
lagen, die sich auf mehrere Organe bzw. Eigenschaften erstrek- 
ken, nach Siemens polyphän. Auf derartigen polyphänen 
Erbanlagen beruht zum größten Teil die Korrelation (s. u.) 
von Eigenschaften. 

Während der allgemeine Albinismus sich auf verschiedene 
Organe erstreckt, betrifft der isolierte Albin ismus des 
Auges nur das Sehorgan. Haut- und Haarfarbe sind in die- 
sem Falle normal; die krankhaften Erscheinungen am Auge 
sind aber dieselben, wie sie soeben geschildert wurden. Die 
Träger dieses Leidens sind regelmäßig Männer. Frauen mit iso- 
liertem Albinismus des Auges sind bisher nicht bekannt ge- 
worden. Gesunde Frauen können aber vom Vater her die An- 
lage auf ihre Söhne übertragen, und zwar, wie aus der Theorie 
folgt, im Durchschnitt auf die Hälfte der Söhne; die Töchter 
bleiben verschont; doch kann das Leiden in weiblicher Linie 
durch zwei, drei und noch mehr Generationen latent weiterge- 
geben werden, bis es sich irgendwann einmal gelegentlich in 
männlichen Nachkommen äußert. Männer können das Leiden 
niemals auf ihre Söhne übertragen, wohl aber indirekt durch 
Töchter auf männliche Enkel. Diesen Erbgang nennen wir 
rezessiv geschlechtsgebunden: Wie bei gewöhnli- 
chem rezessiven Erbgang sind auch hier die Eltern kranker 
Individuen in der Regel äußerlich normal. Dazu kommt aber 
die geschilderte eigentümliche Bindung an das Geschlecht ; diese 
erklärt sich daraus, daß, die krankhafte Anlage auf dem; Defekt 
einer Erbeinheit beruht, die normalerweise im Geschlechts- 
chromosom vorhanden ist (vgl. S. 62 ff.). Da der Mann nur ein 
Geschlechts Chromosom enthält, so äußert sich ein derartiger 
Defekt ohne weiteres; im weiblichen Geschlecht, das zwei 
Geschlechtschromosome enthält, wird der Defekt eines Ge- 
schlechtschromosoms durch die entsprechende normale Erbein- 
heit im andern Geschlechtschromosom überdeckt. Zur Veran- 
schaulichung dieses Erbganges diene folgende Sippentafel: 

Die 14 befallenen Männer in dieser Sippe müssen ihr Leiden alle in 
weiblicher Linie von der gesunden Stammutter in der ersten gezeichneten 
Generation geerbt haben; denn wenn es von deren Mann stammen würde, 
so müßte dieser selbst krank sein. Die beiden kranken Männer der letzten 
Generationen haben seit mindestens vier Generationen nur gesunde (d. h. 



AUGENLEIDEN. 



333 



von dem Leiden freie) Vorfahren; die Anlage ist also durch mindestens 
vier Generationen verborgen weitervererbt worden. In der ganzen Sippe 
findet sich kein kranker Maxin, der das Leiden weiter vererbt hätte, was 



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Fig. 66. 
Albinismus des Auges mit Augenzittern (Nystagmus). Nach Vogt 1 ). 

sich daraus erklärt, daß kranke Männer nur selten zur Ehe und Fortpflan- 
zung gelangen. Immerhin ist auch Vererbung des Leidens von einem kran- 
ken Mann durch gesunde Töchter auf Enkel und Urenkel beobachtet wor- 
den, wie folgende ältere Sippentafel zeigt. 



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Fig. 67. 

Albinismus des Auges mit Nystagmus (Augenzittern), Nach M an s - 
field (gekürzt, es sind die Nachkommen einiger Frauen der 2. Generation 

weggelassen). 

Da der isolierte Albinismus des Auges auf einer im Geschlechtschromo- 
som lokalisierten Anlage beruht, ist er sicher nicht allel mit dem allgemeinen 
Albinismus, obwohl auch dieser sich vorzugsweise am Auge äußert. 

Jener partielle Albinismus, der in einer Weißscheckung der Haut be- 
steht, wird unter den erblichen Anomalien der Haut besprochen. 

Unter den Farbstoffanomalien des Auges sind die Heterochro- 
mien erwähnenswert, bei denen die beiden Augen verschieden gefärbt sind, 



J ) Vogt, A. Über Maculalosigkeit bei isoliertem Bulbusalbinismus als 
geschlechtsgebunden-rezessives Merkmal. Archiv der Julius-Klaus-Stiftung 
Bd. i, S. i ig, 1925. 



334 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

z. B. das eine braun, das andere blau. Die Heterochromia simple*, bei der 
das anomale Auge gleichmäßig hell gefärbt ist, ist gelegentlich mehrfach 
m derselben Sippe beobachtet worden. Die meisten Fälle einfacher Hetero- 
chromie scheinen nach Waardenburg indessen nicht erbbedingt zu 
sein. In einem Fall von Fuchs zeigte die eine von zwei eineiigen Zwillings- 
schwestern braune Irisfarbe rechts und blaue links. Einen entsprechendeil 
fall hat auch Koby berichtet. Die sog. „Sympathikushelcrochromie" bzw 
die „Heterochromia complicata" scheint ein Teilsymptom einer dysraphi- 
schen Entwicklungsstörung des Rückenmarks zu sein*). Man vergleiche das 
über Syringomyclie Gesagte. 

In einem Fall von Gossage 2 ) konnte Braunfleckung (Ti^erung) 
des einen Auges durch 5 Generationen verfolgt werden; und zwar handelte 
es sich bei allen 9 befallenen Mitgliedern der Sippe um das linke Auge 
Die Grundfarbe dieses Auges war blaugrau, ebenso vermutlich die Farbe 
des rechten Auges, was aus der Mitteilung nicht deutlich hervorgeht. Pas- 
so w 8 ) hat eine Sippe bekanntgegeben, in der fünf Mitglieder einen braunen 
Sektor m der Regenbogenhaut des linken Auges hatten, während die Augen- 
farbe im übrigen grünlichgrau war. Diese Sippentafeln haben theoretisches 
Interesse, weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit zeigen, daß es einseitige 
Anomalien gibt, die mit Einhaltung der Seite erblich sind. Ich gebe die 
Sippentafeln daher wieder. 



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Fig. 6g. 

Braunfleckung (Tigerung) 

der Iris des linken Auges. 

Nach Gossage. 



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Fig. 69. 

Braunfleckungderlris des 

linken Auges in Form eines 

großen braunen Flecks. 

Nach P a s s o w. 



Wahrend m den Sippentafeln von Gossage und Passow die 
Heckung der Ins anscheinend dominant erblich ist, berichtet Waarden- 
burg, daß nach seinen Erfahrungen die Iris bicolor, d. h. die sektoren- 
iormige braunfleckung, überwiegend nichterblicher Natur sei. Bei mehreren 
Paaren eineiiger Zwillinge war nur eines der 4 Augen befallen. Bei Hunden 
™l_K™hen kommen Flecken der Iris als Teilerscheinung erblicher 

x ) Passow, A. Hornersyndrom, Heterochromie und Status dysra- 
phicus ein Symptomenkomplex. Archiv f. Augenheilk. Bd. 107 S 1 10» 
)Gossa ge , A. M. The inheritance of certain human abnormalities 
Quarterly Journal of Medicine. Bd. 1, S. 304. Oxford 1907. 

3 ) Passow, A. Über gleichseitige Vererbung von sektorenfÖnmVer 
Inspigmcnüerung. AR.GB. Bd. 26. H. 4. S. 417. 1932. 



AUGENLEIDEN. 



335 






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Fig. 70. 

Mikrophthalmie in einer 
Geschwister reihe, deren 
Eltern blutsverwandt sind. 
Nach Waardenburg. 



Scheckung vor; die Scheckung der Iris zeigt dort das unregelmäßige Ver- 
halten, das für die erbliche Scheckung überhaupt kennzeichnend ist. Die 
sektorenförmig'e Scheckung sowie die Tigerung der Iris .scheinen in das 
Gebiet der Muttermäler oder Naevi zu gehören, von deren Erblichkeit unter 
den Anomalien der Haut berichtet wird. 

Abnorme Kleinheit der 
Augen (M i k r o p h t h a 1 m i e), wird 
nicht ganz selten bei mehreren Ge- 
schwistern beobachtet. Die Eltern ha- 
ben in der Regel normale Augen, sind 
aber in einem erheblichen Hundertsatz 
blutsverwandt, worauf besonders Waar- 
denburg hingewiesen und den Nach- 
weis rezessiven Erbgangs gestützt hat. 
Auch völliges Fehlen der Augen 
( A n o p h t h a 1 m i e 1 ) ) ist mehrfach bei 
Geschwistern beobachtet worden. Beide 
Mißbildungen kommen gelegentlich in 
derselben Geschwisterreihe vor ; auch 
kann bei derselben Person auf der einen 
Seite das Auge abnorm klein sein, auf 
der andern ganz fehlen. Mikrophthalmie und Anophthalmie 
sind also mindestens zum Teil von denselben rezessiven Erb- 
anlagen abhängig. 

In einer von Ash 2 ) beschriebenen Familie vererbte sich Mikrophthal- 
mie durch 3 Generationen rezessiv geschlechtsgebunden. U s h e r 3 ) hat über 
eine Familie berichtet, in der Mikrophthalmie in dominantem (bzw. inter- 
mediärem) Erbgang durch 4 Generationen verfolgt werden konnte. Wäh- 
rend Mikrophthalmie gewöhnlich mit Hyperopie einhergeht, war sie in dieser 
mit Myopie verbunden. Es gibt also offenbar mehrere genetisch verschiedene 
Arten von Mikrophthalmie; auch die einfach rezessiven Formen sind vermut- 
lich nicht alle genetisch gleich. 

Abnorm große Hornhaut (M e g a 1 o c o r n e a), infolge deren 
das Auge sehr groß erscheint, ist in mehreren Familien als rezessiv-ge- 
schlechtsgebunden erblich beobachtet worden. Krankhafte Bedeutung hat 
diese Anomalie indessen kaum. 

Fehlen der Regenbogenhaut (Aniridie oder Iride- 
r e m i e) kommt als dominant erbliches Leiden vor. S p a I t b i 1 d u 11 g der 

*) Die Augenärzte bezeichnen angeborenes Fehlen der Augen als 
j.Anophthalmus", d. h. wörtlich ein Auge, das nicht da ist, ein Nichtauge. 
Ich spreche lieber von Anophthalmie und entsprechend auch von Mikro- 
phthalmie, Hydrophthahnic usw. 

2 ) Ash, W. H. Hcreditary microphthalmia. British medical Journal. 
1922. S. 558. 

3 ) Usher, C. H. A pedigree of microphthalmia with myopia and 
corectopia. British Journal of ophthalmology. 1921. S. 3S9. 



336 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



Regenbogenhaut (Kolobom), ein Zustand, bei dem die Pupille 
an einer Steile (meist unten) bis zum Rande der Iris reicht, ist in ziemlich 
zahlreichen Sippen durch mehrere Generationen verfolgt worden, was auf 
dominanten bzw. intermediären Erbgang schließen läßt. Vielfach sind die 
Anlageträger nur einseitig mit Kolobom behaftet. Da es Familien gibt, 
in denen neben Aniridie auch Kolobom; und andere, in denen nur Kolobom 
vorkommt, so scheint es in verschiedenen Familien verschiedene Erbanlagen 
zu geben, die sich in ihrer Wirksamkeit quantitativ unterscheiden. Ob es 
neben den dominanten auch rezessive Anlagen für Kolobom gibt, ist nicht 
sicher bekannt. Die meisten Kolobomfälle scheinen überhaupt nicht ent- 
scheidend durch die Erbanlage bedingt zu sein, sondern auf anderweitiger 
Entwicklungshemmung zu beruhen. Mehrfaches Vorkommen in derselben 
Familie ist jedenfalls nicht die Regel. 

Angeborene Verlagerung der Linse (Ektopia lentis) 
ist öfter durch mehrere Generationen verfolgt worden. Neben dieser domi- 
nanten Form gibt es auch eine rezessive, die mit Verlagerung der 1 Pupille 
einher geht. In einer von Strebel 1 ) beschriebenen Sippe war dominante 
(vielleicht geschlechtsgebundene) Ektopie der Linse mit der Anlage zu 
rheumatischen Herzfehlern verbunden, ein eigenartiges Beispiel für poly- 
phäne Äußerung einer Erbanlage. Merkwürdig ist auch die Korrelation 
von Linscncktopie mit Arachnodaktylie (s. d.). Vogt 2 ) hat eine Sippe 
beschrieben, in der in dominantem Erbgang bei 18 Mitgliedern erst im 
erwachsenen Alter Verlagerung der Linse (Linsenluxation) auftrat. Als ana- 
tomische Grundlage hat er einen Schwund des Aufhängebandes (der Zonula 
lentis) gefunden. 

Die erblichen Trübungen der Linse (Star oder 
Katarakt) sind einerseits wegen der Schwere der durch sie 
bedingten Sehstörung, andererseits wegen ihrer Häufigkeit 
wichtig. Den gewöhnlichen sogenannten Altersstar, der erst im 
vorgerückten Alter aufzutreten pflegt, sah man bis in die neueste 
Zeit oft ausschließlich als Folge des Alters an. Es gibt aber 
nicht wenige Leute von 80 Jahren und darüber, die keinen Star 
bekommen, während er bei andern schon im mittleren Alter 
auftritt. Dabei können äußere Einflüsse wie strahlende Hitze 
bei Feuerarbeiten die Starbildung begünstigen; aber die gleiche 
Schädlichkeit wirkt bei dem einen viel schneller und verderb- 
licher als bei dem andern. Unter den Augenärzten haben be- 
sonders Nettleship 3 ) und Vogt 4 ) die ErbbedingÜieit des 
Altersstars aufgezeigt. 



*) Strebel, J. Korrelation der Vererbung von Augenleiden usw. 
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie Bd. 10 (1913), H. 4. 

3 ) Vogt, A. Dislocatio lentis spontanea als erbliche Krankheit. Zeit- 
schrift für Augenheilkunde. Bd. 14 (1905). 

3 ) Nettleship, E. Ort heredity in the various forms of cataract. 
Royal London ophthalmological hospital reports. Bd. 16, S. 179. 1905. 

4 ) Vogt, A. Der Altersstar, seine Heredität usw. Zeitschr. f. Augen- 
heilkunde. Bd. 40, S. 123. 1918. 



AUGENLEIDEN. 



337 



Daß diese erst verhältnismäßig so spät zu allgemeiner Anerkennung ge- 
langt ist, liegt vermutlich daran, daß die meisten Menschen mit der Anlage 
zu Altersstar die Entwicklung des Leidens nicht erleben. Nach Vogt 
scheinen die ersten Anfänge eines Altersstars meist schon um die Pubertät 
aufzutreten: da die Trübungen sich zunächst auf die Peripherie der 
Linse beschränken, machen sie aber auf Jahrzehnte hinaus keine Seh- 
störungen. 

Am augenfälligsten ist die Erblichkeit bei den angeborenen 
Starformen. Meist ist dabei die Linse nicht vollständig, son- 
dern nur teilweise getrübt, z. B. nur der innerste Kern („Zen- 
tralstar") oder nur eine Zone um den Kern („Schichtstar"). 
Die angeborenen Starformen verhalten sich in der Regel do- 
minant. 



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Fig. 71. 
Angeborener Zentralstar. Nach Nettleship (Ausschnitt). 



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In einer Starfamilie machen sich die Sehstörungen bei den 
mit der Anlage behafteten Mitgliedern in der Regel im gleichen 
Lebensalter bemerkbar. Ro'w'an und Wilson 1 ) haben eine 

Sippe beschrieben, in der 20 
Mitglieder in 4 Generationen 
im Pubertätsalter an Star er- 
krankten. Auch hier war der 
Erbgang dominant. 

Neben Starfamijien, in denen die 
Entwicklung des Leidens in ein be- 
stimmtes Lebensalter fiel, sind einige 
andere beschrieben worden, in denen 
seniler, präseniler und juveniler Star 
neben- und nacheinander vorkamen. 
Von einer ganzen Anzahl von Autoren 
ist dabei eine sogenannte Antizipa- 
tion berichtet worden, d. h., daß in 
den späteren Generalionen das Leiden 
in einem jüngeren Lebensalter zur Be- 
obachtung kam als in den früheren. 



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Fig. 72. 

Starbildung im Alter von 50 bis 60 

Jahren (präsenile Katarakt). 

Nach Nettleship (Ausschnitt). 



>) Rowan, J. und Wilson, J. A. Hereditary cataract. British 
Journal of opbthalmology. Bd. 5, S. 64. 1921. 



Baur-FiscIicr-I,etiK I. 



22 



338 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

So soll in einer von Norri c 1 ) beschriebenen Slarfamilie in der ersten Ge- 
neration das Leiden im Grciscnalter, in der zweiten um das 40. Lebensjahr, 
in der dritten um das 30., in der vierten um das 7. Jahr und in der fünften 
bald nach der Geburt aufgetreten sein. 

Ich möchte der Lehre von der „Antizipation" mit Zweifel begegnen. 
Auf Grund unserer allgemeinen biologischen Vorstellungen halte ich ihr 
Vorkommen für unwahrscheinlich. Mindestens zu einem Teil handelt es sich 
bei der Erscheinung der „Antizipation" um ein statistisches Trugbild 2 ). 
Da Blinde oder in ihrem Sehvermögen stark Beeinträchtigte selten zur 
Eheschließung kommen, so haben hauptsächlich nur solche Personen mit 
Staranlagc Kinder, bei denen aus irgendeinem Grunde das Leiden erst im 
vorgerückten Alter ausbrach. Die kranken Stammeltern stellen also eine 
Auslese nach spätem Krankheitsausbruch dar, und in der lebenden Gene- 
ration werden umgekehrt gerade solche Personen als krank befunden, bei 
denen das Leiden schon früh ausbrach, während jene Geschwister, die erst 
später erkrankten oder die starben, ohne ihren Star zu erleben, noch ge- 
sund befunden werden. So entsteht in vielen Fällen das Bild einer ,, Anti- 
zipation", ohne daß dem irgendeine biologische Grundlage zu entspre- 
chen braucht. 

Eine Antizipation in dem Ausmaße, wie sie von Norrie angegeben 
worden ist, läßt sich aber so nicht erklären. Eine Nachprüfung seines Falles 
wird ja wohl nicht mehr möglich sein. Dagegen sollten möglichst alle Fälle, 
wo eine ähnliche Antizipation beobachtet wird, in Zukunft genau ver- 
öffentlicht werden. Immerhin ist es bemerkenswert, daß seit der Zeit, wo 
die moderne Erblichkeitswissenschaft aligemeiner bekannt geworden ist, 
solche Fälle extremer Antizipation nicht mehr beschrieben worden sind. 
Wenn Fälle wie der von Norrie öfter beobachtet werden sollten, so 
könnte man zur Erklärung wohl daran denken, daß eine Staranlage, die 
heterozygot Altersstar bedingt, homozygot schon Star in der Jugend zur 
Folge haben könnte. Von rezessiven Leiden (z. B. erblicher Ataxie) ist es 
bekannt, daß eine Erbanlage generationenlang heterozygot weitergegeben 
werden und in späteren Generationen dann bei mehreren Familienmitgliedern 
homozygot auftreten kann. Etwas Entsprechendes dürfte auch bei dominan- 
ten Leiden vorkommen; und hier würde die Erscheinung starker Antizi- 
pation die Folge sein können. 

Ob es neben dominanten Staranlagen auch rezessive gibt, ist bisher 
nicht klargestellt. Wa a r d e n b u r g hat auf gewisse Anhaltspunkte dafür 
aufmerksam gemacht. In einer von Stieren 3 ) beschriebenen Sippe ist 
angeborener Star in drei Generationen bei 17 männlichen Personen, die in 
weiblicher Linie verwandt waren, vorgekommen, also auf Grund einer rezes- 
siven geschlechtsgebundenen Anlage. Von N e 1 1 1 e s h i p ist angegeben 
worden, daß Frauen etwas häufiger an Star erkranken als Männer und daß 
er auch häufiger in weiblicher Linie vererbt werde. Das könnte möglicher- 

: ) Norrie, G. Arvelighed of grau Star. Ugeskrift for laeger. Kjöben- 
havn 1S96. 

2 ) Das scheint zuerst Weinberg gesehen zu haben: Weinberg, 
W. Auslesewirkungen bei biologisch-statistischen Problemen. Archiv für Ras- 
senbiologie. Bd. 10. H. 4 und 5. 1914. 

3 ) Stieren, E. A Study in atavistic descent of congenital cataract 
through four generations. Ophthalmological Record. Bd. 16, S. 234. 1907. 



AUGENLEIDEN. 



339 



weise durch dominante geschlechtsgebundene Anlagen bedingt sein. Die 
Sippentafel Fig. 72 würde zu diesem Erbgang passen. 

Jedenfalls gibt es nicht nur eine, sondern vielerlei erbliche Staranlagen, 
die sich nicht nur in verschiedenem Alter äußern, sondern die auch verschie- 
dene Formen der Linsentrübung zur Folge haben, wie besonders Vogt be- 
tont hat. 

Star kann weiter eine Teilerscheinung allgemeiner Augen ml Bbil düng, 
z.B. der Mikrophthalmie, sein. Auch bei der myotonischen Dystrophie (s.d.) 
kommt es in der Regel zur Starbildung. Schließlich ist erwähnenswert, daß 
Star auch die Folge von Vergiftungen, z. B. Naphthalinvergiftung der 
Frucht und anscheinend auch von nichtcrblichcn Stoffwechselstörungcn 
sein kann. 

Angeborener Star ist eine der hauptsächlichsten Ursachen 
angeborener Blindheit. Unter 1300 Blinden wurde nirnal an- 
geborener Star als Blindheitsursache festgestellt, also in fast 
ioo/o (nach Czellitzer 1 ). An zweiter Stelle kommt Anophthal- 
mie bzw. Mikrophthalmie in Betracht. Von den jugendlichen 
Blinden ist etwa ein Viertel blind geboren ; und die angebo- 
rene B lindheit ist fast immer durch die Erbmasse bedingt. 
Bei der erworbenen Blindheit dagegen überwiegen äußere Ur- 
sachen (gonorrhoische Infektion der Augen bei der Geburt, 
Verletzungen u. a.). Im ganzen gibt es in Deutschland rund 
33000 Blinde; und bei rund 40 0/0 = 13000 ist nach v. Ver- 
schuer 3 ) die Blindheit erbbedingt. 

Erbliche Hornhauttrübung ist von Fleischer und an- 
deren Augenärzten in einigen Sippen beobachtet worden. Bei der Geburt 
sind die Augen noch klar, im Laufe der Entwicklungsjahre treten Trübungen 
auf, die allmählich immer dichter werden, bis schließlich das Sehvermögen 
fast aufgehoben ist. In verschiedenen Sippen ist die Form der Trübung 
verschieden (entweder knötchenförmig, oder gittrig oder fleckig), in der- 
selben Sippe aber gleich. Es scheint sich um mehrere dominante Ano- 
malien zu handeln. Vier mit einem solchen Leiden behaftete Sippen konnte 
Fleischer auf einen gemeinsamen Urahn in der 7. Generation zurück- 
verfolgen. 

Fleischer 3 ) hat die erbliche Hornhauttrübung zuerst als , .familiäre 
Hornhautentartung" bezeichnet. Das Wort „Entartung" ist hier nicht im 
Sinne der Genetik, sondern in dem der Pathologie gebraucht, wo gewisse 
Organveränderungen, auch wenn sie mit Erbanlagen nichts zu tun haben, 
„Entartung" genannt werden. Da aber der Pathologe auch mit der Ent- 
artung im genetischen Sinne zu tun hat, ist es besser, den Begriff der Ent- 
artung nur im Sinne der Neuentstehung und der Zunahme krankhafter Erb- 
anlagen zu gebrauchen. Auch von einer „erworbenen" Hornhautentartung 

1 ) Czellitzer, A. Augenfehler. Im Handwörterbuch der So- 
zialen Hygiene von Grotjahn und Kaup., Leipzig. Vogel 1912. 

2 ) v. Verscbuer, O. Vom Umfang der erblichen Belastung im 
deutschen Volke. ARGB. Bd. 24. S. 238. 1930. 

3 ) Fleischer, B. Über familiäre Homhautentartung. Zentralblatt für 
Augenheilkunde. Bd. 53 (1905). 



340 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN. 

zu sprechen, wie Waardenburg es bei der sich allmählich entwickeln- 
den im Unterschied von der angeborenen tut, halte ich nicht für gut. Wenn 
ein Leiden auf Grund erblicher Anlage sich herausbildet, so ist es nicht 
eigentlich ,, erworben". Erworben im eigentlichen Sinne kann etwas nur aus 
der Umwelt werden; „erworben" ist also der Gegensatz zu ,, ererbt", nicht 
zu „angeboren''. 

Die Entstehung der B re chungs fehle r (Refrak- 
tionsanomalien) des Auges ist bis in die neueste 
Zeit lebhaft umstritten worden. Die Lichtbrechung im Auge 
ist von dem Zusammenwirken mehrerer Organteile abhängig, 
von der Länge des Augapfels, der Krümmung der Hornhaut 1 ), 
der Wölbung der Linse usw. Wenn das Auge auf nahe Gegen- 
stände eingestellt werden soll, so ist eine Krümmungsanstren- 
gung der Linse nötig, weil sonst das Bild naher Gegenstände 
hinter die lichtempfindliche Netzhaut fallen würde. Die Augen 
eines nicht unbeträchtlichen Teiles aller Menschen sind schon 
in der Ruhe auf die Nähe eingestellt. Man spricht dann von 
Kurzsichtigkeit oder Myopie. Ferne Gegenstände kön- 
nen von diesen Augen nicht scharf eingestellt werden. Es 
gibt sehr verschieden schwere Grade von Kurzsichtigkeit; die 
geringen Grade bedingen keine große Störung des Sehens, zu- 
mal die Einstellung leicht durch geeignete Brillen verbessert 
werden kann. 

Früher herrschte ziemlich allgemein die Ansicht, daß 
Kurzsichtig keit durch angestrengte und fortgesetzte Nah- 
arbeit entstände. Da gerade im Schulalter oft eine starke Zu- 
nahme der Kurzsichtigkeit beobachtet wird, so sprach man von 
„Schulmyopie". Diese Lehre ist durch umfangreiche Unter- 
suchungen und scharfsinnige Überlegungen des Züricher Augen- 
arztes Steiger 2 ) erschüttert worden. Die Zunahme der Kurz- 
sichtigkeit im Jugendalter erfolgt im wesentlichen aus inneren 
Gründen. Die statistischen Belege* die man für das Vorkommen 
einer durch Schule oder Berufsarbeit erworbenen Kurzsichtig- 
keit beizubringen versucht hat, sind alle nicht stichhaltig. 
Die Vorstellung, daß die Kurzsichtigkeit gewissermaßen eine 
erstarrte Anpassung an die Naharbeit sei, muß aufgegeben 
werden. Es ist auch nicht angängig, die erste Entstehung der 

r ) Die Hornhaut als solche ist an der Brechung eigentlich nicht be- 
teiligt; sie bildet nur die vordere Grenze des Kammerwassers, das infolge 
seiner konvex-konkaven Begrenzung (vorn konvex durch die Hornhaut, hin- 
ten konkav durch die Linse) im optischen Sinne eine vor die eigentliche 
Linse vorgeschaltete zweite Linse darstellt. 

2 ) Steiger, A. Die Entstehung der sphärischen Refraktionen. Ber- 
lin i 9 13. 



AUGENLEIDEN. 



341 



erblichen Anlage zu Kurzsichtigkeit auf eine derartige angeb- 
lich individuell erworbene Anpassung zurückzuführen. Der- 
artige Vorstellungen sind mit den Ergebnissen der Erblichkeits- 
forschung unvereinbar. 

Ohne entsprechende erbliche Veranlagung entstellt keine 
Kurzsichtigkeit. Bei gegebener Veranlagung kann leichte wie 
schwere Kurzsichtigkeit auch ohne jede Naharbeit entstehen. 
Ob Naharbeit zur Entwicklung 



einer vorhandenen Anlage zu 
Kurzsichtigkeit beitragen könne, 
ist mindestens fraglich. 

Der Erbgang der Kurzsich- 
tigkeit ist nicht in allen Sippen 
der gleiche ; oder anders ausge- 
drückt : das klinische Bild der 
Kurzsichtigkeit kann in verschie- 



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Fig. 73. 
Kurzsichtigkeit nach Clausen. 
denen Sippen durch verschie- 
dene pathogene Erbeinheiten bedingt sein. Der Augenkliniker 
Clausen 1 ) in Halle hat Hunderte von Myopiestammbäumen 
aufgenommen und ist auf Grund dieses Materials zu der An- 
sicht gekommen, daß die Kurzsichtigkeit sich rezessiv ver- 
halte. Eine dieser Sippentafeln ist in Fig. 73 wiedergegeben. 
Für rezessiven Erbgang spricht der Umstand, daß kurzsichtige 
Menschen oft von normalsichtigen Eltern stammen und daß 
zwei kurzsichtige Eltern ausschließlich kurzsichtige Kinder zu 



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Fig. 74- 
K u r z s i c h t i g k e i t nach Jablonski. 

haben pflegen. Für rezessiven Erbgang der Kurzsichtigkeit ist 
auch Jablonski 2 ) eingetreten. Andererseits hat der Züricher 

1 ) S. Literaturverzeichnis. 

2 ) Jablonski, W. Zur Vererbung der Myopie. Klinische Monats- 
blätter für Augenheilkunde. Bd. 68. (1922). 



342 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



AUGENLEIDEN. 



343 



Augenkliniker Vogt 1 ) darauf aufmerksam gemacht, daß hoch- 
gradige Kurzsichtigkeit sich so häufig bei den Kindern Kurz- 
sichtiger wiederfinde, daß man mit der Annahme rezessiven 
Erbgangs nicht auskomme. Eine Sippentafel, in der sich Kurz- 
sichtigkeit ununterbrochen durch vier Generationen beider Eh 
tcrnlinien zurückverfolgcn läßt, gibt Fig. 74 nach Jablonski 
wieder. Nun ist es ja gewiß richtig, daß solche Bilder ausnahms- 
weise auch bei rezessivem Erbgang entstehen können, nämlich 
dann, wenn der normale Elter ebenfalls die Erbanlage zu Kurz- 
sichtigkeit überdeckt enthält. Da die Kurzsichtigkeit eine recht 
häufige Anomalie ist, könnte das sehr wohl gelegentlich auch 
durch mehrere Generationen hintereinander vorkommen. Wenn 
man annimmt, daß ioo/ aller Menschen in höherem Grade kurz- 
sichtig sind, so würde bei einfach rezessivem Erbgang daraus 
folgen, daß über 500/0 der Normalsichtigcn die Erbanlage zu 
Kurzsichtigkeit überdeckt enthielten 2 ). Die Häufigkeit, mit der 
sich Kurzsichtigkeit durch mehrere Generationen verfolgen läßt, 
scheint mir aber doch dafür zu sprechen, daß neben rezessiven 
auch dominante E rbanlagen zu Kurzsichtigkeit vorkommen. 
Steiger konnte unter 95 Fällen von Kurzsichtigkeit, in denen 
die Familiengeschichte genau bekannt war, in 70 auch bei den 
Eltern Kurzsichtigkeit finden. Viele Sippentafeln über Kurz- 
sichtigkeit, z. B. mehrere der von Fleischer 3 ) in einem 
württembergischen Dorfe erforschten, bieten ein Bild, wie es 
dem Erbgang unregelmäßig dominanter Anlagen entspricht, 
d. h. von Erbanlagen, die sich in der Regel zwar schon bei ein- 
fachem Vorhandensein äußern, die aber doch öfter entweder 
durch andere Erbanlagen oder durch äußere Umstände an der 
Äußerung gehindert werden. Natürlich könnten dann gelegent- 
lich auch dominante und rezessive Erbanlagen beim Zustande- 
kommen von Kurzsichtigkeit zusammenwirken. 

Eine wesentliche Förderung der Einsicht in die Entstehung der Kurz- 
sichtigkeit hat die 2 w i 11 i n g s f o r s c h u n g gebracht. Eineiige Zwillinge 
stimmen in der Refraktion ihrer Augen in der Regel nahe überein, zwei- 

1 ) Vogt, A. Über Vererbung von Augenleiden. Schweizerische medi- 
zinische Wochenschrift. 1923. Nr. 7 und S. 

2 ) Wenn die Häufigkeit eines rezessiven Merkmals Yio * st J so ] ' st die 

.1 
der rezessiven Erbanlage -7=-. Heterozygote Träger der Anlage wären folglich 



1 1 

mit der Häufigkeit -77= -f- --~^:- 
V 10 V 10 



1 

10 



0,53 anzunehmen. 



eiige dagegen viel weniger, Jablonski hat durch Untersuchung von 28 
eineiigen und 24 zweieiigen Zwillingspaaren die Modifikationsbreitc der Re- 
fraktion zu bestimmen gesucht und gefunden, daß eineiige Zwillinge sich 
nur ausnahmsweise in ihrer Refraktion um mehr als zwei Dioptrien unter- 
scheiden. (Eine Dioptrie ist die gebräuchliche Einheit der Refraktion; sie 
entspricht der Brechkraft einer Linse von 1 m Brennweite.) Wenn es auch 
nicht wohl möglich ist, die maximale Modifikationsbreite auf diese Weise zu 
bestimmen, so kann man doch sagen, daß Kurzsichtigkeiten von mehr als 
zwei Dioptrien ziemlich sicher erbbedingt sein werden. Natürlich schließt 
das nicht aus, daß auch geringe Kurzsichtigkeiten im Betrage von einer 
halben oder einer Dioptrie erblich sein können. Wenn wie in einem Stamm- 
baum Clausens in einer Geschwisterreihe eine Kurzsichtigkeit von SD. 
neben einer solchen von 1,5 D. vorkommt, so wird man beide wohl nicht 
als genetisch gleichartig ansehen dürfen. Es könnte aber sein, daß eine be- 
stimmte Erbanlage für sich allein nur leichte Kurzsichtigkeit, mit einer 
andern zusammen oder auch mit ihresgleichen zusammen, d. h. homozygot, 
schwere Kurzsichtigkeit bedingen würde. Die Modifikationsbreite einer An- 



\S ff- 



Hochgradige Kurzsichtigkeit nach Waardenburg. 

Die Zahlen zu beiden Seiten der Personenzeichen 
geben den Grad der Kurzsichtigkeit der betreffen- 
den Augen in Dioptrien an. ' 



2 



SO'IS ä'O TS S S §5 6,5 
Fig. 75. 



läge zu hochgradiger Kurzsichtigkeit ist anscheinend viel größer als die 
normaler Refraktionsanlagen. Dafür spricht der Umstand, daß die beiden 
Augen derselben Person nicht selten einen recht verschiedenen Grad von 
Kurzsichtigkeit aufweisen, z. B. in folgender von Waardenburg be- 
schriebenen Sippe. 

Waardenburg hat bei eineiigen Zwillingen Unterschiede der Re- 
fraktion von 1,9 und 2,25 Dioptrien gefunden, bei zweieiigen bis zu 9 Diop- 
trien. Im Hinblick auf die zwischen den beiden Augen der gleichen kurz- 
sichtigen Person vorkommenden Unterschiede ist zu vermuten, daß bei hoch- 
gradig kurzsichtigen eineiigen Zwillingen auch Unterschiede im Betrage von 
mehreren Dioptrien (vielleicht bis zu 8 oder 10) vorkommen können. Über 
den durchschnittlichen Unterschied der Refraktion eineiiger Zwil- 
linge liegen leider keine Zahlen vor; er beträgt vermutlich nur einen kleinen 
Bruchteil einer Dioptrie. Auch aus den bisherigen Zwillingsbefunden darf 
man schließen, daß die gewöhnlichen Umwelteinflüsse nur einen ganz ge- 
ringen Einfluß auf die Refraktion haben. 

Ein Berliner Augenarzt namens Levinsohn 1 ) hat die Ansicht ver- 
fochten, die Kurzsichtigkeit werde durch die „Schwerkraft" ausgelöst. Er 
meint, daß bei gebeugter Haltung die Augäpfel durch ihr eigenes Gewicht 
schließlich in die Länge gezogen würden, und hat diese Ansicht auch durch 
Versuche an jungen Affen, die er monatelang zu gebeugter Haltung zwang, 
zu belegen gesucht. Marclusani, der diese Versuche nachgeprüft hat, 
hat indessen zeigen können, daß sie nicht geeignet sind, die Ansicht Le- 



3 ) Fleischer, B. Über Vererbung von Kurzsichtigkeit. Bericht über 
die 34. Versammlung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft. 1907. 



x ) Levinsohn, G. Die Entstehung der Kurzsichtigkeit. Berlin 191 2. 
Karger. 



344 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



vinsohns zu stützen 1 ). Die „Schwerkraft" als Krankheitsursache in An- 
spruch zu nehmen, ist etwa so, als wenn ein Kind, das gefallen ist und sich 
eine schmerzhafte Beule geschlagen hat, die „Schwerkraft" anschuldigen 
würde. Auch die Enteroptose, ein krankhafter Zustand, der in einem Herab- 
hängen der Eingeweide besteht, wird ja nicht entscheidend durch die 
„Schwerkraft" verursacht, sondern durch eine anlagemäßig begründete Bin- 
degewebsschwäche bestimmter Art. 

Waardenburg hat meines Erachtens sehr mit Recht aus dem schub- 
weisen Fortschreiten der Kurzsichtigkeit im Entwicklungsalter auf einen 
Zusammenhang mit andern konstitutionellen Anlagen, vielleicht hormonaler 
Art geschlossen. Ich hatte mir ähnliche Vorstellungen schon vor dem Er- 
scheinen von Waardenburgs Buch gebildet. Soweit die Asthenie um- 
weltbedingt ist, so weit könnte es auch die Myopie sein. Auf einem solchen 
indirekten Zusammenhange könnte es auch wenigstens zum Teil beruhen, 
daß unter Studenten einerseits die Asthenie und andererseits die Myopie 
überdurchschnittlich häufig ist. 

Da bei Neugeborenen und kleinen Kindern Übersichtigkeit die Regel 
ist und diese normalerweise erst im Laufe des Lebens in Emmetropie über- 
geht, haben manche Augenärzte ein „Emmetropisationsprinzip" annehmen 
zu müssen geglaubt, dem eine teleologische Wirkung im Sinne der Er- 
reichung optimaler Funktion zugeschrieben wurde. Die Entwicklung nor- 
maler Anlagen in einer normalen Umwelt geht freilich in der Richtung auf 
größtmögliche Funktionstüchtigkeit. Aber die Annahme eines teleologischen 
Prinzips erklärt bei der Refraktion des Auges ebensowenig, als wenn man das 
Heranwachsen des Gesamtkörpers durch ein „Normalgrößenprinzip" erklären 
wollte. Die Abweichungen vom Normalen, die Asthenie einerseits, die Myopie 
andererseits würden dadurch nur unerklärlicher werden. Es ist ja ge- 
rade die Aufgabe, die Ursachen der Anomalien zu finden. Hinter der 
Vorstellung eines „Emmetropisationsprimips" verbirgt sich im Grunde die 
Vorstellung, daß eigentlich alle Menschen zu normaler Refraktion veran- 
lagt wären, daß bei einzelnen aber durch irgendwelche Umwelteinflüsse die 
normale Entwicklung gestört würde. 

Es sind einige Myopiestammbäume veröffentlicht worden, die das Bild 
rezessiven geschlechtsgebundenen Erbganges zeigen, so von Worth 2 ) und 
Oswald 3 ); doch ist dieser Erbgang bei Myopie eine Ausnahme. Rezessiv 
geschlechtsgebunden ist auch eine besondere Art der Myopie, die mit Heme- 
ralopie verbunden ist und die mit dieser Anomalie zusammen weiter unten 
besprochen werden soll. Aus der Klinik Vogts ist auch ein Stammbaum, 
der rezessive Erblichkeit hochgradiger Myopie in Verbindung mit hochgra- 
diger Hemeralopie zeigt, beschrieben worden*). 

Besondere Erwähnung verdient die Netzhaut ablösung, 
die bei hochgradiger Myopie eintreten kann. Während sonst 



1 ) Marchesani,0. Untersuchungen über die Myopiegenese. Archiv 
für Augenheilkunde, Bd. 104. S. 177. 1 93 1 . 

3 ) Worth, C. Hereditary influence in myopia. Transactions of the 
ophthalmological society. Bd. 26. S. 141. 1906. 

3 ) Oswald, Hereditary tendency to defective sight in males only of 
a family. British Medical Journal. Bd. ig. 191 1. 

4 ) Gassler, V. J. Archiv der Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 1. H. 314. 
1925 (vgl. S. 360). 



AUGENLEIDEN. 



345 



bei kurzsichtiger Veranlagung das Längenwachstum des Aug- 
apfels mit dem Körperwachstum zum Stillstand zu kommen 
pflegt, geht es in einigen Fällen in verhängnisvoller Weise wei- 
ter; die Netzhaut löst sich ganz oder teilweise ab, und mehr 
oder weniger vollständige Blindheit ist die Folge. In einer von 
Bogatsch 1 ) beschriebenen Sippe erkrankten von 11 hoch- 
gradig kurzsichtigen Mitgliedern 7 an Netzhautablösung auf 
einem oder auf beiden Augen. Es handelt sich vermutlich um 
eine genetisch besondere Art der Anlage zu Myopie. 

Das Gegenstück zur Kurzsichtigkeit ist die Übersich- 
tig k e i t oder Hypcropie (Hypermetropie) ; sie besteht 



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Fig. 7 6. 
Übersichtigkeit nach Jablonski. 



darin, daß im Ruhe- 
stand des Auges auch 
das Bild entfernter Ge- 
genstände hinter die 
Netzhaut fällt. Um klar 
zu sehen, müssen die 

Übersichtigen daher 
schon beim Sehen in 
die Ferne eine Akkomo- 
dationsanstrengung 
machen, erst recht beim 
Sehen in die Nähe, was 

bei höheren Graden mit erheblichen Beschwerden verbunden 
ist. In den meisten Fällen scheint sich Hyperopie gegenüber 
dem normalen Zustand dominant oder unregelmäßig domi- 
nant zu verhalten. 

Hochgradige Hyperopie kommt als Teilerscheinung der Mikrophthal- 
mie (s. d.) vor und ist mit dieser rezessiv erblich. 

Als Astigmatismus werden Brechungsanomalien be- 
zeichnet, bei denen die Hornhaut in einer Richtung stärker ge- 
krümmt ist als in einer anderen und bei denen infolgedessen 
alle Gegenstände undeutlich gesehen werden. In der Regel 
scheint Astigmatismus dominant erblich zu sein; doch meint 
Waardenbur g, daß es auch rezessive Formen gibt. Speng- 
ler 3 ) hat in einer Sippe Astigmatismus ununterbrochen durch 
fünf Generationen verfolgen können ; und zwar wurde auch die 
Achsenstellung und der Grad des Astigmatismus festgehalten. 



=■) Bogatsch, Vererbung bei Myopie. Klinische Monatsblätter für 
Augenheilkunde. Bd. 60. S. 155. 191 1. 

2 ) Spengler, E. Ist Hornhautastigmatismus vererblich? Klinische 
Monatsblätter für Augenheilkunde, Bd. 42. H. 1. S. 164. 1904. 



346 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



Natürlich darf man nicht meinen, daß nur die krankhaften 
Abweichungen vom normalen Brechungszustande erblich seien; 
vielmehr ist dieser selbstverständlich selber auch erbbedingt, 
und zwar durch das Zusammenwirken einer großen Zahl von 
Erbeinheiten. Wenn irgendeine dieser Erbeinheiten eine Ände- 
rung (Mutation) erleidet, so entsteht eine erbliche Brechungs- 
anomalie; und es ist daher von vornherein zu erwarten, daß es 
viele verschiedene Arten von solchen gibt. 

Man kann die Erblichkeit des Längenbrcitenverhältnisses des Auges 
der des Kopfes und auch der des Körpers im ganzen vergleichen. Auch 
dort gibt es erbliche Unterschiede der Form, die nicht einfach entweder 
als dominant oder als rezessiv angesprochen werden können. Im Bereich 
der nicht krankhaften Unterschiede ist das auch gar nicht zu erwarten 
(vgl. S. 327). Gleichwohl aber kann es krankhafte Erbanlagen von einfachem 
Erbgang geben, die sich auch in der Kopf- und Körperform stark äußern. So 
gibt es einen rezessiv erblichen krankhaften Zwergwuchs. Diesem kann man 
die rezessiv erbliche starke Kurzsichtigkeit vergleichen. Geringere Unter- 
schiede des Refraktionszustandes dagegen können ebenso wie geringere 
Unterschiede der Kopf- und Körperform polymer sein. 

Wie die Kopf- und die Körperform, so zeigt auch die Form 
des Augapfels geographische Unterschiede. In den angelsächsischen Län- 
dern ist Kurzsichtigkeit erheblich seltener als im kontinentalen Europa. 
Nach Czellitzer fanden sich vor dem Kriege in Schleswig-Holstein 
unter den einjährig-freiwilligen Rekruten 24,5% Kurzsichtige, in Süd- 
bayern dagegen 41,80/0. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß in 
Nordwest curopa sich hauptsächlich nur langköpfige Rassen miteinander 
vermischt haben, in Mitteleuropa dagegen langköpfige mit kurzköpfigen. 
Das heißt, 'es ist zu vermuten, daß leichte Brechungsanomalien des Auges 
auch durch Rassenmischung entstehen können. Eine bestimmte Hornhaut- 
krümmung, die bei bestimmter Achsenlänge des Auges Normalsichtigkeit 
bedingt, kann bei dem Zusammentreffen mit einer größeren Achsenlänge 
leichte Kurzsichtigkeit zur Folge haben; und die in diesem Falle Kurzsichüg- 
keit mitbedingende Achsenlänge kann mit einer anderen Hornhautkrümmung 
zusammen wieder normales Sehvermögen ergeben. Leichte Unterschiede der 
Körperform haben im allgemeinen keine krankhafte Bedeutung; beim Auge, 
wo es auf genaue Einstellung der Bilder ankommt, bedingt aber schon eine 
geringe Verlängerung der Achse eine Störung im Sinne der Kurzsichtigkeit. 
Eine geringe Verkürzung der Augenachse hat dagegen keine krankhafte Be- 
deutung. Ein wenig scheint das Bild ferner Gegenstände in der Ruhestel- 
lung des Auges sogar bei den meisten Menschen hinter die Netzhaut zu 
fallen. Da eine ganz leichte Krümmung der Linse (Akkomodation) genügt, um 
die richtige Einstellung herbeizuführen, so ist leichte Übersichtigkeit im 
Unterschied von der leichten Kurzsichtigkeit nicht als krankhaft anzusehen. 

Als Schielen („Strabismus") werden Sehstörungen be- 
zeichnet, bei denen die Blickachsen beider Augen nicht auf 
denselben Punkt gerichtet sind. Die häufigste Art des Schie- 
lens ist das sogenannte Begleitschielcn („Strabismus convergens 
concomitans"), das in Korrelation mit Übersichtigkeit auftritt. 



AUGENLEIDEN. 



347 



Die Einstellung auf die Nähe geht ja auch normalerweise mit 
einer Einwärtsbewegung der Augen einher. Da nun bei starker 
Übersichtigkeit die Einstellungsanstrengung besonders groß ist, 
so ist es verständlich, daß dabei die Augenachsen zu stark nach 
innen gekehrt werden können. Indessen sind durchaus nicht 
alle Fälle von Übersichtigkeit von Schielen begleitet. Außer 
der Brechungsanomalie wirkt vielmehr auch eine Schwäche 
in der Fähigkeit der Verschmelzung des Bildes beider Augen 
(„Fusion") sowie eine Schwäche der Augenmuskeln bzw. ihrer 
Innervation beim Zustandekommen des Schielens mit. Es ist 
daher nicht ein monomerer Erbgang beim Schielen zu erwar- 
ten, wie besonders C lausen dargelegt hat. Hauptsächlich 
scheinen rezessive Erbanlagen das Schielen zu bedingen, 
wie C lau sen 1 ) und Czellitzer 2 ) auf Grund zahlreicher 
Sippentafeln übereinstimmend gefunden haben. 

•Mit dem Heranwachsen heilt ein großer Teil der Schiel- 
fälle von selbst, wie ja auch die Übersichtigkeit im Kindesalter 
am größten ist und später zurückzugehen pflegt. In andern 
Fällen kann das Schielen durch Operation beseitigt werden. 
Von Schulkindern schielen über 20/0, von den Erwachsenen nur 
ca. 10/0. Beide Geschlechter sind ungefähr gleich häufig be- 
troffen. 

Czellitzer hat auf Grund eines Materials von 306 Familien gefun- 
den, daß schielende Kinder gesunder Eltern 14,0 -f_i,2°/o schielende Ge- 
schwister hatten; wenn auch einer der Eltern schielte, betrug der Prozentsatz 
der schielenden Geschwister 29,5 +_ 4,9. Einwärts schielende Kinder gesun- 
der Eltern hatten 15,1+ 1,7% schielende Geschwister; wenn einer der 
Eltern schielte, 40,0 H^ 6,70/0. Auswärts schielende Kinder gesunder Eltern 
7,2 +2,00/0; wenn einer der Eltern schielte, 11,0 +_ 7,00/0. Nähere Bluts- 
verwandtschaft der Eltern fand sich bei 6 + 1,5% gegenüber einer allge- 
meinen Häufigkeit von 0,62% in der Berliner Bevölkerung, aus der Czel- 
litzers Material meist stammte. 

Fig. 77 zeigt eine Sippcntafel nach Vogt 3 ), die zu rezes- 
sivem, allenfalls aber auch zu unregelmäßig dominantem Erb- 
gangpassen würde. Offenbar sind nicht alle Fälle von Schielen 
in gleicher Weise erbbedingt. Fig. 78 zeigt eine Sippentafel 
nach C lausen und Bauer, die stark für dominanten Erb- 



J-) C 1 a u s e n , W. und Bauer, J. Beiträge und Gedanken zur Lehre 
von der Vererbung des Strabismus concomitans. Zcitschr. für Augenheil- 
kunde Bd. 50. H. 5/6 (1923). 

2) C z elli tze r, A. Wie vererbt sich Schielen? ARGB. Bd. 14. H. 4 

(1923). 

3 ) V o g t , A. Über Vererbung von Augenleiden. Schweizerische mediz. 
Wochenschr. 1923. H. 7 und S. 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

gang spricht. Da Übersichtigkeit sich meist dominant zu ver- 
halten pflegt, so liegt es nahe anzunehmen, daß bei dem sie be- 
gleitenden Schielen dominante Erbanlagen beteiligt sind, wenn 
auch lange nicht alle Fälle von Übersichtigkeit mit Schielen 
einhergehen. 




Fig. 77. 
Einwärtsschielen bei Übersichtigkeit. Nach Vogt. 

Es gibt Schielende, die immer nur mit demselben, und andere, die mit 
beiden Augen abwechselnd fixieren; doch scheint dieser Unterschied wenig- 
stens in der Regel nicht erbbedingt zu sein. Das abweichende Auge bei ein- 
seitigen Schielern wird meist mehr oder weniger schwachsichtig. Es ist nun 
die Frage, ob es auch Fälle primärer 'erblicher Schwachsichtigkcit eines 



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Fig. 



Einwärtsschielen bei Übersichügiceit nach Clausen und Bauer. 

Auges gebe, die ihrerseits Schielen zur Folge habe. Peters 1 ) hat einen 
solchen Stammbaum mitteilen zu können geglaubt. Waardenburg da- 
gegen erklärt das Vorkommen einer primären erblichen einseitigen Schwach- 

J ) Peters. Über die Bedeutung der Erblichkeit des Schielens. Klini- 
sche Monatsblätter für Augenheilkunde. Bd. 68 (1922). 



AUGENLEIDEN. 



349 



sichtigkeit, die sekundär Schielen zur Folge habe, für unwahrscheinlich, 
weil in denselben Sippen keine doppelseitige Schwachsichtigkcit vorzukom- 
men pflegt und weil er schielende eineiige Zwillinge fand, bei denen nur 
eines von den vier Augen schwachsichtig war. 

Von theoretischem Interesse ist eine von v. Sicherer 1 ) mitgeteilte 
SippentafeJ, in der 8 männliche Mitglieder in 4 Generationen links schielten 
und auf dem linken Auge weit- und schwachsichtig waren. Nur bei einem 
Sippenmitglied war auch das rechte Auge weitsichtig. Eine Frau zeigte die 
Anomalie in schwächerem Grade. Diese Sippentafcl spricht ebenso wie einige 
bei der Besprechung der Heterochromie erwähnte dafür, daß es gewisse 
krankhafte Erbanlagen gibt, die sich nur auf einer Seite (liier der linken) 
äußern, vergleichbar jenen normalen Erbanlagen, die die Ausbildung des 
Herzens in der linken Körperseite bedingen. 

Außer dem häufigen Begleitschielen, bei dem das schielende Auge für 
sich nach allen Seiten bewegungsfähig ist, gibt es seltene Fälle von Schielen, 
die auf mangelnder Funktionsfähigkeit der Augenmuskeln oder ihrer Nerven 
beruhen. Funktionsunfähigkeit des Außenwenders und ein dadurch bedingtes 
Schielen ist mehrfach als dominant erbliche Anomalie beschrieben worden. 

Angeborene Unfähigkeit, das Oberlid zu heben (Ptosis) ist in meh- 
reren Sippen mit offenbar dominantem Erbgang beobachtet worden. Die 
mit dieser Anomalie Behafteten können die Augen nicht richtig aufmachen 
und nur mühsam durch Infaltenziehen der Stirn die Lidspalte ein wenig 
öffnen. 

Häufiger als für sich allein kommt Ptosis des Oberlids in Verbindung 
mit Enge der Lidspalte und einer faltigen Verbindung zwischen Ober- und 
Unterlid, die sich über den inneren Augenwinkel zieht, sog. Epicanthtis, 
vor. Auch derartige Sippentafeln .zeigen dominanten Erbgang. Auch Epi- 
canthus für sich allein kommt als "dominantes Merkmal vor. In den meisten 
Fällen ist Epicanthus nur in der frühen Kindheit deutlich. 

Ptosis des Oberlids ist in einigen Sippen mit Funktionsunfähigkeit 
der äußeren Augenmuskeln, die die Blickrichtung einstellen, verbunden 
(Ophthalmoplegie 2 ). Nach Waardenburg gibt esin verschie- 
denen Sippen nach Form und Grad verschiedene Arien dieses Leidens. Neben 
Sippen mit dominantem Erbgang kommen auch solche mit rezessivem vor. 

Schließlich sind auch einige Sippen bekannt geworden, in denen bei 
mehreren Mitgliedern Funktionsunfähigkeit der Augenmuskeln, in erster 
Linie Ptosis des Oberlides, erst im Laufe des Lebens auftrat. Diese Leiden 
können den erblichen Muskelatrophien an die Seite gestellt werden. 

Rhythmische Zuckungen des Auges (Augenzittern, Nystag- 
mus) kommen bei verschiedenen Nerven- und Augenleiden, besonders bei 
Schwachsichtigkeit vor. Es gibt aber auch ein erbliches Augenzittern ohne 
wesentliche sonstige krankhafte Erscheinungen. In einem Teil der damit 
behafteten Sippen zeigt der Nystagmus rezessiven geschlechtsgebundenen 



*) v.Sicherer, Vererbung des Schielens. Münch. med. VVochenschr. 
1907. S. 1231. 

v. Sicherer hat noch eine zweite ähnliche Sippe mitgeteilt: Wei- 
terer Beitrag zur Vererbung des Schielcns. Münch. med. Wochenschr. 1909. 
Nr. 52. S. 2707. 

2 ) Von Augenmuskellähmung, wie es gewöhnlich geschieht, könnte man 
eigentlich nur sprechen, wenn die Muskeln vorher funktionsfähig waren. 



350 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



AUGENLEIDEN. 



351 



Erbgang'); in anderen Sippen dagegen sind auch zahlreiche Frauen, die 
die Anlage übertragen, selbsl damit behaftet. In diesen Sippen ist der Erb- 
gang anscheinend unregelmäßig dominant geschlechtsgebunden, unregel- 
mäßig insofern, als nur ein Teil der Anlageträgerinnen das Leiden auf- 
weist 3 ). Vermutlich stehen beide Formen im Verhältnis der Allelie; d. h. 
die beiden krankhaften Erbanlagen sind durch Mutation derselben geschlechts- 
gebundenen Erbeinheit entstanden zu denken. Der dominante Nystagmus 
ist als eine weilergehende Mutation aufzufassen, da die betreffende Erbanlage 



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Fig. 79. 

Erbliches Augenzittern nach N o d o p. Rezessiver geschlechtsgebundener 

Erbgang. 

sich auch schon in heterozygotem Zustand im weiblichen Geschlecht äußern 
kann. Diese Form des erblichen Augenzitterns ist auch meist mit Kopf- 
wackeln verbunden und dadurch als eine schwerere krankhafte Anomalie 
gekennzeichnet. Ein drittes Glied in dieser Reihe multipler Allele ist ver- 
mutlich jener erbliche Nystagmus, der mit Albinismus des Auges einher- 
geht (vgl. S. 332 f.). Des theoretischen Interesses halber stelle ich zwei 
Stammbäume über erbliches Augenzittern, den einen mit rezessivem ge- 




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Fig. 80. 

Erbliches Augenzittern nach Dubois. (Unregelmäßig) dominanter ge- 
schlechtsgebundener Erbgang. 



1 ) Iicmmes, G. D. Over hereditairen nystagmus. Wageningen 1924. 

2 ) Lenz, F. Die Geschlechtsgebundenheit des erblichen Augen- 
zitterns. ARGB. Bd. 26. H. 2. 1932. 



schlechtsgebundenen, den andern mit unregelmäßig dominantem geschlechts- 
gebundenen Erbgang, hier untereinander. 

Bei dem dominanten geschlechtsgebundenen Erbgang geht ebenso wie 
bei dem rezessiven die betreffende Anlage niemals vom Vater auf den Sohn 
Über. Da sie von Männern aber auf ihre Tochter übertragen wird, ist 
oft das Bild eines eigentümlichen Abwechseins der Geschlechter in den 
aufeinanderfolgenden Generationen die Folge, wie es Fig. 80 zeigt. In der 
ersten Generation ist eine Frau befallen, In der zweiten nur Männer, in 
der dritten nur Frauen, in der vierten wieder nur Männer und in der fünften 
überwiegend Frauen. Daß in dieser auch ein Mann befallen ist, erklärt 
sich daraus, daß die Anlage in diesem Falle durch zwei Generationen in 
i ■ weiblicher Linie weitergegeben wurde, was bei geschlechtsgebundenem Erb- 

gang ja öfter vorkommt. 

Abnorme Enge und auch völliger Verschluß des Tränenkanals, der 
die Tränenflüssigkeit zur Nase ableitet, ist in einigen Sippen in anscheinend 
unregelmäßig dominantem Erbgang beobachtet worden. Das ist auch meist 
die Grundlage der sippenweise gehäuften Tränensackeiterung. 

Auch chronische Entzündung der Lidränder (Blepharitis cilia- 
r i s) und chronische Bindehautentzündungen, z. B. der sog. 
Frühjahrskatarrh, kommen in manchen Sippen gehäuft vor. Über den Erb- 
gang ist nichts Näheres bekannt. 

Das Glaukom (der „grüne Star"), eine nicht seltene Ur- 
sache der Erblindung im mittleren und höheren Alter, beruht 
auf einer krankhaften Drucksteigerung im Auge, durch die die 
Netzhaut zur Verödung gebracht wird. Offenbar ist der Abfluß 

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Fig. 81. 
Entzündliches Glaukom. Nach H o w e. 

der Flüssigkeit, die dauernd im Auge abgesondert wird, irgend- 
wie behindert (durch Verschluß des Schlemmschen Kanals?). 
Man unterscheidet ein „akutes" oder „entzündliches" Glaukom, 
bei welchem unter starken Schmerzen das Sehvermögen in 
wenigen Tagen erlöschen kann, von einem „chronischen" oder 
„einfachen", bei welchem unter geringeren oder nur gelegent- 
lichen Schmerzen das Augenlicht im Laufe der Zeit erlischt. 
Bei Mitgliedern derselben Sippe ist der Verlauf im allgemei- 
nen ganz ähnlich. 

In den meisten Fällen von Glaukom im vorgerückten Alter 
finden sich keine Anhaltspunkte für Erbbedingtheit. Eine Min- 



352 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

dcrlieit der Fälle zeigt aber ausgesprochen dominanten Erb- 
gang. Die Regel ist das bei dem in jugendlichem Alter auftre- 
tenden Glaukom, Eine Sippentafel von Frank-ICamenetzki 1 ) 
zeigt rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgang. 

Auch vom Glaukom ist die Erscheinung der „Antizipation" berichtet 
worden. So hat v. Graefe 3 ) angegeben, daß in gewissen Familien die 
Eltern oder Großeltern im sechsten Jahrzehnt erkrankten, die Kinder aber 
schon im vierten. In diesem Umfange kann jedoch die „Antizipation" durch 
eine unbeabsichtigte statistische Auslese in dem auf S. 338 dargelegten Sinne, 
erklärt werden. 

Da Glaukom mehrfach nur bei Geschwistern beobachtet worden ist, ist 
zu vermuten, daß es auch rezessive Erbanlagen zu Glaukom geben möge. 
Über die Häufigkeit der Verwandtenehe bei den Eltern von Glaukom kranken 
liegen nicht genügend Angaben vor. In der jüdischen Bevölkerung ist Glau- 
kom häufiger als in der nicht jüdischen. Das Glaukom, besonders das ent- 
zündliche, findet sich Verhältnis mäßig häufig bei psychopaihischen Per- 
sonen. Es gibt Familien, in denen es regelmäßig mit konstitutioneller Ver- 
stimmung und Herzangst zusammen vorkommt, ein Beispiel, wie von einer 
Erbeinheit verschiedene körperliche und seelische Störungen abhängig sein 
können. 

Unter den Juden Preußens gab es im Jahre 1905 71 Blinde auf 
10 000 gegenüber einem Landesdurchschnitt von 56 auf 10 000. Dieser 
Überschuß zuungunsten der Juden dürfte wohl ganz durch krankhafte 
Erbanlagen verursacht sein, zumal wenn man bedenkt, daß die Juden an 
Berufen, die Verletzungen der Augen ausgesetzt sind, verhältnismäßig wenig 
beteiligt sind. Ob die größere Häufigkeit der erblichen Blindheit bei den 
Juden allein auf die größere Pläufigkeit der Verwandtenehe zurückzuführen 
ist oder ob gewisse Erbanlagen zu Blindheit in der jüdischen Bevölkerung 
tatsächlich stärker verbreitet sind, läßt sich einstweilen nicht entscheiden. 
Die H y d r o p h t h almie („Wasseräugigkeit"), eine Ursache von 
Blindheit bei Neugeborenen und Kindern beruht auf einer Drucksteigerung 
im Auge zu einer Zeit, in der die Hüllen des Auges noch nachgiebig sind, 
so daß der Augapfel stark aufgetrieben wird. Dieses infantile Glaukom 
scheint in der Regel auf einem Fehlen des Schlemmschen Kanals, durch 
den die innere Augenflüssigkeit normalerweise ihren Abfluß findet, zu be- 
ruhen. Nach einer Zusammenstellung von Paula Werth scheint es sich 
in den meisten Fällen um rezessive Erbanlagen zu handeln. Bei den familiär 
gehäuften Fällen fand sie in fast 50% Blutsverwandtschaft der Eltern. Die 
als Dissertation bei Prof. v. Szily in Freiburg 1922 verfaßte Arbeit 
scheint leider nicht im Druck erschienen zu sein. 

Auch Waardenburg, der ebenfalls einen überdurchschnittlich 
hohen Hundertsatz von Blutsverwandtschaft der Eltern fand, hat sich für 
rezessiven Erbgang der erblichen Plydrophthalmie ausgesprochen. Außer- 
dem gibt es anscheinend auch nichterbliche Fälle. Im ganzen kommen 

1 ) F r an k-K a men e t z k i, S. G. Eine eigenartige hereditäre Glau- 
komform mit Mangel des Irisstromas und geschlechtsgebundener Ver- 
erbung. Klinische Monatsblättcr für Augenheilkunde. Bd. 74. S. 133. 1925. 

s ) v. Graefe, A. Beiträge zur Pathologie und Therapie des Glau- 
koms. Archiv für Ophthalmologie. Bd. r5 (1869). 



AUGENLEIDEN. 



353 



rund 5 männliche auf 3 weibliche Fälle. Wie sich die größere Pläufigkeit 
im männlichen Geschlecht erklärt, ist nicht bekannt. 

Die erbliche S ehnerv Verödung („Neuritis optica", 
Opticusatrophie) zeigt in der Regel rezessiven geschlechtsge- 
bundenen Erbgang. Demgemäß werden davon ganz überwie- 
gend Männer befallen. Das Leiden setzt gewöhnlich im zwei- 
ten bis vierten Jahrzehnt ein. Unter entzündlichen Erscheinungen 
am Sehnerven können beide Augen im Verlaufe von wenigen 
Tagen gerade in der Mitte des Gesichtsfeldes, wo sonst das 
Sehen am deutlichsten ist, ihre Sehkraft verlieren. Nicht selten 
aber ist der Verlauf langsamer. In den äußeren Teilen des Ge- 
sichtsfeldes bleibt regelmäßig ein Rest des Sehvermögens er- 
halten. In derselben Familie pflegt der Verlauf der Sehnerv- 
verödung ziemlich der gleiche zu sein. 

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Fig. 82. 
Sehnervverödung. Nach PI e n s e n. 

Die allermeisten bekannt gewordenen Sippschaftstafeln zei- 
gen das typische Bild des rezessiven geschlechtsgebundenen Erb- 
gangs. In einigen wenigen Sippen sind auch kranke Frauen be- 
obachtet worden und zwar in Fällen, wo der Vater gesund 
war, wo es sich also nicht um homozygot kranke Frauen han- 
deln kann, wie solche ja auch bei völlig rezessiven geschlechts- 
gebundenen Leiden vorkommen können. Ein besonders schöner 
Stammbaum, in dem neben 16 Männern auch zwei Frauen an 
Sehnervverödung erkrankt sind, ist von Waardenburg 1 ) 
veröffentlicht worden. Da die erkrankten Frauen gesunde Väter 
und (neben kranken) auch gesunde Söhne hatten, können sie 
nicht wohl als homozygot krank aufgefaßt werden. Seitdem 
sind auch von anderen Autoren mehrere Frauen beschrieben 
worden, die bei offenbar heterozygoter Veranlagung an Seh- 

') Waardenburg, P. I. Beitrag zur Vererbung der familiären 
Sehnervenatrophie. Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. Bd. 73. 
S. 619. 1924. 

Baur-Fischer-Lenzl. 23 



;- 



354 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

nerv Verödung erkrankten, meist freilich leichter als Männer. 
Das heiBt, die geschlechtsgebundene Anlage zu Sehnervver- 
Ödung ist (mindestens in einigen Sippen) nicht vollständig 
rezessiv; sie kann sich vielmehr unter besonderen Umständen 
auch heterozygot im weiblichen Geschlecht .äußern. Sie ver- 
hält sich also unvollständig bzw. unregelmäßig rezessiv ge- 
schlechtsgebunden. Dieses Verhalten stellt eine Art von Über- 
gang zu dem dominanten geschlechtsgebundenen dar, steht aber 
dem rezessiven geschlechtsgebundenen immerhin viel näher. 

Außer der besprochenen geschlechtsgebundenen Form erblicher Seh- 
nerwerödung gibt es — viel seltener — eine einfach rezessive, die schon in 
frühem Kindesalter beobachtet wird und vermutlich angeboren ist. Bei dieser 
Form kommen Erscheinungen von Ataxie (s. d.) vor (ob regelmäßig?). 
Als Begleiterscheinung kommt Sehnervverödung auch bei der im späteren 
Leben auftretenden erblichen Ataxie (s. d.) vor, übrigens auch bei der durch 
Syphiits verursachten nichterblichen Ataxie (Tabes). Ein Stammbaum ange- 
borener Sehnervverödung zeigte dominanten Erbgang. Es gibt also mehrere 
Biotypen. Wenn es auch bei geschlechtsgebundenem Erbgang Sippen mit 
leichterem und solche mit schwererem Verlauf der Sehnervverödung geben 
sollte und wenn kranke Frauen in einigen Sippen gar nicht, in andern regel- 
mäßig gefunden werden, wie Mcycr-Ricmsloh angegeben hat, so müßle 
man an das Vorkommen mehrerer Allele wie im Falle des erblichen Nystag- 
mus denken. 

Ein erheblicher Teil aller Fälle von Erblindung beruht auf 
erblich bedingter Netz hautverö düng, die herkömmlicher- 
weise als „Retinitis pigmentosa" bezeichnet wird, tref- 
fender jedoch Dystrophia retinae pigmentosa zu rsen- 
q neu wäre (nach Waarden- 

1 — | — -* bürg). Das Leiden beginnt 

meist in früher Jugend mit zu- 
nehmender Nachtblindheit und 
Einengung des Gesichtsfeldes, 
bis einschließlich nach vielen 
Jahren das Sehvermögen auch 
in der Mitte des Gesichtsfeldes 
zugrundegeht. Es gibt mehrere 
Arten dieses nach den klini- 
schen Erscheinungen zusam- 
mengefaßten Krankheits bilde s, 
die sich zum Teil durch den ärztlichen Befund und den Ver- 
lauf, zum Teil aber auch nur durch den Erbgang unterscheiden. 
Am häufigsten ist eine rezessive Form. Mit dem rezessiven 
Erbgange hängt es zusammen, daß die an Netzhautverödung 
Leidenden auffallend häufig aus Verwandtenehen stammen, 



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Fig. 3 3 . 

Rezessive N e t z h a u t v e r ö d u n j 

Nach Boeh in. 



AUGENLEIDEN. 



355 



nämlich zu fast einem Drittel. In dem abgebildeten Stamm- 
baum von 33 oehm sehen wir, wie aus den Ehen zweier Brüder 
mit zwei Schwestern, die ihre Basen sind, je ein Netzhautlei- 
dender hervorgeht. In dieser Sippe war die Netzhauterkran- 
kung mit Verödung der Aderhaut verbunden. Dasselbe ist auch 
in einigen anderen Sippen beobachtet worden. Es gibt an- 
scheinend mehrere idiotypisch verschiedene Arten rezessiver 
Netzhautverödung. 



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Fig. 84. 
Dominante Netzhautverodung. Nach Nettleship (Ausschnitt). 

Außerdem sind aber auch Sippen beobachtet worden, in denen eine 
dominante Anlage zu Netzhautverodung vorkommt. Eine solche Sippe zeigt 
Fii?. 84. 



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Fig. 8 5 . 

Rezessive geschlechtsgebundene Netzhautverodung. 
Nach Nettleship (Ausschnitt). 

Schließlich kommt auch eine rezessive geschlechtsgebundene Art der 
Netzhautverodung vor, wie Fig. 85 zeigt. 

In den Niederlanden beträgt die Gesamtzahl der Fälle von Netzhaut- 
verodung nach de Wilde etwa 200; das entspricht einer Häufigkeit von 
ca. 1:20000, Männliche Personen sollen im Verhältnis von 3:2 häufiger als 
weibliche befallen sein. Dieser Überschuß an männlichen Kranken dürfte auf 
die rezessive geschlechtsgebundene Form zu beziehen sein. Von allen Er- 
blindungsfällen sind fast 40/0 durch die erbliche Netzhautverodung bedingt 
(nach C rzclli t z er). In der jüdischen Bevölkerung ist Netzhautverodung 
mehrfach häufiger als in der nicht] irdischen, was sich zwanglos aus der 
größeren Häufigkeit der Verwand tenelien bei den Juden erklärt. 

Netzhautverodung kommt auch als Teilerscheinung der juvenilen amau- 
rotischen Idiotie (s. d.) vor, sodann auch als Tcilerscheinung des sog. 
Bicdl-Bardctschen Syndroms, bei dem Fettsucht in der Form der Dystrophia 
adiposogenitalis, Vielfingrigkeit und Netzhautverodung vereinigt sind und 

23* 



356 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



AUGENLEIDEN. 



357 



zwar öfter bei mehreren Geschwistern, also wohl durch eine rezessive Erb- 
anlage bedingt, die sich in so verschiedenen krankhaften Erscheinungen 
äußern kann. 

Während bei der gewöhnlichen Netzhautverödung; die Stelle des 
deutlichsten Sehens am längsten erhalten bleibt, gibt es auch erbliche Lei- 
den, bei denen gerade diese, der sogenannte gelbe Fleck oder die Macula 
lutea, zugrundegeht. Von dieser Makuhverödung sind in verschie- 
denen Sippen verschiedene Formen beobachtet worden, die sich nach dem 
verschiedenen Zeitpunkt des Auftreteins und zum Teil auch nach dem Erbgang 
unterscheiden, die sich aber innerhalb derselben Sippe ,,in fast photogra- 
phischer Treue" wiederholen (B ehr). Es gibt Sippen, in denen das Leiden 
in früher Kindheit, andere, in denen es um die Zeit der eintretenden Ge- 
schlechtsreife, wieder andere, in denen es im dritten Jahrzehnt und schließ- 
lich solche, in denen es erst im sechsten Jahrzehnt zum Ausbruch, kommt. 
Verhältnismäßig am häufigsten sind auch hier rezessive Formen. Dominanter 
Erbgang ist nur in wenigen Sippen beobachtet worden. 

Zu der Gruppe der Makula Verödungen kann man die mit Erblindung 
einhergehenden Verblödungen („amaurotische Idiotie") rechnen, von denen 
bei Besprechung der Geisteskrankheiten berichtet wird. 

Angeborene Schwachsichtigkeit (Amblyopie), auf einem Feh- 
len der Macula lutea beruhend, ist in einigen wenigen Sippen mit anschei- 
nend rezessivem Erbgang beobachtet worden, einmal auch anscheinend rezes- 
siv geschlechtsgebunden (Vogt). Außerdem kommt Maculalosigkeit vor 
bei Albinismus, Aniridie, Mikrophthalmie und anderen erblichen Mißbildun- 
gen des Auges (s. d.). 

Die Nachtblindheit oder Hemeralopie ist eine 
Anomalie, bei der ein abnormer Bau der Netzhaut nur aus dem 
Ausfall der Fähigkeit des Sehens in der Dämmerung erschlos- 
sen werden kann. Die damit behafteten Personen können sich 
bei stärkerer Dämmerung nicht zurechtfinden, während sie bei 
Tage ebenso gut sehen wie andere. Durch den englischen 
Augenarzt Nettleship ist eine große Sippentafel über Nacht- 
blindheit bekannt geworden, die sich über neun Generationen 
erstreckt und 21 16 Personen umfaßt, von denen 135 nacht- 
blind sind. Es ist die größte Sippentafel, die bisher über ein 
erbliches Leiden bekannt geworden ist. Von jeder dieser nacht- 
blinden Personen läßt sich die krankhafte Anlage in ununter- 
brochener Reihe zu rück verfolgen bis auf den i. J. 1637 in Ven- 
demian bei Montpellier geborenen nachtblinden Metzger Nou- 
garet. Jedes nachtblinde Mitglied dieses Verwandtschaftskrei- 
ses hat also mindestens einen nachtblinden Elter; in einem 
Falle waren auch beide Eitern nachtblind und hatten zwei 
nachtblinde Töchter. Wenn keiner der Eltern nachtblind war, 
so waren ausnahmslos auch die Kinder frei von dem Leiden. 
Die Anlage ist also dominant. Zur Veranschaulichung gebe 
ich einige Ausschnitte aus der Sippentafel Nougaret. 



In dem ersten der hier wiedergegebenen Teile der Sippentafel sehen 
wir die Mehrzahl der Mitglieder von dem Leiden befallen, in dem zweiten 
nur eine Minderheit. Darin kommt aber kein biologisch bedingter Unter- 
schied zum Ausdruck. Nach dem Mendelschcn Gesetz wäre zu erwarten, daß 
im großen Durchschnitt die Hälfte der Kinder nachtblind und die Hälfte 
normal seien. Ein einzelnes Kind hat also die Wahrscheinlichkeit 1 j 2 , nacht- 
blind zu werden, und jedes seiner Geschwister hat unabhängig davon die- 
selbe Wahrscheinlichkeit. Folglich sind nach den Gesetzen der Wahrschein- 



cf cT cf 



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Fig. 86 u. 87. 

D o m i 11 a n t e N a c h t b 1 i n dlt e i t. Ausschnitte aus der Sippentafel 
Nougaret, nach Nettleship. 

lichkeit in einer so ausgedehnten Verwandtschaft neben Zweigen mit vielen 
befallenen Mitgliedern auch solche mit wenigen zu erwarten. Die beiden 
Sippenausschnittc wurden mit Absicht so ausgewählt, um zu zeigen, daß 
unter den Nachkommen eines Elternpaares die Mendelschcn Zahlenverhält- 
nisse nicht zu stimmen brauchen, obwohl die Verteilung der betreffenden 
Anlage im ganzen doch durchaus dem Mendelschen Gesetze folgt. 

Schließlich gebe ich' in Fig. 88 noch einen Ausschnitt aus 
der Sippentafel Nougaret, die den ununterbrochenen Erbgang 
der Nachtblindheit durch neun Generationen zeigt. Dominante 
Nachtblindheit ist sonst nur noch in wenigen Sippen beob- 
achtet worden, von denen noch dazu ein Teil vermutlich mit 
der Nougaret-Sippe zusammenhängt. 

Außer dieser dominanten Nachtblindheit gibt es eine andere 
Art, die im Unterschied von jener regelmäßig mit Kurzsichtig- 
keit verbunden ist. Von dieser Form sind mehrere Sippen be- 
kannt, welche zeigen, daß sie rezessiv geschlechtsgebunden ist. 
Besonders sorgfältig erforschte Sippen dieser Art sind von 
Kleiner und Varel mann beschrieben worden. 



358 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

je eine Sippe von Rambusch und von Snell sind mir nach 
Waa r den bürg s Bericht verdächtig auf dominanten geschlechtsgebun- 
denen Erbgang (Übertragung von Vätern auf Tochter und von Müttern auf 
Söhne, vgl. das über Nystagmus Gesagte S. 350). 

Diese Sippe kann zugleich zur Veranschaulichung dienen, daß es auch 
eine rezessive geschlechtsgebundene Anlage zu Kurzsichtigkeit gibt. 

Eine dritte Art von Nacht- 
blindheit, die mit hochgradiger 
Kurzsichtigkeit verbunden ist und 
einfach rezessiven Erbgang zeigt, 
hat Vogt in der Schweiz aufge- 
funden. Eine Sippentafel, dieGaß- 
1 e r, ein Schüler Vogts, ver- 
öffentlicht hat, ist in Fig. 90 wie- 
dergegeben; sie ist für den Erb- 
gang rezessiver Anlagen überhaupt 
lehrreich. Auch sonst sind einige 
Sippen mit dieser Art rezessiver 
Nachtblindheit beschrieben worden. 

In Japan kommt eine rezessive Nacht- 
blindheit vor, die nicht mit Kurzsichtig- 
keit einhergeht und die durch eine eigen- 
tümliche Färbung des Augenhintergrun- 
des gekennzeichnet ist, die Oguchische 
Krankheit. In Europa ist bisher nur ein 
einziger Fall von Oguchischer Krankheit 
beobachtet worden und zwar von Schee- 
rer in Tübingen. 

Das Sehen in tiefer Dämme- 
rung geschieht mit Hilfe anderer 
Netzhautelemente als das Sehen 
bei Tage. Dem Tagessehen dienen 
die sogenannten Zäpfchen der 
Netzhaut, die zugleich die Farben- 
empfindungen vermitteln. Dem Sehen in der Dämmerung da- 
gegen dienen die sogenannten Stäbchen der Netzhaut, die 
fahle farblose Bilder, wie wir sie von Mondscheinlandschaftcn 
kennen, vermitteln. Die farbempfindlichen Zäpfchen bedürfen 
zu ihrer Tätigkeit einer größeren Lichtstärke; sie sind daher 
in der Dunkelheit ausgeschaltet. 

Es gibt nun ein erbliches Leiden, bei dem im Gegensatz 
zur Nachtblindheit gerade die Funktion des Zäpfchenapparates 
ausgefallen ist. Die betreffenden Personen verfügen also nur 
über jenen Teil des Gesichtssinnes, mittels dessen wir uns z.B. 



AUGENLEIDEN. 



359 




Fig. 88. 

Dominante Nachtblindheit. 
Ausschnitt aus der Sippen ta fei 
Nougaret nach N e 1 1 1 e s h i p. 



im Mondschein zurechtfinden, der aber bei hellem Tageslicht 
durch Blendung ausgeschaltet ist. Man nennt dieses Leiden da- 
her in England Tagblindheit oder bei uns (weniger tref- 
fend) totale Farbenblindheit, weil mit der Zäpfchenfunktion 
auch jede Farbempfindung ausfällt. Das Leiden ist rezessiv. 




Fig. 89. 

Nachtblindheit mit Kurzsichtigkeit. Nach Varelman n (Ausschnitt) 

Wir sehen an dieser Sippentafel, wie aus einer Vetternelle, die ja das 
Zusammentreffen gleicher rezessiver Anlagen erleichtert, drei tagblinde Kin- 
der hervorgehen. Natürlich ist es ein verhältnismäßig seltener Zufall, daß 
unter 4 Kindern hier 3 Kranke sind, weil bei rezessiven Leiden die Wahr- 
scheinlichkeit zu erkranken bei Heterozygotic beider Eltern für jedes Kind 
nur 1 / i beträgt. Wir dürfen uns daher auch nicht wundern, daß in manchen 
Familien unter einer größeren Zahl von Geschwistern nur ein einziges mit 
einer rezessiven Erbkrankheit behaftet ist, wie das z. B. Sippentafel 
Fig. 92 zeigt. 

Ohne sonstige Erfahrungen über Tagblindheit und ohne eine gewisse 
Kenntnis der Theorie der Vererbung würde man wohl kaum auf den Gedan- 
ken kommen, daß ein derartig vereinzelter Fall in einer Familie erblich be- 
dingt sei. Manche Ärzte pflegen in Fällen wie diesem, wo sowohl die Eltern 
als auch die Großeltern als auch sämtliche 8 Geschwister des Leidenden 
gesund sind, selbst heute noch zu schließen, daß „Heredität" nicht vorliege. 

Es ist lehrreich, die Wahrscheinlichkeiten des Auftretens von Ge- 
schwisterreihen dieser Art zu berechnen. Wenn die Wahrscheinlichkeit 
krank zu sein für ein Kind 1 / i ist, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß von 
9 Geschwistern keines krank ist (74) 9==0 >°75 und die Wahrscheinlichkeit, 
daß unter 9 Geschwistern nur eines krank ist ( 3 / 4 ) 8 ■ 1 / i - 9 = 0,225. Man 



360 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



AUGENLEIDEN. 



361 



erhält die Zahlen durch Auflösen des Binoms (^/ i -\- 1 / i ) d . Wenn beide 
Eltern heterozygote Träger einer bestimmten rezessiven. Erbanlage sind, 
ist also in reichlich einem Fünftel (22,50/0) aller Familien mit je 9 Kindern 
nur ein krankes zu erwarten und in einem Drcizehntel (7,5%) aller derartigen 
Familien gar keines. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß unter 4 Geschwi- 
stern drei kranke sindj wie es die Sippentaf cl nach H e ß b e r g zeigt, bc- 




Fig. 90. 

Hochgradige Nachtblindheit mit hochgradiger Kurzsichtigkeit. 

Nach Vogt und G a ß 1 e r. Bei dem mit X bezeichneten nachtblinden Mann 

trat ausnahmsweise keine Kurzsichtigkeit in Erscheinung. 

trägt (V-i) 3 - 3 /* ■ 4 ~ Vg4 — '"und 0,05 und die Wahrscheinlichkeit, daß 
alle 4 krank sind, (V^)* = 1 /g 5G = rund 0,004. 

Viel größere praktische Bedeutung als die seltene völlige 
Farbenblindheit hat wegen ihrer großen Häufigkeit die teil- 
weise Farbenblindheit oder Rotgrünblindheit. Der 
farbenempfindende Zäpfchenapparat des Auges, der bei der 
Tagblindheit völlig funktionsuntüchtig ist, hat bei der Rotgrün- 
blindheit seine Funktion nur teilweise eingebüßt. Die Wahr- 
nehmung von Gelb und Blau wird durch andere Elemente bzw. 
andere Stoffe der Netzhaut vermittelt als die von Rot und Grün. 
Während beträchtlichere Störungen des Gelbblausinnes kaum 
vorkommen, sind solche des Rotgrünsinnes recht häufig. Rund 
40/0 aller Männer sind ausgesprochen rotgrünblind und rund 
0,40/0 aller Frauen. Mindestens ebenso häufig ist aber leichtere 
Schwäche des Rotgrünsinnes. Schiötz hat in Norwegen bei 



rund ro 0/0 aller Knaben Störungen des Rotgrünsinncs gefun- 
den und bei fast 1 0/0 aller Mädchen. 

Die Schwelle der Wahrnehmbarkeit von Rot und Grün liegt 
für Rotgrünschwache bei einer größeren Sättigung bzw. flächen- 
haften Ausdehnung der Farbe als für 
Normalsichtige. Andererseits sind auch 
die als rotgrünblind angesehenen Per- 



CT 
1 






5 £9 






9 



Fig. 91. 

Tagblindheit („totale 

Farbenblindheit"). 

Nach Hessberg. 



£ 



0^9 
9 



9 9 9 



cf 



c? c? 9 



Fig. 92. 
Tagblindheit. Nach Lutz. 



sonen in Wahrheit meist nicht völlig unempfindlich für den Un- 
terschied roten und grünen Lichtes; eine gewisse Rotgrünemp- 
findlichkeit pflegt vielmehr auch bei ihnen vorhanden zu sein. 
In vielen Lagen des Lebens (z. B. im Eisenbahndienst) sind 
diese Leute praktisch allerdings farbenblind. Trotzdem aber 
haben sie einen Rest des Rotgrünsinnes, der es ihnen in andern 
Lagen gestattet, Farben von genügender Sättigung und flä- 
chenhafter Ausdehnung durchaus richtig zu erkennen. Wirk- 
lich absolute Rotgriinblindheit, falls sie überhaupt vorkommt, 
scheint jedenfalls sehr selten zu sein. 

Als ich mich im Jahre 1919 dem Münchener Ophthalmologen v. H eß 
auf sein Ersuchen für seine Forschungen über Rotgriinblindheit zur Ver- 
fügung stellte, sprach er mir zunächst jede spezifische Rot- und Grün- 
empfindung ab; er meinte damals noch, daß völlige Rotgrünblindheit die 
häufigste Form sei; und es gelang mir erst nach wiederholten und hart- 
näckigen Diskussionen, ihn davon zu überzeugen, daß ich spezifische Emp- 
findungen für Rot und Grün habe. Nachdem der Bann einmal gebrochen 
war, hat er dann bald auch bei anderen „Rotgrünblinden" Reste des Rotgrün- 
sinnes festgestellt. 

Die gewöhnlichen von den Augenärzten angewandten Methoden ge- 
statten zwar den praktisch wichtigen ;N achweis einer Schwäche des Rot- 
grünsinnes, nicht aber den seiner Reste. Ich hatte jahrelang die Absicht, 
Untersuchungen über den Nachweis solcher Reste des Farbensinns anzu- 
stellen, bin dann aber doch nicht dazu gekommen. Daher möchte ich hier 
kurz das Prinzip meiner Methode angeben. Man färbe mit einem mög- 
lichst reinen Rot 20 Wollproben, derart, daß diese je nach dem Grad der 
Verdünnung um ein Rot von mittlerer Helligkeit schwanken. Entsprechend 
färbe man 20 Wollproben mit einem möglichst reinen Grün derart, daß die 
Mittelglieder beider Reihen ungefähr gleich hell sind. Schließlich färbe man 



362 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLÄGEN. 

20 Wollproben grau in derselben Helligkeit unter Zusatz von ein wenig 
Geib bzw. Blau, so daß eine Reihe von leicht gelblich Grau bis leicht bläu- 
lich Grau entsteht. Die drei Gruppen der Wollproben, die roten, grünen und 
grauen, sind für einen Farbentüchtigen natürlich stark verschieden. Ein 
wirklieh vollständig Rotgrünblinder aber würde die Gruppen aus der Mi- 
schung nicht wieder sondern können. Der Möglichkeit, daß die roten und 
grünen Proben an einem verschiedenen Gehalt an Gelb oder Blau erkannt 
werden könnten, ist dadurch vorgebeugt, daß die Graureihe auch etwas 
gelbliche und etwas bläuliche Proben enthält. Tatsächlich wird es kaum 
einen „Rotgrünblinden" geben, der die drei Gruppen nicht sicher sondern 
kann. Daraus folgt, daß mindestens die allermeisten sogenannten Rotgrün- 
blinden Reste echter Rot- und Grünempfindlichkeit haben. 

Der Normalsichtige kann sich die verschiedenen Grade der 
Farbenschwäche bzw. Farbenblindheit an seinem eigenen Far- 
bensehen in der Dämmerung veranschaulichen. Er sieht bei 
nicht zu tiefer Dämmerung die Farben etwa so wie der Rot- 
grünschwache bei Tageslicht. Zuerst leidet die Wahrnehmung 
von Rot und Grün, während die von Gelb und Blau zunächst 
noch voll erhalten bleibt. Mit fortschreitender Dämmerung ver- 
hert auch der Normalsichtige die Fähigkeit der Unterscheidung 
von Rot und Grün und bei noch tieferer Dämmerung schließ- 
lich auch der von Gelb und Blau. Im Mondlicht sieht er wie 
der total Farbenblinde. 



Q d 



^9 



9 



c? 



tf 9?2 



p 



t^ — f 



6* cf 



9 99 



cf 



Fig. 93. 

RotgriinbUndheit. Nach Groenou w. 

Sämtliche Sippentafeln über Störungen des Rotgrünsinnes 
zeigen geschlechtsgebundenen Erbgang; und zwar verhält sich 
die Anomalie regelmäßig rezessiv gegenüber dem normalen 
Zustand. Als Beispiel für den rezessiven geschlechtsgebunde- 
nen Erbgang der Rotgrünblindheit gebe ich eine Sippentafel 
nach G r o e n o u w. Gemäß der Theorie des geschlechtsgebun- 
denen Erbgangs können im weiblichen Geschlecht zwei gleich- 
artige Anlagen zu Rotgrünblindheit (von väterlicher und müt- 
terlicher Seite her) homozygot zusammentreffen; solche Frauen 



AUGENLEIDEN. 



363 



müssen dann rotgrünblind sein. Beispiele dafür zeigen die Sip- 
pentafeln nach Nagel und Dort, welch letztere schon im 
Jahre 1778 veröffentlicht worden, ist. 



9 



9 ?_§ 



9. 
9 

Fig 94. 

Eine Sippe, in der rotgrünblindc 
Frauen vorkommen. Nach Nagel. 




Fig. 95- 

Eine Sippe mit einer rotgrün 
blinden Frau. Nach Lort. 



Fig. 96. 
Rotgrünblindheit 
nach Vogt. 



Gemäß der Theorie ist anzunehmen, daß die Mütter rot- 
grünblinder Frauen regelmäßig Träger der Anlage sind. Wenn 
ein rotgrünblinder Mann eine Anlageträ- W" g 

gerin zur Frau hat, so hat sowohl von l____Ii 

den männlichen als auch von den weib- ' ! ^ ~~m, 

liehen Kindern jedes die Wahrscheinlich- $ • ? 
keit 1 / 2} rotgrünblind zu werden. Die Söhne 
einer homozygot rotgrünblinden Frau müs- 
sen alle ebenfalls rotgrünblind sein. Wemi 
beide Eltern rotgrünblind sind, so sind 
es auch sämtliche Kinder. Derartige Familien sind von Vogt 
und Göthlin beschrieben worden. 

Es ist von geschichtlichem Interesse, daß der Ophthalmologe Vogt 1 ) 
(damals Professor der Augenheilkunde in Basel, jetzt in Zürich) die be- 
treffende Familie im Verlauf systematischer Untersuchungen, die der Prü- 
fung der Theorie des geschlechtsgebundenen Erbgangs dienten, gefunden 
hat. Er untersuchte mehrere Tausend Schulmädchen in Basel auf ihren 
Farbensinn und fand unter ihnen mehrere rotgründblinde. Das Vorkommen 
der Rotgrünblindheit in den Familien dieser Mädchen entsprach durchaus 
dem, was auf Grund der Theorie zu erwarten war. Insbesondere die Auffin- 
dung jener Familie, in der zwei rotgrünblinde Eltern drei ebensolche Kin- 
der, darunter zwei Mädchen, hatten, konnte im Jahre 1921 als der Schluß- 
stein der Feststellung des rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgangs für 
die Rotgrünblindheit gelten. 

Innerhalb der Gruppe der Rotgrünblindheitcn gibt es nicht nur ver- 
schiedene Grade der Schwäche des Farbensinns, sondern auch qualitative 



1 ) Vogt, A. Über geschlechtsgebundene Vererbung von Augenleiden. 
Schweiz, mediz. Wochenschr. 1921. Nr. 4. 



364 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



OH REN LEI DEN. 



365 



Unterschiede. Man unterscheidet eine Rotblindheit oder Protanopie 
und eine Grünblindheit oder Deuteranopie. Bei beiden ist der Farb- 
wert sowohl für Rot als auch für Grün herabgesetzt; vor die Aulgabe ge- 
stellt, aus Rot und Grün eine Mischung zu machen, die weder rötlich 
noch grünlich ist, nimmt der Rotblinde aber mehr Rot, der Grünblinde 
mehr Grün. Der Rotblinde bzw. Rotschwache ist also relativ empfindlicher 
für Grün, der Grünblinde bzw. Grünschwach c für Rot. Grünblindheit ist 
häufiger als Rotblindheit. 

Rotblindheit und Grünblindheit vererben sich jede für sich rezessiv 
geschlechtsgebunden. Der Grad der Farbenstörung kann in derselben Sippe 
etwas verschieden sein; es kann also z 1 . B. dieselbe Anlage bei einigen 
Sippenmitgliedern geringere, bei anderen stärkere Grünschwäche bedingen, 
nicht aber einmal Grünschwäche und ein andermal Rotschwäche. In ver- 
schiedenen Sippen gibt es quantitativ verschiedene Grade der Farben- 
schwache. Leichte Grünschwäche kann x. B. als solche vererbt werden im 
Unterschied von der hochgradigen Grünschwäche oder Grünblindheit. Beim 
Zusammentreffen einer Anlage zu Farbenblindheit mit der gleichsinnigen 
Anlage zu Farbenschwäche, was ja nur im weiblichen Geschlecht möglich 
ist, verhält sich die hohergradige Störung (unregelmäßig) rezessiv gegen- 
über der geringergradigen, also Grünblindheit rezessiv gegenüber Grün- 
schwäche wie diese rezessiv gegenüber dem normalen Farbensinn. Wenn 
eine Anlage zu Grünblindheit mit einer zu Rotblindheit zusammentrifft, 
so ist die betreffende Frau weder grünblind noch rotblind, sondern nur 
in geringem, praktisch unwesentlichen Grade farbenschwach. Die Söhne 
einer derartigen Frau sind teils grünblind und teils rotblind, niemals aber 
farbentüchtig (nach Befunden von G Ö t h 1 i n und Waaler). Daraus folgt, 
daß nicht nur Grünblindheit und Grünschwäche einerseits, Rotblindheit und 
Rotschwäche andererseits im Verhältnis der Allelie stehen, sondern auch 
diese beiden Gruppen miteinander. 

Die Darstellung bei Waardenburg, die auf Waaler zurück- 
geht, daß es sich um zwei Reihen von Allelen handle, die an verschiedenen 
Stellen des Geschlechtschromosoms lägen, halte ich für nicht ganz zutref- 
fend. Die Tatsache, daß eine Anlage zu Grünblindheit oder Rotblindheit sich 
im männlichen Geschlecht regelmäßig äußert, zeigt, daß ein zweites gleich- 
sinniges (nicht allelcs) Gen nicht vorhanden ist; denn sonst würde dieses die 
anomale Anlage überdecken. Auch müßten dann in derselben Geschwister- 
reihe grünblinde, rotblinde und normalsichtige Brüder vorkommen können, 
was nicht der Fall ist. Grünblindheit und Rotblindheit beruhen also auf De- 



Fig. 97. 

Schematische Darstellung der Gene für Farbensinn: a bei einer farben- 
tüchtigen Frau, b bei einer rotblinden, c bei einer grünblinden Frau, d bei 
einer Frau, die die Erbanlagen für Rotblindheit und Grünblindheit neben- 
einander enthält, dabei aber praktisch farbentüchtig ist Die Starke bzw. 
Schwäche des Farbensinns ist durch die Vertikalausdehnung der Säulenpaare 

versinnbildlicht. 



* 



fekten derselben Gensorte im Geschlechtschromosom, aber auf Defekten an 
verschiedener Stelle dieses Gens. Grünblindheit konnte, bildlich gesprochen, 
auf einem Defekt an dem einen Ende des Gens für Farbensinn, Rot- 
blindheit auf einem Defekt am anderen Ende beruhen. Ich möchte das an 
einem Schema klarmachen (Fig. 97)- 

Siemens hat einen Fall mitgeteilt, wo eine grünblinde Frau einen 
farbentüchtigen Sohn hatte. In diesem Falle müßte sich also entgegen der 
Regel eine heterozygote Anlage im weiblichen Geschlecht geäußert haben, 
wie das häufiger bei der ebenfalls geschlechtsgebundenen Sehnervverödung 
vorkommt (vgl. S. 353). Zur Erklärung dieser Regelwidrigkeit käme allen- 
falls auch noch eine andere Möglichkeit in Betracht: Wie Goldschmidt 
gezeigt hat, kommt bei einem Schmetterling, dem Schwammspinner, 
eine Geschlcchtsumwandlung auf Grund abnormer Genkombination vor. Bei 
Schmetterlingen hat das weibliche Geschlecht normalerweise ein X-Chromo- 
som, das männliche zwei: Bei gewissen Kreuzungen entstehen jedoch auch 
Männchen mit nur einem X-Chromosom. Beim Menschen, wo die Dinge 
umgekehrt Hegen, könnte es entsprechend ausnahmsweise Frauen mit nur 
einem X-Chromosom geben; und bei solchen würde eine rezessive ge- 
schlechtsgebundene Erbanlage ohne weiteres in die Erscheinung treten. 

c) Erbliche Ohrenleiden. 

Über die erblichen Ohrenleiden liegt eine wertvolle zu- 
sammenfassende Arbeit von Albrecht 1 ) vor. 

Die Erblichkeit der Taubstummheit hat seit langer 
Zeit das Interesse der Forscher auf sich gezogen. A. G.Bell 3 ), 
der Erfinder des Fernsprechers, hati. J. 1883 über Taubstumm- 
heit als Familieneigentümlichkeit berichtet. Er hat auch bereits 
richtig erkannt, daß die Erbanlagen zu Taubstummheit von an- 
dern Rassenanlagen nicht wesensverschieden sind. Auf den von 
Bell geschaffenen Grundlagen weiterbauend, hat der Sprach- 
forscher E. A. Fay 3 } ein riesiges Material über 4471 Ehen von 
Taubstummen gesammelt, das hauptsächlich auf dem Wege 
schriftlicher Umfragen gewonnen wurde. Wenn auch dieses 
Material großenteils natürlich wenig zuverlässig war, so konnte 
doch der schwedische Rassenbiologe H. Lundborg 4 ) durch 
kritische Sichtung und Verarbeitung der von Bell und Fay 
gesammelten Sippentafeln in hohem Grade wahrscheinlich ma- 

*) Albrecht, VV. Über Konstitutionsproblcme in der Pathogenese 
der FI als-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Zeitschr. f. Ilals-, Nasen- und 
Ohrenheilkunde. Bd. 29, H. 1, 1931. 

2 ) Bell, A. G. lipon the formation of a deaf variety of the human 
race. Memoirs of the National Academy of Sciences. Washington 1883. 

a ) Fay, E. A. Marriages of the deaf in America. Washington 1898. 

4 ) Lundborg, H. Über die Erblichkeitsverhältnisse der konstitu- 
tioneilen (hereditären) Taubstummheit. ARGB. Bd. 9. H. 2 (1912). 



366 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



cheix, daß die erbliche Taubstummheit sich einfach rezessiv ver- 
hält. Im Jahre 1923 hat dann der Tübinger Professor der 
Ohrenheilkunde W. Alb recht 1 ) ein Material von 15 Sippen- 
tafeln vorgelegt, das wirklich fachmännisch untersucht ist und 
das den einfach rezessiven Erbgang der Taubstummheit be- 
stätigt. 

Aber nicht alle Fälle von Taubstummheit haben ihre ent- 
scheidende Ursache in krankhaften Erbanlagen. Taubstumm- 
heit kann auch die Folge von Infektionskrankheiten, z. B. Menin- 
gitis (Genickstarre) und Scharlach, sein, die im frühen Kindes- 
altcrdas innere Ohr befallen und zerstören können. Angeborene 
Taubstummheit ist nicht selten durch Syphilis verursacht. Ver- 
hältnismäßig häufig kommt Taubstummheit auch zusammen 
mit Kretinismus in Kropfgegenden aus bisher nicht bekannten 
Ursachen vor. 

Anatomisch liegt der erblichen Taubstummheit ein Man- 
gel des Hörnerven und seiner Kerne im Gehirn zugrunde. Das 
Labyrinth, das bei der noch zu besprechenden Innenohrschwer- 
hörigkeit mißbildet ist, zeigt bei der gewöhnlichen Taubstumm- 
heit keine Mißbildung. 

Im Deutschen Reich wurden i. J. 1900 gegen 50000 Taub- 
stumme gezählt, bei der Reichsgebrechlichenzählung vom Jahre 
1925 rund 45000 Taubstumme und Ertaubte. Auf 1000 Ein- 
wohner kamen im Durchschnitt 6 bis 7 Taubstumme. Nach der 
Statistik der Taubstummenanstalten 1902— 1905 war das Leiden 
in rund der Hälfte der Fälle angeboren 2 ). Unter diesen ange- 
borenen Fällen dürften nur wenige nichterbliche sein. Anderer- 
seits dürften auch von den als .„erworben" angesehenen Fällen 
manche in Wahrheit erbbedingt sein. Man darf daher wohl 
schätzen, daß die Llälfte der 45 000 Taubstummen ihr Gebre- 
chen krankhaften Erbanlagen verdankt. Das macht für das 
Reich mindestens 20000 Fälle. 

Die Arbeit von Dahlberg 3 ), der sich zu zeigen bemüht hat, daß 
sein früherer Lehrer Lundborg mit der Annahme des einfach rezessiven 
Erbganges der Taubstummheit im Unrecht sei, daß diese vielmehr durch 
„mindestens drei dominante" Faktoren bedingt sei, ist methodologisch 



*-) A 1 b r e c h t , W. Über die Vererbung der konsliaiÜQncll spora- 
dischen Taubstummheit, der hereditären Labyrinthschwerhörigkeit und der 
Otosklerosc. Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. 110. H. 1 (1923). 

2 ) v. Verschucr, O. Vom Umfang der erblichen Belastung im 
deutschen Volke. ARGB. Bd. 24. S. 238. 

3 ) Dahlberg, G. Eine statistische Untersuchung über die Vererbung 
der Taubstummheit. Ztschr. f. KonsUtutionslehrc. Bd. 15, S. 492. 1930. 



OH REN LEI DEN. 



367 



9 



cf 



9 



^ $ $ •* 9 



cf cf 
cf 5 



o» 2 



Cf 



cf 



cf 



er 



unklar. Im Widerspruch zu seiner eigenen These nimmt Dahlberg übrigens 
in derselben Arbeit an, „daß die Taubstummheit durch mehrere allclomorphe 
Anlagen bedingt sei". Er verwechselt also Polymerie und multiple All'elie. 

Fig. 98 zeigt eine Sippentafel nach Alb recht, die den 
rezessiven Erbgang der Taubstummheit veranschaulicht. Zwei 
von den drei Geschwisterreihen, in denen Taubstummheit vor- 
kam, sind aus Verwandtenehen hervorgegangen. Im ganzen 
finden sich in den Sip- 
pentafeln Alb rechts 30 cf 7 Q 
Geschwisterreihen mit min- I | i 
des tens einem taubstum- 
men Kind. Davon waren 
10 (= ca. 33°/ö) aus Ver- 
wandtenehen hervorgegan- 
gen, aus Vetternehen ersten 
Grades 5 (= ca. i7°/o). 
Wenn man alle Linien be- 
liebig weit zurückverfolgen 
könnte, so würde sich die 
Zahl der Verwandtenehen 
vermutlich noch vermehren. 
Mygind 1 ) fand, daß 90/0 
der Taubstummenund 230/0 
der taubstumm Geborenen 
aus Verwandteliehen hervorgegangen waren; S chÖnlank 2 ) 
fand 20/0 Verwandtenehen; FI am m e r s c li 1 a g 3 ) fand ca. 
70/0 bei allen Taubstummen und 30 bis 400/0 bei den Taubge- 
borenen. Da sonst nur ca. 1 o/ jener Generation aus näheren 
Verwandtenehcn stammen, ist diese Häufung der Verwand ten- 
chen unter den Eltern der Taubstummen ein weiterer Beleg 
für den rezessiven Erbgang. 

Wenn zwei Personen mit derselben Art erblicher Taub- 
stummheit einander heiraten, so ist gemäß der Theorie des re- 
zessiven Erbgangs zu erwarten, daß alle aus einer solchen Ehe 
hervorgehenden Kinder taubstumm sind. Unter den Sippen- 
tafeln Alb rechts findet sich ein solcher Fall, der hier wie- 
dergegeben sein möge : 

*) Mygind, IL Die angeborene Taubheit. Berlin 1890. Hirschwald. 

2 ) Schönlank, Ergebnisse einer zweiten Untersuchungsreihe von 
Taubstummen in Zürich. Schweizer Rundschau für Medizin 1920. 

3 ) H a m m c r 5 c h 1 a g , V. Über die Beziehungen zwischen hereditär- 
degenerativer Taubstummheit und der Konsanguinität der Erzeuger. Zeit- 
schrift für Ohrenheilkunde. Jg. 47 (1904). 



Fig. 98. 

Taubstummheit nach Albrecht. 

Im ersten Lebensjahr verstorbene Kinder 

sind weggelassen. 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



Hier sind alle 3 Kinder ans der Ehe zweier Taubstummen wieder taub- 
stumm. Im linken Teil der Sippen tafcl dagegen sehen wir zwei normal'hö- 
rende Töchter aus der Ehe zweier taubstummer Eltern hervorgehen; das er- 
klärt sich daraus, daß in diesem Falle die Mutter infolge Scharlach, also einer 
äußeren Ursache, taubstumm geworden ist, und eine solche erworbene Taub- 
stummheit ist natürlich nicht erblich. Auch in dem Material F a y s finden 
sich Familien, in denen Taubstummheit in Reinzucht auftritt. Zwei solcher 
SippentafeJ.11 sind in Fig. 100 und 101 wiedergegeben. In Fig. 100 findet 
sich eine Familie, wo beide Eltern taubstumm, alle 4 Kinder aber hörend 
sind. In diesem Falle wa t r der Vater infolge fieberhafter Krankheit ertaubt. 

Auch Orth v ) hat über 

0*0 C? Q 



9 



9 



o* 



Fig. 99. 
Taubstummheit nach A 1 b r e c h t. 



!X 



f 9 



OOO 



zwei Familien berichtet, in denen 
beide Eltern und sämtliche Kin- 
der (je 5) taubstumm waren. 

Von der genannten Regel 
macht eine von Mü hl mann 2 ) 
mitgeteilte Sippe eine Ausnah- 
me insofern, als darin aus der 
Ehe zweier Taubstummer zwei 
normale Söhne stammen. Sowohl 
der Vater als die Mutter sind 
aus einer Verwandtenelic liervor- 
gegangen, und beide haben noch 
je ein taubstummes Geschwi- 
ster; für äußere Ursachen der 
bei beiden Eltern angeborenen 
Taubstummheit liegen keine An- 
-, haltspunkte vor. Diese ist da- 
O her mit größter Wahrscheinlich- 
keit als erbbedingt anzusehen. 
Wenn gleichwohl die beiden aus 
der Ehe hervorgegangenen Söhne 



Fig. 100. 
Taubstummki t. Nach F a y. 
X == angeblich im 2. Jahr infolge Masern normal hören, so muß man wohl 
ertaubt, annehmen, daß es sich bei den 

J- = im 2. Jahr infolge fieberhafter Eltern um zwei verschiedene 
Krankheit ertaubt. Erbanlagen rezessiver Taub- 

stummheit handelt, die einander 
nicht allel sind, so daß die beiden Anlagen bei den Söhnen in heterozygotem 
Zustand von den entsprechenden normalen Anlagen überdeckt werden kön- 
nen. Der Fall ist also wie die von Bateson und Punnct mitgeteilte 
Kreuzung zweier verschiedener albinotischer Hühnerrassen aufzufassen, die 
in F L lauter farbige Nachkommen ergibt (vgl. S. 331). 

Mit dem rezessiven Erbgang der Taubstummheit hängt es zusammen, 
daß sie relativ häufig in Inzuclitgebicten, isolierten Tälern usw. auftritt, 
worauf besonders Hanhart 3 ) hingewiesen hat. Vorher hatte sclion Al- 

*) Orth, Ii. Zum Erbgang der konstitutionellen Taubstummheit. 
Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde. Bd. in. S. S4. 1923. 

H ) Mühlmann, W. E. Ein ungewöhnlicher Stammbaum über Taub- 
stummheit. ARGB. Bd. 22. S. 181. 1930. 

3 ) II a n h a r t , E. Über die Bedeutung der Erforschung von In- 
zuchtsgebieten. Schweizerische Mediz. Wochenschr. 1924. Nr. 50. 



OHRENLEIDEN. 



369 



brecht bemerkt, daß die Taubstummheit in Württemberg sieh haupt- 
sächlich in umschriebenen Bezirken finde, in denen Verwandtenehen beson- 
ders häufig seien, z. B. in katholischen Enklaven, die rings von evange- 
lischer Bevölkerung umgeben sind. F in kb einer 1 ) konnte auf Grund 
der Volkszählung von 1870 zeigen, daß in der Schweiz in Orten mit 
weniger als 100 Einwohnern 9,2°/ 00 Taubstumme sich fanden, in Orten mit 
100 bis 200 Einwohnern 5,7 u /on> in Orten von 200 bis 300 4,1;, in Orten 
über 300 3,4 / 00 . In Nordostdeutschland, zumal in Ostpreußen, ist die rela- 
tive Häufigkeit der Taubstummheit fast doppelt so groß wie im Reichs- 
. durchschnitt, was sich daraus erklärt, daß in jenen Gebieten die Bevölke- 
rung zu einem überdurchschnittlich großen Teil in Ideinen Orten lebt. 
Ii an ha r t fand in Ayent, einem kleinen Ort des Kantons Wallis, unter 2100 
Einwohnern 42 Taubstumme, das sind 2%. Er konnte den einfach rezessi- 
ven Erbgang durch mehrere große Sippentafeln bestätigen. 

Die Abnahme der Häufigkeit der Taubstummheit in den letzten Jahr- 
zehnten {y,2, auf 10000 im Jahre 1925 gegenüber 8,4 im Jahre 1900) erklärt 
sich aus der Abnalimc der Verwandtenehen. Ob daneben auch die äußeren 
Ursachen der Taubstummheit abgenommen haben, ist mir zweifelhaft. 

Die Häufigkeit rezessiver Erbanlagen zu Taubstummheit bezogen auf 
die allelen normalen Erbanlagen schätze ich auf ungefähr 1:60; demnach 
würde rund jeder 30. Mensch Träger einer verdeckten Erbanlage zu Taub- 
stummheit sein. Wenn alle Erbanlagen zu Taubstummheit einander allel 
wären, würde das bei rein zufälliger Paarung eine Häufigkeit der erblichen 
Taubstummheit von rund 1:3600 erwarten lassen. Wenn die Häufigkeit 
tatsächlich doch etwas größer sein sollte (vielleicht 1:3000), so dürfte 
das durch Verwandten eben bedingt sein. 




Fig. 101. 
Taubstummki t. Nach F a y. ? = nicht sicher bekannt, ob taub. 



Wegen der größeren Häufigkeit der Verwandtenehen unter den Ju- 
den ist auch die Taubstummheit in der jüdischen Bevölkerung häufiger 
als in der nichtjüdischen. Im Jahre 1925 kamen auf 10 000 Juden 8,3 
Taubstumme, auf 10 000 Katholiken 5,8 und auf 10 000 Evangelische 5,4 3 ). 
Da nicht anzunehmen ist, daß Taubstummheit infolge äußerer Krankheit bei 
den Juden häufiger sei als bei den NichtJuden, bleibt nur übrig, daß 
der weitaus größte Teil der Taubstummheit bei den Juden erblicher 

1 ) F in k b ein er , E. Die kreünische Entartung. Berlin 1923. 
Springer. 

2 ) Nach v, Vcrschuer a. a. O. 

Baur-Fisclier-Lenzl. ?4 



370 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Natur ist. Da zur Erklärung dieser Häufung aber die größere Häufig- 
keit der Verwandtenehen genügt, besteht kein Grund, eine besondere „Ras- 
sendisposition" dafür anzunehmen. 

Ein erheblicher Teil aller Taubstummen ist gleichzeitig schwachsinnig'). 
Auch Blindheit wird bei Taubstummen und unter Geschwistern von Taub- 
stummen mehrfach häufiger angetroffen als sonst, zumal in der Form der 
Netzhautverödung (Retinitis pigmentosa). Albrecht hat die Ansicht aus- 
gesprochen, daß dieses Zusammentreffen auf die Verwandtenehe zurück- 
zuführen sei, durch die nicht nur die Anlagen zu Taubstummheit, sondern 
auch die zu andern rezessiven Erbleiden manifest gemacht werden können. 
Diese Erklärung dürfte mindestens für einen großen Teil der Fälle zu- 
treffen. Ob es außerdem auch gewisse Erbanlagen gebe, die zugleich Taub- 
stummheit und Netzhautverödung bedingen, ist einstweilen nicht sicher be- 
kannt; möglich ist es immerhin. 

Die erbliche I n n e n o h r s c li w e r h Ö r i g k e i t oder L a - 
byrinth Schwerhörigkeit entwickelt sich auf dem B öden 
einer Mißbildung des inneren Ohrs. Das Leiden macht sich 
meist erst vom 40. Lebensjahr ab störend bemerkbar; das 
Gehör pflegt dann in einigen Fällen rasch, in anderen langsamer 
abzunehmen. Schließlich kann es zu völliger Taubheit kom- 
men. Alb recht hat 10 Sip- 
u ™ pentafeln mitgeteilt, die für 

, i ...., ' dominanten Erbgang spre- 

chen. Da anatomisch zwei 
verschiedene Formen vonMiß- 
biklung des inneren Ohres 
beobachtet worden sind, gibt 
es vielleicht mehrere Bio- 
typen erblicher Innenohr- 
schwerhörigkeit. Im gleichen 
Sinne spricht die Erfahrung, 
daß es sehr verschieden 
schwere Grade des Leidens 
gibt. In einer schweren Form kann es als „angeborene" oder 
in frühem Kindesalter „erworbene" Taubstummheit in die Er- 
scheinung treten und äußerlich von der rezessiven Taubstumm- 
heit schwer oder gar nicht zu unterscheiden sein. Wie die do- 
minante Anlage zu Innenohrschwerhörigkeit sich homozygot 
äußert, ist unbekannt. 



O 



j* 



T- 1 



d* 



<aT 



o 



Fig. 102. 



O* 



1 n 11 e n o h r s c h w e r h ö r i g k c i t. 
Nach Albrecht. 



1 ) Ich hatte in der vorigen Auflage, landläufigen Angaben folgend, 
300/0 geschätzt. Herr Prof. S c h m i d t - K e h 1 , Würzburg, hat mich in- 
dessen darauf aufmerksam gemacht, daß diese Zahl nur dann zutreffen 
könnte, wenn man die Kretinen einrechnet. Von den sonstigen Taubstummen 
ist wohl ein wesentlich kleinerer Teil schwachsinnig. 



OH REN LEIDEN. 



371 



Übrigens kann der Hörnerv auch durch äußere Einflüsse geschädigt 
werden, z ; B. durch Syphilis, Scharlach, Grippe, durch Arteriosklerose, so- 
dann durch Gifte (Chinin), schließlich auch durch dauernde Einwirkung 
lauter Geräusche. Da aber lange nicht alle Kesselschmiede oder Artilleristen 
schwerhörig werden, so spielt auch dabei anscheinend eine erbliche Anfäl- 
ligkeit mit. Auch die sogenannte Altersschwerhörigkeit scheint 
familiär aufzutreten und durch die erbliche Veranlagung wesentlich mitbe- 
dingt zu werden. Es handelt sich anscheinend' um eine spät einsetzende Form 
der Labyrinthschwerhörigkeit. 

Von der Innenohr Schwerhörigkeit verschieden ist eine an- 
dere Form zunehmender Schwerhörigkeit, die Otosklerose. 
Diese beginnt gewöhnlich schon im Entwicklungsalter; das 
Gehör nimmt langsam ab, bis schließlich nur noch geringe 
Reste erhalten bleiben; zu völliger Taubheit pflegt es bei Oto- 
sklerose nicht zu kommen. Sehr lästig ist das regelmäßig auf- 
tretende Ohrensausen. Anatomisch finden sich gewisse Ver- 
änderungen in den Knochenwänden des inneren Ohres. Physio- 
logisch handelt es sich um eine Störung des Kalkstoffwechsels ; 
demgemäß pflegt bei otosklerotischen Frauen das Leiden durch 
Schwangerschaft verschlimmert zu werden. Auf die besondere 
Geschlechtskonstitution der Frau ist vermutlich auch das häu- 
figere Befallensein des weiblichen Geschlechts zurückzuführen. 
Davenport 1 ) fand fast doppelt so viele otosklcrotische Frauen 
als Männer. In einigen Sippen wurde dominanter Erbgang der 
Otosklerose beobachtet. Eine solche Sippentafel zeigt Fig. 103. 
Eine Sippentafel von Haike 2 ) zeigt unregelmäßig dominan- 
ten Erbgang. Man kann sich die Sachlage so vorstellen, daß 
die Knochenveränderungen sich nicht immer an Stellen ent- 
wickeln, wo sie das Gehör stören. Otosklerose kommt auch als 
Begleiterscheinung der noch zu besprechenden dominant erb- 
lichen Knochenbrüchigkeit vor. Im übrigen beruhen sicher 
nicht alle Fälle von Otosklerose auf dominanten Erbanlagen. 
Nur in einem Drittel bis der Hälfte der Fälle haben Otosklero- 
tiker schwerhörige Verwandte. Haike hat mehrere Sippen- 
tafeln von Otosklerose mitgeteilt, die anscheinend rezessiven 
Erbgang zeigen. 

Von Interesse ist die verschiedene geographische Verteilung der erb- 
lichen Ertaubungen. Während Albrecht in der Tübinger Gegend haupt- 
sächlich dominante Labyrinthschwerhörigkeit fand und daneben wesentlich 
seltener dominante Otosklerose, war in Haikes Berliner Material rezessive 



•933- 



1928. 



1 ) Davenport, C. B. The genetic factor in otosclerosis. Chicago 

2 ) Haike. Zum Erbgang der Otosklerose. ARGE. Bd. 20. S. [55. 



24* 



372 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

Otosklerose relativ am häufigsten. Nach Davenport sind rund 0,2% der 
weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten otosklerotisch. 

J. Bauer und C. Stein 1 ) haben dafür plädiert, daß Taubstumm- 
heit, labyrinthäre Schwerhörigkeit und Otosklerose durch dieselben Erban- 
lagen bedingt seien; doch leidet ihre Publikation an unzulänglicher Metho- 
dik. Die biologische Verschiedenheit dieser drei Leiden ist völlig sicher- 
gestellt. Daran ändern auch die wortreichen Publikationen von Ham- 
merschlag nichts. Dieser wirft alle die verschiedenen erblichen Ohren- 
leiden in einen Topf, den er „Heredodegeneratio acustica" nennt, die durch 
einen einzigen Erbfaktor bedingt sein soll. Entsprechend sollen alle erblichen 
Augenleiden als „Heredodcgeneratio optica" einheitlich erbbedingt sein; 
und schließlich endet er bei einer allgemeinen ,,Heredodegeneratio acustico- 
optico-cerebro-spinalis". Diese Konfusion sei als warnendes Beispiel er- 
wähnt, weil auch einige andere Autoren gern von allgemeinen erbbedingten 
„Organminderwcrtigkeiten" reden. 

Eine weitere wichtige Ursache von Schwerhörigkeit ist die 
Mitteloh reite rung (Otitis media); die in einem Teil der 
Fälle zur Zerstörung des Schalleitungsapparates im mittleren 

Ohr und damit zu Schwerhörig- 
keit führt. Auch sie tritt ganz 

i 1 1 i f ausgesprochen familiär auf, und 

Cf f f w* (j> Cf zwar im Anschluß an die ver- 
L - r— ' '— y— i schiedensten Infektionen, wie 

@ Cr 3 ' © Cf #^ Cf Masern, Scharlach, Angina, ein- 
fachen Schnupfen, Eine Anzahl 



Cf 



Fig. 103. 
Otosklerose nach A 1 b r e c h t. 



derartiger Sippen, in denen die 
erbliche Anfälligkeit für die 
Entstehung der Taubheit offen- 
bar bedeutungsvoller als die Infektion ist, der die Disponierten 
doch über kurz oder lang zu verfallen pflegen, haben Stein 3 ) 
und Abrecht 3 ) beschrieben. Es bestehen Beziehungen zur 
lymphatischen bzw. adenoiden Diathese {vgl. S. 431 f). Durch 
Entfernung der Mandeln kann weiteren Mittelohreiterungen 
meist vorgebeugt werden. 

Wöitz 4 ) fand bei seinen Zvvillingsstudicn 3 Paare eineiiger Zwil- 
linge, die übereinstimmend an Ohreiterung litten. Zwei Zwillingsschwestern 

J ) Bauer, J. und Stein, C. Vererbung und Konstitution bei Ohren- 
krankheiten. Zeitschrift für Konsuln tionslehrc. Bd. 10. H. 5, 1925. 

Bauer, }. und Stein, C. Konstitutionspathologic in der Ohren- 
heilkunde. Berlin 1926. Springer. 

2 ) Stein, C. Gehörorgan und Konstitution. Zcitschr. für Ohrenheil- 
kunde. Bd. 76. 1917. 

3 ) Abrecht, W. Über Konsütutionsproblcme usw. a. a. O. 

4 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Zcitschr. f. klinische 
Medizin. Bd. 101. Ii. 1/2. 1924. 



HAUTLEIDEN. 



373 



hatten im frühen Kindesalter zu gleicher Zeit Ohrenlaufen und beide beka- 
men mit 8 ] /b Jahren zum zweiten Mal gleichzeitig eine Mittelohreiterung 
im Anschluß an Scharlach. Gleichartige Beobachtungen an zwei Zwillings- 
paaren haben auch Paulsen 1 ) und Abrecht mitgeteilt. 

d) Erbliche Hautleiden. 

Über die erblichen Hautleiden liegt ein zusammenfassen- 
des Buch von Cockayne 2 ) vor. Die Haut ist das übersicht- 
lichste aller Organe. Ungewöhnliche Merkmale der Haut sind 
viel leichter festzustellen als solche an inneren Organen. Dem- 
gemäß ist über erbliche Hautleiden verhältnismäßig viel be- 
kannt. Auch manche Allgemeinleiden, z. B. gewisse Stoff wech- 
selstörungen, sind besonders leicht an ihren Äußerungen an 
der Haut zu erkennen. 

Der allgemeine A 1 b i 11 i s m u s wurde bereits in dem Kapi- 
tel über Augenleiden besprochen (S. 32g ff.). 

Der in der Form der Weißscheckung auftretende 
fleckweise Albinismus, welcher von allen Haustierarten, beson- 
ders den Rindern, bekannt ist, kommt auch beim Menschen 
nicht ganz selten vor. Besonders auffällig sind Schecken (eng- 
lisch: piebalds) in dunkelhäutigen Rassen. Ebenso wie bei den 
Haustieren — bei der ostfriesischen Rinderrasse wird sie als 
Rassenmerkmal gezüchtet — verhält sich auch beim Menschen 
Scheckung dominant. Es sind ziemlich viele Sippen tafeln be- 
kannt geworden 3 ). In verschiedenen Sippen kommen Schek- 
kungsanlagcn von recht verschiedener Art vor; in einigen fin- 
det sich nur ein Büschel weißer Haare an der Stirn („Blässe"). 
Während die Gesamtausdehnung und die Verteilung der wei- 
ßen Schecken in derselben Familie ziemlich übereinstimmen, 
pflegen Größe, Gestalt und Sitz der einzelnen Schecken Unter- 
schiede aufzuweisen. 

Die Weißscheckung scheint dadurch zustandezukommen, daß bei der 
Pigmcntbildung ein Enzym mitwirkt, das auf einem frühen Stadium der 
Entwicklung gewissermaßen „ausgegossen" wird. Wenn dieses Enzym in zu 
geringer Menge vorhanden ist, bleiben einzelne Bezirke pigmentlos. Man 
kann den Vorgang der Pigmententwicklung mit der Ausfärbung der Roß- 
kastanien vergleichen; diese sind bekanntlich zuerst weiß; dann treten scharf 



') Paulsen, J. Beobachtungen an eineiigen Zwillingen. ARGE. 
Bd. 17, K. 2. 1925. 

2 ) Cockayne, E. A. Inherited abnormalities o£ the skin and its 
appendages. London 1933. H. Milford. 394 S. 

3 ) Pcarson, IC, Nettleship, E. und Usher, C. H. a. a. O. 
(vgl. S. 329). 



374 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

umschriebene glänzend rotbraune Flecke auf, die unter Verschiebung ihrer 
Ränder wachsen und allmählich sich über die ganze Oberfläche ausdehnen. 
Wenn dieser Vorgang infolge Enzymmangels nicht zu Ende geführt würde, 
so würden weiße Stellen übrig bleiben. Ganz analog kommt anscheinend die 
Weißscheckung auch bei Flaustieren und Menschen zustande. Wenn das 
zur Ausdehnung der Pigmentierung über die ganze Haut notwendige Enzym 
auf Grund einer Schwäche bestimmter Erbanlagen in ungenügender Menge 
gebildet wird, so ist Weißscheckung die Folge. So erklärt es sich auch, daß 
Weißscheckung in der Regel asymmetrisch auftritt; doch hält sich die Asym- 
metrie meist in mäßigen Grenzen. 

Meirowsky 1 ) hat die Scheckung in Analogie zu den sog. 
Muttermälern gesetzt. Als Naevi oder Muttermäler be- 
zeichnet man eingesprengte Inseln abnormer Organelemente in 
der Haut. In der Regel sind sie dunkler pigmentiert und öfter 
stark behaart. Kleine, etwas erhabene braune Naevi, im ge- 
wöhnlichen Leben meist als Leberflecke bezeichnet, sind 
derart häufig, daß praktisch jeder erwachsene Mensch in ge- 
ringerem oder höherem Grade damit behaftet ist; bei der Ge- 
burt sind sie meist noch nicht vorhanden; sie entwickeln sich 
vielmehr erst während des Heranwachsens. Siemens 2 ) hat 
als Grad der Übereinstimmung eineiiger Zwillinge in bezug auf 
die Zahl ihrer Naevi auf Grund von Untersuchungen an 45 
Paaren einen Korrelationskoeffizienten 3 ) von 0,8 gefunden, an 
23 zweieiigen Zwillingspaaren 0,4. Meirowsky 4 ) hat die 
Naevuszahlen von 300 Zwillingspaaren festgestellt; unter Aus- 
schabung des störenden Einflusses des Alters habe ich daraus 
für die eineiigen Zwillinge eine Korrelation von 0,78 und für 
die zweieiigen von 0,31 berechnet. Derartige Korrelationen und 
ihr Unterschied sprechen dafür, daß die Entstehung der Pig- 
mentnaevi wesentlich erbbedingt ist. Auch die Unterschiede 
eineiiger Zwillinge hinsichtlich ihrer Naevi sind nicht durch 
Umwelteinflüsse im gewöhnlichen Sinne verursacht. Es scheint 
sich vielmehr um wechselnde Äußerungen entwicklungslabiler 
Erbanlagen zu handeln (vgl. S. 390). 

Noch entscheidender ist die Erbmasse für die Entstehung 
des im Nacken lokalisierten Feuermals, des sog. NaevusUnna; 
bei den übrigen Feuermälern ist das weniger ausgespro- 
chen der Fall. Feuermäler oder Angiome beruhen auf 

*) Meiro w s k y , E. Üher die Entstehung der sog. kongenitalen Miß- 
bildungen der Haut. Wien und Leipzig 191g. 

3 ) Siemens, H. W. Über die Bedeutung der Erbanlagen für die 
Entstehung' der Muttermäler. Archiv f. Dermatologie. Bd. 147. H. 1. 1924. 

3 ) S. Abschnitt über Methoden. 

4 ) Meirowsky, E. Zwillingsbiologischc Untersuchungen. ARGB. 
Bd. 18. 3. 1926. 



HAUTLEIDEN. 



375 



einer übermäßigen Bildung von Blutgefäßen an verschiedenen 
Stellen der Flaut von oft handtellergroßer Ausdehnung und 
darüber; sie können eine schwere Entstellung mit sich bringen. 

Teleangiektasien, Erweiterungen kleiner Blutgefäße der 
Haut an umschriebenen Steilen, die auf lokalem Mangel an 
Muskelfasern und elastischen Fasern in den Wänden der Blut- 
gefäße beruhen, kommen als dominante Anomalie vor. Erbli- 
ches anfallsweises Nasenbluten beruht meist auf Teleangi- 
ektasien der Nasenschleimhaut. Durch Teleangiektasien in der 
Blase oder in den Nieren kann anfallsweise Blutharnen be- 
dingt sein. Die sog. Osler sehe Krankheit, die durch 
multiple Teleangiektasien gekennzeichnet ist, vererbt sich ein- 
fach dominant. 

Durch vielfache Naevusbildungen von den Hautnerven aus 
ist die Neurofibromatose (Recklinghausensche Krank- 
heit) gekennzeichnet. Von diesem Leiden sind einige Sippen- 
tafeln 1 ) bekannt geworden, die dominanten Erbgang mit Un- 
terbrechungen (unregelmäßige Dominanz) zeigen. Die zugrun- 
deliegende Erbanlage scheint gelegentlich nur abnorme Pig- 
mentflecke zu bedingen. In einem erheblichen Teil der Fälle 
gehen die Träger von Neurofibromatose an bösartigen Ge- 
schwülsten zugrunde, die sich aus den Naevi bzw. Fibromen ent- 
wickeln. Von Neurofibromatose kommen auch öfter Fälle vor, 
die in ihrer Sippe die einzigen sind. Vermutlich handelt es sich 
da meist um neue Mutationen. 

Bei der tuberösen Sklerose (Epiloia) entwickeln sich neben 
knotigen Geschwülsten im Zentralnervensystem meist auch nävusartige Miß- 
bildungen an Hals und Gesicht (Adenoma sebaceum) und öfter auch Ge- 
schwülste in Nieren und Herz. Bei verschiedenen Mitgliedern derselben 
Familie kann dieselbe Erbanlage zu Geschwülsten an einem oder meh- 
reren dieser Organe führen. Nach Cockaynes Ansicht ist die Anlage 
zu Epiloia dominant. 

Die Anlage zu Sommersprossen (Epheliden) ist nach 
H a m m e r 2 ) und Meirowsky dominant. Eineiige Zwillinge 
gleichen sich in Bezug auf ihre Sommersprossen so gut wie völ- 
lig; die Beobachtungen an zweieiigen Zwillingen sprechen nach 
Siemens 3 ) jedoch dafür, daß außer einer dominanten Grund- 
anlage noch andere Erbeinheiten an der Ausprägung derSom- 



*) Preiser, S. A., und Davenport, C. B. Multiple Neurofibro- 
matosis etc. Eugenics Record Office Bulletin Nr. ig. igi8. 

s ) I-I a m m e r. Über die Mendelsche Vererbung beim Menschen. Me- 
dizinische Klinik 1912. 

3 ) Siemens, H. W. Die Zwillingspathologie. Berlin 1924. 



376 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



mersp rossen mitwirken. Es besteht eine Korrelation mit sog. 
roter (genauer rotgelber) Haarfarbe. Durch dunkle Pigmen- 
tierimg scheint die Anlage zu Sommersprossen epistatisch über- 
deckt zu werden. 

Das Xeroderma pigmentosum ist ein seltenes bös- 
artiges Hautleiden, das wegen seiner Beziehung zur Krebsent- 
stehung von großem theoretischen Interesse ist. Die dazu ver- 
anlagten Kinder werden mit scheinbar normaler Haut gebo- 
ren; unter der Einwirkung des Lichtes treten aber gewöhnlich 
schon in den ersten Lebensjahren Entzündungen an den freige- 
tragenen Hautstellen (Gesicht, Händen) auf; es entstehen 
leberfleckähnliche Pigmentierungen und in der Folge narbige 
weißliche Stellen, und über kurz oder lang pflegt sich Krebs 
daraus zu entwickeln, so daß die befallenen Personen meist 
schon im ersten und zweiten Jahrzehnt daran zugrunde gehen 
und nur ausnahmsweise das 40. Lebensjahr erreichen. Sie- 
mens und Kohn 1 ) konnten 333 Fälle zusammenstellen, die 
sich über 222 Familien verteilten. Die Eltern der Erkrankten 
sind regelmäßig frei von dem Leiden, was auch nicht anders 
zu erwarten ist, da die Kranken meist nicht das Alter der Fort- 
pflanzung erreichen. Dominanter Erbgang scheidet daher aus. 
Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß es sich bei den 
veröffentlichten Fällen um eine literarische Auslese handelt, 
fand Siemens unter den Geschwistern der Kranken ein 
vermutliches Zahlenverhältnis von ca. 1 Kranken auf 3,4 Ge- 
sunde, was mit dem bei rezessivem Erbgang zu erwartenden 
Verhältnis 1 : 3 innerhalb der Grenzen des Fehlers der klei- 
nen Zahl übereinstimmt. Blutsverwandtschaft der Eltern fand 
sich schätzungsweise in 250/0, Vetternehen ersten Grades in 
20%. Damit kann der einfach rezessive Erbgang als sicherge- 
stellt gelten. Heterozygote Träger der Anlage scheinen nach 
Siemens sommersprossenähnliche Flecke zu haben. 

Velhagc n g ) hat von einer Sippe berichtet, in der 3 Brüder mit 
3 Schwestern verheiratet waren. Aus zwei dieser Ehen gingen xeroderma- 
krankc Kinder hervor, in einer 3 unter 7, in der andern nur 2 kranke. Das 
Xcroderm ist in der jüdischen Bevölkerung häufiger als in der nicht] irdischen, 
was nach Siemens vielleicht einfach durch die größere Häufigkeit von 
Verwandtenehen bei den Juden bedingt ist. 



3 ) Sie m e 11 s , H. W., und Kohn, E. Xeroderma pigmentosum (Stu- 
dien über Vererbung 'von Hautkrankheiten IX.) Zeitschrift für induktive 
Abstammungs- und Vererbungslehre. Bd, 38. S. 1. 1925. 

2 ) V e 1 h a g e n , C. Beitrag zur Kenntnis des Xeroderma pigmentosum. 
Archiv für Augenheilkunde. 1933. 



HÄUTLEIDEN. 



377 



Das Hydroa vaccini forme bzw. Hydroa acstivale be- 
ruht auf einer Lichtempfindlichkeit anderer Art. Nach stärkerer Einwirkung 
von Sonnenlicht entstehen bei den Veranlagten blatternähnliche Blasen, die 
nach der Abheilung Narben hinterlassen können. Das Leiden wird über- 
wiegend bei männlichen Personen beobachtet. Es scheint auf einfach rezes- 
siver Erbanlage mit unvollständig gcschlechtsbegrenzter Äußerung zu be- 
ruhen. Anscheinend liegt dem Leiden eine Stoffwechselstörung, Porphyrin- 
urie, zugrunde; durch den Gehalt an Porphyrin werden die Gewebe gegen 
Sonnenlicht sensibilisiert. In verschiedenen Sippen scheinen Anlagen von 
verschiedener Schwere vorzukommen. 

Wie die Empfindlichkeit gegen Sonnenwirkung, so scheint auch die 
Anfälligkeit gegen Kälte erblich zu sein. Von sogenannten Frostbeulen 
(Perniones) werden nur gewisse Personen befallen, und die Einwirkung 
starken Frostes ist nicht notwendig zur Entstehung von Frostbeulen. 

Die Raynaud sehe Krankheit, bei der anscheinend infolge 
Störung der inneren Sekretion (Hypophyse?) unter Gefäßkrampf symme- 
trische Stellen der Plände oder Füße, Finger oder Zehen absterben können, 
kommt sippenweise gehäuft vor. Grotc beobachtete eine Kranke, deren 
Bruder, Mutter und eine Schwester der Mutter an einer schweren Form der 
Krankheit litten. 

Auf einer krankhaften Beschaffenheit der Gefäßnerven beruht das erb- 
liche chronische Ödem der Beine (auch als Trophödem, Elephan- 
tiasis oder Milroyschc Krankheit bezeichnet), von dem einige ziemlich große 
Sippen mit dominantem Erbgang bekannt geworden sind 1 ). Unter Entzün- 
dimgserscheinungen an den Gefäßnerven tritt eine langsam fortschreitende 
Anschwellung der Beine ein, die schließlich so stark werden kann, daß eine 
Fortbewegung nicht mehr möglich ist. 

Das Erythema exsudativum multiforme äußert sich in 
Anfällen von entzündlichen roten Flecken, besonders an den Streckseiten 
der Arme und Beine; der Ausschlag kann bis zur Blasenbildung gehen. 
Über den Erbgang ist nichts Genaueres bekannt. 

Vielleicht handelt es sich um eine allergische Diathese wie bei der 
Nesselsucht und dein Quinckeschen Ödem, die im Rahmen der 
Diathesen besprochen werden, ebenso die exsudative Diathese. 

Die Epidermolysis bullosa (nach Siemens tref- 
fender Bullosis) traumatica ist eine Anomalie der Flaut, 
bei der schon auf leichte Reize wie Druck, Stoß und beson- 
ders Reibung Blasen entstehen. Anatomisch scheint dem Lei- 
den ein Mangel an elastischen Fasern in der Haut zugrunde- 
zuliegen. Eine leichte Form des Leidens ist dominant erblich ; 
doch kommt ausnahmsweise Überspringen einer Generation 
vor. Gesundbleibende Träger der Anlage sind meist weib- 
lichen Geschlechts ; die Anlage ist aber nicht geschlechts- 
gebunden. 



1 ) Bulloch, W. Chronic hereditary trophoedema. The Treasury of 
Human Inheritance. Teil 1 und 2. London 1929. Cambridge University 
Press. 



378 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Von der dominant erblichen Epidermolyse ist, wie Sie- 
mens 1 ) gezeigt hat, eine rezessiv erbliche Epidermolysis 
dystrophica zu unterscheiden, die mit Narbenbildung und 
Verkümmerung der Nägel einhergeht. Eine besonders schwere, 
ebenfalls rezessive Form, die als Pemphigus heredita- 
rius bezeichnet wird, führt schon bald nach der Geburt zum 
Tode 2 ). Zwei schöne Sippentafeln hat Jenny 3 ) gegeben. 

Von Mondes da Costa 4 ) ist eine bullöse Dystrophie von rezessiv 
geschlechtsgebundenem Erbgang, die mit schweren Allgemeinstörungen ein- 
herging, in einer Sippe beobachtet worden. 

An derBullosisgruppe bestätigt sich die Regel, daß inner- 
halb eines klinischen Formenkreises die am schwersten krank- 
haften Formen rezessiv, die leichteren dominant erblich zu sein 
pflegen. Die Anlage zu der rezessiven Bullosis connata (Pem- 
phigus hereditarius) stellt geradezu einen „Letalfaktor" dar; 
bei dominantem Erbgang würde sie sich überhaupt nicht hal- 
ten können, sondern sogleich nach ihrer etwaigen Entstehung 
wieder ausgemerzt werden. Die einfache Bullosis dagegen ist 
zwar recht lästig; sie beeinträchtigt aber kaum die Fortpflan- 
zung und kann sich daher in dominantem Erbgang fortsetzen. 
Homozygot würde sie vermutlich ein schwereres Krankheitsbild 
bedingen. 

Ebenso wie gegen, mechanische Reize gibt es auch erbliche 
Anfälligkeiten der Haut gegen chemische. Wenn sich auf 
der Haut unter der Einwirkung chemischer Reize entzündliche 
Veränderungen herausbilden, die entweder mit Absonderung 
oder mit Borken- und Eiterbildung einhergehen, so spricht man 
von Ekzem. Verschiedene Personen erkranken unter gleichen 
äußeren Einflüssen sehr verschieden leicht an Ekzem. Bei man- 
chen bewirkt schon vorübergehende Berührung mit Teerölen 
Ekzembildung, während andere trotz langdauernder Einwirkung 
frei davon bleiben. Es gibt Ekzemfamilien, in denen gewisse 
Mitglieder immer wieder unter Ekzemen zu leiden haben, die 

1 ) Siemens, H. W". Literarisch-historische Untersuchungen über die 
einfache und die dystrophische Form der sog. Epidermolysis. Archiv für 
Dermatologie. Bd. 143. H. 3. 1923. 

2 ) Mautner. Über ein familiär auftretendes letales Krankheitsbild 
mit Blasenbildung (Pemphigus hereditarius). Monatsschrift für Kinderheil- 
kunde. Bd. 22. H. 1. 192t. 

3 ) Jenny, E. Über eine letal verlaufende Form von Epidermolysis 
bullosa hereditaria beim Säugling. Zeitschr. f. Kinderheilkunde, Bd. 43, 
S. 1/2, S. 138. 1927. 

4 ) Mendes da Costa und van der Valk. Typus maculatus der 
bullösen hereditären Dystrophie. Archiv f. Dermatologie, Bd. 91.H.3. 1908. 



HAUTLEIDEN. 



379 



oft auch ohne nachweisbare äußere Ursachen auftreten. Meist 
handelt es sich wohl um Äußerung einer allergischen Diathese 
(s. d.). Bei dem konstitutionellen Säuglingsekzem ist die erb- 
liche Veranlagung besonders deutlich, da im Säuglingsalter 
äußere Schädlichkeiten, die im späteren Leben zu Ekzem füh- 
ren, nur eine geringe Rolle spielen (vgl. exsudative Diathese). 

Bei der erblichen Keratosis (Keratoma, Tylosis) 
wird die Flaut der Fußsohlen und Handflächen bald nach der 
Geburt hornig und brüchig; nach außen ist das Gebiet der 
Verhornung durch einen blauroten Saum von der normalen 
Haut abgegrenzt. Es sind eine ziemlich große Anzahl von 
Sippen mit regelmäßig dominantem Erbgang des Leidens be- 
kannt geworden. 

Hanhart 1 ) hat eine Sippe beobachtet, in der dominante Keratose 
mit multiplen Fettgeschwülsten bei denselben Individuen vorkam; die Kera- 
tose trat mit ca.. 15 Jahren auf, die Lipomatose mit ca. 22. Vermutlich han- 
delte es sich um eine und dieselbe Erbanlage, die sich in zwei so verschiede- 
nen Merkmalen äußerte. Auf „Koppelung" dagegen kann man daraus nicht 
schließen. 

9 ■ f Q 



1 * — 1 1 — t 1 1-^ — 1 „ 

> <J O CT CT Cf § Cf 

Fig. 104. 
Keratosis nach T host (Ausschnitt) . 



Bei der erblichen Ichthyosis („Fischhäutigkeit") ist 
die Hautoberfläche mit mehr oder weniger derben Schuppen 
bzw. Hornplättchen bedeckt. Die Ichthyosis vulgaris 
scheint in der Regel auf dominanten Anlagen zu beruhen, 
die sich je nach der sonstigen Erbmasse bei verschiedenen Sip- 
penmitgliedern verschieden schwer äußern können und bei 
manchen Trägern sich überhaupt nicht bemerkbar zu machen 
brauchen. Außer der dominanten Ichthyosis gibt es auch eine 
rezessive geschlechtsgebundene, die sich jedoch klinisch von 
der dominanten nicht unterscheidet. Eine von Csörsz 2 ) be- 
schriebene Sippe ist besonders interessant, weil darin aus einer 

*) Sippentafel bei Cockayne. 

z ) Csörsz, K. Rezessiv geschlechtsgebundene Vererbung bei Ich- 
thyosis. Monat sschr. ungarischer Mediziner. 1928. H. 5—6. 



380 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Ehe zwischen einem kranken Mann und einer gesunden An- 
lageträgerin auch kranke Töchter hervorgegangen sind, wie es 
der Theorie entspricht (vgl. S. 362 f,). 

,j Einfach rezessiv erblich 

I + scheint die Ichthyosis fe- 

0*1 n talis (auch Ichthyosis 

i f congenita oder Kerato- 

sis universalis) zu sein. 
Die davon betroffenen, meist 
unreif geborenen Kinder, sind 
völlig mit Hornmassen be- 
deckt und nicht lebensfähig. 
Es handelt sich also um eine 
rezessive letale Erbanlage. 
Nach. Siemens stammen der- 



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•* Ö* 



Fig. 105. 

Ichthyosis vulgaris «nach Leven*). artige Mißgeburten zu minde- 
stens 12 0/0 aus Verwandten- 
ehen. In einem von Claus berichteten Falle hatte eine Frau 
zunächst von einem Manne fünf gesunde Kinder und dann von 
ihrem Halbbruder drei mit Ichthyosis fetalis behaftete. Lei- 
gg* p, der sind die isolierten 

1 



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9 



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Fälle dieses Leidens 
■ — und das sind die 
meisten — ungenügend 
erbbiologisch beschrie- 
ben, da die Autoren an 

Erbbedingtheit meist 
gar nicht gedacht ha- 
ben. Vielleicht würde 
auch die Anlage zu 
Ichthyosis vulgaris in 
homozygotem Zustand 
letal sein. 

Rezessiv erblich scheint auch die Erythrodermia i c h t h y s i- 
f ormis (Ichthyosis congenita, Ichthyosis serpentina) 
zu sein, die sich bei Neugeborenen nur in Rötung der Haut äußert und erst 
allmählich zur Bildung derber Hornplatten führt. 

Die D a r i e r s c h e Krankheit (Psorospcrmosis vegetans) geht mit 
der Bildung von weichen Hornknötchcn an den Gelcnkbcugen und andern 
Stellen einher, die bis zu umfangreichen, feuchten und stinkenden Wuche- 
rungen gehen können. Das seltene Leiden ist einfach dominant. 



Fig. 106. 
Ichthyosis vulgaris nach C s ö r s 2, 



1 ) Lcven, L. Sippenbaum einer Ichthyosisfamilie. Archiv für Derma- 
tologie. Bd. 139. S. 117. 1921. 



HÄUTLEIDEN. 



381 



Als Keratosis follicularis (auch „Liehen pilaris") 
wird eine häufige Anomalie bezeichnet, bei der an den Streck- 
seiten der Arme und Beine die Haarbälge verhornen, so daß 
die Haare nicht herauswachsen können und schließlich zu- 
grunde gehen. Die Anomalie pflegt ihren Höhepunkt in den 
Jahren der beginnenden Geschlechtsreife zu erreichen; zahl- 
reiche Knötchen bieten das Bild einer „Gänsehaut" ; später tre- 
ten kleine weißliche Narben an die Stelle der Hornknötchen. 
Für die Entstehung der Anomalie scheinen dominante Erbanla- 
gen von Bedeutung zu sein. Eineiige Zwillinge fand Siemens 
regelmäßig gleich behaftet. Es gibt aber auch schwerere For- 
men der Keratosis follicularis. In einer von Lameris 1 ) be- 
schriebenen Sippe führte die Verhornung der Haarbälge zu 
Kahlheit am Hinterkopf, zum Ausfall der Augenwimpern und 
Augenbrauen und zu Trübung der Hornhaut der Augen, Der 
Erbgang war rezessiv geschlechtsgebunden (Fig. 107). 



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Fig. 107. 

Keratosis follicularis spinulosa (,, Ichthyosis follicularis") 

nach Lameris. 

Siemens 2 ) hat eine Sippe mit einem gleichartigen Lei- 
den unter dem Namen Keratosis follicularis spinu- 
losa decalvans beschrieben, die von besonderem theore- 
tischen Interesse ist, weil hier auch 10 weibliche Personen das 
Leiden zeigten. Die befallenen Frauen blieben jedoch von der 
Entzündung der Augenlider und der Hornhauttrübung ver- 
schont. Die Anlage verhielt sich also unvollständig dominant 
oder intermediär, im übrigen aber geschlechtsgebunden wie in 



*) Lamdris, H. und Rochat. Nederlandsche Tijdschrift v. Ge- 

neesk. 1905. Nr. 22. 

2 ) S i e m e n s , H. W. Über einen in der menschlichen Pathologie noch 
nicht beobachteten Vererbungsmodus: dominant-geschlechtsgebundene Ver- 
erbung. ARGB. Bd. 17. H. 1. 1925. 



382 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

der Sippe von Lam6ris. Es liegt hier also ein unvollständig 
dominantes bzw. intermediäres geschlechtsgebundenes Erblei- 
den vor (Fig. 10S), das mit dem von Lame ris beschriebenen 
vermutlich im Verhältnis der Allelie steht. 



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Fig. 108. 

Keratosis follicularis spinulosa decalvans nach 
Siemens (Ausschnitt). 

Die Porokeralosis (Mib ellische Krankheit) ist durch Bildung 
kleiner von den Schweißdrüsen ausgehender Hornkegel bzw. erhabener 
Scheiben, besonders an den Streckseiten der Arme und Beine, gekennzeich- 
net. Sie ist dominant erblich; doch werden mehr als doppelt soviele Männer 
als Frauen befallen. Im weiblichen Geschlecht ist die Dominanz daher ver- 
mutlich unregelmäßig. 

Anidrosis, Fehlen der Schvveißdrüsenfunktion, verbunden mit küm- 
merlicher Entwicklung der Haare und Zähne wurde in mehreren Sippen 
rezessiv geschlechtsgebunden erblich gefunden. Es handelt sich nicht etwa 
um mehrere „gekoppelte" Anlagen, sondern um eine einzellige, die sich an 
mehreren Organen des Ektoderms äußert. Man kann sie Dysplasia 
ectodermalis anidrotica nennen. Bei Cockayne sind auch 
einige Sippentafeln wiedergegeben, die dominanten Erbgang zeigen. Ich 
möchte darauf hinweisen, daß diese alle zu dominantem geschlechtsgebunde- 
nen Erbgang passen. Vermutlich handelt es sich um eine zu der rezessiven 
geschlechtsgebundenen allele Anlage. 

Hyperidrosis, übermäßige Absonderung von Schweiß (Schweiß- 
füße, Schweißhändc), scheint durch dominante Erbanlagen bedingt sein 
zu können. 

Die Xanthomatose, gekennzeichnet durch Bildung dunkelgelber, 
etwas erhabener Flecke, entstellt infolge übermäßigen Gehaltes des Blutes 
an Cholesterin und Ablagerung von Cholesterin in der Haut. Die Anomalie 
ist in der Regel dominant erblich; doch tritt die Anlage nicht bei allen 
Trägern in die Erscheinung 1 ). 

Die Psoriasis oder Schuppenflechte äußert sich 
in umschriebenen rotbraunen, mit derben Schuppen bedeckten 
Herden, gewöhnlich an den Streckseiten der Arme und Beine. 
Männer sind ungefähr ii/ 2 mal so häufig als Frauen befallen. 
In schweren Fällen kann fast der ganze Körper von entzünd- 
lichen Herden bedeckt sein. Zwischen mehr oder weniger 

1 ) F a s o I d , A. Xanthom (Siemens' Studien über Vererbung von Haut- 
krankheiten VI). ARGB. Bd. 16. H. i. 1924. 



HAUTLEIDEN. 



383 



schweren und langwierigen Schüben des Leidens können die 
Träger der Anlage kürzere oder längere Zeit frei von Krank- 
heitserscheinungen sein. Die Psoriasis scheint nach Grütz 1 ) 
auf einer Anomalie des Lipoidstoffwechsels zu beruhen, wie 
das in ähnlicher Weise auch 'von der Xanthomatose gilt. Einige 
Sippentafeln zeigen dominanten Erbgang; doch kommen an- 
scheinend ziemlich zahlreiche Träger der Anlage vor, die frei 
von Hauterscheinungen bleiben. 

In einer von Heiner 2 ) beschriebenen Sippe hatte ein Mann, dessen 
beide Eltern an Psoriasis litten, vier Kinder, die ebenfalls alle behaftet 
waren. Er hatte aber, obwohl es naheliegt, ihn als homozygoten Träger der 
Anlage anzusehen, keine schwerere Form des Leidens als seine kranken 
Verwandten. 

Die Erbbedingtheit des Liehen ruber, einer chronischen Haut- 
krankheit, die mit Bildung gruppenweiser roter Knötchen einhergeht, ist 
einstweilen nicht klargestellt. 

Die Neigung zu K e 1 o i d e 11 , d. h. übers Ziel schießenden geschwulst- 
ähnlichen Narbenbildungcn im Anschluß an Hautverletzungen, scheint nach 
Cockayne einfach dominant zu sein. Neigung zu Keloiden kommt be- 
sonders häufig bei Negern vor. 

Als Akne vulgaris wird 
ein lästiger, wenn auch harm- 
loser Zustand bezeichnet, bei 
dem sich im Gesicht, auf dem 
Kücken, der Brust zahlreiche 
Talgpfröpfe in den Haarbäl- 
gen (sog. Mitesser) entwik- 
kein, die oft unter Eiterbil- 99999® 9 
düng in Pusteln übergehen. 
Die Akne kommt hauptsäch- j_ 
lieh bei Jünglingen vor (Akne 
juvenilis) ; sie pflegt ihren 

Höhepunkt in den ersten Jahren der Geschlechtsreife zu er- 
reichen. Eine gewisse Korrelation scheint zu schwächlicher 
Konstitution, nervöser Veranlagung und Verdauungsstörungen 
zu bestehen. Die Zwillingsuntersuchungen von Siemens und 
Weitz haben ergeben, daß eineiige Zwillinge in überein- 
stimmendem Grade von Mitessern (Comedonen.) und Akne be- 
fallen zu werden pflegen. Die erbliche Veranlagung scheint 
danach entscheidend zu sein. 



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Fig. 109. 
soriasis ( S c h u p p e n f 1 e c h t e) 
nach H eine r. 



'') Grütz, O. Über das Psoriasisproblem. Münchener medizinische 
Wochenschrift. Jg. 82. Nr. 48. S. 1899. 1935. 
s ) Nach Cockayne (vgl. S. 373). 



384 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Nach den Beobachtungen von Weitz ist diese auch für 
die Entstehung der Furunkulose von wesentlicher Bedeutung. 
Er fand zwei Paare eineiiger Zwillinge, die in der Nackenhaut 
in übereinstimmender Weise zahlreiche Narben von Furunkeln 
hatten. 

Verlust des Kopfhaares, Glatze nbildung (Cal- 
vities) ist oft eine Folge von Seborrhoe, einer übermäßigen 
Tätigkeit der Talgdrüsen, sei es in Form der Seborrhoea 
oleosa (übermäßiger Absonderung flüssigen Hautfettes) oder 
in Form der Seborrhoea sicca (übermäßiger Schuppenbildung 
der Kopfhaut). Bei Frauen kommt Glatzenbiklung, die im 
männlichen Geschlecht überaus häufig ist, so gut wie niemals 
vor. Es besteht offenbar ein Zusammenhang mit der Hormon- 
wirkung der Gonaden. Bei Eunuchen soll Glatzenbiklung nicht 
vorkommen 1 ). In vielen Sippen tritt Glatzenbildung bei meh- 
reren oder allen männlichen Mitgliedern in etwa demselben 
Lebensalter auf 2 ). Man hat durchaus den Eindruck der Domi- 
nanz. In anderen Sippen bleibt das Kopfhaar bis ins hohe 
Älter ziemlich ungeschmälert erhalten. Eineiige Zwillinge stim- 
men in bezug auf Glatzenbildung nach Siemens so gut wie 
immer überein; zweieiige Zwillinge dagegen verhalten sich 
darin oft verschieden. 

Angeborene Kahlköpfigkeit (Alopecia congenita, Flypo- 
trichosis) ist in mehreren Sippen als dominante Anomalie beobachtet wor- 
den^) 4 ) 5 ). Häufiger scheinen jedoch Fälle zu sein, wo nur einzelne Per- 
sonen oder einige Geschwister von Haarmangel betroffen sind"). Es scheint 
daher auch rezessive Erbanlagen zu Haararmut zu geben. Bei der domi- 
nanten angeborenen Kahlköpfigkeit pflegen Zähne und Nägel sowie das 
Körperhaar normal zu sein. Es gibt aber auch Fälle anscheinend rezessiver 
Haararmut, in denen das Körperhaar ganz fehlt, die Zähne verkümmert und 



*) Sabouraud, R. Correlation entre Involution genitale et la 
pathologie du Systeme pileux dans l'espece humaine. Archives mensuelles 
d'obstfhrique et de gynecologle. Bd. 5. S. 1. 1914. 

z ) Osborn, D. Inheritance of baldness. Journal of Heredhy. Bd. 4. 
H. 8. 1916. 

3 ) L i n z e n m e i e r , G. Die Vererbungsgesetze der Hypotrichosis 
congenita an der Hand zweier Stammbäume. .Studien zur Pathologie der 
Entwicklung. Bd. 1. S. 1S5. 1914. 

*) Gossage, A. M. The inheritance of certain human abnormali- 
ties. Quarterly Journal of Mcdicine. Bd. 1. S. 331. 1908. 

• r ') Berglund, V. Sechs Fälle von Hypotrichosis in einer Familie 
Hereditas. Bd, 5. FI. 1. 1924. 

G ) Danforth, C. H. Hair with special reference to hypertrichosis. 
Chicago 1925. 



HAUTLEIDEN. 



385 



die Nägel ■ dick und unförmig (onychogryphotisch) sind. Eine derartige 
Sippe hat Fische r 1 ) beschrieben. 

Die sehr seltene Hypertrichosis (Flirsuües), die auf übermäßiger 
Entwicklung und Bestehcnbleiben des fetalen Haarkleides (der Lanugo) be- 
ruhen soll, ist nach Ansicht von Cockayne dominant erblich. Solche 
„Haarmenschen" haben meist nur wenige kümmerliche Zähne. 

Auch für Alopecia arcata, ein häufiges Leiden, das sich in 
(meist vorübergehendem) Flaarausfall an münzengroßen, rundlich begrenz- 
ten Stellen äußert, scheint die erbliche Veranlagung von Bedeutung zu sein. 
Cockayne vermutet eine einfach dominante Anlage, die nur im Verein 
mit einer äußeren Schädlichkeit wirksam wird. Welcher Art diese ist, ist un- 
bekannt. Nach Cockayne soll Alopecia areata fast nur bei dunkelhaarigen 
Leuten vorkommen, und er vermutet eine „Koppelung" der Anlage mit 
der zu dunklem Plaar. Die Tatsache einer Korrelation zwischen zwei Merk- 
malen spricht jedoch nicht für Koppelung von Genen; es ist das ein Miß- 
verständnis, das sich bei vielen medizinischen Autoren findet. 

Das Ergrauen der Haare (C a n i t i e s) tritt je nach 
der Erbanlage früher oder später ein. Es sind einige Sippen 
bekannt geworden, in denen vorzeitiges Ergrauen (Canities 
praematura) schon im zweiten Jahrzehnt begann; mit 25 Jah- 
ren war das Kopfhaar im wesentlichen weiß. Die Anlage war 
einfach dominant 2 ) 3 ). Es handelt sich nicht etwa um ein all- 
gemeines vorzeitiges Altern; denn früh ergraute Leute werden 
öfter 80 Jahre und darüber. 

Bei der Moniletrichosis („Spindelhaarigkeit") sind die Haare 
perlschnurartig verdickt und verdünnt in Abständen von ca. 1 mm; sie 
pflegen an solchen dünnen Stellen schon nahe über der Wurzel abzubrechen. 
Nach Siemens und Heuck 1 ), die Erfahrungen über 16 Sippen aus der 
Literatur zusammenstellen konnten, verhält die Anomalie sich unregelmäßig 
dominant. Roberts und Thomas 5 ) haben zwei regelmäßig dominante 
Sippentafeln mitgeteilt. 

Die sogenannten Atherome oder „Grützbeutei" beruhen 
auf Einstülpungen von Hautanlagen und sitzen gewöhnlich zwi- 
schen dem Kopfhaar, wo sie Hühnereigröße und darüber er- 
reichen können. Das Wachstum kommt dadurch zustande, daß 
die Ausscheidungen und Abstoßungsprodukte der Haut (Talg, 
Hornschuppen, Haare) sich allmählich anhäufen, weil sie kei- 



1 ) Fischer, E. Ein Fall von erblicher Haararmut. ARBG. Bd. 7. 
H . 1 . 1 9 1 o. 

3 ) Fear s on a. a. O. (vgl. S. 329). (Albinismus.) 

3 ) Hare, FI. J. H. Premature whitening of the hair. Journal of 
Heredity. Vol. 20. Nr. 1. S. 31 (1929). 

4 ) Heuck, O. Moniletrichosis. (Siemens' Studien über Vererbung von 
Hautkrankheiten VII.) Archiv für Dermatologie. Bd. 147. S. 196. 1924. 

E ) R o b c r t s, E. und Thomas.t. C. The inheritance of monilethrix 
Eugenics. Vol. 3. Nr. 1. 1930. 

Baur-Fischer-I,cual. 25 



386 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



ncn Ausweg haben. Atherome kommen gewöhnlich zu meh- 
reren bei derselben Person vor und andererseits bei meh- 
reren Mitgliedern derselben Sippe. Die Anlage ist in der 
Regel dominant, braucht sich aber nicht in jedem Falle zu 
äußern. 

A. W. Bauer 1 ) hat eine Sippe beschrieben, in der 19 Mitglieder 
eigentümlich bläulich weiße Nagel hatten; 17 von diesen waren zugleich mit 
Atheromen behaftet. Offenbar waren beide Anomalien durch dieselbe domi- 
nante Erbanlage bedingt; dagegen liegt kein Grund vor, mit Cockayne 
an Koppelung zu denken. Da Atherome bei gegebener Erbanlage gewöhn- 
lich zu mehreren, aber in wechselnder kleiner Zahl auftreten, kann es offen- 
bar gelegentlich auch kommen, daß ihre Zahl trotz vorhandener Anlage 
Null ist. 

Völliges Fehlen der Nägel (Anonychie) ist in einer Sippe domi- 
nant erblich beobachtet worden, in einigen andern Fällen vereinzelt oder 
bei einigen Geschwistern auftretend 2 ). 

Mangelhafte Ausbildung der Nägel tritt nicht selten als 
Familieneigentümlichkeit auf. Besonders häufig ist eine lästige 
Anomalie, bei der sich der Hautrand an der Nagclwurzel nicht 
vom Nagel ablöst, was zu häßlichen Einrissen zu führen pflegt. 
Ungewöhnlich starke Weißfleckung der Nägel (Leukonychie) 
scheint als dominante Anomalie vorzukommen. 

Krallen artige Verdickung und Verbiegung der Nägel 
(Onychogryphosis) ist in einigen Sippen dominant erblich. 
Die verdickten Nägel sind eigenartig schwammig und neigen 
zu Zerfall unter Entwicklung eines unangenehmen Geruches. 
Bei den derartig behafteten Individuen wird das Haar mit 
beginnender Geschlechtsreife dünn und schütter; es soll meist 
auch eigenartig bleich und gelblich sein ; ich glaube jedoch 
auch in diesem Falle nicht, daß eine „Koppelung" vorliegt. 
Nach Clouston 3 ) hat sich die Anomalie in der französischen 
Bevölkerung Kanadas stark ausgebreitet ; es soll dort rund 
6000 behaftete Personen geben, die anscheinend alle auf einen 
gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Cockayne vermutet 
ihn in Südfrankreich am Fuß der Pyrenäen, wo onychogrypho- 
tische Individuen mit kümmerlichem gelblichen Plaarwuchs als 
„Cagots" bekannt sind. 

Trommelschlägelfinger, die durch Verdickung des 
Endgliedes der Finger, Vergrößerung und Krümmung der 



1 ) Bauer, A. W. Hercdofamüiäre Leukonychie. Zeitschr. für angew. 
Anatomie und Konstitutionslehre. Bd. 5. S. 47. 1919. 

2 ) Heller. Die Krankheiten der Nägel. Berlin 1927. 

3 ) Zitiert nach Cockayne. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



387 



Nägel gekennzeichnet sind, finden sich oft bei Lungenleiden, 
zumal bei Lungentuberkulose; doch scheint die Anomalie auch 
als solche erblich sein zu können 1 ) 2 ). 



e) Anomalien der Körperform, 

Eine fleißige Zusammenstellung über erbliche Anomalien der Körper- 
form haben B e r t a Asclincr und Engelm a n n 3 ) geliefert. Das Buch 
leidet unter vielen komplizierten und irrigen Hypothesen. Es enthalt ein sehr 
vollständiges Verzeichnis der Literatur. 

In gewissem Sinne kann man alle erblichen Leiden als Mißbildun- 
gen ansehen. Bei den meisten ist allerdings die Mißbildung nicht ohne weite- 
res äußerlich wahrnehmbar; diese betrifft dann vielmehr den inneren Bau 
der Organe oder der kleinsten Organelemenic, der Zellen. Aus dem abnor- 
men Bau der Zellen ergibt sich eine abnorme Funktion des Organs. Ge- 
wöhnlich aber versteht man unter Mißbildung nicht die krankhafte Bildung 
vieler kleiner Organelemente, sondern auffällige Abweichungen der äußeren 
Form. 

Jede erbliche Mißbildung geht auf eine Mißbildung der Erbmasse 
zurück, die allerdings nicht direkt wahrnehmbar ist. Von der Mißbildung 
der Erbmasse in der befruchteten Eizelle zieht sich eine ununterbrochene 
Entwicklungsreihe bis zu der bei dem Neugeborenen vorliegenden Mißbil- 
dung. Einen besonderen Zeitpunkt der Entstehung einer erblichen Mißbil- 
dung gibt es daher streng genommen nicht; es kann sich höchstens um den 
Zeitpunkt ihrer ersten Wahrnehmbarkeit handeln. Man pflegt nur solche 
Formabweichungen als Mißbildungen zu bezeichnen, die schon bei der Ge- 
burt ausgebildet vorliegen. Grundsätzlich aber bedeutet auch die Geburt 
nicht den letzten Zeitpunkt, an dem Mißbildungen in die Erscheinung treten 
können. Die Individualentwicklung ist ja bei der Geburt noch nicht abge- 
schlossen. Man kann daher z. B. auch die erblichen Exostosen als Miß- 
bildungen ansehen, obwohl sie bei der Geburt noch nicht vorliegen, sondern 
sich erst später entwickeln (vgl. S. 401). Die ungefähre Ausbildung der 
äußeren Form und der einzelnen Glieder ist nicht erst um die Zeit der Ge- 
burt, sondern schon bei Früchten von drei Monaten erkennbar, ebenso 
daher auch die meisten Mißbildungen. 

Neben den erblichen Mißbildungen gibt es auch nichterbliche, die 
infolge von Krankheit der Mutter, Giftwirkung oder mechanischen Einflüssen 
Zustandekommen. Durch fehlerhafte Beschaffenheit der Fruchthüllen, be- 
sonders durch Strangbildungen des Amnions (der sogenannten Schafhaut) 
und durch Enge der Fruchthäute verbunden mit Fruchtwassermangel können 
Störungen der Entwicklung Zustandekommen, die aber natürlich nicht erblich 
sind. Nur wenn Enge oder Strangbildungen des Amnions ihrerseits erblich 
wären, könnt e auch hier die Erblichkeit eine Rolle spielen; dann würden aber 

x ) Ebstein, E. Angeborene familiäre Erkrankungen an den Nägeln. 
Dermatolog. Wochenschr. 1919. S. 113. 

2 ) L e w y , E. Beitrag zur Kenntnis der kongenitalen Trommelschläge!- 
finger. Medizinische Klinik 1921. H. 28. 

3 ) Aschner, B., und Engelmann, G. Konstitutionspathologic 
m der Orthopädie. Erbbiologie des peripheren Bewegungsapparates. Wien 
und Berlin 1928. J. Springer. 



388 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

die Mißbildungen der Nachkommen denen der Vorfahren in der Form nicht 
entsprechen, sondern mehr oder weniger regellos, wechseln. Durch Amnion- 
stränge können Abschnürungen von Gliedmaßen Zustandekommen, so daß 
die betreffenden Kinder z. B. mit nur einem Arm oder nur einem Fuß ge- 
boren werden. Im allgemeinen ist aber die Bedeutung der Amnionschädigun- 
gen sicher nicht entfernt so groß, wie man lange Zeit geglaubt hat. Es gibt 
kaum eine Mißbildung, die nicht darauf zurückgeführt worden wäre, darunter 
auch zahlreiche, deren erbliche Natur unzweifelhaft feststeht 1 ). Wenn eine 
Mißbildung bei mehreren Mitgliedern einer Familie in derselben Form auf- 
tritt, so kann man sagen, daß sie sicher nicht durch das Amnion verursacht 
ist. Auch die Symmetrie von Mißbildungen spricht stark dagegen. Wenn 
eine Mißbildung sich z. B. an beiden Händen in gleicher Weise findet, so 
darf man schließen, daß sie mit größter Wahrscheinlichkeit erblich ist; 
dasselbe gilt von Mißbildungen, die sich an den Füßen in ähnlicher Weise 
wiederfinden wie an den Händen. 

Einseitige Mißbildungen können vermutlich auch beim Menschen ge- 
legentlich durch abnorme Verteilung von Chromosomen bei der ersten Tei- 
lung der befruchteten Eizelle entstehen. Bei Schmetterlingen kommen die 
sogenannten Ilalbseitenzwitter auf diese Weise zustande. Einen H albsei ten- 
zwilter bei einer Finkenart, dem Dompfaffen (Pyrrhula pyrrhula), 
der auf der einen Seite die rote Brustbefiederung des Männchens, auf der 
andern die graue des Weibchens zeigt, hat Poll 2 ) abgebildet. Derartige 
ungleiche Verteilungen kommen nach meinen Erfahrungen an Schmetter- 
lingen gelegentlich auch bei Erbeinheiten vor, die mit der Geschlechtsbe- 
stimmung nichts zu tun haben; und es ist daher zu vermuten, daß auch 
einseitige Mißbildungen beim Menschen auf diese Weise entstehen können. 

Als Mißbildunge n kann man solche Abweichungen im 
Bau des Körpers, insbesondere in der äußeren Form, defi- 
nieren, die durch eine fehlerhafte Entwicklung Zustandekom- 
men und die die Anpassung beeinträchtigen. Uns interessieren 
hier nur die erblichen Mißbildungen. Angeborenes Fehlen 
von Fingern infolge Abschnürung durch Amnionstränge ist 
dem Verlust von Fingern durch Verletzung viel wesensverwand- 
ter als dem Fehlen von Fingern infolge erblicher Einfingerig- 
keit. Selbstverständlich können Verstümmelungen infolge von 
Amnionschnürung ebensowenig vererbt werden wie Verstüm- 
melungen durch äußere Gewalt. Die besser bekannten erb- 
lichen Mißbildungen der Gliedmaßen verhalten sich zum größ- 
ten Teil dominant. 

Die Vielfinger ig keit oder Polydaktylie ist durch 
das Vorhandensein überzähliger Finger oder Zehen gekenn- 
zeichnet. Eine solche Sippcntafel zeigt Fig. uo. 



i) In ähnlicher Weise ist bei psychischen Anomalien immer wieder ver- 
sucht worden, sie auf ein „psychisches Trauma" im frühen Kindesalter 
zurückzuführen. 

2) Im Handbuch der Sexualwissenschaften von A. Moll. 3. Aufl. 
Leipzig 1926. Tafel 8. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



389 



In dieser von Sverdrup 1 ) beschriebenen Sippe fanden 
sich überzählige Finger bei $7 Personen; die Anomalie konnte 
in ununterbrochenem Erbgang durch 6 Generationen verfolgt 
werden; niemals wurde die Anlage durch normale Überträger 
vererbt; sie verhielt sich also dominant (bzw. intermediär, 
da man nicht weiß, wie homozygote Träger der Anlage aus- 
sehen). Dasselbe gilt von einer Sippe, die Amrain 2 ) be- 
schrieben hat. Während in der von Sverdrup beschriebenen 
norwegischen Sippe die überzähligen Finger bzw. Anhängsel 
sich an der Kleinfingerseite fanden, bestand die Polydaktylie 
in einer von Ny lande r 3 ) beschriebenen schwedischen Sippe 
in einer mehr oder weniger unregelmäßigen Teilung des Dau- 
mens. 3J Mitglieder zeigten in ununterbrochenem, also offen- 



¥ 



Cf 



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Fig. 110. 
Vielfingerigkeit nach Sverdrup (Ausschnitt). 

bar dominanten Erbgang durch 6 Generationen diese Ano- 
malie. Nun liegen die Dinge aber nicht immer so einfach. In 
den meisten Sippen mit Polydaktylie kommt Überspringen von 
Generationen vor. Gewisse Erbanlagen, die Polydaktylie be- 
dingen, äußern sich offenbar nicht bei allen Anlage trägem. 
Auch die vielfingrigen Personen in dem so regelmäßig er- 
scheinenden Stammbaum von Sverdrup hatten durchaus 
nicht alle 12 Finger und 12 Zehen. Meist war zwar der kleine 
Finger mehr oder weniger vollständig verdoppelt ; in anderen 
Fällen war ein sechster Finger aber nur in Form eines kleinen 
Anhängsels vorhanden, und in noch anderen Fällen war eine 

a ) Sverdrup, A. Postaxial polydaetylism in six generations of a 
Norwegian family. Journal of Genetics. Bd. 12. Nr. 3. 1922. 

s ) Amrain, G. Ein Fall von hereditärer Hexadaktylie. Basel 1913. 
(Dissertation). 

3 ) Nylander,E. Präaxiale Polydaktylie in fünf Generationen einer 
schwedischen Sippe. Upsala Läkareförenings förhandlingar. Bd. 36. H. 3/4. 
S. 275. 1931. 



390 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Hand oder ein Fuß völlig normal. Natürlich kann es dann 
auch vorkommen, daß trotz vorhandener Erbanlage beide 
Hände normal sind; und dann würde eine Generation über- 
sprungen erscheinen. 

Wenn eine Erbanlage dieser Art gelegentlich sich an einer 
Hand äußert, an der andern aber nicht, so ist dieser Unter- 
schied offenbar nicht durch andere Erbanlagen bedingt. Er 
muß vielmehr irgendwie durch die Umstände während der 
Entwicklung verursacht sein; und doch sind es nicht Umwelt- 
einflüsse im gewöhnlichen Sinne, die hier wirksam sind. Ich 
möchte eine derartige Erbanlage entwicklungslabil nen- 
nen. Die Erscheinung ist ziemlich weit verbreitet. Auch die 
Erbanlagen zu Scheckung und zu Muttermalbildung sind in 
dieser Weise cntwicklungslabil. Daß es umweltlabüe Erban- 
lagen gibt, die je nach den Umweltbedingungen zu wechseln- 
den Bildern führen, ist ja bekannt. Diesen möchte ich die ent- 
wicklungslabilen Anlagen gegenüberstellen. Die Einflüsse, 
welche sie modifizieren, werden während der frühen Embryo- 
nalzeit wirksam ; und clä ein Einfluß im allgemeinen um so grö- 
ßere Folgen hat, auf je früherer Entwicklungsstufe er einwirkt, 
so mögen es ganz geringfügige Unterschiede der Entwicklungs- 
bedingungen sein, die man den sonstigen Umwelteinflüssen 
nicht an die Seite stellen kann. Ich möchte sie jenen Ur- 
sachen vergleichen, die bei einem Springbrunnen zu der immer 
wechselnden Auflösung des Wasserstrahls in einzelne Tropfen 
führen. Die Gestaltung der einzelnen Tropfen ist nicht durch 
die innere Anlage des Brunnens bedingt, auch nicht durch 
äußere Ursachen wie die Luftströmung allein; sie entsteht viel- 
mehr infolge Störungen der Ausbalanzierung des Strahls, die 
ihrerseits freilich wieder aus dem Zusammenspiel der inneren 
Anlage und der äußeren Umstände sich ergeben. In ähnlichem 
Sinne zufällig, wie die Gestaltung dieser Tropfen es ist, dürfte 
die Ausbildung bzw. Nichtaus bildung eines überzähligen Fin- 
gers oder eines Muttermals bei gegebener Anlage sein 1 ). 

Das was ich Entwicklungslabilität nenne, wird zur Zeit von einigen 
Autoren in den Sammelbegriff der „Penetranz" einbezogen. Dieses Wort, 
das ich für nicht glücklich gewählt halte, soll zugleich die „Durchschlags- 
kraft" eines Gens gegenüber anderen (nicht allelen) Genen bezeichnen, also 
Verhältnisse der Epi- bzw. Hypostase. Warum das Verhältnis zu allelen 
Genen (Dominanz bzw. Rezessivität) nicht einbegriffen sein soll, ist nicht 

J ) L e n z , F. Methoden der menschlichen Erblichkeitsforschung. Hand- 
buch der hygienischen Untcrsuchungsmethoden. Herausgegeben von Gotsch- 
lich. Jena 1929. Band 3. S. 734. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



391 



ersichtlich. Timofeeff-Ressovsky 1 ) meint die Penetranz als „Pro- 
zentsatz der phänotypischen Manifestierung" bestimmen zu können, was 
mir nicht angängig zu sein scheint, da dieser Prozentsatz eben von der Um- 
welt und den sonstigen Genen der Erbmasse abhängig, also nicht für eine 
Eigenschaft eines Gens kennzeichnend ist. Im übrigen sind jene Beobachtun- 
gen, aus denen Tiraofeef f seine ,, Penetranz" abgeleitet hat, keineswegs 
neu, sondern von vielen Organismen bekannt. De Vries hat in solchen 
Fällen von „Zwischenrassen" gesprochen. Sonst ist in der Genetik der Aus- 
druck „umschlagende Sippen" dafür gebräuchlich. Cor reu s 2 ) hat schon 
im Jahre 1920 die menschliche Polydaktylie den „umschlagenden Sippen" 
verglichen. Auch die Ausdrücke „E x p r e s s i v i t ä t" und „Spezifi- 
tät" halte ich für überflüssige -Fremdwörter, durch deren Gebrauch die 
Wissenschaftlichkeit von Publikationen keineswegs gehoben wird. 

In verschiedenen Sippen ist das Bild der Vielfinge rigkeit 
recht verschieden. Offenbar gibt es mehrere verschiedene krank- 
hafte Erbanlagen, die Vielfingerigkeit zur Folge haben können. 

Nach A s c h n e r und Engelmann sprechen mehrere beobachtete 
Fälle von Vielfingerigkeit unter den Kindern normaler blutsverwandter 
Eltern dafür, daß es neben (unregelmäßig) dominanten auch rezessive 
Erbanlagen zu Polydaktylie gibt. Zur Entscheidung wäre es notwendig, 
den Hundertsatz von Vetternehen bei einer größeren Zahl von Fällen zu 
bestimmen. 

Die Annahme von A s c h n e r und Engel mann, daß die Poly- 
daktylie auf zwei aneinander gekoppelten Genen beruhe, deren eines die 
Art der Anomalie und deren anderes die besondere Lokalisalion bestimme, 
ist unbegründet. Sie zeugt von einem Mißverständnis des Begriffs 
„Koppelung". 

In der Literatur (auch bei Aschner und Engelraan n) ist die An- 
gabe verbreitet, daß in einem südfranzösischen Dorfe (Izcaux, Departement 
Izerc) die Vielfingerigkeit sich so stark ausgebreitet habe, daß schließlich 
die Mehrzahl aller Einwohner damit behaftet gewesen sei. Schuld daran sei 
die Inzucht gewesen. Später als die Inzucht aufgehört habe, sei die Viel- 
fingerigkeit verschwunden. Diese Geschichte, die auf einen französischen 
Autor namens Potton zurückgeht, hat sich nach S o m m e r 3 ) als nicht 
verbürgt erwiesen. Übrigens hat Inzucht bei dominanten Anlagen überhaupt 
keine besondere Wirkung. 

Bei der V e r w ach s enf inge rigk ei t oder Syndak- 
tylie sind zwei oder mehrere Finger bzw. Zehen verwachsen, 
gewöhnlich der 3. und 4. Finger. In manchen Sippen sind 
die Finger nur durch eine Art von Schwimmhaut verbunden, in 
anderen sind auch die Knochen nicht getrennt. In einer Sip- 



x ) Timofeeff-Ressovsky, A. H. und N. W. Über das phäno- 
typische Manifestieren des Genotyps, II. Archiv für Entwicklnngsmechanik. 
Bd. 108. 1926. 

2 ) Correns, C. Pathologie und Vererbung bei Pflanzen. Mediz. Kli- 
nik Bd. 16. 1920. S. 364. 

a ) Sommer, R. Über Familienähnlichkeit. Wien 1917. 



392 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

pentafel von Schlatter 1 ) findet sich Syndaktylie bei 20 Per- 
sonen in ununterbrochenem Erbgang; die Anlage ist also offen- 
bar einfach dominant. In einer von Vogel 2 ) beschriebenen 
Sippe war eine eigentümliche Kombination bzw. Zwischenform 
von Syndaktylie und Polydaktylie dominant erblich. 

In einer Sippe, über die Schofield 3 ) berichtet hat, soll sich eine 
häutige Verbindung der zweiten und dritten Zehe ausschließlich in männli- 
cher Linie vererbt haben, und zwar auf sämtliche männlichen Nachkommen. 
Im ganzen sind 14 behaftete männliche Personen angegeben, aber keine weib- 
lichen. Ein derartiger Erbgang in ausschließlich männlicher Linie ist zwar 
theoretisch denkbar (Sitz der betreffenden Erbanlage im Y-Chromosom); die 
allzu kurze Publikation von Schofield ist aber meines Erachtens nicht 
geeignet, weittragende Schlüsse darauf zu gründen. 

Ein Zustand, bei dem Elle und, Speiche des Unterarms knöchern ver- 
bunden sind (radio-ulnare Synostose), bei dem daher die Handflächen nicht 
nach oben gekehrt werden können, ist in einigen Sippen gehäuft beobachtet 
worden 4 ). Die Anlage äußert sich oft nur einseitig; vermutlich bleibt sie in 
andern Fällen auch ganz verborgen. Der Erbgang ist nicht völlig klarge- 
stellt, doch spricht manches für unvollständige Dominanz 5 ), 



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Fig. in. 
Brachy daktylie. Nach Farabee (Ausschnitt). 

VonKurzf ingerigkeit oder B rachy daktylie gibt 
es eine ganze Anzahl verschiedener Arten. Eine gewisse klas- 
sische Berühmtheit hat die von Farabee 6 ) beschriebene Bra- 
chy daktylie gewonnen. Bei dieser haben die Finger nur zwei 
Glieder statt 3, der Daumen nur r statt 2. Es handelt sich also 
um Hypophalangie, d. h. Fehlen von Fingergliedern (Pha- 

i) Schlatter, C. Die Mend eischen Vererbungsgesetze beim Men- 
schen an der Hand zweier Syndaktylie- Stammbäume. Korrespondenzblatt 
für Schweizer Ärzte. 1914. Nr. 8. 

2 ) Vogel, K. Über familiäres Auftreten von Polydaktylie und Syn- 
daktylie. Fortschritte der Röntgenstrahlen. Bd. 20. S. 443. 1913. 

3 ) Schofield, R. Inheritance of webbed toes. Journal of Hercdity. 
Bd. 12. H. 9. 1921. 

*) Davenport, C. B., Taylor, H. L. und Nelson, L. A. 
Radio-ulnar Synostosis. Archives of Surgery. Bd. 8. S. 705. 1924. 

5 ) Schinz, R. Vererbung und Knochenbau. Schweizerische Mediz. 
Wochenschr. Bd. 54. H. 50 und 51. 1924. 

6 ) Farabee, W. C. Inheritance of digital malformations in man. 
Papers of the Peabody Museum. Bd. 3. H. 3. Harvard University 1905. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



393 



langen). Bei den Trägern der Anomalie sind zugleich die Arme 
und Beine und damit der ganze Körper kürzer als normal. 
Brachydaktyle Männer werden im Durchschnitt um 21 cm, 
Frauen um 12 cm weniger groß als ihre normalen Geschwister. 
Die Anlage hemmt also das Längenwachstum der Knochen 
überhaupt. Der Erbgang ist dominant. 

Es ist von historischem Interesse, daß an der Brachy daktylie die Gel- 
tung des Mendelschen Gesetzes für den Menschen erstmalig bestätigt wurde. 
Farabee fand in einer Sippe 36 kurzfingerige auf 2>Z normale Geschwister, 
in einer anderen 42 kurzfingerige auf 33 normale, in einer-dritten 21 auf 26, 
zusammen also 99 auf g2, was dem Verhältnis 1 : 1 innerhalb des Fehlers 
der kleinen Zahl entspricht. 

Eine leichtere Form von Kurzf ingerigkeit hat Drink - 
water 1 ) unter dem Namen Minorb rachy daktylie beschrieben. 
Hier sind die Fingerglieder zwar in normaler Zahl vorhanden, 
aber sehr kurz. Nach Pf itzner würde diese Form als B ra- 
chy phal an gie zu bezeichnen sein. Auch diese verhält sich 
dominant. Wie eine derartige Anlage homozygot sich äußern 
würde, weiß man ebensowenig wie bei der Hypophalangie. 

Eine weitere Art von Brachy daktylie haben die norwegischen Forscher 
Mohr und W r 1 e d t a ; beschrieben. Sie haben durch. 6 Generationen ab- 
norme Kleinheit der Mittelglieder der Zeigefinger verfolgen können. Die 
Anomalie trat in zwei deutlich verschiedenen Graden auf, was die Verfasser 
auf die Mitwirkung einer zweiten Erbanlage außer der eigentlich krankhaften 
zurückführen. Zwei weibliche eineiige Zwillinge zeigten genau den gleichen 
Grad von B rachy phalangie. Wo scheinbar eine Generation übersprungen 
wurde, ließ sich durch Röntgenaufnahmen trotzdem eine deutliche Verkür- 
zung des betreffenden Knochengliedes nachweisen. Die Verfasser weisen mit 
Recht darauf hin, daß auf ähnliche Art bei oberflächlicher Untersuchung 
öfter der Anschein eines Überspringens von Generationen entstehen werde. 
Anscheinend dieselbe Art erblicher Brachyphalangie hat H anhart in einer 
Sippe in der Schweiz gefunden. Mohr und W r i e d t haben in ihrer Arbeit 
bereits 9 verschiedene Arten von Kurzfingerigkeit unterscheiden können, die 
sich sämtlich dominant zu vererben scheinen. 

In der von Mohr und W r i e d t beschriebenen Sippe ging aus einer 
Verwandtenehe zwischen zwei Trägern der Anomalie ein nicht lebensfähiges 
Kind mit hochgradiger Mißbildung aller Gliedmaßen hervor. Es liegt nahe, 
diese auf Homozygotie der krankhaften Anlage zurückzuführen. 

Zu der Gruppe der Brachyphalangien kann man auch die Klinodak- 
t y 1 i e rechnen, eine seitliche Abbiegung des kleinen und in geringerem 
Grade des vierten und des Zeigefingers gegen den Mittelfinger, die auf 
mangelhafter Entwicklung der Mittelptialangen beruht. Der Erbgang ist 
dominant. Ebenso bei der Kaniptodaktylie, bei der der kleine Finger 

1 ) Drinkwater, H. Account of a family showing minor-braehy- 
dactyly. Journal of Genetics. Bd. 2. S. 21. 1912. 

2 ) Mohr, O. L. und Wriedt, Chr. A new type of bereditary 
brachyphalangy in man. Carnegie Institution of Washington 19 19. 



394 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTE IV ERBANLAGEN 

und meist auch der Ringfinger in Beugestellung versteift ist. Hammer- 
zehen, bei denen das letzte Glied in Bcugestellung versteift ist, scheinen 
ebenfalls auf dominanter Erbanlage zu beruhen. In einer von Gutmann 
beschriebenen Sippe fand sich die Anomalie bei 7 Mitgliedern an der zweiten 
Zehe des rechten Fußes. 

Die Dupuytrcnsche Kontraktur, die in einer Zu- 
sammenziehung und Erstarrung der Sehnen und Bänder der 
Innenfläche der Hand, besonders gegen den kleinen Finger 
hin, besteht, entwickelt sich erst im Laufe des Lebens. Die An- 
lage ist einfach dominant, ihre Äußerung teilweise geschlechts- 
begrenzt. Berufsschädlichkeiten wirken verschlimmernd. 

Auf einem Fehlen von Gelenken zwischen den Gliedern desselben Fin- 
gers beruht die Symphalangie (Orlhodaktylie). Am häufigsten fehlen 
die mittleren Gelenke der mittleren Finger. Die Hand kann infolgedessen 
nicht geschlossen werden. Innerhalb derselben Familie kann der Grad er- 
heblich wechseln, indem bald mehr, bald weniger Gelenke fehlen. Im übrigen 
ist der Erbgang dominant. 

Als Spalt fuß wird eine schwere -erbliche Mißbildung bezeichnet, 
bei der der Fuß nach vorn in zwei gesonderte Teile gespalten ist, die eine 
oder mehrere Zehen tragen können. Im Treasury of Human Inheritance sind 
6 Sippentafeln wiedergegeben, die alle dominanten Erbgang zeigen 1 ). Auch 
die Hände spaltfüßigcr Personen sind in der Regel mehr oder weniger stark 
mißbildet, sei es in Form der Spalthand oder des Fehlens von Fingern 
(E k t r o d a k t y 1 i e), das bis zur Einfingerigkcit gehen kann. Der Grad 
der Mißbildung von Händen und Füßen kann in derselben Sippe sehr wech- 
seln. In einer von Grote 3 ) beschriebenen Sippe fanden sich eigentümliche 
unregelmäßige Zwischenformen von Spaltfuß, Syndaktylie und Polydaktylie. 
Die betreffende Erbanlage hatte eine recht regellose Störung des normalen 
Teilungsmechanismus, der zur Bildung der Finger und Zehen führt, zur 
Folge. Sehr selten kommt eine erbliche S p a 1 t h a n d für sich vor. Ein von 
Fetscher 3 ) mitgeteilter Fall läßt an rezessiven Erbgang denken. 

Eine ganz besonders hochgradige erbliche Mißbildung der 
Gliedmaßen ist von einer brasilianischen Familie berichtet 
worden. Ein blutsverwandtes Paar (Onkel und Nichte) hatte 
8 Töchter und 4 Söhne, davon 2 Töchter und sämtliche Söhne 
von Geburt an ohne Hände und Füße; die Unterarme und Un- 
terschenkel enden als Stümpfe. Vermutlich handelt es sich um 
eine rezessive Erbanlage 4 ). Angeborenes Fehlen eines Gliedes, 



1 ) Lewis, T. Split-Foot. Treasury of Human Inheritance. Teil 1 
und 2. Cambridge University Press 190g. 

2 ) Grote, L. R. Über vererbliche Polydaktylie. Zeitschrift für Kon- 
stitutionslehre. Bd. 9 (1924). 

3 ) Fetscher, R. Ein Stammbaum mit Spalthand. ARGB. Bd. 14. 

H. 2 (1922). 

i ) B o h o m o 1 e t z , M. Further light 011 tlie handless and footless 
family of Brazil. Eugenical News 1930. Nr. 9. S. 143. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



395 



z. B. einer Hand oder eines Fußes, wie es nicht ganz selten 
beobachtet wird, ist dagegen nicht erbbedingt. 

Als Klumpfuß (Fes varus) bezeichnet man eine klum- 
pige Verbildung der Füße, bei der diese stark nach innen ab- 
gebogen sind, so daß sie den Boden nur mit dem äußeren 
Rande berühren. Zugleich ist die Fußspitze gewöhnlich nach 
unten gerichtet. Fast auf 1000 Neugeborene kommt ein mit 
Klumpfuß behaftetes. Männliche Kinder sind etwa doppelt so 
häufig als weibliche betroffen; in etwa der Hälfte der Fälle 
sind beide Füße betroffen. 



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Fig. 112. 
Klumpfuß nach Fetscher. 

Das klumpfüßige Mädchen in der dritten Generation stammt aus Inzest zwi- 
schen Bruder und Schwester. 

Fetscher 1 ) hat sich auf Grund einer Untersuchung an 
Material der Tübinger chirurgischen Klinik für Rezessivität 
der Anlage zu Klumpfuß ausgesprochen. Auch Isigkeit 2 ) 
nimmt die Beteiligung rezessiver Erbanlagen an, meint aber, 
da die Häufigkeit von Klumpfuß unter den Geschwistern weit 
hinter der bei einfach rezessivem Erbgang zu erwartenden 
zurückbleibt, daß noch andere Erbanlagen oder auslösende 
Ursachen beteiligt seien. Einzelne Stammbäume sprechen eher 
für dominanten Erbgang. Über den Anteil der Vetternehen bei 
den Eltern liegen bisher keine genügenden Erhebungen vor. 
In den meisten Fällen von Klumpfuß scheint gleichzeitig Spina 
bifida oeculta (s. d.) zu bestehen. Mindestens in vielen Fällen 
scheint dem Klumpfuß eine dysraphischc Ffemmung der Ent- 
wicklung des Rückenmarks zugrundezuliegen, die ihrerseits auf 

*) Fetscher, R. Über Erblichkeit des angeborenen Klumpfußes. 
ARGB. Bd. 14 (1922). H. 1. 

2 ) Isigkeit, E. Untersuchungen über die Heredität orthopädischer 
Leiden I. Archiv für orthopädische und Unfall-Chirurgie. Bd. 25. FI. 4. 
l 9*7- S- 535- 



396 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

einer hochgradig eiitwickluiigslabilcn, wohl unregelmäßig do- 
minanten krankhaften Erbanlage beruht. 

Jedenfalls ist der Klumpfuß nicht einfach eine Folge falscher Lage in 
der Gebärmutter, zu enger Fruchthülleii oder sonstiger äußerer Ursachen. 
Solche Umstände kommen höchstens als auslösende Ursachen in Betracht. 
Ob die größere Häufigkeit des Klumpfußes im männlichen Geschlecht auf 
Beteiligung rezessiver geschlechtsgebundener Erbanlagen oder auf teilweise 
geschlechtsbegrenzter Äußerung einer über beide Geschlechter gleich ver- 
teilten Anlage beruht, muß einstweilen dahingestellt bleiben. 

Der Plattfuß ist eine dem Klumpfuß in gewisser Hin- 
sicht entgegengesetzte Anomalie, bei der das Fußgewölbe 
durchgebogen und der Fuß nach außen abgebogen ist. Platt- 
fuß kann in verschieden hohem Grade schon bei kleinen Kin- 
dern vorkommen ; häufiger entwickelt er sich erst im Alter des 
Heranwachsens. Einige Sippentafeln, die Waldmann 1 ) ge- 
sammelt hatj zeigen anscheinend dominanten Erbgang; doch 
ist das nicht immer so. Es gibt vermutlich verschiedene Erb- 
anlagen, die Plattfuß verschieden hohen Grades bedingen kön- 
nen. Besonders häufig scheinen Plattfüße in der jüdischen Be- 
völkerung zu sein. Salaman 2 ) fand während des Weltkrieges 
unter 5000 jüdischen Soldaten Plattfüße bei etwa einem Sech- 
stel, unter anderen englischen Soldaten nur etwa bei einem 
Vierzigste! 

A s c h n e r und Engel mann meinen, der kindliche Knick- und Platt- 
fuß sei fast stets racliitischer Natur, und im gleichen Absatz, das heredo- 
degenerative Vorkommen dieser Art von Plattfuß sei allgemein bekannt; sie 
selbst hätten ihn fast immer auch in der zweiten Generation gefunden. Damit 
verträgt sich nicht recht, daß er fast stets rachitischer ,, Natur" sein soll. 
Ich glaube, daß er mit Rachitis meist nichts zu tun hat. Er beruht auf 
Schwäche der Bänder, nicht auf Störung der Knochenbildung. 

Auch die Abknickung der großen Zehe nach außen (Hai lux val- 
g u s) scheint durch die erbliche Veranlagung mindestens wesentlich mitbe- 
dingt zu sein. Hanhart. 3 ) konnte eine Sippentafel mit 16 Trägern der 
Anomalie in 4 Generationen aufstellen, die dominanten Erbgang zeigt, Meh- 
rere Mitglieder dieser Sippe, die die Anomalie hochgradig zeigten, hatten 
niemals enge Schuhe getragen. 

Für die Entstehung von X-und O-Beinen machte man 
früher gewöhnlich Rachitis und Belastung durch stehende Le- 
bensweise verantwortlich. Nun hat sich aber gezeigt, daß die 
Rachitis, die auch ihrerseits durch die Erbmasse mitbedingt 
ist, nur in gewissen Sippen zu X- bzw. zu O-Beinen führt. 

*) Nach persönlicher Mitteilung von Herrn Dr. PI u b e r t W a 1 d - 
m a n n , Berlin-Grunewald. 

2 ) Salaman, R. N. In „Eugenics in Race and State". Volume II of 
the Second International Congress of Eugenics. Baltimore 1923. 

a ) Nach persönlicher Mitteilung. 



i 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



397 



Ziesch 1 ) hat einige lehrreiche Sippentafeln darüber mitge- 
teilt. Weitz 2 ) hat bei seinen Zwillingsstudien acht Paare ein- 
eiiger Zwillinge gefunden, die X-Beine und vier Paare, die O- 
Beine in gleicher Ausbildung aufwiesen. Daß stehende Lebens- 
weise bei Anlage zu X-Beinen verschlimmernd wirkt, ist frei- 
lich auch sicher („Bäckerbeine"). 

X-Beinc und Plattfüße kommen häufig zusammen vor. Eine gemeinsame 
Grundlage scheint eine allgemeine Nachgiebigkeit des Bandapparats zu sein. 
Auch zur Asthenie (s. d.) bestehen Beziehungen. Man darf diese Zusammen- 
hänge aber nicht dahin auslegen, daß allen Zuständen von Bindegewebs- 
schwäche eine und dieselbe Erbanlage zugrundeläge. Es handelt sich ver- 
mutlich um mancherlei verschiedene Erbanlagen von ähnlicher Äußerung. 
Überstreckbarkeit der Finger, die mit Nachgiebigkeit auch anderer Gelenke 
einhergeht, kann nach Beobachtungen von Ebstein 3 ) und Hanhart 4 ) 
dominanten Erbgang zeigen. 

Die angeborene Hüftverrenkung (Luxatio coxae 
congenita) ist die häufigste unter den schwereren angeborenen 
Störungen der Körperform. Sie findet sich bei zwei bis vier 
auf Tausend aller Mädchen (nach Gegenden wechselnd) und 
bei Vobis 2 /* auf Tausend alier Knaben. In etwas mehr als der 



9 



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Fig. 113. 
Angeborene Hüftverrenkung. Nach Roch. 

Hälfte der Fälle findet sich das Leiden nur an einer Seite und 
dann häufiger links als rechts. Man darf schließen, daß die 
Anlage öfter auch an beiden Seiten nicht zur Entwicklung 
kommt; sie scheint in hohem Grade entwicklungslabil zu sein. 



*) Z i e s c h , H. Statistisch-genealogische Untersuchungen über die Ur- 
sachen der Rachitis. ARGB. Bd. 17. H. 1 (1925). 

2 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Zeitschr. f. klinische 
Medizin. Bd. 101. H. 1/2. 1924. 

3 ) E b s t e i n , E. Klinische Beobachtungen über Vererbung von Krank- 
heiten. ARGB. Bd. 15. H. 1. 1923. 

4 ) Nach persönlicher Mitteilung. 



398 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Eltern und Kinder der Merkmalsträger sind meist frei 
von Hüftverrenkung. Roch 1 ) und Isigkeit 2 ) haben dabei 
an rezessiven Erbgang gedacht. Ho off 3 ), der unter meiner 
Leitung ein großes Material erbbiologisch bearbeitet hat, hat 
indessen keine überdurchschnittliche Häufigkeit von Verwand- 
tenehen bei den Eltern gefunden. Auch Isigkeit hat keine 
deutliche Erhöhung der Zahl von Vetternehen gefunden. Dar- 
aus ist zu schließen, daß rezessive Erbanlagen bei der Ent- 
stehung des Leidens nicht wesentlich beteiligt sind. Die in 
Fig. 113 wiedergegebene Sippcntafel von Roch spricht eher 
für unregelmäßig dominanten Erbgang, ebenso die hier abge- 
bildeten Sippentafeln von Isigkeit. 

Eine so ausgesprochene Häufung wie in den abgebildeten 
Sippen ist übrigens nicht die Regel; sie findet sich besonders 
dann, wenn männliche Personen befallen sind, während im 
ganzen das Leiden im männlichen Geschlecht selten ist. Wenn 
auch männliche Personen befallen werden, so handelt es sich 
vermutlich um Erbanlagen, die sich besonders häufig äußern. 
In einer von Isigkeit beschriebenen Sippe trat das Leiden 
bei 5 weiblichen Personen immer nur links auf. Das häufigere 
.Befallensein der linken Seite könnte daher kommen, daß die 
linke Seite des Kindes in der Gebärmutter meist nach hinten 
liegt. 

Die angeborene Hüft Verrenkung kommt in verschiedenen 
Gegenden verschieden häufig vor. In Deutschland findet sie 
sich verhältnismäßig häufig in Sachsen und in den an Sachsen 
und Böhmen grenzenden Teilen Bayerns, die slavisch gemischt 
sind. Auch in Böhmen ist sie häufig, in Nordwestdeutschland 
dagegen seltener. Selten ist das Leiden auch in England, häufig 
in Zentralfrankreich,, weniger in Nordfrankreich. In Norwegen 
findet es sich häufiger im nördlichen Teil, dessen Bevölkerung 
mit Lappen gemischt ist. Bryn 4 ) hat der Rassenmischung 
die Schuld gegeben. Auch die größere Häufigkeit des Leidens 
in dem stark rassengemischten Japan im Vergleich zu China 
würde dafür sprechen. Dann würde man sich vorzustellen 

1 ) Roch, G. Die Vererbung der sogenannten angeborenen Hüftver- 
renkung. ARGB. Bd. 17. H. 3. 1925. 

2 ) Isigkeit, E. Untersuchungen über die Heredität orthopädischer 
Leiden II. Archiv für orthopädische und Unfall-Chirurgie. Bd. 26. I-I. 4. 
1928. S. 659. 

3 ) H o o f f , G. Über die Erblichkeit der angeborenen Hüftverrenkung. 
ARGB. Bd. 20. H. 4. 1928. S. 369. 

4 ) B r y n , H. Journal of Heredity. Bd. 17. Nr. 5. 1926. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



399 



haben, daß die Hüftverrenkung durch eine unharmonische Kom- 
bination von Rassenanlagen entstehe oder, anders ausgedrückt, 
daß sie polymer erblich sei. Die genannten Gebiete in Europa, 
in denen die Hüftverrenkung häufig ist, sind solche mit einer 
vorwiegend untersetzten Bevölkerung, während sie in Gebieten 
mit schlanker Bevölkerung wenig vorkommt. Fast gar nicht 
soll sie bei Negern vorkommen, die ja meist ausgesprochen 
schlank sind. Auch in der schlanken Bevölkerung Siziliens soll 
sie kaum vorkommen. Mit dieser Korrelation zum Typus 
könnte auch das mehrfach häufigere Vorkommen im weib- 
lichen Geschlecht zusammenhängen, das ja im Durchschnitt 
untersetzter als das männliche ist. Die größere Häufigkeit im 
weiblichen Geschlecht auf dominante geschlechtsgebundene 
Erbanlagen zurückzuführen, wie Isigkeit versucht hat, geht 
nicht an. Der Übergang vom Vater auf den Sohn in den Sip- 
pen, Fig. 113 und 114, spricht entschieden dagegen.. ; 



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Fig. 114. 

Angeborene 

Hüftverrenkung. 

Nach Isigkeit. 

Sämtliche Fälle beidseitig. 



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Fig. 115. 

Angeborene Hüftverrenkung. 
Nach Isigkeit. 
Sämtliche Fälle nur links. 



Schröde r 1 ) hat über eine Sippe berichtet, in der blutsverwandte 
Eltern unter 10 Kindern 5 mit angeborenen Luxationen mehrerer Gelenke, 
hauptsächlich der Hüft- und Ellbogengelenke (Radiusluxation) hatten. Zu- 
grunde lag eine mangelhafte Bildung der Gelenke. Wie die Gelenkknorpel so 
waren auch die Ohrknorpel unterentwickelt; die Ohrmuscheln waren knapp 
halb so groß wie gewöhnlich. Vermutlich beruhten die mehrfachen Luxationen 
111 dieser Sippe auf einer rezessiven krankhaften Erbanlage. 

Die PerthesschcKrankheit, eine Störung der Entwicklung des 
Hüftgelenks irn Wachslumsaltcr, ist In mehreren Sippen dominant erb- 

r ) Schröder, C. H. Familiäre kongenitale Luxationen. Zeitschrift 
für orthopädische Chirurgie. Bd. 57. S. 580. 1932. 



400 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN 



lieh beobachtet worden; häufiger tritt sie einzeln oder bei Geschwistern auf; 
es scheint also neben rezessiven auch dominante Erbanlagen zu geben, die 
das Leiden bedingen. 

Die Arthritis deform ans, ein Gelcnklciden, das im mittleren 
und späteren Lebensalter auftritt und bei dem die Gelenkknorpel unregelmä- 
ßig verdickt und rauh werden, hat Weitz bei eineiigen Zwillingen über- 
einstimmend auftreten sehen. Es ist daher als hauptsächlich erbbedingt anzu- 
sehen; schwere Arbeit und Kälte scheinen seine Entwicklung nur wenig zu 
beschleunigen. Das Bild einer Arthritis deformans kann auch als Folge von 
chronischem Gelenkrheumatismus entstehen, der oft durch, kleine chronische 
Infektionsherde an abgestorbenen Zähnen und in den Mandeln bedingt zu 
sein scheint. Die Disposition zu solchen chronischen Infektionen ist anschei- 
nend sippenweise verschieden. 

Die erbliche K n o c h e n b r ü c h i g k e i t oder Osteopsathy- 
rosis beruht auf mangelhafter periostaler Knochenbildung. Die damit be- 
hafteten Personen pflegen im Jugendalter immer wieder Knochenbrüche bei 
geringfügigen Anlässen zu erleiden; im erwachsenen Alter werden die Brüche 
seltener oder hören ganz auf. Bei den Osteopsathyrotikcrn ist die Lederhaut 
des Auges (Sklera) abnorm dünn und daher bläulichgrau durchscheinend 
statt weiß. In einer von Harman beschriebenen Sippe wurde nur blaugrauc 
Sklera bei 30 Personen, aber keine Knochcnbrüchigkeit gefunden; hier lag 
also anscheinend eine besondere Erbanlage vor. In den übrigen bekannt ge- 
wordenen Sippen litten die meisten Mitglieder, die bläulichgraue Sklera 
hatten, auch an Knochenbrüchigkeit. Bei einer Minderheit entwickelte sich 
außerdem Schwerhörigkeit in Form der Otosklerose, offenbar infolge Stö- 
rung des Kalkstoffwechsels im Mittelohr. Es sind aber auch Sippen be- 
schrieben worden, in denen alle drei Symptome regelmäßig vereinigt waren. 
Der Erbgang der Anlage ist regelmäßig dominant 1 ), wenn man nur die bläu- 
liche Farbe der Lederhaut, und unregelmäßig dominant, wenn man die Kno- 
chcnbrüchigkeit ins Auge faßt. Bei ausschließlicher Betrachtung der Oto- 
sklerose erscheint die Dominanz noch unregelmäßiger. Ob das wechselnde 
Bild in verschiedenen Sippen auf verschiedenen (allelen ?) Erbanlagen beruht 
oder ob es durch die Mitwirkung anderer Erbanlagen entsteht, ist nicht 
bekannt. 

Die Osteogenesis imperfecta ist eine angeborene hochgra- 
dige Form von Knochcnbrüchigkeit. Die damit behafteten Kinder werden 
schon mit mehr oder weniger zahlreichen, geheilten und ungeheilten Kno- 
chenbrüchen und Vcrbiegungen geboren; sie sind meist nicht lebensfähig. 
Kienboeck 3 ) beobachtete ein derartiges Kind, das von gesunden Ellern 
stammte, die Vetter und Base waren. Vermutlich ist die schwere angeborene 
Osteogenesis imperfecta also rezessiv erblich. 

K. PI. Bauer 3 ) hat gemeint, die Osteopsathyrosis sei mit der Osteo- 
genesis imperfecta identisch, weil auch in Sippen mit Osteopsathyrose 

a ) Conrad und D a v c n p o r t. Hereditary fragility of bone. Eugc- 
nics Record Office Bulletin. Nr. 14. New York 19 15. 

2 ) Kicnboeck, R. Über infantile Osteopsathyrose. Fortschritte auf 
dem Gebiet der Röntgenstrahlen. Bd. 23. S. 122. 1915/16. 

3 ) Bauer, K. H. Über Osteogenesis imperfecta. Deutsche Zeitschrift 
für Chirurgie. Bd. 154. S. 166. 1920. 

— — über Identität und Wesen der sogenannten Osteopsathyrosis 
idiopathica und Osteogenesis imperfecta. Ebenda. Bd. 160. S. 289. 1920. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



401 



angeborene Fälle vorkommen. Wenn zwei Zustände pathologisch-anatomisch 
und klinisch anscheinend qualitativ gleichartig sind, so folgt daraus aber 
nicht, daß sie genetisch identisch seien. Auch beruht die Osteopsathyrose 
nicht auf einer allgemeinen Minderwertigkeit des Mesenchyms. 

Eine andere Art der Knochenbrüchigkeit, die Marmorknochen- 
krankheit beruht gerade auf übermäßiger Verkalkung. Die Knochen 
sind dicht und brüchig wie Marmor. Die wenigen Fälle, die von diesem 
seltenen Leiden beschrieben worden sind, stammen zum großen Teil aus 
Verwandtenehen. Es ist anscheinend einfach rezessiv 1 ). 

Die Madelungsche Deformität besteht in einer Abknickung 
der Hand nach unten. Sie beruht auf -einer Entwicklungsstörung des Endes 
der Speiche; die Elle steht nach oben vor. Die seltene Mißbildung 
pflegt sich erst im Pubertätsalter bemerkbar zu machen. Frauen sind etwa 
doppelt so häufig als Männer befallen. Das Leiden ist in mehreren Genera- 
tionen einiger Sippen beobachtet worden; es scheint dominant erblich zu .sein, 
ob geschlechtsgebunden, ist einstweilen nicht zu sagen. Herrn Prof. Dr. A. 
Reich in Bochum verdanke ich eine Mitteilung über eine Sippe, in der 
7 Frauen in drei Generationen befallen waren. Eine schwere angeborene 
Form der Madelungschcn Deformität ist einige Male bei Geschwistern be- 
obachtet worden; hier käme rezessiver Erbgang in Betracht. 

Fehlen der Kniescheibe ist in mehreren Sippen dominant erb- 
lich beobachtet worden. In einer von Ü s t e r r e i c h e r a ) beschriebenen Sippe 
fanden sich bei 1 1 Mitgliedern rudimentäre Kniescheiben, mißbildete Ellen- 
bogengelenke (mit Luxation der Speiche) und verkümmerte Fingernägel. 
Die anscheinend einfach dominante Erbanlage ist insofern interessant, als sie 
sich an recht verschiedenen Stellen, sogar an Abkömmlingen verschiedener 
Keimblätter (Mesoderm nnd Ektoderm), äußert. 

Zu den erblichen Mißbildungen der Gliedmaßen kann 
man auch die multiplen Encliondrome und Exostosen 
rechnen, Knorpel- und Knochengeschwülste, die von den Epi- 
physenknorpeln der Knochen ausgehen; sie machen sich zur 
Zeit der Geburt in der Regel noch nicht bemerkbar, entwickeln 
sich im Wachstumsalter und kommen mit Aufhören des Wachs- 
tums zum Stillstand. Im Treasury 3 ) sind 184 Sippen zu- 
sammengestellt, die dominanten Erbgang zeigen. Außerdem 
gibt es aber auch isolierte Fälle; und in einigen Familien ha- 
ben zwei oder mehr Kinder gesunder, aber blutsverwandter 
Eltern das Leiden gezeigt. Es scheinen also auch rezessive An- 
lagen vorzukommen. Auch nach Art, Zahl und Sitz der Ge- 

r ) Herzenberg, H., und Lewit, S. G. Über die Genetik der Mar- 
morkrankheit. Zeitschrift für induktive Abstammungslehre. Bd. 59. H. 4. 
S. 349. 1931. 

*) Österreicher, W. Gemeinsame Vererbung von Anonychie bzw. 
Onychatrophie, Patellardcfekt und Luxatio radii. Zeitschrift für Konstitu- 
tionslehre. Bd. 15. H. 4. S. 465. 1930. 

3 ) Stocks,?, und Bar rington, A. Hereditary Disorders of Bone 
Development. Treasury of Human Inheritance. Vol. III. Part. I. Lon- 
don 1925. 



Jtaur-Fiscb.er-I,enz I. 



2G 



402 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



schwülste gibt es sippenweise Unterschiede. Männer sind un- 
gefähr doppelt so häufig als Frauen betroffen. Gelegentlich 
wird das Leiden durch anscheinend gesunde Frauen übertra- 
gen. Auch dominante Anlagen zu dem Leiden äußern sich 
also im weiblichen Geschlecht in etwa der Hälfte der Fälle 
nicht oder nur in rudimentärer Form. Geschlechtsgebundener 
Erbgang ist wegen häufigen gleichzeitigen Behaftetsein von 
Vater und Sohn auszuschließen. 

Die Hypospadic ist eine erbbedingte Mißbildung des 
männlichen Gliedes bzw. der Harnröhre. Bei den daran leiden- 
den Männern liegt die Öffnung der Harnröhre nicht am Ende 
des Gliedes, sondern an der Unterseite mehr oder weniger weit 
nach hinten. Etwa jede 300. männliche Person soll in gerin- 
gerem oder höherem Grade damit behaftet sein. Das Leiden 
konnte in einigen Sippen durch mehrere Generationen männ- 
licher Linie verfolgt werden. Bei weiblichen Personen kann es 
sich natürlich nicht äußern, kann aber durch gesunde Frauen 
auf männliche Kinder übertragen werden. Dieser Erbgang 
darf nicht mit dem rezessiven geschlechtsgebundenen (vgl. 
S. 332) verwechselt werden; er unterscheidet sich von diesem 



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Fig. 116. 
Hypospadic. Nach Lesser 1 ). (Ausschnitt.) 

dadurch, daß die Anlage vom Vater auf den Sohn übergehen 
kann. Die Äußerung der Anlage ist also geschlechtsbegrenzt. 
Nach dem Material des „Treasury" scheint es verschiedene 
Erbanlagen zu Hypospadie zu geben, und zwar in verschiede- 
nen Sippen verschieden schwere 2 ). 

Von S cheinz wittert um oder Pseudohermaphroditis- 
mus spricht man, wenn das männliche Glied sehr klein ist oder 
ganz fehlt; der Hodensack ist dann in zwei Teile gespalten. 
Solche Individuen werden bei der Geburt oft in ihrem Ge- 
schlecht verkannt und als Mädchen aufgezogen, bis sich bei 

i) "l e s s e r , E. Beitrag zur Vererbung der Hypospadie. Virchows 
Archiv. Bd. 64. 1889. S. 537. 

2 ) Bulloch, W. Hereditary malform adon of the genital organs. 
Treasury of Human Inhcrilance. Part. III. London 1909. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



403 



eintretender Geschlechtsreife der Irrtum herausstellt. Im Trea- 
sury ist über mehrere solche Fälle berichtet. Derartiges Schein - 
zwittertum ist öfter bei Geschwistern beobachtet worden; es 
liegt daher die Annahme rezessiver Erbbedingtheit nahe. Da 
Scheinzwittcr unfruchtbar sind, kommt dominanter Erbgang 
nicht in Betracht, es sei denn in Ausnahmefällen, wo es sich 
um eine neue Mutation handeln könnte. Hochgradige Hypo- 
spadie bildet einen Übergang zum Schcinzwittertum. 

Da das Geschlecht auch beim Menschen .durch die Erbmasse bestimmt 
ist, ist anzunehmen, daß auch jene sehr seltenen Fälle, in denen männliche 
und weibliche Gonaden (Keimdrüsen) nebeneinander vorhanden sind, erb- 
bedingt sind. Man spricht dann von echtem Zwittertum oder Ilermaphrodi- 
tismus. Wenn entweder nur männliche oder nur weibliche Gonaden vorhan- 
den sind, das Individuum aber zum Teil Merkmale des andern Geschlechts 
zeigt, so spricht man von Pseudohermaphroditismus oder Intersexuali- 
tät. Gold schmidt hat bei Schmetterlingen (Schwammspinnern) durch 
Kreuzung verschiedener Kassen geschlechtliche Zwischenstufen (Intersexe) 
verschiedenen Grades erzeugen können. Beim Menschen ist Intersexualität 
als Folge von Rassenmischung jedenfalls in der ersten Generation (F x ) nicht 
beobachtet worden. Auch ob sie in späteren Generationen vorkommt, ist 
fraglich. Wahrscheinlicher ist es, daß Erbanlagen, die beim Menschen Inter- 
sexualität bedingen, nicht aus der Erbmasse normaler geographischer Rassen 
stammen, sondern daß es sich um abnorme, durch Mutation entstandene 
Erbanlagen handelt. 

Die Hoden wandern normalerweise in den letzten Monaten 
der Embryonalentwicklung aus der Bauchhöhle durch den 
Leistenkanal in den Hodensack. Bei einem beträchtlichen Teil 
der Neugeborenen ist dieser Hodenabstieg aber noch nicht 
vollendet; er findet dann meist in den ersten Kinderjahren 
statt. Wenn einer oder beide Hoden dauernd in der Bauch- 
höhle oder im Leistenkanal liegen bleiben, spricht man von 
Kryp torchismus. Leislenhoden sind Druckschädigungen 
ausgesetzt und können sich nicht normal entwickeln. Wenn 
beide Hoden im Leistenkanal oder in der Bauchhöhle liegen, 
pflegt Unfruchtbarkeit zu bestehen. Für die Entstehung des 
Kryptorchismus ist die Erbanlage vermutlich von wesentlicher 
Bedeutung. Es sollten Zwillingsuntersuchungen darauf gerich- 
tet werden. Vermutlich ist die Hypoplasie der Hoden in vielen 
Fällen nicht Folge, sondern Ursache des Kryptorchismus und 
der Unfruchtbarkeit. Auch abnorme Kleinheit oder völliges 
Fehlen der Hoden dürfte erbbedingt sein, vermutlich durch 
rezessive Erbanlagen, ebenso eine genuine Unfruchtbarkeit bei 
normaler Größe der Hoden. 

Wenn der Leistenkanal sich ungenügend schließt, so entsteht 
eine Anlage zu Leistenbrüchen. Ein eigentlicher Bruch 



404 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

oder eine Hernie ist in der Regel nicht angeboren, sondern 
kommt erst im Laufe des Lebens unter äußeren Einwirkungen, 
Anstrengungen beim Heben u. ä. zustande, indem Teile des 
Bauchfells und meist auch des Darmes sich durch den Leisten- 
kanal vorstülpen. Auf ungefähr2obis3oMännerto^ 
leidender. Brüche beeinträchtigen die körperliche Leistungs- 
fähigkeit bedeutend; wenn sie sich einklemmen, gefährden sie 
das Leben. Durch Operation kann die Leistungsstörung meist 
ziemlich vollständig behoben werden, In diesem Falle ist ein 
erbbedingtes Leiden also der Heilung durch einen ärztlichen 
Eingriff zugänglich. In manchen Sippen finden sich Leisten- 
brüche derart gehäuft, daß die Annahme dominanter Anlagen 
nahe liegt; diese können sich ähnlich wie die zu Hypospaclie im 
weiblichen Geschlecht nicht äußern. Bei eineiigen Zwillingen 
wurden Leistenbrüche mehrfach in übereinstimmender Form 
beobachtet, z. B. von Wcitz. Weitere Zwillingsforschungen 
sind erwünscht. Es scheint, daß der Erblichkeit für die Ent- 
stehung von Leistenbrüchen eine größere Bedeutung beizu- 
messen ist als der Auslösung durch äußere Ursachen. 

Im weiblichen Geschlecht, wo es auch während der Embryonalentwick- 
lung keinen Lcistenkanal gibt, gibt es natürlich auch keine Leistenbrüche; 
doch kommen bei weiblichen Personen Hernien in Form sogenannter Schen- 
kelbrüche vor; das sind Vorstülpungen des Bauchfells und seines Inhalts 
längs den großen Gefäßen des Schenkels. 

Eine verhältnismäßig harmlose erbliche Anomalie ist die sogenannte 
Phimose, die in abnormer Enge und meist auch abnormer Länge der 
Vorhaut des männlichen Gliedes besteht. 

Von den Mißbildungen der weiblichen Geschlechtsorgane dürften die 
Formabweichungen der Gebärmutter (Verdoppelungen u. a.) zum größten 
Teil erbbedingt sein, ebenso die mangelhafte Entwicklung der Geschlechts- 
organe überhaupt (vgl. Infanlilismus S. 418) und damit in vielen Fällen auch 
Unfruchtbarkeit. Überzählige Brustdrüsen (Hypermastie) und überzählige 
Brustwarzen (Hyperthelic) kommen sippenweise gehäuft vor. Hyperthche 
konnte gelegentlich durch mehrere Generationen verfolgt werden. Das Vor- 
kommen ausgebildeter Brustdrüsen im männlichen Geschlecht ist ein Zei- 
chen von Intersexualität. 

Epispaclie, d. h. Spaltbildung an der Oberseite des männlichen 
Gliedes, die bis zur Spaltung der vorderen Bauchwand und der Blase gehen 
kann, ist gelegentlich bei neugeborenen Zwillingen beobachtet worden. Da 
derartige Kinder zugrundegehen, kommt dominanter Erbgang nicht in Frage. 

Die häufigsten und praktisch wichtigsten Mißbildungen 
im Bereich des Gesichts sind die Kief er s p al t cn. In leich- 
ten Fällen ist nur die Lippe eingekerbt bzw. gespalten („Ha- 
senscharte"), und zwar nicht in der Mittellinie, sondern 
über der Lücke zwischen einem seitlichen Schneidezahn und 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM, 



405 



Eckzahn. In schweren Fällen klafft der knöcherne Zahnfort- 
satz des Oberkiefers und der Gaumen („Wolfsrachen"). 

Sanders 1 ) fand unter 459 Fällen 162 mal nur Lippenspalte, 45111a! 
nur Gaumenspalte und 2 43 mal Lippen- und .Gaumenspalte. Die Lippen- 
spalte war in etwa einem Viertel .der Fälle doppelseitig, die Gaumenspalte in 
zwei Dritteln. Im männlichen Geschlecht sind Kiefer spalten fast doppelt so 
häufig als im weibliehen. Die linke Seite ist in beiden Geschlechtern bei- 
nahe doppelt so häufig befallen wie die rechte (die doppelseitigen Fälle 
nicht gerechnet). 

Diese Spaltbiklungen beruhen ebenso wie viele andere Miß- 
bildungen auf Entwicklungshemmungen; sie entstehen, wenn 
die auf früher Entwicklungsstufe vorhandenen Buchten zwi- 
schen Oberkiefer und Zwischenkiefer sich unvollständig schlie- 
ßen. In einigen Sippen sind nur Hasenscharten, in andern nur 
Gaumenspalten beobachtet worden. Häufiger kommen Lippen - 
und Gaumenspalten bei demselben Individuum vor, oft auch 
bei einigen Mitgliedern einer Sippe Lippen- und Gaumen- 
spalten, bei andern nur Lippenspalten. Offenbar kann eine und 



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Fig. 117. 

Gaumenspalte nach Davenport. Eugenics Record Office 3 ). 

Der halb schwarz bezeichnete Mann in der zweiten Generation hatte nur eine 

Hasenscharte. 



dieselbe Anlage verschieden schwere Grade zur Folge haben. 
Es handelt sich also um entwicklungslabile Anlagen. Gelegent- 
lich äußert sich eine Anlage nur in einer Unregelmäßigkeit der 
Zahnreihe vor dem Eckzahn, noch häufiger vermutlich gar nicht. 
In den meisten Fällen sind keine weiteren Kieferspalten 
in der näheren Blutsverwandtschaft nachweisbar. Sippen mit 
ausgesprochener Häufung sind nicht die Regel. Fig. 117 zeigt 
eine Sippe, in der männliche und weibliche Personen von Kie- 

*-) Sanders, J. Inheritance of harclip and cleft palate. Genetica 
Bd. 15. S. 433. 1934. 

2 ) Ausgestellt auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Rassen- 
hygiene. New York 1921. Abgebildet in Eugenics, Genetics and the Family. 
Baltimore 1923. Williams and Wilkins Co. 






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406 W7Z ££/VZ, D/£ KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

ferspalten befallen sind. Diese Sippentafel, legt dominanten 
Erbgang nahe. Oft sind aber Generationen übersprungen. 
Fig. 118 zeigt eine Sippe, in der nur weibliche Personen, 
Fig. 119 eine andere, in der nur männliche befallen sind. Letz- 
tere spricht für rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgang. 

Es gibt aber auch Sippen, in 
denen, nur Männer befallen sind, 
geschlechtsgebundener Erbgang 
aber wegen Übertragung vom Va- 
ter auf den Sohn auszuschließen 
ist. Das häufigere Befallensein des 
männlichen Geschlechts ist also 
mindestens zum Teil als geschlechls- 
begrenzt aufzufassen. Für die mei- 
sten Fälle ist unregelmäßig do- 
minanter Erbgang die ungezwun- 
genste Erklärung. Vermutlich gibt es verschiedene Erbanlagen, 
die Kieferspaltcn bedingen können. 

Ob darunter auch rezessive sind, ist einstweilen nicht ausgemacht. S an- 
ders, der für rezessiven Erbgang eintritt, hat zwar in vielen Fallen „Be- 
lastung" von beiden Seiten gefunden; da sein Material zum großen Teil aber 
aus einei - Kleinstadt stammt, in der rund 1 0/0 aller Kinder mit Kiefcrspalten 



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Fig. 118. 
Hasenscharte n ach Daven- 
port. Eugcnics Record Office 1 ). 



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Fig. 119. 
Hasenscharte und Gaumenspalte. Eigene Beobachtung 2 ). 

geboren wurden, mußten bei eingehender genealogischer Nachforschung 
auf jeden Fall zahlreiche Träger des Leidens mit doppelter „Belastung" 
gefunden werden. So erklärt es sich auch, daß er „Belastung" in rund 450/9 
fand, wahrend frühere Untersucher nur rund 20 0/0 gefunden hatten. Die 
Fälle von Blutsverwandtschaft, die Sanders beigebracht hat, betreffen 
bezeichnenderweise fast alle entfernte Grade, während bei rezessivem Erb- 
gang eine ausgesprochene Häufung von VeUerncheii ersten Grades zu er- 

x ) Ausgestellt auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Rassen- 
hygiene. New York 1921. Abgebildet in Eugcnics, Genedcs and the Family. 
Baltimore 1923. Williams and Wilkins Co. 

2 ) Lenz, F. Ein Stammbaum über Hasenscharte und Gaumenspalte. 
ARGB. Ed. 25. H. 2. S. 221. 1931. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



407 



warten wäre. Mit dem rezessiven Erbgang wird auch die von Sanders 
gegebene Schätzung hinfällig, daß in dem, von ihm untersuchten Ort jeder 
fünfte Einwohner Träger der Anlage sei. Auch mit seiner Annahme fünf 
verschiedener Erbanlagen, getrennt für rechts und links und für beide Ge- 
schlechter, kann ich mich nicht befreunden. 

Birkenfcld 1 ) hat ein eineiiges Zwillingspaar mit spiegelbildlicher 
Anordnung von einseitiger Hasenscharte und Gaumenspalte beschrieben und 
einige weitere Zwillingsfälle aus der Literatur zusammengestellt. Sanders 
fand ein eineiiges Zwillingspaar, von dem nur der eine eine Hasenscharte 
hatte. Es ist das ein weiterer Beleg dafür, daß die leichteren Anlagen^dic 
gegebenenfalls nur eine Hasenscharte verursachen, auch verborgen bleiben 
können. 

Die durch v. Winckcl verfochtenc Hypothese, daß Kieferspalten 
durch Eindringen von Amnionsträngen in die embryonalen Zwischenräume 
zwischen den seitlichen Oberkieferforlsätzcn und dem Zwischenkiefer ent- 
ständen, wird eindeutig widerlegt durch das Vorkommen von Sippen mit 
gehäuften Fällen, durch die Zwillingsbefunde und durch das Vorkommen 
reiner Gaumenspalten. 

Da Kinder mit Kieferspalten nicht saugen können, gingen 
sie in früheren Zeiten in der Regel zugrunde. Heutzutage da- 
gegen werden die Träger dieser Mißbildung operiert und fast 
alle am Leben erhalten. Es ist daher mit einer Zunahme der 
Kieferspalten, zu rechnen. Im 19. Jahrhundert zählte man eine 
Kieferspalte auf rund 1500 Geborene. Schröder 2 ) fand im 
Jahre 1930 in Westfalen ein Verhältnis von rund 1:1200, 
Sanders im Jahre 1933 in Holland 1:950. 

Eine Lücke zwischen den mittleren Schneidezähnen (Trema oder Dia- 
stema) findet sich, wenn sie bei eineiigen Zwillingen auftritt, meist bei beiden 
in gleicher Weise ausgeprägt. Margarete Weninger 3 ) hat mehrere 
Sippentafeln mitgeteilt, die dominanten Erbgang des Tremas zeigen. 

Fehlen oder kümmerliche Ausbildung der oberen seitlichen Schneide- 
zähne ist von M c Q u i 1 1 e n*) in drei Generationen einer Familie beobachtet 
worden. Auch Thomas 5 ) hat eine Familie beschrieben, in der bei 7 Mit- 
gliedern die seitlichen Schneidezähne fehlten. Fürst«) hat von einer Fa- 
milie berichtet, in der einem Großvater sämtliche Schneidezähne fehllcn, 



x ) Birkenfcld, W. Vererbungspathologische Untersuchung an Zwil- 
lingen mit Lippen-Kicfer-Gaumenspalte. Bruns' Beiträge zur klinischen Chir- 
urgie. Bd. 141. H. 2. 1927. 

2 ) Schröder, C. H. Die Vererbung der Hasenscharte und Gaumen- 
spalte. ARGB. Bd. 25. FI. 4. S. 369. 1931. 

3 ) Weninger, M. Zur Vererbung des medianen Oberkiefertremas. 
Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie. Bd. 32. H. 1/2. S. 367. 1933. 

4 ) Nach Praeger, W. Die Vererbungspathologie des menschlichen 
Gebisses. Zahnärztliche Rundschau. Jg. 33. -Nr. 44/45- ! 924' 

B ) Thomas, L. C. Five studics in human heredity. Eugenical News. 
Bd. i 1. Nr. 10. 1926. 

e ) Fürst, Th. Der Erbgang bei Anodontie. ARGB. Bd. 16. li. 3. 

1925. 



408 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



ebenso einem Enkel, wahrend drei andern Enkeln nur die seitlichen Schnei- 
dezähne fehlten. Huskins 1 ) hat in einer Sippe Fehlen der mittleren 
Schneidezähne mit anscheinend geschlechtsgebundenem Erbgang gefunden. 

Vorstehen des Unterkiefers (Unterkiefer- 
prognathie) ist in der Regel dominant erblich. Rub- 
b recht 2 ) bringt eine Anzahl Sippentafeln mit ununterbroche- 
nem Erbgang. Im Geschlecht der Habsburger konnte er auf 
Grund vorhandener Bilder die Anomalie bei 44 Mitgliedern 
durch 9 Generationen belegen oder wahrscheinlich machen. 




Fig. 120. 

Unterkief erprognathic in der Nachkommenschaft Philipps des 

Schönen und Johannas der Wahnsinnigen. Nach R 11 b brecht. 

Die letzte der von ihm bearbeiteten Generationen lebte in der 
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seitdem hat sich die Un- 
terkief erprogn atliie durch weitere zwei Jahrhunderte (6 Ge- 
nerationen) bis auf Alfons XIII. von Spanien und dessen Sohn 
Jahne weiter vererbt. Die keineswegs seltene Anomalie findet 
sich bei 1-20/0 der Bevölkerung. 

Auch die Oberkiefer Prognathie bzw. abnorme Kleinheit des 
Unterkiefers soll nach Rubbrecht einfach dominant erblich sein. Er hat 
die Sippen, von denen er Schemata abbildet, allerdings nicht so genau be- 
schrieben, daß man ein klares Bild daraus gewinnen könnte. Nach meinen 

x ) Huskins, C. L. On the inheritance of an anomaly of human 
dentition. Journal of Heredity. Bd. 21. Nr. 6. S. 279. 1930. 

2 ) Rubbrecht, O. Les variations maxülo-faciales sagittales et 
l'henSditc. Antwerpen 1930. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



409 



Beobachtungen scheint sich ein kleiner, zurücktretender Unterkiefer oft bei 
asthenischem Habitus zu finden, auch bei allgemeiner Hypoplasie. Darauf 
wäre bei künftigen Forschungen zu achten. Bei eineiigen Zwillingen ist der 
Bißtypus, d. h. die Stellung beider Zahnreihen gegeneinander regelmäßig 
gleich 1 ). Die Zwillingsforschung hat überhaupt die klarsten Belege für die 
Erbbedingtheit der Anomalien der Zahnstellung beigebracht. 

Auch bei der Entstehung der Zahnkaries, die bei den 
meisten Menschen einen mehr oder weniger großen Teil der 
Zähne zerstört, wirkt die erbliche Veranlagung wesentlich mit 3 ). 
Der Versuch von Kerkhaus 3 ) in Anlehnung an die Vor- 
stellungen von Kantorowicz, den Einfluß der Erbanlagen 
zu verkleinern, kann nicht als geglückt bezeichnet werden. Fa- 
milienforschungen von Pfanner 4 ) und Dietrich 5 ) haben 
gezeigt, daß Elternpaare mit schlechten Zähnen in der Regel 
Kinder mit schlechten Zähnen, Elternpaare mit guten Zähnen 
dagegen auch Kinder mit guten Zähnen haben. Umweltein- 
flüsse spielen insofern eine Rolle, als Ernährungsstörungen 
des Säuglingsalters ungünstig auf die Beschaffenheit der blei- 
benden Zähne wirken. Durch Schwangerschaften pflegt die 
Karies verschlimmert zu werden, weil infolge des Kalkbedarfes 
der Frucht die Zähne angegriffen werden. Weitere Zwillings- 
forschungen über Karies zumal an Erwachsenen wären er- 
wünscht. 

Es ist öfter die Vermutung ausgesprochen worden, daß zu enge Stel- 
lung der Zähne, durch die auch die Entstehung der Karies begünstigt wird, 
die Folge von Rassenkreuzung bzw. des Zusammentreffens von Erbanlagen 
für kleine Kiefer mit solchen für große Zähne sei. Enge Kiefer sind oft Teil- 
erscheinung asthenischer oder adenoider Konstitution, während die Größe der 
Zähne dabei nicht vermindert zu sein pflegt. Die Zähne als hauptsächlich 
ektodermale Gebilde scheinen an der Schwäche des Stützgewebes meist 
nicht teilzuhaben. So kann ein Mißverhältnis zwischen Kiefern und Zähnen 
entstehen. 

Auch für die Entstehung sogenannter P ar a den t o s en, 

d. h. krankhafter Veränderungen der unmittelbaren Umgebung 



x ) Nach P r a c g e r a. a. O. Vgl. dazu auch: Siemens, H. W. Die 
Vererbungspathologie der Mundhöhle. Münch. Med. Wochenschr. 1928. 
Nr. 41. S. 1747. 

B ) W e i t z , W. Über die Bedeutung der Erbmasse für das Gebiß nach 
Untersuchungen an eineiigen Zwillingen. Deutsche Monatsschrift für Zahn- 
heilkunde. 1924. H. 5. 

3 ) Kerkhaus, G. Zahnkaries und Vererbung. Deutsche Zahnärzt- 
liche Wochenschrift 1929. Nr. 23. 

4 ) Pfanne r. Statistische Untersuchungen über die Vererbung von 
Zahnkaries. Archiv der Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 5. H. 1/2. 1930. 

5 ) Dietrich, O. Familien for schlingen über die Zahnverhältnisse im 
oberen Schächcntal. Dissertation Zürich 1932. 



410 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

der Zähne (Alveolarpyorrlioe, Alveolaratrophie, Zahnstcinbil- 
dung) scheint die erbliche Veranlagung von Bedeutung zu sein. 
Zwillingsuntersuchungen darüber wären erwünscht. Es gibt 
Familien, in denen der Schwund der Zahnfortsätze der Kiefer 
(Alveolaratrophie), der im Alter bei allen Menschen eintritt, 
abnorm früh beginnt. 

Paradcntosen treten besonders häufig auf, seit die moderne Zahnheil- 
kunde auch abgestorbene Zahne möglichst lange zu konservieren bemüht ist. 
Ich mochte die Frage zur Diskussion stellen, ob die paradentotischen Ver- 
änderungen nicht zum Teil als Reaktionen des lebenden Gewebes gegen tote 
Zahne aufzufassen seien. Die derart ausgelösten Reaktionen würden sich 
dann auch auf die Umgebung gesunder Zähne übertragen. Es gibt Leute, 
die keinen toten Zahn im Munde vertragen können, während andere eine 
große Zahl toter Zähne reaktionslos vertragen. 

Abnorme Kleinheit des Kopfes (Mikrokep ha- 
lle) ist in einer Anzahl von Fällen bei mehreren Geschwistern 
beobachtet worden 1 ). Hochgradige Kleinköpf igkeit, die stets 
mit hochgradiger Geistesschwäche einhergeht, kann anschei- 
nend durch rezessive Erbanlagen bedingt sein. Bernstein 3 ) 
bat eine Familie beschrieben, in der von 10 Geschwistern 5 
hochgradig mikrokcphal und schwachsinnig waren. Frets^) 
fand bei seinen Untersuchungen über die Erblichkeit der Kopf- 
form, daß auch „Mikrobrachykephalie" nicht pathologischen 
Grades anscheinend auf rezessiven Erbanlagen beruhe. 

Turm schädel (Pyrgokephalie, Oxykephalie) ist in einigen Fami- 
lien bei mehreren Mitgliedern beobachtet worden' 1 ); einzelne Sippentafeln 
legen dominanten, andere rezessiven Erbgang nahe. Offenbar handelt es sich 
um mehrere verschiedene Anomalien. Eine Mitteilung über erblichen Turm- 
schädel verdanke ich Herrn Dr. C. J. Caesar. Die Photographie eines 
männlichen Kindes zeigt eine extreme Entwicklung des Schädels nach vorn 
und oben; die Stirn ist beträchtlich über die Ebene der Augen hinaus vor- 
gewölbt. Infolge Druckes auf den Sehnerven ist das Kind erblindet, ebenso 
seine Mutter. Außer der Mutter hat auch eine Schwester der Mutter und die 
Großmuller mütterlicherseits einen extremen Turmschädel. Siemens 5 ) be- 
richtet, daß er in einigen Fällen Turmschädel nur bei einem von zwei ein- 
eiigen Zwillingen gesehen habe. Nach den Bildern, die er gibt, handelte 
es sich aber nur um eine nicht krankhafte Hochkopfigkeit (Hypsikephalic), 

L ) G o 1. d b 1 a d t. Bruchstücke zur Kenntnis der familiären Mikroze- 
phalie. Archiv für Psychiatrie. Bd. 70. H. 4. 1924. 

2 ) Bernstein, Ch. Microcephalic people sometimes callcd ,,pin 
heads". The Journal of Heredity. Bd. 13. H. 1. 1922. 

3 ) Frets, G. P. Heredity of the head form in man. Genetica. Bd. 
III. 1921. 

4 ) Peiper, A. Über den Turmschädel. Monatsschrift für Kinderheil- 
kunde. Bd. 25. S. 509. 1924. 

5 ) Siemens, H. W. Zur Ätiologie des Turmschädels. Virchows Ar- 
chiv. Bd. 253. H. 3. 1924. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



411 



die wohl besser nicht als Turmschädel zu bezeichnen wäre. Es scheint, daß 
die Raumbeengung bei Zwillingsschwangerschaft zur Entstehung von Hoch- 
köpfigkeil Anlaß geben kann. Gänßlen hat eine eigentümliche Form von 
Hochkopfigkeit bei hämolytischer Diathese (vgl. S. 467) beobachtet. 

Durch Turmschädel und gleichzeitige Unterentwicklung der Schädel- 
basis mit Hypoplasie der Nasengegend ist die von Crouzo n 1 ) beschriebene 
Dysostosis craniofacialis gekennzeichnet. Es sind einige Sippen 
mit mehreren Fällen beschrieben worden. Auch der Turmschädelfall Cae- 
sars gehört wohl zu diesem Leiden. Die Dysostosis clcidocra- 
nialis entsteht infolge erbbedingter Flemmung der Verknöcherung der 
bindegewebig vorgebildeten Knochen. Die Schädelknochen, zumal die Schädel- 
basis und das Becken bleiben unterentwickelt; Nasenbeine und Schlüsselbeine 
fehlen ganz; die Zähne sind verkümmert. Im T r e a s u r y 2 ) ist über 96 Sip- 
pen berichtet, die dominanten Erbgang zeigen bzw. mit solchem vereinbar 
sind. Seitdem sind noch weitere Sippen beschrieben worden. Homozygot 
würde die Anlage vermutlich letal sein. 

Fehlen des Kopfes (Akranie) oder des Gelnrns (Anenkephalie) 
kommt als Mißbildung nicht lebensfähiger Früchte vor. Auch die Kyklopie :i ), 
bei der die beiden Augenanlagen zu einem nicht funktionsfähigen Gebilde 
verwachsen sind, ist hier zu nennen. Über familiäre Häufung solcher lebens- 
unfähiger Mißbildungen ist bisher wenig berichtet worden, da man an die 
Möglichkeit der Erbbedingtheit meist gar nicht gedacht hat. Möglicherweise 
handelt es sich um rezessive Erbanlagen mit homozygoter Lctalwirkung. 

Die Spina bifida (Rachischisis) ist eine Hemmungs- 
mißbildung der Wirbelsäule bzw. des Rückenmarks, die sich in 
Offenbleiben des Wirbeikanals, meist in der Höhe der Lenden- 
wirbel und in schwereren Fällen in bruchartiger Vorwölbung 
von Teilen des Rückenmarks und seiner Häute äußert. Wenn 
nur eine Spaltbildung des knöchernen Wirbelkanals ohne 
äußerlich erkennbare Vorwölbung besteht, spricht man von 
Spina bifida oeculta. Gelegentlich ist die Mißbildung bei meh- 
reren Kindern einer Sippe beobachtet worden. 

Nach Scliamburow und Stilbans 4 ) soll sie durch eine Erban- 
lage bedingt sein, die heterozygot Spina bifida oeculta und homozygot Spina 
bifida aperta verursachen würde. Der Erbgang würde also intermediär sein. 
Wenn man nur die Spina bilida oeculta ins Auge fassen würde, würde er als 
dominant erscheinen. Da Kinder mit Spina bifida aperta bald nach der Ge- 
burt zugrundezugehen pflegen, könnte man auch von homozygoter Letalwir- 
kung sprechen. Es ist öfter berichtet worden, daß Spina bifida oeculta sich 
oft bei Bettnässern (s. d.) findet; auch mit Klumpfuß soll sie in Korrelation 
stehen. Der primäre Defekt würde nach dieser Ansicht das Rückenmark 



: ) Crouzon,0. Dysostose craniofaciale hereditaire. Presse mcdicale 
1912. Nr. 73. 

2 ) Stocks und Barrington a. a. O. 

3 ) K 1 o p s t o c k. Familiäres Vorkommen von Zyklopie und Arrhinen- 
zephalic. Monatsschr. für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. 56. 1921. 

4 ) S c ha m burow, D. A. und S t il b an s , J. J. Die Vererbung der 
Spina bifida. ARGB. Bd. 26. H. 3. S. 304. 1932. 



412 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



ANOMALIEN FJER KÖRPERFORM. 



413 



betreffen und als dysraphischc Hemmungsmißbildung aufzufassen sein 
(vgl. S. 522). 

Die Häufigkeit der Spina bifida aperta wird auf i-~~2% angegeben, die 
der Spina bifida oeculta auf rundioo/o; das männliche Geschlecht ist häufi- 
ger betroffen als das weibliche. 

Der sogenannte Wasserkopf (H y drokephalus) be- 
ruht auf abnormer Größe der Flüssigkeit enthaltenden Hohl- 
räume (Ventrikel) des Gehirns, wodurch übermäßige Größe 
des ganzen Kopfes bedingt wird. Da die Anomalie einige Male 
übereinstimmend bei Zwillingen und selten auch sonst bei Ge- 
schwistern beobachtet wurde, scheint es erblich bedingten Hy- 
drokephalus zu geben (S i emens) 1 ). Hydrokephalus kann 
aber auch die Folge von entzündlichen Vorgängen (z. B. Sy- 
philis) oder Giftwirkungen (z. B. Blei) sein. 

Der angeborene Schiefhals (Caput obstipum, Torti- 
collis) beruht auf mangelhafter Bildung eines der beiden Kopf- 
nickermuskeln (Stcrnocleidomastoideus) ; das Muskelgewebe ist 
mehr oder weniger durch Bindegewebe ersetzt. Die Anomalie 

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1 } f 



HH I 



2d , ö , 9 9ö , ? d'd , d'9d , 



I — 1 — I 



9? cf 



Fig. 121. Angeborener Schief hals nach Busch 2 ). 

findet sich in einer Häufigkeit von rund 3 auf 10 000; beide 
Seiten und beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen, 
Fig. I2i zeigt eine Sippe mit klar dominantem Erbgang. Solche 
Sippen sind indessen nicht die Regel. Isigkeit 3 ) fand nur 
in knapp 10 Prozent weitere Fälle in der Verwandtschaft und 
etwa ebenso häufig Asymmetrie des Gesichts. Er hat rezessive 
Erbbedingtheit angenommen. Ich möchte unregelmäßige Do- 
minanz entwicklungslabiler Anlagen für das Wahrscheinlichste 

*) Sieme 11 s. ZwilHngspathologie. 

2 ) 13 lisch, E. Muskulärer Schiefhals und Heredität. Zürich 1920. 
(Dissertation.) 

3 ) I s i g k e i t , E. Der angeborene Schiefhals. Archiv für orthopädische 
und Unfall-Chirurgie. Bd. 30. H. 4. S. '459. 193t. 



halten. Dafür spricht besonders eine Sippentafcl von Valen- 
tin 1 ), in der ein Mann, dessen Mutter Schiefhals hatte, aus 
erster Ehe ein schiefhalsiges und aus zweiter Ehe zwei schief- 
halsige Kinder (neben normalen) hatte. 

Unter 5 Paaren eineiiger Zwillinge fand Isigkeit vier- 
mal bei beiden Zwillingen Schiefhals (3 spiegelbildlich, 1 un- 
bestimmt) ; unter 23 Paaren zweieiiger Zwillinge zeigten ihn 
zweimal beide. 

Wenn Isigkeit unter 13S8 Fällen 1 2mal Verwand tenehe der Eltern 
(einschließlich entfernter Verwandtschaft?) gefunden hat (0,90/0), so scheint 
mir das kein Beleg für eine erhöhte Zahl und damit auch nicht für Rezessi- 
vität zu sein. Kinder mit Schiefhals werden in ungefähr der Hälfte der Fälle 
in nicht normaler Lage geboren (rund 450/0 Steißlagen und 50/0 Querlagen). 
Das deutet auf Mitwirkung der intrauterinen Umwelt; der Zusammenhang 
kann aber auch dahin gedeutet werden, daß ein schon vor der Geburt vor- 
handener Schiefhals die normale Einstellung hindert (Isigkeit). 

Die Sippentafeln mit Schiefhals sehen meist ähnlich aus wie die mit 
Hiiftverrenkung, Klumpfuß und Kiefcrspalte, die sowohl einseitig als auch 
doppelseitig vorkommen. Es liegt daher die Frage nahe, ob nicht auch 
die Verkürzung bzw. Hypoplasie des Kopfnickers beidseitig auftreten könne. 
Diese Frage ist in der Literatur meines Wissens bisher nicht aufgeworfen 
worden. Bei künftigen Untersuchungen über den Schiefhals wäre darauf zu 
achten. 

Unter den Anomalien der Körperform kommt denen, des 
Habitus eine besondere Bedeutung zu. Diese werden oft als 
Konstitutionsanomalien im engeren Sinne bezeichnet. 
Der Begriff der Konstitutionsanomalie ist allerdings 
ebensowenig scharf abgrenzbar wie der der Mißbildung; den- 
noch ist er wie dieser im praktischen Gebrauch zweckmäßig. 
Man spricht von einer „starken" und einer „schwachen" 
Konstitution und bezeichnet damit den Grad der allgemeinen 
Widerstandsfähigkeit gegenüber Schädlichkeiten, Anstrengun- 
gen, Krankheiten. Die Konstitution prägt sich in vielen 
Fällen auch in der äußeren Erscheinung, im Habitus aus. 
Konstitutionsanomalien, die sich weniger im Habitus als viel- 
mehr in gewissen funktionellen Eigentümlichkeiten äußern, die 
also vorwiegend in der chemisch-physiologischen Beschaffen- 
heit der Gewebe begründet sind, pflegt man als Diathesen 
zu bezeichnen. Von diesen wird im folgenden Abschnitt die 
Rede sein. 

Die Konstitutionsanomalien haben fließende Übergänge zu 
den Mißbildungen, den Stoffwechselleiden, den Störungen der 



!) Valentin, .13. Konstitution und Vererbung in der Orthopädie. 
Stuttgart 1932. 



414 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

inneren Drüsen und zu den Anfälligkeiten gegenüber den ein- 
zelnen Krankheiten. Der Konstitutionsbegriff ist wie der der 
Krankheit an der Erhaltungswahrscheinlichkeit orientiert. Wäh- 
rend aber der Krankheitsbegriff schon eine relativ geringe Er- 
haltungswahrscheinlichkeit voraussetzt, ist der Konstitutions- 
begriff in dieser Richtung indifferent. Man spricht auch von 
einer gesunden Konstitution. Wir bezeichnen also mit dem Worte 
Konstitution ganz allgemein die Körper Verfassung in 
bezug auf ihre Erhaltungswahrscheinlichkeit oder, was auf das- 
selbe hinauskommt, ihre Widerstandskraft. Wenn sich eine An- 
fälligkeit nur auf einzelne Krankheiten bezieht, so spricht man 
nicht von Konstitutionsschwächc, sondern von Disposition. 
Für nicht zweckmäßig halte ich es, wenn J. Bauer 1 ) mit dem Wort 
Konstitution den „Ausdruck" sämtlicher in der Erbmasse eines Individuums 
enthaltenen Anlagen" bezeichnet. Das entspricht durchaus nicht dem Sprach- 
gebrauch, von dem abzugehen hier kein Anlaß vorliegt. Auch Bauer selber 
vermag seine Definition nicht durchzuhalten, da er die einzelnen Konslitu- 
tionsanomalien nicht nach den zugrundeliegenden Erbanlagen, sondern viel- 
mehr morphologisch und funktionell charakterisiert. Noch weniger vermag 
ich Tändle rs 2 ) Definition der Konstitution zuzustimmen, die mit der 
Baue r s nicht ganz zusammenfällt, da T andler unter Konstitution die 
Summe der mit der Befruchtung festgelegten Eigenschaften des Individuums, 
und zwar „nach Abzug der Art und Rassenqualitäten" verstehen will. Ein 
solcher Abzug erscheint uns theoretisch wie praktisch unmöglich, und Tand- 
lers ganze Einteilung der Körpcrbeschaffenhett in „Konstitution" und 
„Kondition" ist auch mit seinen eigenen lamarekistischen Grundanschaiuin- 
gen unvereinbar, da diese eine solche Sonderung eigentlich gar nicht ge- 
statten. Es ist bedauerlich, daß Tand ler mit seinem gar nicht durchführ- 
baren Vorschlag so viel Schule gemacht hat. 

Das Musterbeispiel einer Konstitutionsanomalie ist die so- 
genannte Asthenie oder der asthenische Habitus. Die 
damit behafteten Personen sind schmächtig gebaut, der Brust- 
korb ist eng und meist flach bei verhältnismäßig langem 
Rumpf. Das Herz ist meist klein und schwach und hängt in 
dem schmächtigen Brustkorb gleichsam herab. Mit dem schma- 
len Bau hängt es zusammen, daß auch der Magen und andere 
Baucheingeweide herabhängen. Auch die Muskulatur ist meist 
schwach und schlaff. Die Wirbelsäule wird nicht straff getra- 
gen, es entsteht eine „schlechte Haltung", die also weniger eine 
Folge von Nachlässigkeit ist als vielmehr von Schlaffheit der 
Zwischenwirbelgelenke und der Rückenmuskcln. Die Kiefer 

*) Bauer, J. Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und Ver- 
erbungslehre. 2. Aufl. Berlin, Springer 1923. 

3 ) Tand ler, J. Konstitution und Rassenhygiene. Zeitschr. f. ange- 
wandte Anatomie und Konstitutlonslehrc 1913. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



415 



sind meist klein, die Zähne eng und unregelmäßig gestellt. 
Der Astheniker ist leicht ermüdbar, sowohl durch körperliche 
wie durch geistige Anstrengungen. Die Schlaffheit der Ver- 
dauungsorgane beeinträchtigt die Ernährung. Astheniker sind 
meist blaß und blutarm, weniger allerdings infolge zu großer 
Verdünnung des Blutes als einer zu geringen Gesamtmenge. 
Auch die Keimdrüsen sind oft mangelhaft entwickelt. Infolge 
seiner schwachen Körperverfassung kann der Astheniker aller- 
hand Krankheiten nicht einen gleich großen Widerstand ent- 
gegensetzen wie der normal gebaute Mensch; und da unter den 
Krankheiten unserer Bevölkerung die Tuberkulose eine ganz 
besondere Rolle spielt, so verfallen die Astheniker in verhält- 
nismäßig großer Zahl der Schwindsucht. 

Wegen ihrer großen Häufigkeit und ihrer außerordentli- 
chen Bedeutung für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist 
die asthenische Konstitution eine der wichtigsten Anomalien 
überhaupt. Die sogenannte allgemeine Körperschwäche, die den 
häufigsten Grund der Militäruntauglichkeit bildet und die in 
erster Linie nach dem Verhältnis des Brustumfanges zur Kör- 
perlänge beurteilt wird, ist meist ein Ausdruck der Asthenie. 

Andererseits sollen bei asthenischer Konstitution gewisse Krankheiten 
seltener als sonst vorkommen, so Zuckerkrankheit, Gicht, Fettsucht, Lun- 
genblähung (Emphysem) und Arterienverhartung mit ihren mancherlei Fol- 
gen, unter denen die Schlaganfälle (Apoplexien) an erster Stelle stehen. Man 
hat den der Asthenie entgegengesetzten sogenannten pyknischen Habitus 
starker Untersetztheit geradezu als Habitus apoplecticus bezeichnet. 

Die entscheidende Ursache der Asthenie liegt in der erb- 
lichen Veranlagung. Schon im Säuglingsalter ist der asthenische 
Habitus erkennbar 1 ) ; in ausgesprochener Weise pflegt er je- 
doch erst vom Beginn des 2. Jahrzehnts an in die Erschei- 
nung zu treten. Eineiige Zwillinge stimmen in ihrem Habitus 
überein, zweieiige viel weniger regelmäßig. Außer den erb- 
lichen sind freilich sicher auch Umwelteinflüsse von Bedeu- 
tung für che Entwicklung der Asthenie. So begünstigt die 
städtische Lebensweise und zumal vieles Sitzen während der 
Entwicklungsjahre, wie es mit unserem Bildungswesen verbun- 
den ist, die Entstehung des schmächtigen Wuchses. Doch 
darf man auch nicht übersehen, daß erbliche Schwäche der 
Wirbelsäule wie überhaupt die abnorme Ermüdbarkeit oft mit 
Abneigung gegen körperliche Bewegung cinhergeht. So ver- 
stärkt eins das andere. Keine Rede aber kann davon sein, daß 

L ) Wetzel, A. Die Stillersche Konstitutionsanomalie im Säuglings- 
alter. Miinch. med. Wochenschr. 1922. Nr. 35. 



416 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



eine ausgesprochene Anlage zur Asthenie einfach durch Lei- 
besübungen in der Jugend ausgeglichen werden könne, wie 
B rüg seh 1 ) und einige andere meinen. 

Fig. 123 zeigt eine Familie, deren Kenntnis ich der Liebenswürdigkeit 
von Herrn Dr. Paul seil in Kiel-Ellcrbek verdanke und in der alle Mit- 
glieder, die nicht asthenischen Habitus haben, den gerade entgegengesetzten 
sogenannten apoplcktischen Habitus zeigen. Gerade das Vorkommen stark 
verschiedener Typen in derselben Geschwisterreihe ist ein Zeichen erblicher 
Bedingtheit (vgl. das Kapitel über Methodik). 

1 — . — T I — , . 1 V 



i T" 



9 



cf 



Fig. 122. 

Habitus a s t h e 11 i c u s. 

Nach Paulsen. 



£ 0* f 9 er & <f 

Fig. 123. 

Eine Familie, in der 3 Mitglieder 

asthenischen Habitus, alle 

übrigen den entgegengesetzten sog. 

pyknischen zeigen. 

Nach Paulsen. 



Stiller 2 ), der als erster das Bild der Asthenie zusammenfassend be- 
schrieben hat, hat sie als eine besondere erbliche Krankheit aufgestellt. Das 
ist mit dem Hinweis bemängelt worden, daß eine KonstitutionsanomaÜc noch 
keine Krankheit sei. In ihren schwereren Graden aber erfüllt die ^Stiller- 
sche Krankheit" durchaus den Begriff der Krankheit. Sie ist ein Zustand an 
den Grenzen der Anpassungsfähigkeit, der ihren Trägern mannigfache sub- 
jektive Leiden macht und sie zu allerlei abnormen Reaktionen nötigt. Man 
denkt bei dem Worte Krankheit vielfach noch zu einseitig an die Infektions- 
krankheiten und andere Zustände mit vorwiegend äußerer Veranlassung. 
Die leichteren Grade der "Asthenie wird man freilich nicht als Konstitutions- 
krankheit, sondern nur als Konslitutionsanomalie bezeichnen. 

Die Asthenie hat enge Beziehungen zur Unterentwicklung und Unter- 
funktion der Gonaden (Keimdrüsen). Es wäre aber einseitig, wenn man sie 
einfach als Folge solcher Unterfunktion auffassen wollte. Zum guten Teil 
dürfte die Unterentwicklung der Gonaden und der übrigen asthenischen Or- 
gane ihre gemeinsame Ursache in der krankhaften Erbanlage haben. Auf 
keinen Fall spricht die Tatsache, daß die Erscheinungen der Asthenie zum 
Teil durch Unterfunktion von Hormonorganen (Drüsen mit innerer Sekre- 
tion) bedingt sind, gegen ihre Erbbedingtheit. Die Hormonorgane entwik- 
keln sich ja ihrerseits auf der Grundlage der erblichen Veranlagung. Die 
innere Sekretion ist, wie Morgan sich ausgedrückt hat, ein Weg, auf dem 
die Erbmasse sich auswirkt. 

Da es allerlei Übergänge von ausgesprochen asthenischem 
Habitus zu mittleren Körperformen und von diesen zum aus- 



1 ) Brugsch, Th, Allgemeine Prognostik. 2. Aufl. 1922. 
a ) Zusammenfassende Darstellung: Stiller, B. Die asthenische Kon- 
stitution, Stuttgart, Enkc 1907. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



417 



gesprochen pyknischen Habitus gibt, ist nicht ein einfacher 
Erbgang der Körperform zu erwarten. Wenn auch zu ver- 
muten ist, daß es gewisse monomere Erbanlagen gibt, die 
asthenischen Habitus bedingen können, so sind die mannig- 
fachen Übergänge der Körperform doch weitgehend polymer 
bedingt. Das geht auch aus den Untersuchungen von Da- 
ve np ort 1 ) an 506 Familien hervor. 

Es ist viel darüber gestritten worden, ob die Konstitutions- 
typen bzw. Habitusformen etwas mit den Unterschieden der 
geographischen Rassen zu tun hätten oder nicht. Die meisten 
Autoren haben einen Zusammenhang verneint und gemeint, 
die verschiedenen Habitustypen kämen in allen Rassen vor 2 ). 
Tatsächlich zeigen die normalen Habitusformen aber eine recht 
verschiedene geographische Verteilung. Ein großer Teil der 
Unterschiede der Körperform, wie wir sie in unserer Bevölke- 
rung finden, geht meines Erachtens auf Unterschiede der geo- 
graphischen Rassen zurück bzw. er ist mit solchen Unterschie- 
den identisch. Außerdem aber gibt es Erbunterschiede der 
Körperform, die auf krankhafte Erbänderung zurückgehen. 
Man darf die krankhafte Asthenie nicht mit der normalen lep- 
tosomen (schlanken) Körperform verwechseln. Es war ein 
Fehler Kretsclimers, daß er in der ersten Auflage seines 
Buches „Körperbau und Charakter" diese Typen nicht unter- 
schieden hat. Die normalen Erbanlagen, welche Unterschiede der 
Körperform bedingen, sind zugleich Konstitutionsanlagen und 
Rassenanlagen. Es sind Erbanlagen wie andere auch; und sie 
haben sowohl für die Rassengliederung, d. h. die geogra- 
phische Verteilung und die Anpassung an gewisse Umwelten, 
als auch für verschiedene Widerstandsfähigkeit, für verschie- 
dene Leistungsfähigkeit im Sinne der Konstitution ihre Bedeu- 
tung. 

Auch die krankhaften Konstitutionstypen, z. B. die Asthenie, können 
möglicherweise insofern etwas mit den Unterschieden der geographischen 
Rassen zu tun haben, als es nicht ausgeschlossen erscheint, daß unter den 
Nachkommen aus der Kreuzung normaler Rassen in F s und den folgenden 
Generationen Typen von asthenischem Bau und andererseits Typen von 
extrem pyknischem Bau auftreten mögen. 

*) Davenport, C. B. Body-build and its inheritanec. Carnegie In- 
stitution of Washington 1923. 

2 ) Diese Ansicht kommt meist infolge einer Verwechselung der Be- 
griffe Rasse und Population zustande, so in der ebenso umfangreichen wie 
unfruchtbaren Auslassung von 

Salier, K. Konstitution und Rasse beim Menschen. Ergebnisse der Ana- 
tomie und Entwicklungsgeschichte. Bd. 28. S. 250. 1929. 

B a u r - V i s c h er - 1. e « z I. 27 



418 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Im Hinblick auf eine Bemerkung in einer Einführung in die Frauen- 
heilkunde, daß der normale Typus des Weibes der pyknische sei, sei hier 
ausdrücklich betont, daß es auch normale leptosome Frauen gibt, unbe- 
schadet der Tatsache, daß das weibliche Geschlecht im Durchschnitt etwas 
untersetzter und rundlicher als das männliche ist. Völlig abwegig ist die von 
Ignaz Kaup 1 ) verfochtene Ansicht, daß nur die durch ein bestimmtes 
„QucrschniUs-Längenverhältnis" gekennzeichneten Individuen normal seien, 
ebenso auch die von demselben Kaup im Widerspruch mit seinem eigenen 
„Gesetz" aufgestellte Behauptung, daß „nur eine Erhöhung der Quer schnitt s- 
Längenkonstante" eine Aufartung bedeuten würde. Es gibt eben normale 
leptosome (schlanke) und normale pyknische (rundliche) Körperbautypen; 
und die breiteren Formen sind keineswegs allgemein den schlankeren an 
Lebenstüchtigkeit überlegen; wohl aber sind die normalen Formen den 
asthenischen und auch den extrem pyknischen überlegen. 

Unter Infantilismus versteht man eine Konstitutions- 
anomalie, die sich als ein Stehenbleiben auf kindlicher Ent- 
wicklungsstufe darstellt. Es gibt mancherlei Kombinationen 
und Übergänge zur Asthenie. Mathilde v. Kemnitz hat 
von „asthenischem Infantilismus" gesprochen 2 ). Bei infantilen 
Menschen bleiben die Geschlechtsorgane klein und unent- 
wickelt. Auch die äußeren Geschlechtszeichen kommen nicht 
zu voller Entwicklung. Bei der infantilen Frau bleibt die Brust- 
drüse klein und kindlich, der infantile Mann hat nur spär- 
lichen Bartwuchs; die Brust- und Rückenbehaarung bleibt aus. 
Der Infantilismus ist nächst der Gonorrhoe wohl die häufigste 
Ursache weiblicher Unfruchtbarkeit. Wenn eine Schwanger- 
schaft eintritt, so endet sie verhältnismäßig oft mit Fehlgeburt, 
weil die Frucht in der unentwickelten Gebärmutter sich nicht 
richtig entfalten kann. Auch in der äußeren Erscheinung prägt 
sich der Infantilismus aus. Infantile Mädchen haben oft noch 
mit 25 oder 30 Jahren fast kindliche Gesichtszüge, was ihnen 
eine Art von Scheinjugend verleiht. Auch seelisch zeigen er- 
wachsene Infantile kindliche Züge; sie sind leicht bestimmbar 
durch unmittelbare Sinneseindrücke und Erlebnisse sowie durch 
fremden Willen. Sie haben geringe Energie, sind zu ernster 
Arbeit wenig befähigt und neigen zu spielerischer Betätigung. 

Die meisten Fälle vonlnfantilismus sind erbbedingt 3 ). Es 
scheint aber, daß auch durch Umweltschäden wie schwere 
Nährschäden im Säuglings- und Kleinkind es alt er und durch 
chronische Infektionskrankheiten wie angeborene Syphilis und 



*-) Kaup, j. Volkshygicne oder selektive Rassenhygiene ? Leipzig 1 922. 

2 ) v.Kcmnitz, M. Der asthenische Infantilismus des Weibes. ARGB. 
Bd. 10. H. 1/2. S. 41. 1913. 

3 ) Borchardt. Über Abgrenzung und Entstehungsursachen des In- 
fantilismus. Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 138. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



419 



früh erworbene Tuberkulose die Entwicklung so nachhaltig ge- 
hemmt werden kann, daß schließlich dauernder Infantilismus 
die Folge ist. Wenn bei Infantilismus Tuberkulose gefunden 
wird, so kann der Zusammenhang übrigens auch daher rühren, 
daß infantilis tische Individuen vorzugsweise der Tuberkulose 
verfallen 1 ). 

Bei allgemeiner Unterentwicklung und Schwäche der Or- 
gane spricht man von Hypoplasie. Es handelt sich an- 
scheinend meist um' einen echten Erbschaden; doch kommt 
auch vorgeburtliche Schädigung der Frucht in Frage. Die hy- 
poplastischen Individuen gehen zum größten Teil schon im 
Säuglings- und Kindesalter zugrunde; ein Teil, besonders leich- 
tere Fälle, erreicht aber auch das erwachsene Alter. 

Die Aufstellung eines „Status degenerativus" halte ich 
für unglücklich. J. Bauei-2) definiert ihn als „jene allgemeinste 
Form konstitutioneller Anomalie, bei der ihr Träger eine mehr 
oder minder große Zahl sogenannter Degenerationszeichen 
aufweist". Seine Unterabteilungen sollen der „Status lymphati- 
cus, hypoplasticus, asthenicus, neuropathicus, exsudativus, ar- 
thriticus und wie sie alle heißen", sein. Es liegt auf der Hand, 
daß ein derartig unbestimmter, die allerverschiedensten Ano- 
malien umfassender Begriff für die Umgrenzung eines be- 
stimmten Zustandes nicht brauchbar ist. Als bloß zusammen- 
fassende Bezeichnung für alle genetisch verschiedenen Kon- 
stitutionsanomalien aber ist er überflüssig. Außerdem verführt 
ein solcher Name immer wieder zu der Vorstellung einer gene- 
tisch einheitlichen Entartung oder „Heredodegeneration" (s. cl). 
Das soll indessen nicht heißen, daß an der Lehre von den 
sogenannten Entartungszeichen, die sich im Anschluß 
an die Entartungslehre des französischen Psychiaters Morel 3 ) 
entwickelt hat, nicht etwas Wahres wäre. Unter Entartung 
verstehen wir heute freilich nicht mehr ein unentrinnbar fort- 
schreitendes Verhängnis, sondern die Neuentstehung und Aus- 
breitung krankhafter Erbanlagen. Die Frage nach den Ent- 
artungszeichen ist somit einfach die, ob es äußere Merkmale 
des Körpers gebe, auf Grund deren man auf krankhafte Erb- 
anlagen schließen könne. Das ist nun für eine recht erhebliche 

*) Bartel, J. Status thymico-lymphaticus und Status hypoplasticus. 
Leipzig und Wien, Deuticke 1912. 

K ) Bauer, J. Der Status degenerativus. Wiener klinische Wochen- 
schrift. 1924. Nr. 42. 

3 ) Morel, B. A. Traite des d^gencrescences physiques, intellectuelles 
et morales de l'espece humaine. Paris 1S57. 



420 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Zahl äußerer Merkmale tatsächlich zu bejahen. So kann man 
aus einem zu geringen Brustumfang auf erbbedingte körper- 
liche Schwäche schließen; andererseits gestattet großer Brust- 
umfang freilich nicht, erbliche Krankheit auszuschließen; in 
gewissen Fällen kann übermäßiger Brustumfang vielmehr ge- 
radezu eine Folge erblicher Krankheit (z. B. von Lungen- 
emphysem oder Fettsucht) sein. Allzu geringe Größe des 
Kopfes (Mikrokephalie) gestattet mit Sicherheit den Schluß 
auf Schwachsinn; andererseits aber kann übermäßige Größe 
des Kopfes ebenfalls Folge eines krankhaften Zustandes (z.B. 
von Wasserkopf) sein. Die zu kleinen Maße der Brust und des 
Kopfes sind der unmittelbare Ausdruck einer Unterentwick- 
lung der betreffenden Organe, während bei den großen Maßen 
der Zusammenhang nicht so eindeutig ist. Weiter kann ein 
äußeres abnormes Merkmal, das für sich keine krankhafte Be- 
deutung hat, von derselben Erbeinheit abhängig sein wie ein 
Organdefekt, der als solcher nicht so leicht zu erkennen ist. So 
kann man aus bläulichgrauer Farbe des „Weißen" im Auge 
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Knochenbrüchig- 
keit und mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch auf Schwer- 
hörigkeit schließen (vgl 1 . S. 400). Nun können aber auch erb- 
liche Anomalien, die nicht von derselben Erbeinheit abhängig 
sind, häufiger zusammen vorkommen, als nach Maßgabe der 
einzelnen Häufigkeiten zu erwarten wäre. So sind nach Nett- 
leship ca. 40/0 aller Taubstummen mit Netzhautverödung 
(Retinitis pigmentosa') behaftet und mindestens 3,3 !o der mit 
Netzhautverödung Behafteten zugleich taubstumm, obwohl die 
Ffäufigkeit jedes dieser Leiden noch nicht 1:1000 beträgt. 
Eine Erklärung liegt darin, daß beides rezessive Leiden sind, 
die besonders häufig aus Verwandtenehen hervorgehen. So 
kommt es, daß die Netzhautverödung bis zu einem gewissen 
Grade ein „Entartungszeichen" in bezug auf Taubstummheit 
ist, aber nur ein höchst unsicheres ; und ebenso umgekehrt. 
Eine weitere Ursache der Häufung verschiedener erblicher 
Mängel liegt in dem Umstände, daß Menschen mit körper- 
lichen oder seelischen Mängeln oft nur Ehegatten bekommen, 
die ebenfalls irgendwelche Mängel haben. Insbesondere im 
Bodensatz der Bevölkerung sammeln sich infolge sozialen Ab- 
sinkens der geistig und körperlich Schwachen allerlei erbliche 
krankhafte Zustände an. So entsteht eine Fläufung von „Ent- 
artungszeichen" in manchen Sippen. Man hat diese nur falsch 
gedeutet, wenn man daraus auf eine einheitliche „Entartung" 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



421 



geschlossen hat. Die Entartung ist nichts Einheitliches ; der 
Begriff der Entartung ist vielmehr nur eine Zusammenfassung 
für die Entstehung und Ausbreitung der alierverschiedenstcn 
krankhaften Erbanlagen. Eine Aufzählung der landläufigen 
„Entartungszeichen" findet sich z. B. bei Brugsch 1 ). 

Unter Trichtc r b rus t versteht man eine muldenför- 
mige Vertiefung der vorderen Brustwand am unteren Ende des 
Brustbeins. Es sind einige Sippen beschrieben worden, in 
denen die Trichterbrust dominanten Erbgang zeigt, so von 
Paulsen 2 ) und Peiper 3 ). Gelegentlich scheint eine Gene- 
ration übersprungen zu werden. Neuerdings faßt man die 
Trichterbrust als dysraphische Hemmungsmißbildung auf, die 
von einer krankhaften Erbanlage abhängig ist, die auch Sy- 
ringomyelie (s. d.) bedingen kann. 



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Fig. 124. 
Trichterbrust. Nach P a 11 1 s e n. 



Ais Arachnodaktylie („Spinnenfingerigkeit") ist eine Anomalie 
beschrieben worden, bei der die Gliedmaßen und insbesondere die Finger 
abnorm lang und dünn sind. Auch das Gesicht ist übermäßig lang, der 
Rumpf- asthenisch. Die Träger der Anomalie leiden meist zugleich an Ver- 
lagerung der Linse und oft an einem Herzklappenfehler. Von Weve 4 ) sind 
einige Sippen beschrieben worden, in denen die Anomalie dominanten (teils 
unregelmäßig) Erbgang zeigt. Nach Waardcnburg gibt es außerdem 
vielleicht auch rezessive Erbanlagen zu Arachnodaktylie. 

SeitlicheVerbiegungenderWirbelsäule(Sko- 
liosen) sind in manchen Familien durch einige Generationen 
verfolgt worden. Es scheint also dominante Erbanlagen zu ge- 
ben, die Skoliosen bedingen können. Früher führte man Sko- 
liosen meist entweder auf schiefe Haltung, besonders in der 



1 ) Brugsch, T h. Allgemeine Prognostik. 2. Aufl. Berlin und Wien 
1922. S. 242 ff. 

a ) Paulsen, J. Über die Erblichkeit von Thoraxanomalien. ARGB. 
Bd. 13. H. 1. 1918. ' 

3 ) Peiper, A. Über die Erblichkeit der Trichterbrust. Klinische Wo- 
chenschrift. Jg. 1. FI. 33. 1922. 

4 ) Weve, H. J. M. Über Arachnodaktylie. Archiv für Augenheil- 
kunde. Bd. 104. H. 1. 1931. 



422 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Schulbank, oder auf Rachitis zurück. Nach Schlesinger 1 ) 
ist die Schule aber unschuldig an der Skoliose, Auch die Be- 
deutung der Rachitis für die Entstehung von Skoliosen ist stark 
überschätzt worden. Angeblich „rachitische" Skoliosen häufen 
sich in manchen Sippen, ohne daß sonst ausgesprochene Zei- 
chen von Rachitis vorhanden zu sein brauchen. Zwei derartige 
Sippentafeln hat Ziesch 3 ) mitgeteilt. Auch C lassen 3 ) hat 
eine Sippe beschrieben, in der 7 Mitglieder an Skoliosen litten. 
Oft ist die seitliche Verbiegung mit einer nach hinten (Kyphose) 
verbunden. Auch übermäßige Biegung des Rückens (Rund- 
rücken) tritt sippenweisc gehäuft auf. Anscheinend spielen do- 
minante Anlagen dafür eine Rolle. Paulsen hat einige Sip- 
pentafeln mitgeteilt. Die Entstehung von Verbiegungen der 
Wirbelsäule wird durch Schwäche und Schlaffheit der Wirbel- 
säule, wie wir sie bei der Asthenie kennen gelernt haben, be- 
günstigt. 

K rampfade r n oder Varizen sind nach Curtius *) 
meist durch eine dominante Erbanlage bedingt. Sie bestehen 
in Erweiterungen von Venen und entstehen auf der Grundlage 
einer ererbten Schwäche der Venenwand, besonders häufig und 
schwer an den Unterschenkeln, weil hier zu dem sonstigen Blut- 
druck noch die Last der Blutsäule des stehenden Menschen 
kommt. Stehende Lebensweise oder sonstige Beeinträchtigung 
des Blutrückflusses begünstigen die Entstehung von Krampf- 
adern, doch führen diese Schädlichkeiten ohne entsprechende 
Veranlagung nicht zur Bildung von Krampfadern. Verhältnis- 
mäßig häufig finden sich Varizen bei Astfienikern; die allge- 
meine Bindegewebsschwäche bei Asthenie äußert sich hier in 
Schwäche der Venenwände. Eine besondere Art von Varizen 
sind die Hämorrhoiden, Erweiterungen der Venen am 
Ausgang des Mastdarms; ihre Entwicklung soll durch sitzende 
Lebensweise begünstigt werden, sicher gilt das von Schwanger- 
schaften. Gutmann 1 ) hat von einer Sippe berichtet, in der 



1 ) Schlesinger. Die rachitischen und konstitutionellen Verbiegun- 
gen der Wirbelsäule usw. Arch. £. Kinderheilkunde. Bd. 68. H. 1 u. 2. 1921. 

2 ) Z i e s c h , H. Statistisch-genealogische Untersuchungen über die Ur- 
sachen der Rachitis. ARGE. Bd. 17. II. 1. 1925. 

3 ) Classcn, K. Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen. 
ARGB. Bd. 13. H. 1. 1918. 

4 ) Curtius, F, Die hereditäre Ätiologie der Beinphlebektasien. Deut- 
sches Archiv für klinische Medizin. Bd. 162. H. 3/4. 1928. S. 184. 

B ) Gutmann, M. J. Zur Vererbung der Hämorrhoiden. ARGE, Bd. 
17. H. 3. 1925. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



423 



14 Mitglieder an Hämorrhoiden litten, obwohl die meisten keine 
sitzende Lebensweise führten. 

Die Aufstellung eines „Status varicosus" durch Curtius 1 ) 
kann ich nicht als einen Fortschritt ansehen. Wohl gibt es erbbedingte 
Schwächezustände, die mehr oder weniger das ganze Venensystem betreffen, 
aber eben genetisch verschiedene. Siemens 3 ) hat den Begriff „Status 
varicosus" treffend kritisiert und u. a. gezeigt, daß Teleangiektasien sich 
unabhängig von Varizen vererben. Neuerdings sagt Curtius 3 ) selber: 
„Innerhalb der Gruppe Status varicosus-Kranker treten die einzelnen Phleb- 
ektasien unabhängig auf." Der „Status varicosus" ist also keine genetische 
Einheit. Als bloße zusammenfassende Bezeichnung für alle möglichen Arten 
von Venenschwächen ist das Wort aber zu anspruchsvoll und als Diagnose 
zu allgemein, um so mehr als nach Curtius im Alter von 35 bis 50 
Jahren 70% (|) der „Normalbevölkerung" an „Status varicosus erkranken" 
sollen. Die Annahme, daß er „ein Fall von sog. multipler Allclie" sei*), 
ist ganz unbegründet; und selbst wenn er es wäre, würde das keine gene- 
tische Einheit bedeuten. Man vergleiche das über „Status degenerativus" 
und „Status dysraphicus" Gesagte. 

Bei der Chondrodystrophie (Achondroplasie) sind die 
Gliedmaßen zwerghaft kurz (Mikromelie), während Kopf und 

Rumpf von annähernd 

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Fig. 125. 
Chondrodystrophie. Nach E o n n e v i e. 



normaler Größe sind. 
Das Leiden beruht 
auf einem mangel- 
haften Wachstum der 
Knorpelzoiien in den 
langen Knochen (Epi- 
physenfugen), in de- 
nendasLängenwachs- 
tum der Knochen 
sonst erfolgt. Es gibt 
verschieden schwere 
Formen von Chon- 
drodystrophie. Die leichteren Formen werden als Chondro- 
hypoplasie bezeichnet. Als eine ganz leichte Form kann 
man auch die Brachyphalangie anseilen, bei der auch die 
ganzen Gliedmaßen verhältnismäßig kurz sind. Im Trea- 

2 ) Curtius, F. Die allgemeine ererbte Venenwanddysplasie (Status 
varicosus). Deutsches Archiv für klin. Medizin. Bd. 162. II. 5/6. S. 330. 1928. 

a ) Siemens, PI. W. Die Krisis der Konstitutionspathologie. Münchn. 
med. Wochenschr. 1934. Nr. 14. S. 515. 

3 ) Curtius, F. und Scholz, E. Untersuchungen über das mensch- 
liche Venensystem. Die medizinische Welt. 1935. Nr. 22. 

+ ) Curtius, F. und P a s s , K. E. Untersuchungen über das mensch- 
liche Venensystem. Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitu- 
tionslehre. Bd. 19. H. 2. S. 175. 



424 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



sury 1 ) sind 75 Sippcntafeln mit Cliondrodystrophie wieder- 
gegeben. Einige von diesen zeigen dominanten Erbgang, z. B. 
der von Hergott. Die Regel ist das aber nicht. Gerade 
die schweren Formen der Chondrodystrophic scheinen auf re- 
zessiven Erbanlagen zu beruhen. Frauen mit schwerer Clion- 
drodystrophie haben so enge Becken, daß eine Geburt auf 
natürlichem Wege nicht möglich ist. Dominante Anlagen, die 
eine so schwere Chondrodystrophie bedingen würden, würden 
daher alsbald wieder ausgemerzt werden. Eine Sippe mit 
offenbar rezessiver Chondrodystrophie hat Kristine Bon- 
nevie 2 ) veröffentlicht. Mit der Annahme rezessiven Erb- 
gangs sind auch die meisten andern Sippentafeln über Chon- 
drodystrophie vereinbar. 

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Fig. 126. 
Zwergwuchs nach II a n h a r t 3 ). (Ausschnitt.) 

Bei Hunden wird leichte Chondrodystrophie in der Rasse der Dachs- 
hunde oder Teckel weitergezüchtet. Ursprünglich wurden die Teckel ge- 
züchtet, weil sie im Unterschied zu den langbeinigen Hunden in Fuchs- und 
Dachsbauten hineinschlüpfen konnten. Dieser Umstand bedeutete in der Hand 
des Züchters einen Erhaltungsvorteil für die chondrodystrophische Anlage 
und sie wurde daher als Eigenschaft einer besonderen Rasse gezüchtet. 

Unter dem Namen Zwergwuchs werden mehrere Zu- 
stände zusammengefaßt, denen im Grunde nichts gemeinsam 

1 ) Rieschbieth, H. und Bar rington, A. Dwarfism. Treasury 
of Human Inheritance. Part. VII u. VIII. 1912. 

2 ) B o n 11 e v i e , K. ArveLighetsundersokelser i Norge. Kristiania (Oslo) 
1915. 

3 ) Hanhart, E. Über heredodegenerativen Zwergwuchs. Archiv der 
Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 1. Ii. 2. Zürich 1925. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



425 



ist, als abnorm kleine Körperlänge. Martin rechnet als Grenze 
des Zwergwuchses für das männliche Geschlecht 130 cm, für 
das weibliche 121 cm. Eine Art des Zwergwuchses ist der 
soeben besprochene chondrodystrophische. 

Am besten bekannt ist die von dem Züricher inneren Kli- 
niker und Erblichkeitsforscher Ernst Hanhart klargestellte 
Art des Zwergwuchses. 

H an hart 1 ) beschreibt solche Zwerge aus der Gegend von Oberegg 
im Kanton Appenzell. „Jedem, der in jene Gegend kommt, fallen die dorti- 
gen, ganz proportioniert und intelligent aussehenden Zwerge auf, von denen 
sich einige nicht ungern sehen lassen, um durch den Verkauf von Postkarten 
oder Bedienung der Gäste in einer Wirtschaft aus ihrem Defekt einen kleinen 
Gewinn zu schlagen. Die Eltern sowie die Mehrzahl der Geschwister dieser 
85 bis 106 cm hohen Zwerge sind normal groß. Übergänge vom normalen 
Wuchs zur Zwerghaftigkcit fehlen. Auch die Zwerge selbst sollen bei der 
Geburt normal groß gewesen sein; von einer jetzt 105 cm großen 2 2j ähri- 
gen Zwergin wurde mir berichtet, daß sie bei der Geburt volle 8 Pfund ge- 
wogen hätte. Für alle Zwerge übereinstimmend lautet die Auskunft, daß die 
Entwicklung zunächst normal vonstatten ging und der Wachstumsstillstand 
erst im Verlaufe des dritten Lebensjahres einsetzte." Eine Sippentafcl nach 
Ii a n h a r t gebe ich in Fig. 126 wieder. 

Hanhart hat dieselbe Art Zwergwuchs auch im Sam- 
nauntal (Unterengadin) und auf der Insel Veglia bei Fiume 
gefunden, wo sie vorher fälschlich als „maritimer Kretinismus" 
aufgefaßt worden war. Der Erbgang des Hanhart sehen 
Zwergwuchses ist offensichtlich einfach rezessiv. Er kommt 
demgemäß vorzugsweise in Inzuchtgebicten vor. 

Der Hanhartsche Zwergwuchs beruht wahrscheinlich auf 
einem erbbedingten Defekt des Hypophysenvorderlappens (hy- 
pophysärer Zwergwuchs). Smith und MacDowell 2 ) ha- 
ben bei Mäusen einen rezessiven Zwergwuchs gefunden, der 
auf Hypoplasie des Hypophysenvorderlappens beruhte. Durch 
Einpflanzung von Rattenhypophysen in die Beine konnte bei 
jungen Tieren der Zwergwuchs ausgeglichen werden. Der 
Hypophysenvorderlappen blieb aber natürlich verkümmert. 

Die Bezeichnung „heredodegenerativer" Zwergwuchs ist zur Kennzeich- 
nung des Hanhartschen Zwergwuchses nicht geeignet. Sie stammt aus einer 
Zeit, als man sich noch nicht klar darüber war, daß auch die übrigen Arten 
des Zwergwuchses ,, hereditär", d. h. erbbedingt sind; ,, degenerativ", d. h. 
entartungerzeugend ist auch der hypophysäre Zwergwuchs nicht. 

Im Gegensatz zum hypophysären Zwergwuchs äußert sieb 
der sogenannte primordiale Zwergwuchs (v. Hanse- 

J ) Ii an hart, E. Über die Bedeutung der Erforschung von Inzuchts- 
gebieten usw. Schweizerische med. Wochenschr. 1924. H. 50. 

2 ) Smi t h , P h. E. und MacDowell, E. C. An hereditary anterior 
pituitary deficiency in the mousc. Anatomical Record. Bd. 46. 1930. 



426 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



mann) schon bei der Geburt in abnormer Kleinheit des gan- 
zen Körpers. Diese Zwerge weisen im erwachsenen Zustande 
dieselben Körperproportionen auf wie normale Menschen, nur 
mit dem Unterschied, daß sie eben viel kleiner sind. 

Der rassenhafte Zwergwuchs der Pygmäen Afrikas und Inselindiens 
ist von dem primordialen Zwergwuchs nicht wesensverschieden. Dort ist der 
Zwergwuchs nicht als krankhaft anzusehen, da er eine selektive Anpassung 
an kümmerliche Lebensbedingungen darstellt. 

Bei Hunden wird primordialer Zwergwuchs aus Liebhaberei in Form be- 
sonderer Rassen weitergezüchtet. 

Eine weitere Art erblichen Zwergwuchses ist der inf an- 
tilistische Zwergwuchs, bei dem der Schädel wie das 
ganze Skelett bis ins Alter kindliche Formen bewahrt. Die 
Knorpelfugen der Knochen verknöchern nicht, und auch die 
Geschlechtsorgane bleiben auf kindlicher Stufe stehen; doch ist 
es wohl nicht berechtigt, die Unterentwicklung der Keimdrüsen 
als „Ursache" dieses Zwergwuchses aufzufassen. Auch die Hor- 
monorgane (Drüsen innerer Sekretion) sind eben in der Erb- 
masse angelegt, und ihre Unterentwicklung ist als ein Teil der 
allgemeinen Unterentwicklung anzusehen. Der infantilistische 
Zwergwuchs kann als extreme Form des Infantilismus aufge- 
faßt werden. Kraft 1 ) hat aus zwei Verwandtenellen innerhalb 
einer Sippe drei infantilistische Zwerge hervorgehen sehen. Das 
spricht für rezessiven Erbgang. 

Riese h biet h und Barringto n 2 ) haben im Treasury eine An- 
zahl von Stammbäumen über Zwergwuchs („Ateleiosis" 3 )) zusammengestellt. 

Dort sind aber die verschiedenen Ar- 
ten des Zwergwuchses nicht genügend 
unterschieden. 3 Sippcntafeln von Gil- 
f o r d und L e v y über anscheinend 
primordialen Zwergwuchs zeigen domi- 
nanten (bzw. intermediären) Erbgang, 



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Fig. 127. 
Zwergwuchs nach Seile. 



eine Sippentafel von Taruffi spricht 
für rezessiven. In einem Falle stamm- 
ten 14 normal wüchsige Kinder von 
zwei zwerghaft kleinen. Eltern ab. 
Man darf in diesem Falle wohl an- 
nehmen, daß der Zwergwuchs der 
Eltern nicht auf derselben, sondern auf 
zwei verschiedenen rezessiven Erban- 
lagen beruhte und daß bei den Kindern jede dieser Anlagen durch die 
allele normale vom andern Elter her überdeckt wurde. 

1 ) Kraft, A. Ein Beitrag zum Erbgang des Zwergwuchses (Nanoso- 
mia infantilis). Münch. med. Wochenschr. 1924. H. 24. 
3 ) A.a.O., vgl. S. 424. 

3 ) ,,Ateleiosis" bezeichnet wörtlich einen Zustand, bei dem das Ziel der 
Entwicklung nicht erreicht wird. 



ANOMALIEN DER KÖRPERFORM. 



427 



Seile 1 ) hat über eine Sippe berichtet, in der leichter Zwergwuchs 
dominant erblich war. Es bestätigt sich hier die Regel, daß innerhalb einer 
Gruppe von Erbleiden die leichteren dominant (so auch die Brachydaktylie), 
die schwereren rezessiv zu sein pflegen. Wie die „dominanten" Anlagen sich 
bei Homozygoüe äußern würden, weiß man nicht, möglicherweise noch 
schwerer krankhaft als die rezessiven oder selbst letal. Es ist also sehr wohl 
möglich, daß eine derartige „dominante" Anlage, die sich im Gegensatz zu 
den rezessiven schon in Einzahl äußert, im Grunde eine schwerere Störung 
der Erbmasse darstellt. 

Abgesehen von diesen seltenen krankhaften Erbanlagen 
gibt es natürlich eine große Zahl normaler, die von Einfluß 
auf die Körperlänge sind. Die Unterschiede innerhalb der Breite 
des Normalen haben sich demgemäß als polymer erbbedingt 
erwiesen 2 ). 

Unter den inneren Drüsen übt besonders die Hypophyse einen Einfluß 
auf die Körpergröße aus. Der hypophysäre Zwergwuchs als Folge einer 
Hypoplasie des Hypophysenvorderlappens wurde schon besprochen. Bei über- 
mäßiger Tätigkeit dieses Organs entsteht eine eigentümliche Art von Riesen- 
wuchs, die in der Hauptsache die gipfelnden Teile wie Hände, Füße, Nase, 
Kinn betrifft. Diese sogenannte Akromegalie ist nach Grote 3 ) häu- 
tig erblich. 

Auch die Schilddrüse beeinflußt das Wachstum. Bei dem auf Schild - 
drüsemnangel beruhenden Myxödem bleiben die Kinder zwerghaft klein. 
Personen mit Hyperthyreose dagegen sind im Durchschnitt größer als der 
sonstige Durchschnitt. In Kropfgegenden ist der Kretinismus die häufigste 
Ursache von Zwergwuchs. Charakteristisch ist dabei die Einziehung der 
Nasenwurzel, die ein Ausdruck der Wachstumshemmung der Schädelbasis 
ist und sich bei allen allgemeinen Wachstumshemmungen der Knorpelzonen 
der Knochen findet, z. B. auch bei Chondrodystrophie. Schließlich haben 
auch die Keimdrüsen (Gonaden) wesentlichen Einfluß auf die Körpergröße. 

Die Rachitis kann durch Verlegungen der Knochen zu einer Beein- 
trächtigung der Körpergröße führen. Der Begriff des „rachitischen Zwerg- 
wuchses" ist aber sehr unkritisch ausgedehnt worden. 

Der Situs viscerum in versus, ein seltener Zustand, bei dem 
die Lage aller Organe zwischen rechts und links vertauscht ist, ist in ein- 
zelnen Fällen bei Geschwistern beobachtet worden. In einem von Ochse- 
nius 4 ) beschriebenen Falle stammten zwei Brüder mit Situs inversus aus 
einer Vetternehe. 

Linkshändigkeit ist nach den Zwillingsunter suchungen von Sie- 
mens nicht in dem Maße in der erblichen Veranlagung begründet, wie man 
das meist angenommen hatte. Siemens 6 ) hat 21 Paare eineiiger Zwil- 

1 ) Seile, G. Über Vererbung des echten Zwergwuchses. Jena 1920 
(Dissertation). 

2 ) Davenport, C. B. Inherltance of Stature. Eugenics Record 
Office. Bulletin Nr. 18. 1 9 1 7. 

3 ) Grote, L. R. Grundlagen ärztl. Betrachtung. Berlin 1921. Springer. 

4 ) Ochsenius, K. Über familären Situs inversus. Monatsschr. f. 
Kinderheilkunde. Bd. 19. H. 1. 1921. 

B ) Siemens, H. W. Über Linkshändigkeit. Virchows Archiv. Bd. 
252. H. 1. 1924. 



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428 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



lingc gefunden, von denen der eine Zwilling rechtshändig, der andere links- 
händig war, Weitz unter 18 Paaren 7. Es scheint überhaupt, daß von zwei 
Zwillingen oft der eine rechts-, der" andere linkshändig ist. Man kann sich 
vorstellen, daß Zwillingsfrüchte, die im Muttcrleibe benachbart liegen, vor- 
zugsweise für die außen liegenden Hände Entwicklungsfreiheit haben. 
Außerdem scheint bereits die erste Teilung in manchen Fällen eine Spiegel- 
bildasymmetrie zur Folge zu haben. Die gesamte Häufigkeit der Linkshändig- 
keit wird auf 4 bis 5 0/0 aller Erwachsenen und auf mindestens io°/o aller 
Kinder angegeben. Ein erheblicher Teil linkshändiger Kinder wird unter 
dem Einfluß der Erziehung später noch rechtshändig. Die Händigkeit ist 
also weitgehend von äußeren Einflüssen abhängig. 

f) Erbliche Diathesen (Anfälligkeiten). 

Unter Diathesen verstehen wir abnorme Anfällig- 
keiten gegenüber Einflüssen der Umwelt, die von normalen 
Menschen ohne Schaden vertragen werden. In vielen Fällen 
ist die Anfälligkeit so groß, daß schon die alltäglichen Um- 
welteinflüsse zur Auslösung krankhafter Erscheinungen genü- 
gen. Derartige Diathesen äußern sich daher an allen da- 
mit behafteten Individuen. Schwächere Diathesen dagegen 
können unter günstigen Umweltbedingungen dauernd verbor- 
gen bleiben. 

Besonders eindrucksvoll äußern sich allerlei Diathesen im 
Kindesalter. Daher pflegen in erster Linie die Kinderärzte von 
Diathesen zu sprechen. Grundsätzlich aber sind Diathesen kei- 
neswegs auf das Kindesalter beschränkt; und nicht wenige Dia- 
thesen pflegen sich erst in einem bestimmten höheren Alter zu 
äußern. Zunächst sollen hier aber jene erblichen Diathesen 
besprochen werden, die sich vorzugsweise im Kindesalter gel- 
tend machen. 

Die Erforschung des Erbgangs gerade der kindlichen Diathesen be- 
gegnet großen Schwierigkeiten. Eine dieser Schwierigkeiten liegt darin, daß 
manche Diathesen unter günstigen Umweltverhältnlssen dauernd verborgen 
bleiben können. Eine weitere liegt in dem Umstände, daß die Eltern zur 
Zeit der Untersuchung meist keine Zeichen mehr davon zeigen und ihre An- 
gaben über die eigene Kindheit nur mit großer Vorsicht zu verwerten sind. 
Dazu kommt noch die weitere Schwierigkeit, daß eine endgültige Abgren- 
zung und Unterscheidung der Diathesen erst nach Klarstellung ihrer erb- 
biologischen Beziehungen möglich wäre. Die vorerst allein mögliche Ein- 
teilung nach den klinischen Krankheitszeichen kann daher nur eine vor- 
läufige sein (v. Pfaundler 1 )). Genauere Aufklärung der Erbbedingtheit 
der kindlichen Diathesen ist von der Zwillingsforschung an Säuglingen und 
Kleinkindern zu erwarten. 



*) v. Pfaundler, M. Über Wesen und Behandlung der Diathesen im 
Kindesalter. Wiesbaden. Bergmann 191 1. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



429 



Am bekanntesten ist die sogenannte exsudative oder 
entzündliche Diathese. Damit behaftete Säuglinge werden 
leicht wund und neigen zu Entzündungen und juckenden Aus- 
schlägen der Haut. Auf dem Kopf bilden sich leicht Schuppen 
und Borken, auf den Wangen der sogenannte „Milchschorf". 
Aber auch die Schleimhäute sind abnorm empfindlich. Die 
Kinder neigen zu katarrhalischen und asthmatischen Beschwer- 
den. Die ausgesprochene familienweise Häufung der exsuda- 
tiven Diathese spricht für dominante Erbanlagen; doch sind 
auch andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Nach 
Czerny und v. Pfaundler wird die Anlage häufiger von 
den Müttern als von den Vätern übernommen. Weibliche Über- 
träger der Erbanlage können nach v. Pfaundler anschei- 
nend von der Diathese freibleiben. Ein erheblicher Teil der 
Erbanlagen, die exsudative Diathese bedingen können, scheint 
also rezessiv geschlechtsgebunden zu sein. Damit stimmt die 
Erfahrung überein, daß viel mehr Knaben als Mädchen da- 
von betroffen werden, v. Pfaundler fand unter 200 Fällen 



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Fig. 128. 

Neigung zu Hautentzün- 
dungen (Ekzem) im Kindesalter. 
Aus Material v. Pfaundlers. 



Fig. 129. 

Neigung zu Schleimhaut- 

katarrhen im Kindesalter. 

Aus Material v. Pfaundlers. 



ein Zahlenverhältnis von 2 Knaben: 1 Mädchen. Es bestehen 
Beziehungen zu den Allergien (s. d.). Erbanlagen, die sich im 
Säuglingsaltcr in exudativen Ekzemen äußern, können im spä- 
teren Leben die Grundlage anderer allergischer Reaktionen 
abgeben. 

Die dystrophische Diathese besteht in einer ab- 
normen Anfälligkeit gegenüber Ernährungsstörungen im Säug- 
lingsalter. „Günstig veranlagte Säuglinge gedeihen oft in mu- 
stergültiger Weise bei einem Ernährungsregime., das jedem 
Kinderarzte die Haare zu Berge stehen läßt" (v. Pfaundler). 
Andere sind sehr empfindlich gegen artfremde Milch, z. B. 



tf 



9 



430 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Kuhmilch (Heterodystrophie nach v. Pfaundler). Anderer- 
seits kommen — wenn auch selten — Säuglinge vor, die nicht 
einmal die Milch der eigenen Mutter vertragen 1 ). Die schweren 
Ernährungsstörungen des Säuglingsalters sind zum großen 
Teil weniger Folgen unzweckmäßiger Nahrung als vielmehr 
dystrophischer Diathese. Das gilt auch mindestens von einem 

Teil jener Zustände völligen Ver- 
sagens der Ernährung, die als De- 
komposition (früher meist „Atro- 
phie") bezeichnet werden. Auch die 
Neigung zu starken Schwankungen 
des Wassergehaltes und damit des 
Gewichtes („Tropholabilität") kann 
man in diese Gruppe rechnen. F ried- 
jung 2 ) hat gefunden, daß die Eltern 
von Brustkindern, die trotz aller 
Pflege an Ernährungsstörungen lit- 
ten, in der großen Mehrzahl ebenfalls unter Verdauungsstö- 
rungen zu leiden hatten, während die Eltern ungestört ge- 
deihender Brustkinder zum allergrößten Teil eine gute Ver- 
dauung hatten. Das spricht für starke Beteiligung dominanter 
Erbanlagen an der dystrophischen Diathese. 

Eineiige Zwillinge pflegen in der gleichen Weise zu gedeihen. Die 
Kurve ihrer Gewichtszunahme stimmt meist über ein. Perioden des Stillstands 
oder des Rückschlags püegen bei beiden gleichzeitig aufzutreten, vor allem 
auch Ernährungsstörungen 3 ) 4 ). Bei zweieiigen Zwillingen ist diese Überein- 
stimmung viel geringer, ein Beweis, daß sie nicht nur durch die gleichartige 
Haltung bedingt ist. 

Die lymphatische D i a t h e s e äußert sich im Kindes- 
alter in abnormer Größe der Mandeln, der Lymphdrüsen am 
Halse sowie sonstiger lymphatischer Organe („Status lympha- 
ticus"). Diese Kinder neigen meist zugleich zu Schleimhaut- 



Fig. 130. 

Dystrophische Diathese. 
Nach v. Pfaundler. 



1 ) Zum Teil ist Unbckömmlichkeit der Mutterbrust allerdings auch 
durch unzweckmäßige Ernährung der Mutter veranlaßt. 

2 ) Fricdj ung, J. K. Ernährungsstörungen der Brustkinder und 
Konstitution. Zeitschrift für Kinderheilkunde 1913. 

3 ) Rohr, F. Über eineiige Zwillinge. Zeitschrift für Kinderheilkunde. 
Bd. 26. S. 304. 1920. 

— Ernährungsstörung gleichartigen Verlaufs bei eineiigen Zwillingen. 
Deutsche med. Wochenschr. 1923. Nr. 28. 

4 ) Lehmann, W. Zwiüingspathologischc Untersuchungen über die 
dystrophische Diathese. Bericht über die 11. Jahresversammlung der Deut- 
schen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft. Leipzig 1935. Borntraeger. 
S. 128. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



431 



katarrhen und Mandelentzündungen sowie zu pastösem Aus- 
sehen infolge übermäßigen Wassergehalts der Gewebe. Wenn 
Kinder von lymphatischer Konstitution an Tuberkulose erkran- 
ken, so pflegt diese sich unter dem Bilde der sogenannten 
Skrophulose zu entwickeln, die vorzugsweise die Drüsen be- 
fällt. Auch die lymphatische Diathese beruht anscheinend zum 
großen Teil auf dominanten Erbanlagen. 

Man hat auch gemeint, daß damit ein abnormes Bestehenbleiben dci 
Thymusdrüse über das Kindesalter hinaus zusammenhänge („Status Üiymico- 
lymphaticus") und hat Todesfälle bei geringfügigen Anlässen wie kleinen 
Operationen oder ganz ohne erkennbare Ursache, weiter seelische Anomalien 
und Neigung zu Selbstmord darauf zurückführen wollen. Nach neueren Er- 
fahrungen scheint diese Auffassung aber nicht haltbar zu sein. Wenn bei 
plötzlich verstorbenen jungen Leuten die Thymusdrüse in voller Erhaltung 
gefunden wird, bei solchen, die an längerer Krankheit starben, aber nicht, so 
scheint das einfach darauf zu beruhen, daß bei längerer Krankheit die Thy- 
musdrüse besonders stark abmagert. 




Chronische Lymphdriisenvcr- 

größerung. Nach Material 

v. Pfaundlers. 



Fig. 132. 

Chronische L y m p h - 
d r ü s e n v e r g r ö ß c r ung 
(($) und Neigung zu 

S c h 1 c i m h a u t k a t a r r h e n 
(©) oder beides (®). Nach 
Material v. Pfaundlers. 



Wenn im Vordergrunde des Krankheitsbildes eine Vergrö- 
ßerung der Lymphapparate des Rachens und besonders der 
Mandeln steht, so spricht man von adenoider Konstitu- 
tion. Durch abnorme Größe der Rachenmandel wird die 
Nasenatmung erschwert. Da die betreffenden Kinder vorzugs- 
weise durch den Mund atmen, soll der Oberkiefer eng, der 
Gaumen schmal und spitz gewölbt werden. Zum Teil dürfte 
der Zusammenhang aber auch dahin zu deuten sein, daß der 
enge Gaumen ein unmittelbarer Ausdruck derselben erblich be- 
dingten Schmalheit des Oberkiefers ist, die sich auch in der 
Enge des Nasenrachenraumes äußert. 

Adenoide Konstitution disponiert zu Mittelohrentzündung 
und damit indirekt zur Schwerhörigkeit. Manche Ärzte sind 



432 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



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C? 



9 o*9 cT 9 5 



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9 9 9 
o 1 



der Meinung, daß sie auch die geistige Entwicklung beein- 
trächtigt. 

Die lymphatische bzw. adenoide Veranlagung scheint besonders im Kü- 
stengebiet Nordwesteuropas verbreitet zu sein. Nach Peyser 3 ) war unter 
8oo ooo holländischen Schulkindern 6% abnorme Größe der Mandeln schon 
äußerlich anzusehen. Lymphatische Kinder aus dem Binnenland schickt man 
an die See, weil der Aufenthalt an der See erfahrungsgemäß günstig wirkt. 
Vielleicht hat sich gerade darum im Küstengebiet die lymphatische Anlage 
so stark ausbreiten können. Die Anlage besteht vielleicht in abnorm empfind- 
licher oder abnorm starker Reaktionsfähigkeit der Lymphapparate auf die 
Erreger katarrhalischer Infektionen. Die Nasenatmung wird natürlich um 
so leichter behindert, je schmaler die Nase gebaut ist; und gerade die nor- 
dische Rasse zeichnet sich durch Schmalheit der Nase aus. Vermutlich rührt 
es daher, daß näselnde Sprache als Zeichen von Adel galt und nachge- 
ahmt wurde. 

Siemens und Weitz 
haben bei ihren Zwillings- 
untersuchungen gefunden, 
daß eineiige Zwillinge in 
bezug auf die Größe der 
Mandeln bzw. das Vorhan- 
densein adenoider Wuche- 
rungen regelmäßig über- 
einstimmen. Aus eigener 
Erfahrung kann ich eine 
Sippentafel beibringen, in 
dem sich adenoide Kon- 
stitution bei anscheinend 

dominantem Erbgang durch vier Generationen verfolgen 

läßt. 

Von einer Besprechung der „vagotonischen" bzw. „eosinophilen" und 
der „neuropathischen" Diathesen in diesem Zusammenhange sehe ich ab. 
Von den betreffenden krankhaften Anlagen wird bei. den Allergien bzw. 
den Psychopathien die Rede sein. 

Zustände entzündlicher, dystrophischer, lymphatischer, va- 
gotonischer und neuropathischer Diathese treten häufiger ge- 
meinsam auf, als nach der Häufigkeit der einzelnen Zustände 
zu erwarten wäre. So zeigten in einem Materiale v. Pfaund- 
lers 1 ) unter 55 lymphatischen Kindern 44, d. h. ca. 80% zu- 
gleich entzündliche Erscheinungen, und 25, d. h. ca. 45°/°> zu " 
gleich psychopathische. Durch solche Erfahrungen sind raan- 



O 1 «f 9 



Hg- 133- 

Adenoide Konstitution. 
Eigene Beobachtung. 



i) Peyser, A. Hals-, Nasen-, Ohrenleiden. In Grot Jahns ,, Sozialer 
Pathologie". 2. Aufl. Berlin 1923. J. Springer. 

2 ) v. Pfaundler, M. Kindliche Krankheitsanlagen (Diathesen) und 
Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zeit sehr. f. Kinderheilkunde 1912. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



433 



che Ärzte verführt worden, den Begriff der „exsudativen Dia- 
these" übermäßig weit zu fassen und auch noch alle die übri- 
gen genannten Zustände, außer den entzündlichen, dazu zu 
rechnen. Demgegenüber hat v. Pfaundler gezeigt, daß 
solche „kombinierten" Diathesen in eine Anzahl einzelner Dia- 
thesen aufzulösen sind, die sich miteinander nach dem Gesetz 
der Wahrscheinlichkeit, also wie unabhängige Erbeinheiten, 
kombinieren. Das unverhältnismäßig häufige Zusammentref- 
fen mehrerer dieser Zustände erklärt sich daraus, daß gewisse 
Erbanlagen mehrere solcher Zustände zugleich bedingen kön- 
nen, andere aber nur einzelne, v. Pfaundler hat darauf 
hingewiesen, daß ja auch andere erbliche Merkmale wie z. B. 
die Farben von Haar, Auge und Haut in Korrelation stehen, 
aber nicht in absoluter. Gewisse Erbanlagen bedingen zugleich 
Pigmentbildung in Haar, Auge und Haut oder in zweien die- 
ser Organe, andere nur im Haar, nur im Auge oder nur in der 
Haut (vgl. oben S.332). Zum großen Teil auf dieselbe Weise 
dürften auch die Korrelationen der verschiedenen Diathesen 
zu erklären sein. Auch kann die Äußerung einer Anlage zur 
Auslösung einer andern beitragen. So bewirken entzündliche 
Erscheinungen der Haut und der Schleimhäute (juckender 
Ausschlag, Bronchialkatarrh) natürlich leicht auch Störungen 
des psychischen Befindens, die ohne jene andere Anlage viel- 
leicht nicht in die Erscheinung getreten wären. Pastöse Auf- 
schwemmung der Haut infolge dystrophischer oder lymphati- 
scher Diathese bringt zugleich eine Anfälligkeit der Haut zu 
entzündlichen Veränderungen mit sich. 

Zum Teil können wohl auch klinisch wesensgleiche Krank- 
heitsbilder durch ErbanLagcnvon verschiedenem Erbgang bedingt 
sein. Die entzündlichen Reaktionen z. B., die bei entzündlicher 
Diathese auftreten, sind ja nicht nur durch eine einzige oder 
durch einige wenige krankhafte Erbanlagen bedingt, sondern 
sie liegen ihrer Möglichkeit nach offenbar auch in „normalen" 
Erbmassen begründet, nur mit dem Unterschied, daß sie hier 
nicht durch die alltäglichen Einflüsse der Umwelt, sondern erst 
durch starke entsprechende Reize ausgelöst werden. Vermut- 
lich gibt es gewisse Erbanlagen, die als Verstärker (Aktiva- 
toren, SensibiUsatoren) leichter — sonst unwirksamer — Reize 
wirken, derart, daß diese bei Vorhandensein einer derartigen 
Erbanlage doch schon zu entzündlichen Erscheinungen führen. 
Eine derartige Erbanlage wäre praktisch dann eine Anlage zu 
entzündlicher Diathese. Wenn eine solche Verstärkung der 

K a u r - F > s c h e r - 1, e n z I. 28 



434 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN 

Reize nur bei Vorhandensein zweier gleichartiger Erbanlagen 
eintreten würde, so würde es sich um rezessive Erbanlagen zrj 
entzündlicher Diathese handeln; wenn aber schon eine ein- 
zige dazu genügen würde, würde sie als dominante Erbanlage 
zu entzündlicher Diathese angesehen werden. Dabei würde 
aber die Möglichkeit zu den entzündlichen Reaktionen im 
Grunde auch schon in normalen Erbmassen gegeben sein, 
aber erst im Zusammenwirken mit stärkeren äußeren Schäd- 
lichkeiten. So kann derselbe Zustand bald durch dominante, 
bald durch rezessive Erbanlagen und bald auch nur durch 
äußere Einflüsse verursacht erscheinen. Das scheint mir von 
grundsätzlicher Bedeutung auch für manche andere krankhaf- 
ten Zustände zu sein 1 ). 

Ja mehr noch: die in der normalen Erbmasse gelegene 
Möglichkeit entzündlicher Reaktionen ist offenbar erhaltungs- 
gemäß, indem sie der Abwehr bzw. der Heilung von Schäden 
dient. Man muß also daran denken, daß das Fehlen solcher 
Reaktionsmöglichkeiten oder ihre zu große Schwäche geradezu 
krankhaft sein und zwar auf krankhafter Erbanlage beruhen 
kann. Möglicherweise sind also Kinder, die auch bei sehr un- 
natürlicher Nahrung gut zu gedeihen scheinen oder die trotz 
starker Reizung der Haut keine Entzündungserscheinungen be- 
kommen, im Grunde krankhaft veranlagt. Vermutlich fehlen 
ihnen Reaktionsmöglichkeiten, die in andern Lebenslagen le- 
bensrettend wären. Daher ist weder eine besonders große 
noch eine besonders kleine Empfindlichkeit der Reaktionen 
eigentlich normal, sondern vielmehr Grade, die zwischen diesen 
Extremen liegen. 

Als rachitische Diathese bezeichnen wir die An- 
lage zur Rachitis oder „englischen Krankheit". Diese be- 
ruht auf einer Störung der Knochenbildung bzw. des Kalk- 
stoffwechsels im Säuglings- und Kleinkindcsalter. Schon ge- 
bildeter Knochen kann wieder entkalkt und dadurch weich und 
biegsam werden. Die Folge sind oft starke Verbicgimgen der 
Beine, des Beckens und anderer Skeletteile. Auch die Zahn- 
bildung wird gestört. Männliche Kinder werden häufiger be- 
fallen als weibliche. 

Zum guten Teil wird die Rachitis durch Umweltschäden 
veranlaßt, durch Mangel an Licht und durch unzweckmäßige 

*) Zu meiner Freude hat v. Pfaundler diesen meinen Ausführungen 
zugestimmt in seinem Beitrag „Konstitution und Konstitutionsanomalien" 
zum Handbuch der Kinderheilkunde von v. P faundler und Schloß- 
mann. 4. Aufl. Bd. 1. S. 645. Berlin 1 93 1 . 



ERBLICHE DIATHESEN. 



435 



Ernährung. Auf der Suche nach einem „Vitamin D", dessen 
Fehlen in der Nahrung Rachitis verursachen sollte, hat "Wind- 
aus ein Lipoid entdeckt, das Ergosterin, das durch Sonnen- 
bestrahlung die Fähigkeit erwirbt, vorbeugend und heilend 
auf die Rachitis zu wirken. Trotz dieser klaren Bedeutung 
von Umwelteinflüssen erkranken durchaus nicht alle Kinder 
bei einseitiger Ernährung und Mangel an Licht in gleicher 
Weise an Rachitis. Häufigkeit und Schwere der Rachitis 
werden nach v. Pfaundler vielmehr in erster Linie durch 
erbliche Veranlagung bestimmt 1 ). Es gibt Familien, in denen 
auch bei guter Pflege mehrere oder alle Kinder schwer rachi- 
tisch werden, und andere, in denen auch unter ungünstigen 
Verhältnissen keines rachitisch wird. Siegert 3 ) hat lehr- 
reiche einschlägige Familiengeschichten mitgeteilt. Siegert 
und Eigoocl haben auch Fälle beschrieben, wo eine gesunde 
Mutter von einem Manne, der in der Kindheit Rachitis durch - 

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Cf 



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Fig. 134. 
Allgemeine Rachitis. Nach Z i e s c h. 



gemacht hatte, mehrere schwer rachitische Kinder, vorher und 
nachher aber von einem nicht rachitischen Manne normale 
Kinder bekam. Eine derartige Sippe hat auch Ziescli be- 
kanntgegeben. 

Aus den von Ziesch 3 ) beigebrachten Sippentafeln geht 
hervor, daß die Rachitis keine solche biologische Einheit ist, 
wie man bisher meist angenommen hat. In manchen Sippen 
ist nicht Rachitis im allgemeinen erblich, sondern es finden 

*■) Pfaundler, M. Ist die Rachitis eine Avitaminose ? Wiener klini- 
sche Wochenschr. 1930. Nr. 21. 

2 ) S i e g c r t. Beitrag zur Lehre von der Rachitis: die Erblichkeit. 
Jahrbuch f. Kinderheilkunde 1903. 

3 ) Ziesch, H. Statistisch-genealogische Untersuchungen über die Ur- 
sachen der Rachitis. Archiv für Rasscnbiologic. Bd. 17. FI. 1. 1925. 



436 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



sich in einer Sippe Rückgratverbiegungen, in einer zweiten 
enge Becken, in einer dritten große eckige Schädel, in einer 
vierten X-Beinc gehäuft usw. Einige von diesen Sippentafeln 
gebe ich an anderen Stellen wieder, da mir die Zugehörigkeit 
zur Rachitis fraglich erscheint. 

Eineiige Zwillinge stimmen nach Auftreten und klinischem 
Bild der Rachitis weitgehend überein (Siemens, Weitz, 
v. Verschuer, Lehmann 1 ), zweieiige weniger. 

Mit der rachitischen steht die spasmo phileDiathese 
in Korrelation, insofern als die Krämpfe des Säuglingsaltcrs 
(„Fraisen", „Eklampsie", „Tetanie") fast nur bei rachitischen 
Kindern vorkommen, u. a. auch der Stimmritzenkrampf. In 
manchen Familien geht die Mehrzahl der Kinder daran zu- 
grunde. Nach T hie mich, und Birk 2 ) weisen spasmophiie 
Individuen auch im späteren Leben meist Anomalien auf. 

Audi die Tetanie der Erwachsenen, die auf einem Versagen der 
Epithelkörperchcn neben der Schilddrüse beruht, wurde in einigen Familien 
mehrfach beobachtet 3 ). , : , 

Unter h y p e r t h y r e o t i s c h e r D i a t h e s e verstehe ich 
eine Veranlagung zu übermäßiger Tätigkeit der Schilddrüse, 
die eine Überhastung des Stoffwechsels zur Folge hat und in 
schweren Fällen zum Bilde der sogenannten Basedow- 
schen Krankheit führt. Das regelmäßigste Zeichen ist eine 
dauernde Beschleunigung des Herzschlages, sodann ein f ein- 
schlägiges Zittern der Finger. Ein Hyperthyreotischer gleicht 
einem Menschen, der vor Laufen außer Atem ist (ITerzjagen, 
Beschleunigung des Stoffwechsels, warme feuchte Haut, Zit- 
tern, seelische Erregung). Die Leistungsfähigkeit ist entspre- 
chend gering. Infolge dauernder Überanstrengung des Her- 
zens tritt Flerzvergrößemng und schließlich öfter ein Ver- 
sagen des Herzens ein. Die Schilddrüse ist auch äußerlich 
vergrößert; die Augäpfel sind meist vorgetrieben („Glotz- 
augenkrankheit"). Bei den meisten Anlageträgern scheint es 
nicht zum Bilde der typischen Basedowschen Krankheit zu 
kommen; der Verlauf ist vielmehr meist ein chronischer, über 
Jahre und Jahrzehnte sich hinziehender. 



A ) Lehmann, W. Die Bedeutung der Erbveranlagung bei der Ent- 
stehung der Rachitis. Zeit sehr. f. Kindcrheilk. Bd. 57. H. 7. 1936. S. 603. 

2 ) T h i c m i c h u. B i r k. Über die Entwicklung eklamp tischer Kinder 
in späterer Kindheit. Jahrbuch für Kinderheilkunde 1907. 

3 ) Kehr er, F. A. Zur Pathogenese der Tetanie. Klinische Wochen- 
schrift. 1925. Nr. 40. 



ERBLICHE DIATHESEN, 



437 



Die Basedowsche Krankheit findet sich etwa 1 imal so häufig bei Frauen 
als bei Männern. Die Anlage gelangt bei Frauen häufiger und schwerer zur 
Entfaltung, ähnlich wie auch der nicht erbliche Kropf viel häufiger und aus- 
gesprochener bei Frauen als bei Männern gefunden wird. Die weniger aus- 
gebildeten Formen der Hyperthyreose sind auch bei Männern keineswegs 
selten. Über die Erblichkeit der Basedowschen Krankheit ist bisher wenig 
bekannt geworden 1 ). Einige Anzeichen sprechen für dominanten Erbgang 
einer Anlage, die zu ihrer Auslösung noch gewisser äußerer Ursachen be- 
darf, über deren Natur freilich auch nichts Gewisses bekannt ist. Umfas- 
sende Sippenforschungen, die wohl Licht in diese Frage bringen konn- 
ten, fehlen bisher leider. 

S i t t m a n n hat berichtet, daß in den baltischen Provinzen Basedow- 
sche Krankheit familiär vorkomme, aber nur in der germanischen Ober- 
schicht. Andererseits kommt bei uns die Krankheit häufiger bei Juden als 
bei NichtJuden vor. Bei regsamen Rassen kommt es leichter als bei trägen zu 
Überlastungen des Stoffwechsels. 




Fig. 13 S- 
Hyperthyreose. Eigene Beobachtung. 



Als Kropf (Struma) wird jede Vergrößerung der 
Schilddrüse bezeichnet. Bei dem gewöhnlichen Kropf ist die 
Tätigkeit der Schilddrüse indessen nicht gesteigert wie bei der 
Hyperthyreose, sondern im Gegenteil herabgesetzt. Das eigent- 
liche Drüsengewebe ist nur in den leichteren Fällen deutlich 
vermehrt. Bei den schwereren Fällen beruht die Vergrößerung 
hauptsächlich auf kolloider Substanz und auf bindegewebigen 
Knoten. Man unterscheidet einen endemischen Kropf, 
der in den Alpenländern, aber auch im Bergland Süddeutsch- 
lands stark verbreitet ist, von einem sporadischenKropf, 
der auch in der norddeutschen Tiefebene und in Küstenstri- 
chen gelegentlich beobachtet wird, im weiblichen Geschlecht 
kommt Kropf häufiger und im Durchschnitt hochgradiger vor 
als im männlichen. 



2 ) Schultheiß, E. Über Erblichkeit des Morbus Basedowii. Jena 
1909 (Dissertation). 

Goldberg, E. Über die Erblichkeit der Basedowschen Krankheit. 
Berlin 1910 (Dissertation), 



438 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Der Erbgang in einer Sippe, in der Siemens 1 ) in sonst kropffreier 
Gegend Kropf durch 6 Generalionen verfolgen konnte, spricht für eine 
dominante Anlage; es waren nur Frauen beiallen, und die Vererbung war 
nur in weiblicher Linie zu verfolgen. In einer von Agnes Blüh m 2 ) be- 
schriebenen Sippe schien die im ganzen dominante Anlage auch durch 
gesunde Männer übertragen zu sein. 

Der endemische Kropf, der in manchen Gegenden 
so häufig ist, daß dort die allermeisten Frauen Kröpfe haben, 
wird vorzugsweise durch die Umwelt verursacht. Auch in eigent- 
lichen Kropfgegenden tritt der Kropf zwar ausgesprochen fa- 
milienweise auf. Diese Unterschiede scheinen aber nicht durch 
die Erbmasse, sondern durch lokale, bisher nicht näher be- 
kamiteUmwclteinflüsse bedingt zu sein, wie besonders Eugst er 2 ) 
in eingehenden Untersuchungen gezeigt hat. Bemerkenswerter- 
weise gibt es in Endemiegebieten kropffreie Dörfer und in Kropf- 
dörfern kropffreie Häuser, andererseits auch Häuser mit be- 
sonders gehäuftem und schwerem Kropf. Eugster, der über 
ausgedehnte Erfahrungen verfügt, ist der Ansicht, daß die 
kropfzeugende Noxe nicht durch das Trinkwasser aufgenom- 
men werde, auch nicht mit der Nahrung; die Wohn- und Schlaf- 
stätten seien bestimmender als die Kost 3 ). Lang 4 ) hat in 
drei Untersuchungsreihen einen Zusammenhang zwischen Kropf- 
häufigkeit und Radioaktivität des Bodens gefunden; doch 
warnt er selbst vor weitgehenden Schlüssen. 

Jodmangcl begünstigt die Entstehung von Kropf, verur- 
sacht ihn aber nicht eigentlich. Kleinste Jodgaben wirken bis 
zu einem gewissen Grade vorbeugend und heilend. 

Außer der direkten Wirkung der Umwelt ist für die Ent- 
stehung des Kropfes auch eine Wirkung über die Mutter von 
Bedeutung. Kropfleidende Mütter bekommen meist auch krop- 
fige Kinder; und zwar pflegt die Schädigung der Kinder mit 
der Geburtennummer bis etwa zum fünften Kinde anzusteigen. 
Es handelt sich dabei anscheinend um eine plasmatische Übertra- 

L ) Siemens, H. W. Die Erblichkeit des sporadischen Kropfes. Zeit- 
schrift für induktive Abstämmlings- und Vererbungslehre 1917. 

2 ) Bluhm, A. Zur Erblichkeitsfrage des Kropfes. ARGB. Bd. [4. 
H. 1. 1922. 

3 ) Eugster, J. Über den Verlauf der Kropfendemie in einigen 
Schweizer Dörfern nach 20 Jahren. Archiv für Hygiene. 1933. 

Eugster, J. Zur ErbJichkeitsfragc der endemischen Struma. Archiv 
der Julius-Klaus-Sliftung. Bd. 9. II. 3/4. 1934- S. 275. 

4 ) Lang, Tri. Ergebnisse einer ersten (zweiten, dritten) Messungs- 
serie zur Frage des Zusammenhangs zwischen Radioaktivität und Kropf. 
Zeitschr . für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 141. H. 1/2, 
Bd. 144. H. 3/4, Bd. 149. H. 5. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



439 



gung (Paraphoric im Sinne von Siemens), die durch das 
Plasma des Eies, also nicht durch die im Kern lokalisierte Erb- 
masse, erfolgt. Während der Schwangerschaft, wo die Eier- 
stöcke ruhen, scheint sich die Wirkung der kropferzeugenden 
Schädlichkeit anzuhäufen. Daher werden die Kinder häufiger 
bzw. schwerer betroffen, wenn schon mehrere Schwangerschaf- 
ten vorangegangen sind. Wenn eine kropfleidende Frau in eine 
kropffreie Gegend abwandert, so nimmt die Kropfgefährdung 
der Kinder allmählich wieder ab. Diese Tatsachen zeigen, daß 
die erbliche Veranlagung für die Entstehung- des endemischen 
Kropfes keine große Bedeutung hat. Eine geringe Mitwirkung 
der Erbanlage deutet sich nur darin an, daß zweieiige Zwil- 
linge in ihrem Verhalten zum Kropf nicht ganz so sehr überein- 
zustimmen pflegen als eineiige (Eugster, nach persönlicher 
Mitteilung). 

Als Kretinen bezeichnet man gewisse in Kropfgegen- 
den vorkommende zwerghaft kleine und geistesschwache In- 
dividuen, die noch durch einige weitere ZSigc gekennzeichnet 



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Fig. 136. Kretinismus nach v. P f a u ndle r. (Umgezeichnet.) 
Die mit einem Punkt im Kreise bezeichneten Individuen waren nur mit 

Kropf behaftet. 

sind (unentwickelte Geschlechtsorgane, eingezogene Nasenwur- 
zel u. a.). Der Kretinismus tritt ausgesprochen familiär 
auf; und zwar sind meist mehrere Kinder, die in der Geschwi- 
sterreihe aufeinander folgen, zumal die späteren, unter Umstän- 
den auch die ganze Reihe befallen. Die Mütter kretinischer 
Kinder sind in der Regel mit Kropf behaftet. Eine Familien- 
tafcl nach v. Pfaundler 1 ) zeigt Eig. 136. 

Verwand lenehen finden sich bei den Eltern von Kretinen nicht in über- 
durchschnittlicher Häufigkeit 8 ). Es geht also nicht an, den Kretinismus auf 
„Inzucht" zurückzuführen. 

1 ) v. Pia u ndler, M. Über die Entstchungsbedingungcn von endemi- 
schem Kropf und Kretinismus. Jahrb. f. Kinder heilk. Bd. 105. S. 223. 1924. 

a ) Sc hw alber, L. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und 
Psychiatrie. Bd. 132. H. 1/2. 1931. S. 227. 



440 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERDANLAGEN 



Gegenüber Finkbeinc r 1 ), der in einem sonst wertvollen Buche einen 
Zusammenhang zwischen Kropf und Kretinismus leugnet, ist -zu betonen, daß 
eine Korrelation zwischen beiden Zuständen unzweifelhaft besteht. Aus einem 
Bcobachtungsmaterial Pfaundlers über ca. 34 500 Kinder ergibt sich ein 
Kürrelationskoeffizient von 0,31+ 0,00 für Kropf und Kretinismus am glei- 
chen Individuum. Die Korrelation zwischen Kretinismus des Kindes und 
Kropf der Mutter ist sogar noch höher. Der Kretinismus scheint durch plas- 
matische Übertragung (Paraphoric) derselben Schädlichkeit, die auch Kropf 
erzeugt, von der Mutier her zustande zu kommen und zwar durch besonders 
hochgradige Wirkung der Kropfnoxe. 

Fink beiner hat den Kretinismus als Erscheinung einer geographi- 
schen Rasse zu deuten gesucht. Es ist in der Tat auffallend, daß der Kreti- 
nismus hauptsächlich in Bevölkerungen beobachtet wird, die in ihrer Er- 
scheinung Anklänge, an Merkmale der mongoliden Rassen zeigen oder wirk- 
lieh von mongolider Rasse sind (Alpen und Mittelgebirge Europas, Poebcne, 
zentral- und ostasiatische Gebirge, nord- und südamerikanische Gebirge). 
Vielleicht sind diese Bevölkerungen auf Genügsamkeit und trägen Stoffwech- 
sel und damit auf schwache Schilddrüsenfunktion gezüchtet. Damit könnte 
auch das Bild der sogenannten , .alpinen Rasse" zusammenhängen. Eine 
Karte der Kropf Verbreitung hat Lcbzelter s ) gegeben. 

Das Myxödem, das auch als „sporadischer Kretinismus" bezeichnet 
wird, entsteht infolge Ausfalls der Funktion der Schilddrüse. Es ist also 
die der Hyperthyreose gerade entgegengesetzte Störung. Die Schilddrüse 
fehlt entweder von Geburt an oder sie versagt schon in den ersten Kinder- 
jähren. Je nach dem Alter, in dem der Schilddrüsenausfall einsetzt, sind die 
Folgen verschieden schwer. Durch Verabreichung tierischen Schllddrüsen- 
saftes läßt der Zustand sich günstig beeinflussen- So kann es gelingen, 
Zwergwuchs und Schwachsinn, die sonst unweigerlich eintreten, bis zu einem 
gewissen Grade zu verhüten. 

Familiäres Auftreten von Myxödem ist von Zocpff el 3 ) und von 
Herr mann 11 ) beschrieben worden. H e 1* r m a n n hat einmal Myxödem 
bei drei unter 11 Kindern und ein zweites Mal bei. drei unter 12 Kindern 
gesunder Eltern beobachtet. In 5 unter 50 Fällen waren die Eltern bluts- 
verwandt. Es scheint sich um eine einfach rezessive Anlage zu handeln. 

Als mongoloide Idiotie wird ein Zustand angeborener Geistes- 
schwäche bezeichnet, der dem Myxödem äußerlich ähnlich ist und durch 
Schiefstellung der Augen, eingezogene Nasenwurzel und dicke, vorstehende 
Zunge gekennzeichnet ist. Die meisten mongoloiden Idioten sterben schon 
im Kindcsa.lt er; selten erreicht einer das 25. Lebensjahr. Eine deutliche fami- 
liäre Häufung hat nicht aufgefunden werden können 5 ). Bei 18 Paaren un- 
gleichgeschlechtiger Zwillinge, deren einer ein mongoloider Idiot war, war 
der andere stets frei von dem Leiden. Von 29 gleichgeschlechtigen Paaren 



!) Finkbeiner, E. Die kretinische Entartung. Berlin 1923. J. Springer. 

2 ) Lebzelter, V. Konstitution und Rasse. InBrugsch und Lcvy 
„Biologie der Person". Bd. 1. S. 749. Berlin und Wien 1926. 

3 ) Zoepffel, PI. Familiäres kongenitales Myxödem. Zeitschrift für 
Kinderhellkunde. Bd. 36. H. 4. 1922. 

*) Herrmann, Ch. Three childrcn with sporadic cretinism in one 
family. Archives of Pediatrics. 1917. 

5 ) Schulz, B. Zur Genealogie des Mongolismus. Zeitschrift für 
die gesamte Neurologie. Bd. 134. H. 1 und 2. S. 268. 1931. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



S41 



waren 7mal beide Zwillinge mongoloide Idioten. Danach scheinen Paare ein- 
eiiger Zwillinge ungefähr in der Hälfte der Fälle gemeinsam betroffen zu 
sein. In Anbetracht der kleinen Zahl ist die Verteilung aber auch mit der 
Annahme vereinbar, daß eineiige Zwillinge immer entweder beide mongo- 
loide Idioten oder beide frei seien (Orel) 1 ). Bedingtheit durch dominante 
Erbanlagen kommt nicht in Betracht; gegen die Mitwirkung rezessiver 
Erbanlagen spricht der Umstand, daß keine überdurchschnittliche Häufig- 
keit von Verwandtenehen bei den Eltern nachgewiesen werden konnte. Sehr 
bemerkenswert ist die zuerst von Shuttleworth gefundene Tatsache, 
daß es sich bei den mongoloiden Idioten verhältnismäßig oft um Kmdcr 
alter Mütter handelt. Besonders die letztgeborenen einer großen Geschwister-* 
reihe sind gefährdet. Eine ausgesprochene Korrelation mit dem Alter der 
Mutter hat sich auch an dem Material Pfaundlers gezeigt. Mit dem 
Alter des Vaters dagegen scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Diese 
rätselhaften Tatsachen lassen sich gemeinsam wohl am besten durch die 
Annahme erklären, daß die mongoloide Idiotie durch eine Keims chädigung 
des Eies verursacht werde, sei es des befruchteten oder des unbefruchteten. 
Man hat an lokale Veränderungen der Gebärmutterschleimhaut gedacht, 
durch die die Entwicklung des Eies gehemmt würde. 

Die mongoloide Idiotie ist i. J. 1866 durch Langdon-Down als 
besonderes Krankheitsbild beschrieben worden. Sie scheint damals sehr selten 
gewesen zu sein. Noch in meiner Studienzeit habe ich keinen einzigen Fall 
zu sehen bekommen. Gegenwärtig dagegen sind in größeren Kinderkliniken 
und in Idiotenanstalten dauernd mehr oder weniger zahlreiche Fälle vor- 
handen; und wie mir erfahrene Kinderärzte wie v. Pfaundler und PI u s - 
ler sagen, liegt das sicher nicht nur daran, daß die Krankheit heute besser 
erkannt wird als früher. Es scheint also gewisse besondere keimschädigende 
Einflüsse in der modernen Umwelt zu geben, die früher wenig oder gar nicht 
vorkamen. Ich habe in der zweiten Auflage dieses Buches (1923) chemische 
Abtreibungs- bzw. Verhütungsmittel in Betracht gezogen; und auch v. 
Pfaundler und H u s 1 e r halten einen Zusammenhang damit für möglich. 
Seitdem haben sich die Verdachtsmomente, daß chemische Verhütungsmit- 
tel schuld seien, noch vermehrt. Ich gedenke, nach Abschluß gewisser Er- 
hebungen darüber zu berichten. 

In dem Material von v. Pfaundler zeigt übrigens die gewöhnliche 
(nicht mongoloide) Idiotie eine fast ebenso hohe Korrelation zum Alter der 
Mutter wie diese. Es gelten daher für einen Teil der sonstigen Idiotie ent- 
sprechende Überlegungen. 

Die Bluterkrankheit, wenig treffend auch Hämo- 
philie genannt, ist die wichtigste unter den hämorrha- 
gischen Diät lies en, d. h. erblichen Neigungen zu Blu- 
tungen. Während bei normalen Menschen Blutungen aus klei- 
nen Wunden infolge Gerinnung des Blutes bald zum Stehen 
kommen, bleibt diese Gerinnung bei Blutern aus. Aus gering- 
fügigen Wunden kann das Blut tagelang hervorsickern und zu 
lebensgefährlichen Blutverlusten führen. Das Ausziehen eines 
Zahnes wird zu einer lebensgefährlichen Operation. Bei unbe- 

*) Orel, PI. Mongolismus bei Zwillingskindern. Zeitschrift für Kin- 
derheilkunde. Bd. 51. H. 1. S. 31. 193 1. 



442 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

deutenden Zerrungen oder Bewegungen können Blutergüsse in 
Gelenkhöhlen auftreten und das betreffende Glied lange un- 
brauchbar machen. Ein großer Teil der blutenden Männer 
geht an. dem Leiden in den ersten Lebensjahrzehnten zugrunde. 
Vom vierten Jahrzehnt ab soll die Gefährlichkeit des Leidens 
geringer werden. Worauf die mangelhafte Gerinnungsfähigkeit 
des Blutes beruht, ist noch nicht klargestellt. 




Fig. 137. 
Bluterkrankheit nach ScHoeßmaa n. (Ausschnitt.) 

Bluter erben ihre Krankheit regelmäßig von der Mutter, 
die selber davon verschont ist. Auch durch zwei und mehr 
Generationen kann die Erbanlage in weiblicher Linie weiter- 
gegeben werden. Man nannte solche Frauen früher „Konduk- 
toren". Übertragung vom Vater auf den Sohn dagegen ist nie- 
mals festgestellt worden. Die Übertragung vom Großvater durch 
die Tochter auf den Enkel ist durch die umfassende Erfor- 
schung der württembergischen Bluterfamilien durch Schioeß- 
mann 1 ) endgültig sichergestellt worden. Daß das nicht schon 

x ) Schloeßmann, H. Die Hämophilie in Württemberg. Genealo- 
gische, erbbiologische und klinische Untersuchungen an 24 Bluterfamilien. 
ARGB. Bd. 16. H. 1—4. 1924. 



ERB TIC HE DIATHESEN. 



443 



früher geschehen ist, lag daran, daß Bluter relativ selten zur 
Eheschließung und Kindererzeugung kommen. Die Bluter- 
krankheit ist also rezessiv geschlechtsgebunden 
erb lieh. Eine Sippcntafel, die das veranschaulicht, zeigt Fig. 137. 

Frauen mit echter Hämophilie sind bisher nur ganz wenige beobachtet 
worden, vorausgesetzt, daß sie überhaupt vorkommen. Warde 1 ) hat eine 
Sippcntafel gegeben, in der eine blutende Frau einen blutenden Vater und 
einen blutenden Sohn hatte; da sie fünf Brüder hatte, die sämtlich nicht blu- 
teten, ist es sehr unwahrscheinlich, daß ihre Mutter Trägerin der Bluter- 
anlage gewesen sein sollte. Madiener 3 ) hat über ein Mädchen aus einer 
Blutersippc berichtet, dessen Vater Bluter war und das im fünften Lebens- 
jahr verblutete. Auch D a v e 11 p o r t 3 ) hat über eine blutende Tochter eines 
blutenden Vaters berichtet; doch ist es in diesem Fall zweifelhaft, ob es 
sich um echte Hämophilie gehandelt hat, da eine Sippentafel nicht ge- 
geben werden konnte. Klinisch sichergestellt ist keiner der genannten Fälle. 
Theoretisch würden aus der Ehe eines Bluters mit einer Trägerin der An- 
lage blutende Tochter neben nicht blutenden zu erwarten sein. Da solche 
Ehen bisher nur einige wenige bekannt geworden sind, kann man aus dem 
Ausbleiben blutender Töchter nicht schließen, daß die Bluteranlage homo- 
zygot letal sei, wie IC H. Bauer 4 ) gemeint hat. 

Schloeßmann hat bei seinen Untersuchungen gefunden, daß weib- 
liche Träger der Blutcranlage eine Verzögerung der Blutgerinnung aufwei- 
sen, gelegentlich auch leichte Blutungen. Madiener konnte in der von 
ihm beschriebenen Sippe keine Verlängerung der Gerinnungszeit finden. 

Kleine durchschnittliche Unterschiede im Bilde der Bluterkrankheit in 
verschiedenen Sippen erklären sich am zwanglosesten, durch die Mitwir- 
kung anderer Erbanlagen. Für die Annahme verschiedener allcler Erban- 
lagen für Hämophilie scheinen mir keine genügenden Unterlagen vorhan- 
den zu sein. 

Die Angabe, daß Bluterfamilien besonders kinderreich seien und daß 
unter den Kindern unverhältnismäßig viel Knaben seien, ist ebenso wie jene, 
daß viel mehr kranke als gesunde Brüder geboren würden, auf Anwendung 
verfehlter Berechnungsweisen zurückzuführen (vgl. Abschn. über Method,). 

Die Bluterkrankheit kommt keineswegs überall vor. Sie hat sich viel- 
mehr in einigen Gegenden vorzugsweise ausgebreitet, so in Württemberg und 
in der Schweiz. Einige amerikanische Bluterfamilien scheinen auf europäische 
zurückzugehen. Der Angabe Max Fischers 11 ), daß Hämophilie bei Ju- 
den achtmal so häufig sei wie, in der übrigen Bevölkerung, möchte ich mit 
Zweifel begegnen. Vermutlich bezieht sich diese Angabe auf eine andere 



*) Warde, M. British Medical Journal 1923. S. 59g. Zitiert nach 
Snydcr, L. II. Studies in human inheritance VII. The Ohio Journal of 
Science. Bd. 32. Nr. 2. 

2) Madiener, M. Eine Bluterfamilie. ARGB. Bd. 20. IE 4. S. 
390. 192S. 

3 ) Davenport, C. B. Genctics. Bd. 15. S. 401. 1930. 

4 ) Bauer, IC H. Zur Vercrbungs- und Konstitutionspathologic der 
Hämophilie. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 176. S. 109. 1922. 

6 ) Fischer, M. Zur Geschichte der Bluterkrankheit. Eugenik. Bd. 2. 
II . 5. 1932. 



444 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

hämorrhagische Diathesc, die Hess unter Ost Juden verhältnismäßig häufig 
fand 1 ). Max Fischer, der als einer der ersten über die Bluterkrankheit 
gearbeitet hat 2 ), hat eine Anzahl von Blutern aus fürstlichen Häusern Euro- 
pas auf eine gemeinsame Stammutter zurückgeführt und diese als Trägerin 
der Anlage erwiesen 3 ) 4 ). Für seine Ansicht, daß Verwandtenehen oder In- 
zucht dabei eine Rolle spielten, hat er indessen keinen Beleg beizubringen 
vermocht. Verwandtenehen würden höchstens für die Homozygotierung der 
Anlage, gegebenenfalls also für das Auftreten weiblicher Bluter bedeutsam 
sein können. 

Lange Zeit war die von Los seil i. J. 1877 beschriebene Bluter- 
familie Mampel das klassische Beispiel einer erblichen Krankheit. Die Ge- 
schichte dieser Sippe ist neuerdings von Klug**) vervollständigt worden. 
Die Sippentafeln der Bluter von Tenna, einem Ort in Graubünden, hat 
H anliart ergänzen und zu einer einzigen großen vereinigen können. Auch 
In dieser Sippe sind drei blutende Enkel von Blutern festgestellt worden. 
In dem Roman von Ernst Zahn „Die Frauen von Tamiö", der an die 
Geschichte der Bluter von Tenna anknüpft, ist der Erbgang der Bluter- 
krankheit nicht ganz richtig dargestellt. Die älteren Sippentafeln über Bluter- 
krankheit sind im Treasury zusammengestellt. 

Außer der eigentlichen Hämophilie gibt es noch einige andere Arten 
hämorrhagischer Diathcsc. v\ Willebrand 5 ) hat eine solche zunächst 
als erbliche Pseudohämophilie und dann genauer als konsti- 
tutionelle Thrombopathie beschrieben. Von dieser werden gerade 
Frauen häufiger und meist auch schwerer als Männer befallen. Die Zeichen 
der Krankheit bestehen in Nasenbluten, Zahnfleischblutungen, Blutaustritten 
in die Haut, bei Frauen auch in bedrohlichen Blutungen nach Geburten 
und in Darmblutungen; die sieben in der Sippentafel schwarz bezeichneten 
Frauen sind sämtlich verblutet. Die Thrombozyten (Blutplättchen), nach 
denen die Krankheit ihren Namen hat, sind in normaler Zahl vorhanden, aber 
in ihrer Gerinnungsfunktion gestört. Der Erbgang ist dominant, vielleicht ge- 
schlechtsgebunden. Zu der Annahme dominanten geschlechtsgebundenen Erb- 
gangs paßt es allerdings schlecht, daß in der Familie unten rechts ein blu- 
tender Mann zwei gesunde Töchter gehabt hat. Entweder ist dieser Mann 
nicht wirklich Träger der Anlage gewesen — es heißt von ihm nur: „in jün- 
geren Jahren recht starkes Nasenbluten"; oder aber die Anlage ist gar nicht 
geschlechtsgebunden, sondern einfach dominant. Ob die Sippentafeln von 



J ) Nach v. Willebran d und J ü r g e n s. 

2 ) Fischer, M. Zur Kenntnis der Hämophilie. Dissertation. Mün- 
chen 188g. 

3 ) Derselbe. Hämophilie und Blutsverwandtschaft. Zeitschrift für Kon- 
stitutionslehre. Bd. 16. H. 5. S. 502. 1932. 

4 ) Derselbe. Hämophilie und Blutsverwandtschaft. Ebenda. Bd. 16. 
H. 6. S. 756. 

5 ) Klug, W. J. Über die Kirchhelmer Bluterfamilien (Mampel). 
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 199. H. 3/5. S. 145. 1926. 

°) v. Willebrand, E. A. Über hereditäre Pseudohämophilie. Acta 
medica scandinavica. Bd. 76. H. 4 — 6. S. 521. 1931. 

— und Jürgens, R. Über ein, neues vererbbarcs Blutungsübel: Die 
konstitutionelle Thrombopathie. Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd 
175- H. 4. S, 453. 1933. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



445 



Gl an z ma n n 1 ), von Meumann 3 ) und einige ältere, im Treasury wieder- 
gegebene zu der Willebrandschen Pseudohämophilie gehören oder ihr ähn- 
liche Sonderformen darstellen, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Früher 
wurden alle solche Fälle als „Morbus maculosus Werlhofii" oder Purpura 
zusammengefaßt; ob unter den isoliert auftretenden „idiopathischen" Fällen 
rezessiv erbliche sind, ist vorläufig nicht zu sagen; manche scheinen sicher 
umweltbedingt zu sein, z. B. durch septische Infektion. 

Eine Sippe mit dominanter hämorrhagischer Diathese haben auch Be- 
vit und M a 1 k o v a 3 ) beschrieben. Diese war sicher nicht geschlechtsgebun- 
den, da zweimal Übertragung vom Vater auf den Sohn vorkam. Die Autoren 
meinen, das Leiden sei von der Willebrandschen Pseudohämophilie klinisch 
und genetisch verschieden; ich vermag nach der Beschreibung aber keine 
deutlichen Unterschiede zu erkennen. 



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Fig. 13S. 

Pseudohämophilie nach v. Willebran d. Schwarz bezeichnet 

starke, schraffiert leichte Neigung zu Blutungen. 

Im Anschluß an die erblichen Diathesen, insbesondere an 
die Bluterkrankheit möge hier die Über Sterblichkeit 
des männlichen Geschlechts besprochen werden, so - 
weit sie erbbedingt ist. Die Übersterbliclikeit der Männer im 
mittleren und höheren Alter ist zum großen Teil eine Folge 
von Umwelteinflüssen, insbesondere von Syphilis, Alkohol und 
Berufsschädlichkeiten. Auch der Tod durch eigene Hand hat 
einen bedeutenden Anteil daran. Die Ü her Sterblichkeit 
der Knaben schon im Säuglingsalter läßt sich aber durch 
Umwelt schaden nicht erklären; sie dürfte hauptsächlich eine 
Folge rezessiver geschlechtsgebundener krankhafter Erban- 
lagen sein. Die Übersterblichkeit männlicher Früchte vor der 
Geburt wird durch letale Erbanlagen verursacht. Zur Veran- 

1 ) G 1 a n z m a n 11. Hereditäre hämorrhagische Thrombasthenie. Jahr- 
buch für Kinderheilkunde. Bd. 83. S. 271. 191S. 

2 ) Mcumann. Echte Hämophilie beim Weibe. Zentralblatt für Gynä- 
kologie. 1922. S. 590. 

3 ) Levit, S. G. und Malkova, N. N. A new mutation in man. 
Journal of Heredity. Bd. 21. Nr. 2. S. 73. 1930. 



446 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

schaulichung der Übersterblichkeit der Knaben möge die 
Säuglingssterblichkeit in Deutschland während der Jahre 
1904 bis 1914 dienen. 

Von 100 iebcndgeborenen Knabcttsterb- 

siai'beu im ersten Lebensjahr iichkeU in Pro- 
zenten der Mäd- 

Knaben Mädchen ehensierbüchkeit 

1904 21,2 J8,0 I 1 7,8 

1905 22,2 l8,8 I 18,1 
[906 20,1 16,9 1 18,9 

1907 19,1 16,0 I rg,4 

1908 19,4 16,2 119,8 

1909 18,4 15,4 J *9,5 

1910 17,6 14,7 1 19,7 
J9 11 2°>7 17.7 116,9 

1912 16,0 13,4 119,4 

1913 '6,4 13,7 119,7 
J 9 J 4 17,7 M,9 118,8 

Die Übersterblichkeit der Knaben betrug also rund ein 
Fünftel der Mädchensterblichkeit oder rund 3 auf 100 Lebend- 
geborene. Auch gegenwärtig, wo die Säuglingssterblichkeit 
sehr gesunken ist, beträgt die Übersterblichkeit der Knaben 
noch rund 2 vom Hundert der Geborenen; im Verhältnis zu 
der Sterblichkeit der Mädchen ist sie sogar gestiegen, nämlich 
auf rund ein Viertel, weil das Sinken der Säuglingssterblichkeit 
einer günstigeren Gestaltung der Umwelt zu danken ist. Bei 
Säuglingen mit krankhaften Erbanlagen sind die Erfolge der 
modernen Säuglingspflege nur teilweise erfolgreich gewesen 1 ). 

Die Sache liegt ganz ähnlich wie bei gewissen experimentellen Zuchten 
der Obstfliege Drosophila. Wie im Abschnitt von Baur gezeigt wurde, 
wäre bei der Kreuzung eines rotäugigen Männchens der Obstfliege Droso- 
phila mit einem Weibchen, das die Anlage zu Weißäugigkeit überdeckt 
enthält, zu erwarten, daß die Hälfte der männlichen Nachkommen rot- 
äugig und die Hälfte weißäugig seien. Das ist in sorgfältig gepflegten Zuch- 
ten auch annähernd der Fall, wie z. 13. Versuche von Just 3 ) zeigen. 
Die ersten Zuchten dieser Art, die Morgan 3 ) ausführte, ergaben dagegen 
nur etwa dreiviertel soviele weißäugige als rotäugige Männchen; es han- 
delte sich nämlich um weniger sorgfältig gehaltene Zuchten, bei denen weiß- 
äugig veranlagte Tiere in einem höheren Prozentsatz als rotäugige im Larven- 
stadium zugrundegangen waren. Noch viel stärker war das Verhältnis zu- 
ungunsten der weißäugigen Männchen in Massenzuchten W h i t i n g s 4 ) ver- 
schoben. Un ter ungünstigen Umweltbedingungcn unterliegen die weniger 

*) Lenz, F. Die Übersterblichkeit der Knaben im Lichte der Erb- 
lichkeitslehre. Archiv für Hygiene. Bd. 93. S. 126. 1923. 

2 ) J u s t , G. Der Nachweis von Mendelzalilen bei Formen mit niedriger 
Nachkommenzahl. Archiv für mikroskopische Anatomie 1920. 

s ) Morgan, Th. H. Sex limited inheritance in Drosophila. Science 1910. 

4) Whi ting, P. W, Viability and coupling in Drosophila. The Ame- 
rican Naturalist 1 9 13. 



ERBLICHE DI AT II ES E, 



447 



lebenstüchtigen weißäugigen Tiere also einer Ausmerzung im Jugendstadium, 
die bei günstiger Umwelt nicht eintritt. 

Wenn die Säuglingssterblichkeit infolge äußerer Schädlichkeiten sich 
erhöht, was besonders in heißen Sommern eintritt (z. B. 1911), so geht 
die Übersterblichkeit der Knaben relativ herunter. Darin zeigt sich, daß 
sie hauptsächlich durch innere (erbliche) Ursachen bedingt ist. Entspre- 
chend ist in warmen Ländern, wo die Säuglingssterblichkeit verhältnismäßig 
hoch ist, wie in Italien und Spanien, die Übers terblichkeit der Knaben gering, 
und in kühlen Ländern, wo die Säuglingssterblichkeit niedrig ist wie in den 
nordischen Ländern, die Übersterblichkeit der Knaben hoch. Belege finden 
sich in einer Arbeit, die Schirmer*) unter meiner Leitung gemacht hat. 
Bei der Übersterblichkeit der Knaben wirken vermutlich auch letale 
Erbanlagen mit, die auch unter den günstigsten Umweltbedingungen nicht 
dauernd mit dem Leben vereinbar sind. Sicher gilt das von der vorgeburtli- 
chen Sterblichkeit. Derartige tödliche Erbeinheiten brauchen gar nicht ein- 
mal besonders häufig zu sein, um eine Übersterblichkeit der Knaben in dem 
tatsächlich beobachteten Umfange zu erklären. Wenn man annimmt, daß das 
X-Chromosom beim Menschen 250 Erbeinheiten enthalte, so würde eine 
Übersterblichkeit der Knaben im Betrage von 2,5 auf hundert Geborene zu 
erwarten sein, wenn jede 10 000. Erbeinheit rezessiv letal wäre. Eine Reihe 
alleler geschlechtsgebundener Erbeinheiten würde eine Sterbewahrscheinlich- 
keit von 1:10 000 bedingen; 250 allele Reihen also eine 2501TU1I so große = 
2,5 auf Hundert. 

Als ich zum ersten Mal eine entsprechende Rechnimg aufgestellt habe 3 ), 
nahm ich noch an, daß der Mensch. 12 Paare von Chromosomen habe; 
heute kann die Zahl 24 als sichergestellt gelten. An der Rechnung wird 
dadurch nichts Grundsätzliches geändert, da die Sterblichkeit infolge re- 
zessiv letaler Gene der Autosome in beiden Geschlechtern praktisch gleich 
ist. Was die Zahl der Gene im X-Chromosom betrifft, so haben Müller und 
Altenburg 3 ) bei Drosophila diese auf 500 geschätzt. Unter der Vor- 
aussetzung, daß die Autosome eine ebenso große Zahl enthielten, macht das 
für Drosophila melanogaster, die 4 Chromosomenpaare hat, 2000 Genpaare. 
Beim Menschen würde die Annahme von 500 Genen je Chromosom im ganzen 
24x500=12000 Genpaare ergeben, eine unwahrscheinlich große Zahl. 
Ich habe in der obigen Rechnung nur halb so viele angenommen, also immer- 
hin 6000. Unter dieser Voraussetzung würde, wie gesagt, jede 10 000. Erb- 
einheit rezessiv letal sein. Die allermeisten von diesen würden heterozygot 
in den Autosomen vorhanden sein. In einer allclcn Reihe wäre die Wahr- 
scheinlichkeit des Homozygotwcrdens einer letalen Anlage nur 1 : 100 000000; 
in 6000 allelen Reihen also rund 1:17000. Tatsächlich dürfte die Sterblich- 
keit infolge rezessiver letaler Gene aber um ein Vielfaches größer sein. In 
den Autosomen ist die Häufigkeit rezessiv letaler Gene also offenbar wesent- 
hch großer als in den X-Chromosomen. Das kommt daher, daß die letalen 

!) Schirm er, W. Über den Einfluß geschlechtsgebundener Erb- 
anlagen auf die Säuglingssterblichkeit. ARGB. Bd. 21. H. 4. S. 353. 1929. 

2 ) Lenz, F. Über die Bedeutung der Erbmasse für Krankheit und 
Sterblichkeit im Kindesalter. Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. 24. H. 
4/5. S. 603. 1922. 

3 ) Muller, H. J. und Altenburg, E. The rate of change o£ 
hereditary factors in Drosophila. Proceedings o£ the Society for Expcrimen- 
tal Biology and Medecine. Bd. 17. 1919. 



448 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Erbanlagen des X-Chromosoms immer bald wieder ausgemerzt werden, weil 
sie im männlichen Geschlecht auch heterozygot sich äußern, während die 
nicht geschlechtsgebundenen rezessiv letalen Gene, die nur relativ seilen 
homozygot und damit manifest werden, sich ziemlich ungestört halten können. 
Die Voraussetzung, daß rezessiv letale Gene in den X-Chromosomen und in 
den Autosomen gleich häufig seien, trifft also sicher nicht zu. Ich habe sie 
auch nur gemacht, um das Grundsätzliche klar zu machen. Was ich hier 
von den rezessiv letalen Erbanlagen ausgeführt habe, gilt in geringerem 
Grade auch von den rezessiven krankhaften Erbanlagen, v. Pfaundler 1 ) 
hat in einer scharfsinnigen Arbeit wahrscheinlich gemacht, daß neben ge- 
schlechtsgebundenen auch andere Erbanlagen von geschlechtsbegrenztcr Wir- 
kung an der Übersterblichkeit der Knaben beteiligt sind. 

Krankhafte Erbanlagen sind nicht nur im männlichen, 
sondern auch im weiblichen Geschlecht in vielen Fällen die 
eigentliche Todesursache, und zwar nicht nur im Säuglings- 
und Kindesalter, sondern auch im späteren Leben. Man kann 
das auch umgekehrt so ausdrücken, daß die Lebensdauer 
zum großen Teil durch die erbliche Veranlagung bedingt ist. 
Ploetz 2 ) hat an einem Material von 5585 Kindern gefunden, 
daß die Sterblichkeit bis zum 5. Lebensjahre um so geringer 
war, ein je höheres Alter die Eltern erreichten. Wenn die 
Mütter oder die Väter über 85 Jahre alt wurden, so war die 
Sterblichkeit der Kinder nur ein Drittel bis halb so groß als 
sonst im 'Durchschnitt (11,2 gegen 32 o/ bzw. 15,4 gegen 31,3 0/0). 

Pearson und seine Schülerin Miss Becton 3 ) haben 
auf Grund eines Materials von mehreren tausend Fällen Belege 
gegeben, daß auch im erwachsenen Alter die Kinder im Durch- 
schnitt um so länger leben, ein je höheres Alter die Eltern er- 
reichten. Zu demselben Ergebnis ist auch Bell 4 ) auf Grund 
der Aufzeichnungen über einen Verwandtschaftskreis von meh- 
reren Tausend Personen gekommen. Eine Zusammenstellung 
der Erfahrungen über die Erblichkeit der Lebensdauer hat 
P earl 5 ) gegeben. 

Die Lebensdauer kann selbstverständlich nicht monomer 
erblich sein, etwa in dem Sinne, daß lange Lebensdauer domi- 

*) v. Pfaundler, M. Studien über Frühtod, Geschlechtsverhältnis 

und Selektion. Zeitschrift für Kinderheilkunde. Bd. 57. IL 3. S. 185. 1935. 

a ) Ploetz,Ä. Lebensdauer der Eltern und Kindersterblichkeit. ARGE. 

1909. 

3 ) Beet 011, M. and Pearson, K. On the inheritance of the dura- 
tion of life, ancl on the intensity of natural selection in man. BiomeLrika, 
Bd. 1. S. 50. 1901. 

4 ) Bell, A. G. The cluration of life and conditions associaled with 
longevity. A study of the Ilyde genealogy. Washington 1918. 

fi ) Pearl, R. The biology of death. Philadelphia and London 1922. 
J". B. Lippincott. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



nant über kurze wäre. Vielmehr kann die Veranlagung, welche 
im Verein mit den Einflüssen der Umwelt über die Lebens- 
dauer entscheidet, nur hochgradig polymer sein. Wenn in der 
Erbmasse eines Menschen keinerlei krankhafte Erbanlagen vor- 
handen wären und er von schwereren äußeren Schädlichkeiten 
verschont bliebe, so würde er vermutlich ein Alter von weit 
über 100 Jahren erreichen, wie das in Ausnahmefällen ja auch 
heute noch vorkommt. In der Erbmasse der allermeisten Men- 
schen sind aber krankhafte Erbanlagen recht verschiedener Art 
vorhanden; so kommt es, daß auch ohne besondere Schäden 
von selten der Umwelt bei dem einen Menschen dieses, bei 
dem andern jenes Organ vorzeitig versagt. 

Ich vermute, daß nicht selten auch ein erbbedingtes Versagen der 
Immunkörperbildung in einer bestimmten Alterspenode zur Todesursache 
wird. Auch mancher Todesfall an Sepsis, an Typhus oder an Tuberkulose 
dürfte auf diese Weise indirekt erbbedingt sein. Die Infektion gibt in solchen 
Fällen nur den äußeren, gewissermaßen zufälligen Anlaß zum Tode. 

Die Lehre von einer erbbedingten allgemeinen O rganminderwer- 
tigkeit hat in den letzten Jahren zu mancherlei Mißverständnissen und 
Unklarheiten Anlaß gegeben. Selbstverständlich gibt es erbbedingte Organ- 
minderwertigkeiten. Wenn jemand einen Klumpfuß hat, so ist der ganze 
Fuß minderwertig. Entsprechendes gilt von dem Ohr eines Taubstummen 
und dem Gehirn eines Schwachsinnigen. Gewisse Autoren haben nun aber 
gemeint, wenn die Minderwertigkeit eines Organs eine allgemeine sei, so 
müsse sie auch einheitlich sein, d. h. es gebe nicht vielerlei erbliche Minder- 
wertigkeiten eines Organes, sondern nur eine, die sich in der verschiedensten 
Weise äußern könne. Diese Ansicht stimmt mit der tatsächlichen erbbiologi- 
schen Erfahrung nicht überein. Ich brauche nur an die erblichen Augen- 
leiden zu erinnern. Es gibt eine große Zahl spezifisch verschiedener erbli- 
cher Augenleiden; und Entsprechendes gilt von allen anderen Organen, 
jedes dieser Leiden beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit des Organs in mehr- 
facher Beziehung. Es trifft also durchaus nicht zu, daß die genetische Ver- 
schiedenheit der Leiden eines Organs eine „monosymptomatische" Auffas- 
sung in dem Sinne bedinge, daß von jeder krankhaften Erbanlage nur 
eine Eigenschaft bzw. ein Symptom abhängig sei. Andererseits äußern sich 
viele krankhalte Erbanlagen keineswegs nur an einem Organ sondern an meh- 
reren zugleich; ja es gibt auch Erbanlagen, die sich mehr oder weniger auf 
den ganzen Organismus erstrecken wie z. B. der Albinismus. Ganz streng ge- 
nommen wirkt jede Erbeinheit direkt oder indirekt auf die Gestaltung und 
das Schicksal sämtlicher Organe ein; und umgekehrt ist jedes Organ folg- 
lich durch die Gesamtheit der Erbmasse bestimmt. Das ändert aber nichts 
an der Tatsache, daß die Erbmasse aus selbständigen Teilen besteht, den 
Genen, die ihre Eigenart durch die Generationen bewahren und die sich weit- 
gehend unabhängig von einander trennen und neu kombinieren. Man ver- 
gJeiche hierzu auch das über „Heredodegeneration" Gesagte (S. 524 f.) 1 ). 

x ) Lenz, F. Rassenhygiene und klinische Medizin. Klinische Wochen- 
schrilt 1933. Nr. 40. S. 1570. 

Derselbe. Über das Verhältnis pathogener Erbeinheiten zu klinisch ab- 
gegrenzten Typen von Erbleiden. Ebenda. 1934. Nr. 7. S. 249. 

Baut-Fisclier-Lenz I. ->9 



450 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Die Blutdruck krankheit (Hypertonie, Hyper- 
tension) ist ein häufiges und praktisch wichtiges Erbieiden. 
Seit Weitz 1 ) im Jahre 1923 die häufige Erbbedingtheit hohen 
Blutdrucks entdeckt hat, hat sich herausgestellt, daß die mei- 
sten Fälle krankhaft hohen Blutdrucks auf Grund erblicher 
Veranlagung entstehen. Die ersten Beschwerden treten ge- 
wöhnlich erst im 5. oder 6. Jahrzehnt auf. Während der Blut- 
druck normalerweise bis zu 140 mm Quecksilber beträgt, steigt 
er bei den hypertonisch Veranlagten im Laufe der Jahre auf 
160, 180, ja in manchen Fällen auf 200 mm und darüber. Die 
Folge ist eine übermäßige Belastung des Herzens und der Ge- 
fäße. Es tritt in der Regel eine Verhärtung der Arterien (Arterio- 
sklerose) ein, die oft zu Schlaganfällen (Gehirnschlägen, Apo- 
plexien) führt. Infolge Arteriosklerose der Kranzarterien des 
Herzens kommt es nicht selten zu Herzschlägen oder infolge 
Verödung des Herzmuskels zum Versagen des Herzens. Weni- 
ger häufig führt die Hypertonie zu Arteriosklerose der klei- 
nen Gefäße der Niere und in der Folge zu Nierenschrumpfung. 

Die umgekehrte ursächliche Verknüpfung, Hypertonie infolge „genu- 
iner" Nierenschrumpfung, ist nicht so häufig wie man früher annahm. 



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Fig. 139. Blutdruckkrankheit. Nach Zipperlen 2 ). 
Ein Ring um den Kreis bedeutet Tod an Schlaganfall. Die Mitglieder der 
letzten Generation hatten meist das Alter, in dem Schlaganfälle aufzutreten 
pflegen, noch nicht erreicht. Über den Blutdruck der mit Fragezeichen be- 
zeichneten Personen war nichts bekannt, zum Teil waren sie in einem Alter 
gestorben, wo sich die BhUdruckkrankhcit noch nicht zu äußern pflegt. 
Bei dem halbschwarz bezeichneten Mann war der Blutdruck an der Grenze 

des Krankhaften. 



x ) Weitz, W. Zur Ätiologie der genuinen oder vaskulären Hypo- 
tension. Ztschr. für klinische Medizin. Bd. 96. II. 1 — 3. 1923. 

H ) Mitgeteilt von Gänßlen, M. Vererbimg innerer Krankheiten an 
Hand von Stammbäumen. Zeitschr. f. indukt. Abstammungslehre. Bd. 54. 
S. 299. 1930. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



451 



Eine arteriolosklero tische Nicrenschrumpfung infolge genuiner Hypertonie 
verstärkt aber ihrerseits wieder die Hypertonie. 

Die meisten Fälle von B lu t d ruckkrankhei t ent- 
wickeln sich nach Weitz 1 ) auf dem Boden einer einfach do- 
minanten Erbanlage. Meist ist einer der Eltern (oder beide) 
im Alter zwischen 55 und 70 Jahren an Schlaganfällen oder 
Herzleiden zugrundegegangen. Die Geschwister der Hyper- 
toniker zeigen hinsichtlich ihres Blutdrucks eine ausgesprochen 
zweigipfelige Verteilungskurve. Anscheinend hat die Hälfte der 
Geschwister die Anlage zu Hypertonie ebenfalls, wie es dem 
einfach dominanten Erbgang entspricht. Eineiige Zwillinge 
stimmen in ihrem Blutdruck auch bei verschiedener Lebens- 
weise meist auffallend überein, zweieiige Zwillinge viel we- 
niger 2 ). 

Gleichwohl sind auch Umwelteinflüsse für die Manifestierung der 
Hypertonie von Bedeutung. Saile 3 ), der auf Veranlassung von Weitz 110 
streng vegetarisch lebende Mönche untersucht hat, fand bei ihnen im Durch- 
schnitt einen wesentlich niedrigeren Blutdruck als bei Fleischessern. Mit 
dem geringeren Blutdruck scheint das blasse Aussehen der meisten Vegeta- 
rier zusammenzuhängen, während starker Fleischgenuß sich öfter in Ge- 
sichtsrötung äußert (Metzgergesicht). Geistige (und bis zu einem gewissen 
Grade auch körperliche) Anspannung erhöht den Blutdruck, und möglicher- 
weise kann bei gegebener Anlage der Blutdruck auf diese Weise auch 
dauernd erhöht werden. Gewisse Leistungen erfordern einen höheren Blut- 
druck, und man kann sich denken, daß das Gefäßsystem in Anpassung daran 
sich in Form einer dauernden Modifikation darauf einstellt. Hypertonie 
macht sich demgemäß häufiger bei Leuten bemerkbar, die geistig viel zu 
leisten haben. Auch geschlechtliche Erregung steigert den Blutdruck. Alko- 
holgenuß scheint nach Weitz keinen dauernden Einfluß auf den Blutdruck 
zu haben, wold aber die Belastung des Gefäßsystems mit großen Flüssigkeits- 
mengen, wie sie bei Biertrinkern vorkommt. Nikotinmißbrauch scheint ver- 
schlimmernd zu wirken. 

Bei asthenischer (schlaffer) Konstitution scheint der Blutdruck im 
Durchschnitt etwas weniger hoch als bei sthenischer (strammer) Konstitution 
zu sein. Es ist zu vermuten, daß auch eine krankhafte Anlage zu Hypertonie 
sich bei Asthenikern im Durchschnitt weniger stark äußert als bei Athleti- 
kern. Groß ist die Korrelation zwischen Hypertonie und Habitus nach 
Weitz aber nicht. 

Die Veranlagung zu Arteriosklerose, einer fleckweiscn 
Verhärtung der Schlagadern, die schließlich in Verkalkung 



*) Weit/., W. Über die Bedeutung der Erbmasse für die Ätiologie der 
Herz- und Gefäßkrankheiten. Sonderdruck aus dem Sammelwerk „Hyper- 
tension". Leipzig 1926. Thicme. 

2 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Zeitschrift für klini- 
sche Medizin. Bd. roi. H. 1/2. 1924. 

3 ) Saile. Der Einfluß der fleischlosen Ernährungsweise auf den Blut- 
druck. Dissertation. Tübingen 1929. 



452 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

übergeht, ist nach Vorstehendem zum Teil mit der zu Hypertonie 
identisch, aber doch nur zum Teil. Obwohl es bei uns wenige 
Leute in vorgerücktem Alter gibt, die völlig frei davon sind, 
tritt das Leiden bei den verschiedenen Menschen doch sehr ver- 
schieden früh und verschieden auch nach dem vorzugsweisen 
Sitz auf. Äußere Einwirkungen wie Berufsschädlichkeiten und 
Giftwirkungen spielen sicher mit. In manchen Sippen ist die 
Anfälligkeit gegenüber der Arteriosklerose mehr eine allge- 
meine, in andern steht die Arteriosklerose des Gehirns mit 
Schlaganfällen im Vordergrunde, wieder in anderen die der 
Kranzgefäße des Herzens und in noch anderen die der Nieren- 
gefäße. 

Unter den Erkrankungen des Gefäßsystems scheint die Venen- 
thrombose, die Bildung eines Blutgerinnsels in einer Vene, sippen- 
weise gehäuft vorzukommen. Besonders Frauen erkranken daran im An- 
schluß an eine Geburt unter dem Einfluß infektiöser Bakterien. Soweit eine 
erbliche Anfälligkeit disponierend wirkt, besteht diese wesentlich in einer 
Anomalie der Venenwände. 

Als Stoffwechselkrankheiten wird eine Gruppe 
von Diathesen zusammengefaßt, bei denen Stoffwechselstörun- 
gen im Vordergrunde des Krankheitsbildes stehen. Streng ge- 
nommen gehen freilich alle Diathesen mit Anomalien des Stoff- 
wechselseinher. Andererseits ist jede Stoffwechselkrankheit eine 
Konstitutionskrankheit und jede Diathese eine Konstitutions- 
anomalie; diese Begriffe gehen ohne scharfe Grenzen inein- 
ander über. Die Zuckerkrankheit ist heute als eine Organ- 
krankheit erkannt. Man könnte die Nierenleiden eigentlich 
genau so gut Stoffwechselkrankheiten nennen. Herkömmlicher- 
weise versteht man jedoch unter Stoffwechselkrankheiten in 
erster Linie Zuckerkrankheit, Fettsucht und Gicht. 

Die Zuckerkrankheit oder der Diabetes melli- 
tus (richtiger eigentlich melitus, von mel = Honig) geht 
mit der Ausscheidung von Traubenzucker im Harn einher. Der 
zuckerkranke Organismus hat die Fähigkeit, Zucker und an- 
dere Kohlenhydrate, die sonst den Hauptteil der Nahrungsener- 
gie liefern, zu verwenden, teilweise eingebüßt, insbesondere 
auch die Fähigkeit, Kohlenhydrate im Körper aufzuspeichern. 
Neben der Entkräftung infolge mangelhafter Ausnutzung der 
Nahrung bedrohen auch verschiedene andere Folgezustände 
der Stoffwechselstörung das Leben des Zuckerkranken, z. B. 
innere Säurevergiftung (Azidose). 

Die Zuckerkrankheit tritt gewöhnlich im mittleren, öfter 
auch erst im höheren Lebensalter auf. Sie beruht auf einem 



ERBLICHE DIATHESEN. 



453 



Versagen gewisser Zellgruppen der Bauchspeicheldrüse (der 
sog. Langcrhansschen Inseln), also auf einer Störung innerer 
Sekretion. Das Versagen der Langerhansschen Zellinseln hat 
anscheinend in den allermeisten Fällen seine Ursache in einer 
Schwäche der erblichen Anlage dieser Zellgruppen. Äußere 
Einflüsse können auf die Erbanlage auslösend wirken; reich- 
liche Ernährung, zumal mit Kohlenhydraten, wirkt ungünstig 
auf Entstehung und Verlauf des Diabetes. Die größere Häufig- 
keit der Zuckerkrankheit im männlichen Geschlecht erklärt 
sich nicht aus geschlechtsgebundenem Erbgange, sondern viel- 
mehr daraus, daß das männliche Geschlecht äußeren Schäd- 
lichkeiten stärker ausgesetzt ist. Man kann den Diabetes als 
ein vorzeitiges Altern der Langerhansschen Zellhaufcn be- 
trachten, vergleichbar dem vorzeitigen Ergrauen des Haares 
in manchen Familien. Die verschiedenen Organe altern bei ver- 
schiedenen Menschen verschieden schnell; und übermäßige In- 
anspruchnahme beschleunigt den Altersaufbrauch jedes Organs. 

In manchen Sippen zeigt die Zuckerkrankheit dominan- 
ten Erbgang; so in einer Sippentafel nach v. Noorden 1 ). 
Drei sorgfältige Familiengeschichten hat Long 2 ) mitgeteilt. 
Buchanan 3 ) konnte Diabetes in 17 Sippen durch drei 
Generationen verfolgen. Einfach dominanter Erbgang scheint 
indessen nicht die Regel zu sein. In der Arbeit von F. Stei- 
ner 4 ) aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in 
Dahlem, deren Material aus der Klinik von Umber stammt, 
und die ich methodologisch zu beraten hatte, fand sich Dia- 
betes bei einem der Eltern nur in 6 unter 179 Fällen, also in 
3 bis 4 0/0, bei Geschwistern dagegen in 25 unter 240 Fällen, 
d. h. in rund 10 0/0. Wenn man berücksichtigt, daß voraus- 
sichtlich auch noch ein Teil der bisher gesunden Geschwister 
erkranken wird, darf man den Hundertsatz auf 2oo/ schätzen. 
Die häufigere Belastung durch Geschwister spricht entschie- 
den dafür, daß Diabetes meist auf dem Boden einer rezes- 
siven Erbanlage entsteht. 

Vetternehe der Eltern fand Steiner nur einmal unter 123 Fällen, 
das heißt in einem nicht deutlich erhölilen Hundertsatz. Diese Tatsache 

l ) v. Noorden, C. Die Zuckerkrankheit. Berlin 1910. 
B ) Long, F. A. A contribution on the study of the familial aspects 
of diabetes mellitus. Western Medical Review. Bd. 30. Ii. 19. 194. 

3 ) Buchanan, J. A. A consideration of the various lavvs of here- 
dity and their application to conditions in man. American Journal of the 
Medical Sciences. Bd. 165. Nr. 5 1923. 

4 ) Die Arbeit ist zur Zeit noch nicht erschienen. 



454 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



9 



9 



Fig. [40. 



9 



Zuckerkrankheit. 
Nach v. Noorden. 



spricht gegen eine hochgradige Heterogenie des Diabetes; d. h, es ist nicht 
anzunehmen, daß es sehr vieie verschiedene Erbaniagen zu Diabetes gibt. 
Wenn es nur einige wenige gibt, so braucht in anbetracht der großen Häu- 
figkeit des Diabetes der Hundertsatz der Verwandtenehe bei den Eltern nicht 
wesentlich erhöht zu sein. 

Umber 1 ) hat drei Paare eineiiger Zwillinge beschrieben, 
bei denen der Verlauf des Diabetes innerhalb der Paare sehr 
ähnlich war. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen 
Paaren mögen sich entweder durch eine 
Verschiedenheit der krankhaften Erban- 
lage oder durch die Verschiedenheit der 
übrigen Erbmasse erklären. „Im Erbgut 
Hegt es begründet, ob schwere, mittel- 
schwere oder leichte Form des Diabetes 
vorhanden ist. Umwelteinflüsse vermögen 
zwar den Verlauf des Leidens zu beein- 
flussen, nicht aber seinen Charakter." In 
einem dieser Fälle hatte nur der eine 
Zwillingsbruder einen leichten Diabetes, 
während bei dem andern nur mittels der Zuckerbelastungs- 
probe ein nicht normales Verhalten des Zuckerstoffwechsels 
festzustellen war. Der kranke Bruder war Gastwirt und starker 
Biertrinker, was offenbar die Anlage zur Auslösung gebracht 
hatte. Im übrigen meint Umber: „Wer nicht mit dieser insu- 
laren Minderwertigkeit geboren ist, wird nicht diabetisch." 

Die von mehreren Autoren gefundene „Belastung" von rund 250/0 bei 
Diabetes besagt nicht viel, weil die Höhe der Belastung nicht nur von der 
Erbbedingtheit sondern auch von der Kinderzahl in der Sippe und dem Um- 
fang der Nachforschung abhängt (vgl. den Abschnitt über Methoden). 

Auch für die Zuckerkrankheit ist von mehreren Autoren sogenannte 
„Antizipation" oder „Anteposition" berichtet worden, die in immer früherem 
Ausbruch des Leidens im Laufe der Generationen bestehen soll. Da die 
Anlage sich auch in derselben Sippe in verschiedenem Lebensalter äußern 
kann, so werden vorzugsweise nur solche Diabetiker der früheren Generatio- 
nen Kinder bekommen haben, bei denen das Leiden später auftrat. Diabe- 
tische Frauen sind nämlich in der Regel unfruchtbar; und auch diabetische 
Männer pflegen wegen der oft mit dem Leiden verbundenen geschlecht- 
lichen Schwäche nur selten noch Kinder zu bekommen. Die Eltern sind also 
einer Auslese nach spätem Ausbruch des Leidens unterworfen. In der jüng- 
sten Generation wird man umgekehrt hauptsächlich nur solche Personen 
schon erkrankt finden, bei denen das Leiden sich früh äußerte, während 
solche Geschwister, bei denen die Anlage sich erst später äußert, zur Zeit 
der Untersuchung eben nicht' als krank gezählt werden. Dazu kommt 
noch, daß Zuckerkrankheit bei den Nachkommen von Diabetikern oft 



x ) Umber. Diabetes bei drei eineiigen Zwillingspaaren. Deutsche Med. 
Wochenschrift 1934. Nr. 15. S. 544. 



IRBLICHE DIATHESEN. 



455 



früher festgestellt wird als bei den Eltern, weil man eben früher daran 
denkt. Auch das trägt dazu bei, den Anschein einer „Antizipation" zu 
erwecken. 

Die erblich bedingte Zuckerkrankheit ist unter den Juden entschieden 
häufiger als unter der sonstigen mitteleuropäischen Bevölkerung. Nach 
Thei.lha.ber kamen in Berlin i. J. 1910 gegen 80 Todesfälle an Diabetes 
bei erwachsenen Juden vor. Nach dem Statistischen Jahrbuch der Stadt 
Berlin starben dort i. J. 1910 546 jüdische Männer im Alter von mehr als 
15 Jahren. Wenn wir annehmen, daß die Fälle sich über die beiden Ge- 
schlechter nach demselben Verhältnis wie sonst verteilten (3 : 2), so macht 
das 48 Falle unter 546 Todesfällen, also fast g"/o! In der Gesamtbevölke- 
rung dagegen kamen unter 9862 Todesfällen erwachsener Männer nur 232 
an Diabetes, d. h. 2,40/0 vor. Wenn man davon die Todesfälle der Juden ab- 

cf 9 



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9 



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Fig. 141. 
Zuckerkrankheit nach Hansen 1 ) 



zieht, so bleiben für die nichtjüdische Bevölkerung nur 2%- Und wenn es 
möglich wäre, die getauften Juden von den übrigen Christen auszusondern, 
so würde der Hundertsatz für die NichtJuden noch geringer sein. Im gan- 
zen scheint Diabetes als Todesursache bei Juden ungefähr sechsmal so häufig 
als bei NichtJuden zu sein; eine Zusammenstellung des einschlägigen Zah- 
lenmaterials findet sich bei U 1 1 m a u n a ). Die größere Häufigkeit des 
Diabetes bei den Juden erklärt sich zum Teil durch die größere Häufigkeit 
jüdischer Verwandtenehen. Außerdem scheinen Erbanlagen zu Zuckerkrank- 
heit in der jüdischen Bevölkerung stark verbreitet zu sein. 

Mit der echten Zuckerkrankheit darf nicht die sogenannte renale 
Glykosurie verwechselt werden, hei der zwar auch Zucker mit dem Harn 
ausgeschieden wird, die aber verhältnismäßig harmlos ist und auf einer nicht 
fortschreitenden Anomalie der Nieren beruht. Renale Glykosurie kommt 
ebenfalls erblich vor, und zwar anscheinend dominant 3 ). 



1 ) Hansen, S. Über die Vererbung des Diabetes mellitus. Acta Me- 
dica Scandinavica. Bd. 62. H. 1 — 2. 1925. 

3 ) Ullmann, H. Zur Frage der Vitalität und Morbidität der jüdi- 
schen Bevölkerung. Archiv für Rassenbiologie. Bd. 18. H. (. 1926. 

3 ) Brugsch, Tli, und Dresel, K. Renale hereditäre Glykosurie. 
Medizinische Klinik 1919. H. 39. 



456 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



ERBLICHE DIATHESEN. 



9 



9 



~T~ 

9 



Auch bei dem echten Diabetes sollen nach Naunyn 1 ) und Scckel 2 ) 
die Fälle, bei denen man einen Erbgang durch zwei und mehr Generationen 
beobachten kann, im allgemeinen verhältnismäßig leicht sein. So scheint 
sich auch hier die Regel zu bestätigen, daß dominante Leiden im allgemeinen 
leichter verlaufen als verwandte Leiden von rezessivem Erbgang. 

Der sog. Diabetes insipidus hat mit der Zucker- 
krankheit nur die Ausscheidung abnorm großer Harnmengen 
(daher auch Polyurie genannt), nicht aber die Zuckerausschei- 
dung gemeinsam. Infolge des Wasserverlustes entstellt starker 

Durst, der sehr quälend wird, wenn er 
nicht durch entsprechend große Flüs- 
sigkeitsmengen gestillt werden kann 
(„Durstkrankheit"). Das Leiden zeigt 
in einer Reihe von Sippen dominanten 
Erbgang; es scheint auf einer Ano- 
malie des Hinterlappens der Hypophyse 
(Hirnanhangs) zu beruhen. 

Eine Sippentafel gebe ich nach Gänß- 
len 3 ) und Fritz wieder. Eine gewisse klassi- 
sche Berühmtheit hat eine große Sippentafel 
von Weil 4 ) erlangt, die den dominanten Erb- 
gang in außergewöhnlicher Klarheit zeigt. Da 
sie in der Literatur verschiedentlich unrichtig 
wiedergegeben worden ist, hat J u s t^) sie in 
einwandfreier Form im Archiv für Rassenbiolo- 
gie abgebildet. Auf 23 kranke kommen 30 ge- 
sunde Geschwister, was der theoretischen Zahl 
1 : r sehr gut entspricht. Ich sehe von einer 
Wiedergabe der großen Sippentafel, die eine 
eigene ausklappbare Tafel erfordern würde, mit Rücksicht auf die Hand- 
lichkeit des Buches ab. 

Die Zystinurie oder Zystindiathese besteht in einer erblichen Stö- 
rung des Eiweißstoffwechsels. Der normale Abbau des schwefelhaltigen Be- 
standteiles des Eiweißes ist behindert, und dieser erscheint in Form einer 
schwefelhaltigen Aminosäure, des Zystins, im Harn. In der Blase können 
sich Zystinsteine bilden und Beschwerden machen. Auch sonst ist das seltene 
Leiden nicht ganz harmlos. Die Anlage ist anscheinend dominant. 



Fig. 142. 

Durstkrankheit 
(„Diabetes insipidus") 
Nach Gänßlen und Fritz. 
(Ausschnitt.) 



1 ) Naunyn, B. Der Diabetes mellitus. 2. Aufl. Wien 1906. 

a ) Seckel, H. Beobachtungen über heredofamiliäre und konstitu- 
tionelle Häufung von Stoffwechselleiden beim Diabetes mellitus. Ztschr. 
für klinische Medizin. Bd. 102. S. 195. 1925. 

3 ) Gänßlen, M. und Fritz. Über Diabetes insipidus. Klinische Wo- 
chenschrift. Jg. 3. H. 1. 1924. 

i ) Weil, A. Über die hereditäre Form des Diabetes insipidus. Deut- 
sches Archiv für klinische Medizin. Bd. 43, S. 181. 1908. 

6 ) Just, G. Ein Wort zu Weils Diabetes jnsipidus-Stammbaum. ARGB. 
Bd. 16. H. 3. 1925. 



/<■ Auf einer Störung des Eiweißabbaues beruht auch die Alkapton- 

y urie. In diesem Falle ist der Abbau des Benzolkernes im Eiweiß behindert, 

I* und es erscheint die Homogentisinsäure, ein normales Zwischenprodukt des 

I Eiweißabbaues, das den Benzolkcrn noch enthalt, im Harn. Derartiger Harn 

| färbt sich an der Luft dunkelbraun bis schwarz. Auch in verschiedenen Or- 

l ganen kommt es zu Verfärbungen und Ablagerungen. Die Anlage ist nach 
Toenniessen 1 ) einfach rezessiv. 



9 



Q 



1 1 f j 1 



Fig. 143. 

Zystinurie. 

Nach Abderhalden. 




Fig. 144. 

Alkaptonurie nach 

Cuthbert*). 



Die Fettsucht oder, wie sie in ihren geringeren Graden 
bezeichnet wird, die Fettleibigkeit (Adipositas) äußert 
sich in abnorm starker Fettansammlung im Unterhautzell- 
gewebe besonders am Bauch, den Lenden, den Schenkeln u. a. 
Auch abgesehen von den höchsten Graden, in denen Fettsüch- 
tige ein Gewicht von mehreren Zentnern erreichen, ist die Fett- 
sucht nicht harmlos ; nach Florschütz haben Fettleibige 
eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung. Natürlich spielt 
die Ernährung eine große Rolle bei der Ausbildung der Fett- 
leibigkeit; bei chronischer Unterernährung kann sie nicht in 
die Erscheinung treten. Andererseits aber kann bei Anlage zu 
Magerkeit nicht einfach durch Überernährung Fettleibigkeit er- 
zeugt werden. Es gibt also weder eine reine Mastfettsucht noch 
eine reine Faulheitsfett sucht. Alle Arten der Fettsucht gehen mit 
einer Störung innerer Sekretion einher. Bei einem Teil der 
Fälle von Fettsucht ist die Tätigkeit der Schilddrüse herab- 
gesetzt, die ja die Schnelligkeit des Stoffwechsels regelt und 
die man einem Blasebalg verglichen hat, der die Verbrennungs- 
vorgänge im Körper anzufachen hat. Viele Fälle von Fettsucht 
beruhen offenbar auf einer mangelhaften Entwicklung der 
Keimdrüsen. Eine besondere Art von Fettsucht wird durch 
mangelhafte Funktion der Hypophyse verursacht (Dystrophia 
adiposogenitalis). Im übrigen scheinen bei ausgesprochener 
Fettsucht auch die Zellen selbst mangelhaft zu funktionieren. 

*) Toenniessen, E. Über die Vererbung der Alkaptonurie. Zeit- 
schrift für induktive Abst- und Vererbungslehre 1922, 

s ) Cuthbert, C. F. Heredity in Alcaptonuria. The Lancet. März 1923. 



9 



458 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

W e i 1 2 und Liebendörfer *) sind am Material der me- 
dizinischen Poliklinik in Tübingen der Erblichkeit der Fettsucht 
nachgegangen. In 25 Fällen von Fettsucht, die in den Hunger- 
jahren nach dem Kriege beobachtet wurden, ließen sich regel- 
mäßig noch weitere Fälle in der Familie nachweisen. In der 
Regel scheint die konstitutionelle Fettsucht dominant erblich 
, , , ™ sein; doch ist bei der Vielgestaltig- 

es ^ • keit der innersekretorischen Grunclla- 

p— f ^l^ — _^ gen zu vermuten, daß es auch Anlagen 

cj w ö 1 O 1 (f f von anderem Erbgang gibt, die Fett- 

| sucht bedingen können. 

cf $ © @ Selbstverständlich ist auch die kon- 

+ ™ stitutionelle Magerkeit erblich. Der 

Fig. 145. Nahrungsbedarf ist bei verschiedenen 

Fettsucht nach W e i t z M «ischen trotz gleichen Körpergewichts 

und gleichen Verhaltens recht verschie- 
den, und diese Unterschiede sind im wesentlichen sicher erb- 
lich. Es ist erstaunlich, mit wie wenig Nahrung manche zur 
Fettleibigkeit neigende Personen auskommen. 

Mein früherer Chef, der Hygieniker v. Gruber in München, hat 
seinerzeit an der Hand großenteils eigener Stoffwechselversuche belichtet, 
daß die Intensität des Stoffwechsels bei verschiedenen Personen sehr ver- 
schieden ist und daß sie bei einzelnen nur halb so groß als bei andern ist. 
Bis auf die Untersuchungen Grubers bestand eine große Unsicherheit 
insofern, als man nicht wußte, auf welches Maß des Körpers man den Stoff- 
umsatz eigentlich beziehen sollte, auf das Gewicht, die Oberfläche oder 
worauf sonst. Aus den Untersuchungen Grubers geht aber hervor, daß 
die konstanteste Beziehung die zur Körperlänge ist. Bei gesunden 
Menschen von sehr verschiedenem Alter, Größe und .Konstitution ist der 
Stoffumsatz, auf die Einheit der Länge bezogen, ziemlich gleich groß. Die 
zweckmäßigste Beziehung der Einheit des Stoffumsatzes (Kalorie) ist daher 
nicht die auf die Einheit des Gewichts oder der Oberfläche, die bisher 
meist üblich waren, sondern die auf die Einheit der Länge. Ergeben sich 
dann wesentliche Abweichungen vom Durchschnitt, so kann man mit Sicher- 
heit auf eine Anomalie der Intensität des Stoffwechsels schließen. 

Camer er und Schleicher 3 ) haben drei fettleibige 
und ein mageres Paar eineiiger Zwillinge als schlagenden Be- 
leg der entscheidenden Bedeutung der Erbmasse für die Fett- 
leibigkeit bzw. Magerkeit abgebildet. 



!) Liebeildörfer, Th. Über Erblichkeitsverhältnisse bei Fettsucht. 
ARGB. Bd. 15. H. 1. 1923. 

2 ) C am er er, J. W., und Schleicher, R. Beitrag zur Frage der 
konstitutionellen Fett- und Magersucht. Ztschr. für menschliche Vererbungs- 
und Konstitutionslehre. Bd. 19. H. 1. S. 32. 1935. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



Aus dem Befunde der Magerkeit oder geringer Dickenentwicklung im 
Verhältnis zur Länge wird oft voreilig auf „Unterernährung" geschlossen. 
Besonders bei Untersuchungen von Schulkindern in der Kriegs- und Nach- 
kriegszeit ist dieser Felder vielfach gemacht worden. Im übrigen darf die 
Kenntnis der erbbedingten Möglichkeit natürlich nicht dazu führen, daß 
wirkliche Unterernährung übersehen wird. 

Der Unterschied zwischen Fctdeibigkeit und Magerkeit hat Beziehun- 
gen zu den Unterschieden der geographischen und ökologischen Rassen. 
Fettleibigkeit findet sich häufig bei Chinesen, Türken, Magyaren, Juden; Ma- 
gerkeit bei Angelsachsen, Spaniern, eigentlichen Semiten, im deutschen Adel. 
Der Unterschied fällt zum Teil mit dem zwischen Bewegungs- und Pflanzcr- 
rassen zusammen (vgl. den Abschnitt über die seelischen Rassenunters chiede). 

Eine herkömmliche Lehre besagte, daß die drei großen Stoffwechsel- 
leiden Diabetes, Gicht und Fettsucht in den gleichen Sippen zusammen 
vorkommen. Man hat sich vorgestellt, daß alle drei auf derselben Erbanlage 
beruhen und sich im Erbgange gewissermaßen vertreten könnten. Man 
sprach von „ungleichartiger" oder „polymorpher" Vererbung. Gerade in 
Sippen, wo man Stoffwechselleiden in schwererer Form durch die Genera- 
tionen verfolgen kann, herrscht aber durchaus das Bild der „gleichartigen" 
Vererbung vor. Andererseits besteht zwischen Diabetes und Fettsucht eine 
Korrelation 1 ). Diabetiker sind vor Ausbruch ihrer Zuckerkrankheit oft fett- 
leibig, und sie haben oft fettleibige Verwandte. Bei bestehender Anlage zu 
Fettleibigkeit tritt sehr leicht ein Zustand der Überfütterung ein; und Über- 
füttcrung wirkt auslösend und verschlimmernd auf den Diabetes. Während 
der Hunger jähre des Krieges und der Nachkriegszeit wurde nicht nur die 
Fettleibigkeit sondern auch die Zuckerkrankheit selten bei uns. Es sind 
offenbar zum Teil dieselben Erbanlagen, die einerseits zu Fettleibigkeit und 
andererseits zu Zuckerkrankheit führen können. Auch die Anlage zu Gicht 
kann durch Überfütterung ausgelöst oder verschlimmert werden. Die Korre- 
lation zwischen Diabetes und Gicht ist aber viel geringer als die zwischen 
Diabetes und Fettleibigkeit. 

Die Gicht (Arthritis urica oder besser uratica) äußert 
sich hauptsächlich in schmerzhaften Anfällen von Gelenkent- 
zündungen, die mit Ablagerung von. Harnsäure einhergehen. 
Die Harnsäure stammt aus, den Nukleinen tierischer Zellkerne ; 
die Aufnahme kernhaltiger tierischer Nahrungsmittel wirkt dem- 
gemäß auslösend auf die gichtische Diathese. Auch durch Zell- 
gifte, die ein Absterben von Zellen und damit eine Auflösung 
von Kernen verursachen, können Gichtanfälle ausgelöst wer- 
den, z. B. durch Alkohol und Blei. Die gichtische Diathese 
äußert sich bei Männern mehrfach häufiger als bei Frauen, 
meist nicht vor dem vierten Jahrzehnt. Sie scheint in der E.egel 
auf einer dominanten Erbanlage zu beruhen 2 ). In manchen 



1 ) F i n k e , W. Über Diabetes mellitus als Erbkrankheit und seine 
konstitutionellen Beziehungen zu anderen Krankheiten. Ztschr. für klinische 
Medizin. Bd. 114. 1930. 

s ) Ebstein, W. Die Natur und Behandlung der Gicht. Wies- 
baden 1906. 



460 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Sippen kann sie durch mehrere Generationen verfolgt werden; 
in andern ist der Erbgang scheinbar unterbrochen, was daher 
rühren dürfte, daß Umwelteinflüsse, zumal die Art der Er- 
nährung auslösend bzw. hemmend wirken. Sippentafeln mit 
Gicht zeigen die Abbildungen 147 und 148. Die Gicht ist am 
häufigsten in den Küstenländern der Nord- und Ostsee; viel- 
leicht besteht eine Beziehung zu der schweren blonden („fäli- 
schen") Rasse. 

Die Harnsaurediathcsc kann auch zu Nierensteinen führen. Nie- 
ren- und Blasensteine aus Harnsäure kommen mit Gicht zusammen in man- 
chen Sippen vor 1 ). 

Häufiger sind Nieren- und Blasensteine aus Oxalat. Gram 2 } 
hat eine Sippe beschrieben, in der Oxalatstcine auf Grund einer dominanten 



1 9 



cf 6 cf- 



9 



9^9 



9 



90^ 52 



Fig. 146. Nierensteine aus Oxalat nach Gram. 

Anlage vorkommen. Da nur Männer befallen waren, scheint die Äußerung 
der Anlage geschlechtsbegrenzt zu sein. Die Erbbedingtheit von Zystin- 
steinen wurde bereits weiter oben erwähnt. 

In der älteren Literatur, besonders der französischen, spielt der Begriff 
des „Arthritisinus" oder der „arthritischen Diathese" eine große Rolle. 
Diese wurde als gemeinsame Grundlage von Diabetes, Gicht, Fettsucht, 
Arteriosklerose, Schrumpf nie re, Asthma, Psoriasis, Muskelrheumatismus und 
mancherlei anderen Leiden angesehen. Obwohl alle jene als Arthritismus 
zusammengefaßten Leiden erblich mindestens mitbedingt sind, kann man 
eine „arthritische Diathese" als biologische Einheit doch nicht aufrecht- 
erhalten. Die Gicht ist nur eine „arthritische Diathese" unter anderen; 
und da sie mit anderen „arthri tischen Diathesen", z. B. der Anfälligkeit 
gegen Gelenkrheumatismus nicht wesensverwandt ist, tut man besser, sie 
nicht so zu nennen. 

Wesensverwandt ist die Gicht mit den Idiosynkrasien 
oder Allergien. So nennt man krankhafte Empfindlichkeiten 
gegenüber Stoffen, die von normalen Menschen ohne Schaden 
vertragen werden. Am häufigsten ist die P ollen aller gie, 

r ) Pel, P. K. Die Erblichkeit der chronischen Nephritis. Zeitschrift 
für klinische Medizin. Bei. 38. S. 127. 1899. 

2 ) Gram, H. C. The heredity of oxalic urinary calculi, Acta medica 
Scandinavica. Bd. 78. FL 3/4. S. 268. 1932. 



ERBLICHE DIATIiESEN, 

gewöhnlich mit einem wenig treffenden Namen als Heu- 
fieber bezeichnet. Sie wird durch den Pollen blühender 
Gräser ausgelöst und äußert sich in Augenbindehautentzün- 
dung und Schnupfen, ausnahmsweise auch in Asthma. Han- 
hart 1 ), wohl der beste Kenner der erbbedingten Allergien, be- 
zeichnet das Heufieber als Leitsymptom allergischer Veran- 
lagung. Die gleiche Erbanlage kann sich unter anderen Um- 
welteinflüssen und anscheinend auch in Kombination mit an- 
deren Genen auch in anderen Krankheitsbildern äußern. So 
zeigt eine Sippentafel, die ich dem verstorbenen Mathematiker 



1 — 1 



9 9 



? 



CT <j <sf isf ®" Cj) (j) <$?<§? <f Q (j> c? f 

Fig. 147. 

Gicht und Heuschnupfen nach Study. 
Schwarz bedeutet Gicht, Punkt im Kreise bisher nur Heuschnupfen. 

Study in Bonn verdanke, wie sich eine anscheinend domi- 
nante Anlage bei den älteren Sippcnmitgliedern in Gicht, 
d. h. Idiosynkrasie gegen tierische Zellkerne, und bei den jün- 
geren in Heuschnupfen, d. h. in Idiosynkrasie gegen pflanz- 
liche Pollenkörner äußert. Es ist zu vermuten, daß von den 
jungen Leuten, die nur an Heuschnupfen leiden, später einige 
oder alle auch die Erscheinungen der Gicht bekommen werden. 
Andere Äußerungen allergischer Diathese sind die Nes- 
selsucht (Urticaria), bei der nach Genuß bestimmter Spei- 
sen (Erdbeeren, Krebsen u. a.) auf der Haut zahlreiche juk- 
kende rote Quaddeln entstehen, das allergische Ekzem, eine 
länger dauernde entzündliche Veränderung der Haut nach 
Berührung mit gewissen Stoffen, das Asthma bronchiale, 
krampfiger Verschluß des Magenausgangs (Pyloruskrampf), 
Erbrechen, Durchfälle, flüchtige H autsch wellungen, Migräne. 
Als auslösende Stoffe (Allergene) kommen neben Graspollen 
verhältnismäßig häufig vor : Hühnereiweiß, Absonderungen 
von Spulwürmern, Stäubchen von Pferdehaar, das Eiweiß ver- 
schiedener Fische 2 ). 

!) Hanhart, E. Erbkliiük der Idiosynkrasien. Deutsche Med. Wo- 
chenschrift 1934. Nr. 29, 31, 46, 47, 49, 50, 52. 

a ) Vermutlicherklärt so auch der Aberglaube, daß Fischblut „giftig" sei. 



462 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Es gibt Erbanlagen zu allergischer Diathese, die sich je 
nach den Umwelteinflüssen und je nach der sonstigen Erb- 
masse in recht verschiedenen allergischen Krankheitserschei- 
nungen äußern können. Ein Beispiel bunten Wechsels aller- 
gischer Krankheiten bildet die abgebildete Sippentafel nach 
Gänßlen. Nicht mimer aber ist die Mannigfaltigkeit so groß. 
In einer von S chmid t - Kehl J ) sorgfältig erforschten Sippe 
traten besonders Ekzeme und Heufieber auf. Hanhart hat 
sich auf Grund einer großen Zahl von ihm erforschter Sippen 
dahin ausgesprochen, daß es eine allgemeine, einfach domi- 
nante Erbanlage zu allergischer Diathese gebe. 



= Gicht, 



O 1 (£> 



? & 



l l 



f f g @" ^ ** 9 9 o 1 

Fig. 148. 
F a m i i i ä r e Häufung ver- 
schiedener Allergien. 
Nach Gänßlen (Ausschnitt) 3 ). 



® 


= Migräne, 


m 


= Gallensteine, 





== Heuschnupfen, 


® 


= Asthma, 


® 


= Nesselsucht, 


O 


= Quinckesches Ödem 



Es handelt sich bei den allergischen Reaktionen nicht um ein von dem 
normalen wesensverschiedenes Verhalten. Auch der normale Organismus 
kann durch artfremdes Eiweiß bis zu einem gewissen Grade sensibilisiert 
werden, Wenn man einem Meerschweinchen ein wenig Pferdeserum einspritzt 
und die Einspritzung nach einigen Wochen wiederholt, so stirbt das Tier 
kiarz nach der zweiten Einspritzung unter Lungenblähung. Es hat sich bei 
ihm eine Fähigkeit zur Abwehr artfremden Eiweißes gebildet, die übers Ziel 
schießend eine so starke Reaktion zur Folge hat, daß das Tier dabei zu- 
grunde geht. Eine so starke „Anaphylaxie" kommt zwar beim Menschen 
nicht vor; aber die erwähnten Allergien auf Graspollen und andere Aller- 
gene werden durch eine vorausgegangene Berührung mit diesen Stoffen 
zum Teil stark erhöht. Durch konzentriertes Destillat der chinesischen Pri- 
mel kann nach Bloch so gut wie jeder Mensch hochgradig allergisch ge- 
macht werden. Andererseits zeigen Hanharts Erfahrungen über die 
regelmäßige Äußerung der dominanten Erbanlage zu Allergien, daß die 
Bedeutung der Sensibilisierung durch eine frühere Berührung mit dem 
Allergen nicht überschätzt werden darf. Bei gegebener Veranlagung scheint 
es über kurz oder lang eben doch zur Allergie zu kommen. Durch eine 
größere Menge oder durch häufig wiederholte kleine Menge Allergen kann 
schließlich wieder eine Desensibilisierung (Antianaphylaxie) erreicht werden. 

Wie bei gleicher Erbanlage durch verschiedene Stoffe verschiedene 
Allergien ausgelöst werden können, zeigt ein von H an hart beobachtetes 

1 ) Schraiclt-Kelil, L. Über den Vererbungsmodus bei den allergi- 
schen Krankheiten. ARGB. Bd. 27. H. 2. S. 175- 1933. 

2 ) Medizinische Klinik 1921. Nr. 41. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



w- 



Paar eineiiger Zwillingsschweslern, von denen die eine auf Berührung mit 
Sublimat mit Ekzem, die andere auf den Staub von Ziegenfell mit Asthma 
reagierte. Sonst bekannt gewordene eineiige Zwillingspaare reagierten meist" 
gleichartig- allergisch, z. B. ein Paar Hanharts mit Pollenschnupfen 
und Pollcnasthma und ein Paar Sclimidt-Kehls mit Ekzem. 

Bei Belastung durch beide Eltern fand II anhart gelegentlich be- 
sonders starke Allergien, was an intermedia res Verhalten der Erbanlage 
denken läßt. 

Die allergischen Krankheitserscheinungen sind in den letzten Genera- 
tionen häufiger geworden. Rehstcincr 1 ), der auf Veranlassung Han- 
harts eine Erhebung über die Häufigkeit des Heuficbers in der Schweiz 
angestellt hat, schätzt diese dort auf 0,8 n/o. Für die Vereinigten Staaten wird 
rund 1% angegeben. Städter sind häufiger als Landleute befallen, geistige 
Arbeiter häufiger als Handarbeiter. Die moderne Stadtkultur scheint eine 
Sensibilisierung auch in dieser Hinsicht mit sich gebracht zu haben. Auch 
reichlicher Fleischgenuß scheint nach Haag zu allergischer Sensibilität 
zu disponieren, ebenso lebhafte Schilddrüsentätigkeit. In Flußtälern sind 
Allergien häufiger als in höher gelegenen Landstrichen. Zum großen Teil 
sind diese Unterschiede sicher durch die Umwelt bedingt; aber doch nicht 
nur. Leptosome Typen sind häufiger befallen als pyknische. Seelisch sensible 
Typen scheinen auch körperlich leichter sensibilisierbar zu sein. In diesem 
Zusammenhang sei auch an die vorzugsweise Verbreitung der Gicht über 
das Gebiet der nordischen Rasse erinnert. Allergien äußern sich am häufig- 
sten im dritten und vierten Jahrzehnt des Lebens, wo die Intensität des 
Lebens am größten ist. Auch die größere Häufigkeit der Allergien in der 
Stadt und in den geistigen Berufen ist vielleicht zum Teil durch eine Aus- 
lese sensibler Menschen bedingt. Andererseits erscheint es möglich, daß die 
Landbevölkerung schon in der Kindheit durch häufige Berührung mit Gras- 
pollen und damit gegen das häufigste Allergen desensibilisiert wird („Stille 
Feiung"). 

Das Quinckes che Ödem (angioneurotisches Ödem, 
akutes, umschriebenes Ödem), das in Allergiker sippen ge- 
legentlich beobachtet wird, tritt in gewissen Sippen als beherr- 
schende Äußerung einer dominanten Erbanlage auf. Bei den 
mit dieser Anlage Behafteten schwellen plötzlich umschriebene 
Teile der Haut oder der Schleimhaut stark an, um nach! einiger 
Zeit wieder abzuschwellen. Sitzt die Schwellung z. B. außen im 
Gesicht oder an der Nase, so ist es nicht weiter schlimm, be- 
fällt sie aber den Kehlkopf (die Glottis), so kann der Tod 
durch Ersticken eintreten. Eine derartige Sippentafel nach 
Crowder 2 ) gibt Fig. 149 wieder. Zusammenfassend haben 
Philipps und Barrows 3 ) über das Quinckesche Ödem be- 

1 ) R eh s t eine r , R. Beiträge zur Kenntnis der Verbreitung des 
Heuficbers. Dissertation Zürich rg26. 

2 ) Cro w d e r , J. R. and C r owder, T. R. Five gencrations of 
angioneurotic edema. Archives of Internat. Mcdicine. Bd. 20. 1917. 

s ) Philipps, J. and Barrows, W. Hercdity of angioneurotic 
edema. Genetics Bd. 7. 1922. 



464 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

richtet. Die älteren Sippentafeln sind im Treasury von Bul- 
loch 1 ) zusammengestellt. 

Auch Migräne kommt in Sippen mit wechselnden Aller- 
gien vor; häufiger aber kann sie als solche in dominantem Erb- 
gang durch die Generationen verfolgt werden. Sie äußert sich 
in plötzlich auftretenden heftigen halbseitigen Kopfschmerzen, 




Fig. 149. 

Anfälle umschriebener Haut-und Schleimhautscliwellung 

(Quinckesches Ödem.) Nach Crowder. (Ausschnitt.) Die mit einem Ring 

umzogenen 14 Personen starben im Anfall von Kehlkopf Schwellung. 

die mehrere Stunden bis zu einem Tage dauern. Vermutlich 
handelt es sich um Anfälle umschriebener Schwellung in den 
Hirnhäuten. Fig. 150 zeigt eine Sippentafel nach Döllken 2 ), 
die auf Grund persönlicher Mitteilung des Verfassers gegen- 
über seiner Publikation vervollständigt ist. 

Neben 8 Fällen von Vererbung durch einen kranken Elter kommen 
in dieser Sippe drei Fälle von Übertragung durch einen migränefreien Elter 
vor. Die Dominanz ist also nicht regelmäßig. Immerhin fand Döllken an 
einem großen Material in 950/0 gleichartige Belastung mit Migräne. Eine 
Korrelation mit Epilepsie hält er nicht für erwiesen. Die in der vorigen 
Auflage dieses Buches ausgesprochene Vermutung, daß dominanter ge- 
schlechtsgebundener Erbgang vorliegen könne, hat sich nicht bestätigt, da 
Döllken in mehreren Sippen Migräne bei Vater und Sohn gefunden hat. 

1 ) Bul loch, W. Angioneurotic Oedema. The Treasury of Human 
Inheritance. Part. III. Section IX a. London 1909. Cambridge Univer- 
sity Press. • \ \ [ | , j [:!] ' 

2 ) Döllken. Zur Therapie und Pathogenese der Migräne. Münch. 
Med. Woch. 1928. Nr. 7. S. 291. 



ERBLICHE DIATHESEN. 

Das Asthma bronchiale gehört zu den weniger häu- 
figen Äußerungen allergischer Diathesen. Es besteht in An- 
fällen von Schwellung der tieferen Luftwege mit Absonderung 
zähen Schleims und Atemnot. Nach Hanhart entsteht eine 
Disposition zu Asthma, wenn eine Anlage zu allergischen Re- 
aktionen mit einer gewissen Krampfbereitschaft kombiniert ist. 
Sippentafeln finden sich in der zitierten Arbeit Hanhart s. 

Die Vagotonie, eine Krampf bereitschaft des vegetativen Nerven- 
systems, als deren Äußerung das Asthma vielfach angesehen wird, kann 
sich auch in übermäßiger Säureabsonderung des Magens, spastischer Ver- 
stopfung, Globusgefühl im Halse, Neigung zu Schweißen, Pulsverlangsa- 



cf 



cf 



<fd 



cf? cf cf 



9 



cf 



cf cf cf 



9 cf 9 9 cf f cf? ¥9 



cf. 



I I 1 



? r_$ 



? 



Fig. 150. Migräne nach Döllken. 



mung äußern. Im Säuglingsalter weisen Asthmatiker meist Zeichen entzünd- 
licher Diathese auf, die selbst vielleicht eine allergische Diathese ist. Die 
allergische Natur des Asthmas zeigt sich darin, daß es durch geringfügige 
Spuren bestimmter Stoffe ausgelöst werden kann, bei manchen Menschen 
durch Graspollen, bei andern durch Stäubchen von Pferdehaar. Es besteht 
eine Korrelation mit hysterischer Veranlagung, indem auch psychogene Ein- 
flüsse zur Auslösung von Aslhmaanfällen führen oder doch beitragen kön- 
nen. Bei Zwillingen ist Asthma mehrfach in übereinstimmender Weise be- 
obachtet worden. Im männlichen Geschlecht ist es häufiger als im weib- 
lichen. 

Bei Asthmatikern finden sich die eosinophilen weißen Blutkörperchen 
ungewöhnlich zahlreich; auch bei Verwandten von Asthmatikern sind diese 
oft vermehrt. Sippentafeln mit Eosinophilie sind mehrere beschrieben 
worden 1 ). 

Auch die Entstehung von Gallensteinen hat Bezie- 
hungen zu den allergischen Reaktionen. Man kann sich vor- 
stellen, daß eine allergische Schwellung und Schleimabson- 
derung in die Gallenblase erfolgt und daß das den ersten An- 
stoß zur Bildung von Gallensteinen gibt, zumal wenn eine 



1 ) Weißensieder,M. Über familiäre Eosinophilie. „Der Erbarzt' 
Beilage zum „Deutschen Ärzteblatt", 1935. Nr. 6. S. 81. 



Baur-Fisclier-I,euz I. 



& 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

bakterielle Entzündung vom Darm her hinzutritt. In der Folge 
lagert sich Cholesterin, später Kalk ein. Weitz 1 ) hat in seiner 
Praxis den Eindruck einer so starken familiären Häufung von 

Gallensteinleiden bekommen, daß er 
f dominanten Erbgang wenigstens für 

viele Fälle vermutet. Eine Sippentafel 
mit anscheinend dominantem Erb- 
gang gebe ich nach H uddy 2 ) wieder. 
In einer Sippentafel, die ich Frau 
Dr. Agnes Bluhm in Berlin-Lichter- 
felde, verdanke, kommen Gallensteine 
und Gicht in derselben Sippe und 
zum Teil bei denselben Personen 
Nach dem, was bei Besprechung 
Gicht ausgeführt wurde, scheint 



c? 



Fig. 151. 
Gallcnstcinleidcn 
nach Huddy. Die halb- 
schwarz bezeichnete Frau 
litt an Gallenblasenentzün- 
dung, ohne daß Steine fest- 
gestellt werden konnten. 



vor. 
der 
die- 



ff 



ff ff f 9 



ff ff 



ff 



ff m ff 



ff ff ff ff • ff 



ff 



ses Zusammentreffen kein zufälliges 

zu sein. 

Bei Sektionen werden oft Gallensteine gefunden, ohne daß von Krank- 
heilsanfällen im Leben etwas bekannt geworden wäre. Es ist daher anzu- 
nehmen, daß viel mehr Gallenstein! cid en vorkommen, als durch Verursa- 
chung einer schmerzhaf- 
l& ten GaUenblascnenty.ün- 

7 [ düng bekannt werden. Das 

erschwert die Erforschung 
der Erblichkeit natürlich 
sehr. Etwa bei jeder 
zehnten Leiche wurden 
Gallensteine gefunden, 
und zwar viermal so häu- 
fig bei Frauen als bei 
Männern, was aber mög- 
licherweise mit der weib- 
lichen Kleidung zusam- 
menhangt, die einenDruck 
auf die Lebergegend aus- 
übt und den Abfluß der 
Galle erschweren kann. 

Die hämolytische Diathese (hämolytischer 
Ikterus, erbliche chronische Gelbsucht) beruht 
auf einer abnormen Hinfälligkeit der roten Blutkörperchen. 
Der Blutfarbstoff aus den in übermäßiger Menge zerfallenden 
roten Blutkörperchen wird in der Leber in Gallenfarbstoff um- 

J ) Nach persönlicher Mitteilung. 

2 ) Huddy, G. P. B. A study of the family histories of 300 pa- 
tients suffering from chronic Upper abdominal lesions. Tbc Lancct. Bd. 209. 
Nr. 6. 1925. 



Fig. 



G a 1 I e n s t e i n 1 e i d e n nach Agnes Blüh m. 

Die mit einem Ring bezeichneten Personen litten 

an Gicht. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



467 



gewandelt und führt zur Gelbfärbung der Haut. Eine weitere 
Folge des Blutzerfalls ist Blutarmut wechselnd hohen Grades. 
Durch chirurgische Entfernung der Milz, in der die Zerstörung 
der Blutkörperchen erfolgt, kann der Zustand weitgehend ge- 
bessert werden. 

Nach den Forschungen Gänßlens 1 ) beruht die hämoly- 
tische Diathese auf einer dominanten (oder intermediären ?) 
Erbanlage. Eine Sippentafel nach Ganßlen zeigt Fig. 153. 
Die Erbanlage hat keineswegs immer das Vollbild der Krank- 
heit zur Folge. Die Gelbsucht tritt bei ungefähr 40 0/0 der Trä- 
ger der Anlage nicht in die Erscheinung. Aber auch Personen, 
die „nur einen Hauch der Krankheit zeigen", vererben die An- 
lage nach Gänßlen weiter. Die Schwere und Art des Krank- 
heitsbildes scheint wesentlich von den sonstigen Erbanlagen, 
mit denen die spezifische Anlage zusammentrifft, abzuhängen. 



Cf 



9 



9 



7~~i — 1 
cf 9 9 



o* ^ cf <§> 



Fig. 153. 

Erbliche Gelbsucht (Hämolytische Diathese). Nach Gänßlen. 
(Im Säuglingsalter gestorbene Kinder sind weggelassen.) 



Fast regelmäßig finden sich bei den Trägern der Anlage auch Gallen- 
steine, was offenbar auf die abnorm starke Bildung von Gallenfarbstoff 
zurückzuführen ist. Gänßlen fand bei einem großen Teil der Kranken zu- 
gleich eine eigentümliche Hochköpfigkcit (Hypsikephalie). Wenn Gänßlen 
außerdem noch Anomalien fast aller Organe mit der hämolylhi sehen 
Diathese in Zusammenhang bringt, so handelt es sich dabei vermutlich nur 
um eine indirekt bedingte Korrelation, wie sie bei der Frage der Entartungs- 
zeichen auf S. 420 erörtert worden ist. 

Auch die vorübergehende Gelbsucht, die viele Neugeborene zeigen, 
scheint familienweise besonders stark vorzukommen, ebenso die seltene töd- 
liche Gelbsucht der Neugeborenen. Über den Erbgang ist indessen nichts 
Genaueres bekannt. 



l ) Gänßlen, M. Über hämolytischen Ikterus. Deutsches Archiv für 
klinische Medizin. Bd. 140. S. 210. 1922. 

Gänßlen, M., Zipperlen, E. und Schiiz, E. Die hämolytische 
Konstitution. Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 146. H. 1/2. 
1924. 



468 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN 

Bei der Splenomegalie (erblichen Milz Vergrößerung) 
nimmt die Milz während des Heranwachsens unverhältnismäßig an Größe 
zu. Zugleich verfärbt die Haut sich unter Mitwirkung des Sonnenlichtes 
braungelb. Die Milzvergrößerung beruht auf der Wucherung eigentümlicher 
Zellhaufen, die sich auch in der Leber, den Lymphknoten und dem Knochen- 
mark entwickeln. Im übrigen scheint das seltene Leiden harmlos zu sein. 
Der Erbgang ist nach Sippentafcln von Gossage 1 ) und Flehn 2 ) in 
der Regel dominant; doch kommt es vor, daß die Anlage bei einzelnen Per- 
sonen sich wenig oder gar nicht äußert; daher können Generalionen schein- 
bar übersprungen werden. 

Leberschrumpfung (Leberzirrhose) pflegt zwar unter dem Ein- 
fluß von Giftwirkungen (Alkohol, Syphilis, Malaria) zu entstehen; da aber 
diese Schädlichkeiten auf zahllose Menschen einwirken, ohne daß es zu 
Leberschrumpfung kommt, muß man wohl an eine erbliche Organschwäche 
denken, und in der Tat ist das Leiden sippenweisc gehäuft beobachtet wor- 
den. Von Schuszik 3 ) ist berichtet worden, daß drei Schwestern schon 
im 2. und 3. Lebensjahr an Leberzirrhose zugrundegingen. In den letzten 

Jahren ist von U m b e r und von Lang- 
@ b ein 4 ) je ein Paar eineiiger Zwillinge be- 

, I , schrieben worden, die in den fünfziger Jah- 

ren an Leberzirrhose erkrankten. 

Die Pseudosklerose oder 
Wilsonsche Krankheit er- 
wächst aus einer krankhaften Veran- 
lagung, die zu Leberzirrhose und 
Verödung in den Stammganglien des 
Gehirns führt. Das Leiden ist nach 
Kehrer 5 ) durch eine rezessive Erb- 
anlage bedingt ; er hat gefunden, 
daß von den Geschwistern der Kran- 
ken rund ein Viertel ebenfalls er- 
krankte. 

Die perniziöse Anämie, eine fortschreitende Art von 
Blutarmut, ist in einer Anzahl von Sippen gehäuft beobachtet 



C? 



_ 7 ^_ 



Fig. 154. Perniziöse 
Anämie nach Bremer. 
Der mit einem schrägen 
Kreuz bezeichnete Mann hatte 
nur Zeichen eines funikulären 
Rückenmarkleidens. 



i) G o s s a g e , A. M. The inheritance of certain human abnormalities. 
Quarterly Journal of Mediane. Bd. 1. S. 331. 190S. 

3) Plchn, A. Familiäre Milz- und Lebervergrößerung mit Anämie und 
gutartigem Verlauf. Deutsche medizinische Wochenschrift. 1909. Nr. 40. 

3 ) Schuszik. Über einen Fall von familiärer kindlicher Leberzirrhose. 
Archiv für Kinderheilkunde 1920. 

*) Langbein, A. Über konkordantes Vorkommen von Leberzirrhose 
bei eineiigen Zwillingen. Der Erbarzt. 1935. Nr. 6. S. 82. 

& ) Kehrer, F. Zur Ätiologie und Nosologie der Pseudosklerose West- 
phal -Wilson. Zeitschrift für die gesamte Neurologie. Bd. 129. H. 3 und 4. 
S. 488. 1930. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



469 



worden 1 ), so daß an ihrer wesentlichen Erbbedingtheit nicht 
mehr zu zweifeln ist. 

Die hier wiedergegebene Sippentafel nach Bremer 2 ) 
zeigt das Bild dominanten Erbgangs. Wenn in den meisten 
FäUen keine gleichartige Belastung festgestellt werden kann, 
so scheint das daran zu liegen, daß die zugrundeliegende Erb- 
anlage meist nicht zum vollen Bilde der perniziösen Anämie 
führt. Bei den Kranken fehlt in der Regel die Salzsäureabson- 
derung des Magens; und diese Achylia gastrica findet sich oft 
auch bei Verwandten ohne Anämie. Es scheint, daß die nor- 
male Magenfunktion vor perniziöser Anämie schützt. Weitz 
vermutet in der anscheinend dominant erblichen Anlage zu der 
aehylischen Magenstörung die hauptsächliche Ursache der per- 
niziösen Anämie. Bei den Kranken selbst und bei Verwandten 
finden sich häufig auch Zeichen eines funikulären Rücken- 
marksleidens, das sich in Störungen der Empfindungs- und Be- 
wegungsnerven der Arme und Beine äußert und das offenbar 
durch dieselbe Erbanlage bedingt ist. Man könnte daran den- 
ken, daß schon die Achylie im Grunde durch den Ausfall einer 
entsprechenden Nervenfunktion verursacht sei. 

Zur Auslösung der perniziösen Anämie können Umwelteinflüsse bei- 
tragen, z. B. die Giftstoffe des breiten Bandwurms (Botriokephalus). In 
Finnland, wo der breite Bandwurm infolge des Genusses ungekochter Fisch- 
speisen sehr verbreitet ist, erkrankt nur ein kleiner Teil der Bandwurmträger 
an Anämie, und zwar oft Mitglieder derselben Sippe 3 ). 

In einigen Sippen ist neben perniziöser Anämie auch essentielle 
hypochrome Anämie beobachtet worden, was in Anbetracht der ge- 
ringen Häufigkeit dieser Leiden nicht zufällig sein kann 4 ). Während die 
perniziöse Anämie durch Leber und Leberpräparate günstig beeinflußt wer- 
den kann, ist das bei hypochromer Anämie nicht der Fall, wohl aber durch 
große Eisengaben. Dieselbe Erbanlage scheint sich bei Frauen häufiger als 
hypochrome Anämie, bei Männern als perniziöse Anämie zu äußern. 

Die harmloseste Art von Blutarmut, die Chlorose oder Bleich- 
sucht, die vor Jahrzehnten bei jungen Mädchen sehr häufig war, ist heute 
so gut wie verschwunden. Sie muß also durch Umwelteinflüsse ausgelöst 
worden sein. Deneke 5 ) hat der damaligen Damenmode, die eine Einschnü- 

1 ) Meulengracht. Fünf Fälle von perniziöser Anämie in derselben 
Familie. Ugeskrift for laeger. 1925. H. 25. 

2 ) Bremer, F. W. Zentralnervensystem und perniziöse Anämie. Er- 
gebnisse der inneren Medizin. Bd. 41. S. 143. 1931. 

3 ) Schaumann, O. Über das familiäre Auftreten der perniziösen 
Anämie. Finska Läkaresällskapets Handlingar. Hclsingfors 19 18. 

4 ) Weitz, W. Über Erblichkeit hypochromer Anämie. Der Erbarzt. 
1934. Nr. 7. S. 103. 

D ) Deneke, Th. Über die auffallende Abnahme der Chlorose. Deut- 
sche med. Wochenschr. 1924. Nr. 27. 



470 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



rung des Leibes forderte, die Schuld gegeben. Das vielfach beobachtete 
sippenmäßig gehäufte Auftreten könnte zum Teil auf Ähnlichkeit der Lebens- 
weise oder der sonstigen Umwelt beruhen; und doch haben alle Autoren, die 
große Erfahrung mit Chlorose haben, den Eindruck gewonnen, daß die 
erbliche Veranlagung wesentlich mitwirkt 1 ). W e i t z denkt an eine domi- 
nante Erbanlage von geschlechtsbegrenztcr Äußerung. 

Bei der Polyzythämie handelt es sich um eine starke Vermehrung 
der roten Blutkörperchen und anscheinend auch der Blutmenge. Engel- 
king 2 ) konnte den seltenen Zustand, der auch mit gewissen Veränderungen 
am Auge einhergeht, durch drei Generationen verfolgen; es scheint sich also 
um eine dominante Anlage zu handeln. 

Die paroxysmale Hämoglobinurie, das anfallsweise Blut- 
harnen, das nach öfter ganz geringfügigen Kälteeinwirkungen auftritt, be- 
ruht in vielen Fällen sicher auf erblicher Veranlagung. Genaueres ist nicht 
bekannt. 

Die Leukämie beruht auf schrankenloser Vermehrung weißer Blut- 
körperchen. Von der lymphatischen Leukämie, bei der die rundkernigen, 
lymphatischen Blutkörperchen vermehrt sind, ist mehrfaches Auftreten in 
einer Sippe Öfter beobachtet worden, einmal auch konkordantes Auftreten 
bei eineiigen Zwillingen 3 ). Die myeloische Leukämie, bei der die gelappt- 
kernigen Blutkörperchen vermehrt sind, ist nach Weitz einige Male in 
Sippen beobachtet worden, in denen auch Fälle lymphatischer Leukämie 
vorkamen. Vermutlieh sind äußere Ursachen von größerer Bedeutung für 
die Entstehung der Leukämien als die erbliche Veranlagung, ähnlich wie 
bei den bösartigen Geschwülsten, mit denen die Leukämien wesensverwandt 
sind. Wie jene können sie durch Röntgenstrahlen verursacht werden. 

Nierenentzündungen (Glo m e ruloneph r it i - 
den), die durch Infektion ausgelöst werden, kommen so aus- 
gesprochen familienweise gehäuft vor, daß an der Mitwirkung 
der erblichen Veranlagung nicht zu zweifeln ist. P el 4 ) hat eine 
Sippe beobachtet, in der 18 Mitglieder der Glomerulonephri- 
tis zum Opfer fielen. Dickinson 5 ) hat 18 Fälle chronischer 
Nephritis in drei Generationen beschrieben. Hier handelte es 
sich offenbar um so starke Anfälligkeiten, daß die auslösende 
Infektion, die über kurz oder lang doch eintritt, eine neben- 
sächliche Rolle spielt und die Erbanlage zur entscheidenden 
Ursache der Krankheit wird. Der Erbgang in diesen Sippen 
war anscheinend dominant. Auch Guthrie, Hourst und 



1 ) N aegeli, O. Allgemeine Konstitutionslehre. 2. Aufl. 1934. S. 163. 

2 ) Engel king, E. Über familiäre Polyzythämie. Klinische Monats- 
blätter für Augenheilkunde. Bd. 64. S. 645. 1920. 

3 ) Pctri, S. Acta pathologica et microbiologica Scandinavica. Bd. 
10. S. 456. 1933. 

4 ) Pel, P. K. Die Erblichkeit der chronischen Nephritis. Zettschr. für 
klinische Medizin. Bd. 38. S. 127. 1899. 

5 ) Dickinson, Diseases of the Kidncy. 1877. (Zitiert nach E. E b- 
stein.) 



ERBLICHE DIATHESEN. 



47: 



Q 



o 



o o 



o o 



9 



Fig. 1 55- 
Nierenentzündung (Glomerulonephritis). 
Nach Weitz 2 ). 



Alporth haben eine Sippe beschrieben, in der 14 Mitglieder 
an Glomerulonephritis litten 1 ). 

In manchen Sippen scheinen die Nieren gegen ganz be- 
stimmte Schädlichkeiten empfindlich zu sein; so gibt es Fa- 
milien, in denen bei mehreren Mitgliedern Nierenentzündung 
nach Scharlach beob- ja 

achtet wurde, wäh- ] 

rend diese sonst durch- 
aus nicht eine regel- 
mäßige Folge des , — ,— — \- 
Scharlachs ist. Diese O O O 

Scharlachnephritis 
heilt in den meisten 
Fällen ohne dauern- 
den Schaden aus. 

In Fig. 1 56 handelt es sich um eine Familie, in der alle vier Geschwister, 
die damals 14, 12, 10 und 5 Jahre alt waren, etwa zu gleicher Zeit an 
Nephritis erkrankten. Nur die jüngste Schwester hatte die gewöhnlichen 
Zeichen von Scharlach; man muß aber wohl an- 
nehmen, daß auch die anderen drei Geschwister um @y m 
diese Zeit Scharlach, wenn auch ohne Hautaus- I . "^ 
schlag, durchmachten. Die Mutter hatte im Alter 
von io Jahren schweren Scharlach mit Nephritis 
durchgemacht und auch später noch einmal N e- 
phritis in der Schwangerschaft. Auch der Vater J- I 

hatte im Alter von 1 1 Jahren Nephritis gehabt. ® Ij? 

Vater und Mutter waren Geschwisterkinder. ' . , J 

Die Nierenschrumpfung ( ar- 0* @ m 
teriolosklero tische Nephrosklerose) ent- 
steht auf dem Boden einer Arterioskle- s " 1; > 6 ' 
rose bzw. Hypertonie und ist mit der Scharlachnephritis. 
Veranlagung zu diesen Leiden erblich (Eigene Beobachtung.) 
(vgl. S. 450 f-)- 

Von der Zystenniere, die in einer Durchsetzung der Niere mit 
Hohlräumen besteht, sind drei Sippen bekannt geworden, in denen sich das 
Leiden durch 3 Generationen verfolgen ließ 3 ). Die Anlage scheint einfach 

1 ) Nach Weitz, W. Die Vererbung der Krankheiten der Kreislauf- 
organe und der Nieren. 46. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere 
Medizin. München 1 934. Bergmann. 

2 ) Weitz, W. Die Bedeutung der Erblichkeit für die Ätiologie. Er- 
gebnisse der gesamten Medizin. Bd. V. H. 3 u. 4. 1925. 

3 ) Nach Weitz, W. Über die Erblichkeit der Erkrankungen des 
Herzens und der Gefäße, der Nieren und der blutbildenden Organe. Aus 
dem Sammelwerk „Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank?" Jena 1935. 
Fischer. 



qf § § 



472 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

dominant zu sein. Da die Mißbildung meist nur bei der Sektion festge- 
stellt wird, ist die Erforschung ihres Erbgangs schwierig; sonst wären ver- 
mutlich viel mehr Sippentafeln darüber bekannt. 

Hochgradige Zystennierc, die bald nach der Geburt zum Tode führt, 
ist einige Male bei Geschwistern beobachtet worden; vermutlich beruht sie 
auf einer rezessiven Erbanlage. 

Angeborene Mißbildungen des Herzens sind in einer Reihe 
von Fällen bei mehreren Geschwistern festgestellt worden, selten in ununter-t 
brochenem. Erbgang durch mehrere Generationen. Eine abnorme Verbin- 
dung der Lungenschlagadcr, die aus der rechten Herzkammer entspringt, 
und der Hauptschlagader, die aus der linken Kammer kommt (Bestehenblei- 
ben des fetalen Ductus Botalli), ist einmal bei sechs Geschwistern beobach- 
tet worden. Da hochgradige Mißbildung des Herzens gleich nach der Ge- 
burt oder doch in der Kindheit zum Tode führt, kommt dominanter Erbgang 
für solche nicht in Frage. Man wird für die Anlagen zu Herzmißbildungen 
aber mit einer ziemlich großen Entwicklungslabüität rechnen müssen derart, 
daß dieselbe Anlage zu verschieden schweren Mißbildungen führen kann 
und unter Umständen sich auch nur ganz leicht oder gar nicht zu äußern 
braucht. Erbbedingt ist vermutlich meist auch die abnorme Enge der Lungen- 
schlagader, die eine Hemmung des Kreislaufs („Blausuchl") bedingt; Weitz 
sah sie bei 4 von i 1 Geschwistern. 



cT cf 



9 



\~_ v" i": 



<? y c? q ä*f q & (f & %? y 



9 



9 



cf • cf & 



Fig. 157. 

Herzklappeuf ehler nach Gelenkrheumatismus und Herr.- 
klappenentzündung. Nach Hanhart. 



Abnorme Kleinheit des Herzens und Herzmuskelsch wache 
sind sicher meist erbbedingt ; sie kommen auch als Teilerschei- 
nung der Asthenie vor. Herzleiden bei Hyperthyreose und bei 
Hypertonie sind schon an den entsprechenden Stellen erwähnt 
worden. Nervöse Krankheitserscheinungen am Herzen (Herz- 
neurose) kommt oft sippenweise gehäuft vor 1 ). Die sog. 
paroxysmale Tachykardie, die in Anfällen einer auf 
das Doppelte beschleunigten Herztätigkeit besteht, ist nach 
Weitz in manchen Sippen durch mehrere Generationen ver- 
folgt worden. 

Hcrzklappenentzündung (Endokarditis) tritt 
meist im Gefolge von infektiösem Gelenkrheumatismus (Poly- 

1 ) Herz, M. Über den Einfluß der Heredität auf die Entstehung von 
Herzkrankheiten. Münch. med. Woch. 1912. Nr. 8. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



473 



arthritis) auf, wird aber nicht selten auch für sich allein 
beobachtet. Gelenkrheumatismus wie Hcrzklappenentzündung 
und damit auch Herzfehler sind oft sippenweise gehäuft. Eine 
Sippentafel, die Hanhart 1 ) aufstellen konnte, legt dominan- 
ten Erbgang nahe. Auch von andern Autoren sind Herzklap- 
penfehler nach Endokarditis mehrfach durch drei und mehr 
Generationen verfolgt worden 2 ). 

In einer von Slrefael 3 ) und Steiger beschriebenen Sippe war 
H erzklapp enentzünduug merkwürdigerweise mit Verlagerung der Linse ver- 
knüpft (vgl. S. 336). 



er 



cj) cf 



9 



Fig. 1. 



Herzfehler im Anschluß an Herzklappenentzündung. 

Nach Strebcl (Ausschnitt). Von der mit Fragezeichen bezeichneten Frau 

ist es zweifelhaft, ob sie herzleidend gewesen ist. Die schwarz bezeichneten 

Personen litten zugleich an Verlagerung der Linse. 

In manchen Familien erkranken so viele Mitglieder an Hcrz- 
klappenentzündung, daß auch unter der Voraussetzung domi- 
nanten Erbganges die Anlage fast in jedem Falle zur Erkran- 
kung zu führen scheint. Gelegenheit zu rheumatischer Infek- 
tion scheint für alle dafür empfänglichen Personen hin und 
wieder gegeben zu sein, und nicht empfängliche scheinen trotz 
vielfacher Gelegenheit zur Infektion nicht zu erkranken. Ver- 
se h u e r fand allerdings vier Paare eineiiger Zwillinge, von 
denen nur einer einen Herzfehler hatte, und nur ein Paar, bei 
dem beide befallen waren. 

Die vorwiegend bei infantilisüschen weiblichen Personen vorkommende 
Mitralstenose, die Ferranini 4 ) in einer Sippe gehäuft sah, tritt nach 
Weitz in der Regel nur isoliert auf. 

Für die Entstehung von Magenleiden hat die erbliche 
Veranlagung anscheinend eine noch größere Bedeutung als un- 
zweckmäßige Ernährung. Demgemäß fand Weitz bei seinen 
Zwillingsstudien Magenleiden bei eineiigen Zwillingen in der 

x ) Nach persönlicher Mitteilung. 

2 ) Mohr, L. Über familiäre Herzfehler. Medizin. Klinik 1905. H. 23. 
s ) Strebel, J- Korrelation der Vererbung von Augenleiden usw. 
ARGB. Bd. 10. FL 4. 1913. 
4 ) Nach Mohr a. a. O. 



474 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Cf 



& 



Regel in übereinstimmender Weise. „Diätfchler" führen fast 
nur bei Personen mit „schwachem Magen" zu ernsteren Stö- 
rungen der Gesundheit. Muskelschwäche undSchlaff- 
heit (Atome) des Magens findet sich besonders bei asthe- 
nischer Konstitution. Ebenso ist die m ang elha f t e Ab so n- 
derung von Magensaft (Achylie) zum großen Teil erb- 
bedingt. „Nervöse Magenleiden" kommen als Teilerscheinung- 
allgemeiner Anomalien des Nervensystems vor. Übermäßige 
Salzsäureabsonderung (Hyperchlorhydrie) kommt in manchen 
Familien gehäuft vor, meist wohl infoige eines abnormen Reiz- 
zustandes im vegetativen Nervensystem, der sog. Vagotonie. 
Dahin gehört auch der krampfige Verschluß des Magenaus- 
gangs (Pylorospasmus) der sich hauptsächlich im Kindesalter 
in immer wiederkehrendem quälenden Erbrechen äußert. Es 
bestehen Beziehungen zur allergischen Diathese. 

Das Magengeschwür (Ul- 
cus ventriculi) beruht auf Selbst- 
verdauung von Stücken der Ma- 
genwand. Es ist ein sehr häufiges 
Leiden. R o e ß 1 e fand bei über 
ioo/o aller Sektionen Narben von 
Magengeschwüren. In den meisten 
Fällen heilt ein Magengeschwür 
ohne schwere Folgen aus; es kann 
aber auch zu langdauerndem Kran- 
kenlager und zum Tode führen. 
Nach Grotc 1 ) finden sich in über 
600/0 alier Fälle von Magengeschwür weitere Fälle in der Fa- 
milie. Strauß 2 ) fand einen weniger hohen Prozentsatz, konnte 
aber ebenfalls ausgesprochene familiäre Häufung bestätigen. 
Spiegel 3 ) hat gefunden, daß Eltern und Geschwister von Per- 
sonen, die an Magengeschwür leiden, gegen fünfmal so häufig 
Magengeschwür und sechsmal so häufig Magenkrebs hatten als 
Angehörige von Magengesunden. Ganz ähnliche Ergebnisse hat 
auch Adler 4 ) gehabt. Zwischen Magengeschwür und Magen- 

1 ) Grote, L. R. Der Einfluß der Konstitution auf die Pathogenese 
der Magendarmerkrankungen. Halle, Marhold 1920. 

2 ) Strauß, H. Über hereditäres und familiäres Vorkommen von Ulcus 
ventriculi et duodeni. Münch. med. Wochenschr. 1921. H. 8. 

3 ) Spiegel. Organdisposition bei Ulcus pepticum. Deutsches Archiv 
für klinische Medizin. Bd. 126. S. 45. 1918. 

4 ) Adler, E. Über hereditäres Vorkommen des Magen- und Zwölf- 
fingerdarmgeschwürs. Archiv f. Verdauungskrankheiten. Bd. 37. S. 393. 1926. 



Eig. 159. 

Geschwür des Zwölffinger- 
darms (Ulcus duodeni). Nach 
H ud d y. Der mit einemX bezeich- 
neteMannlitt an Magengeschwür, 
die übrigen schwarz bezeichneten 
Personen an Duodenalgeschwür. 



ERBLICHE DIATHESEN. 



475 



krebs besteht insofern eine Beziehung, als Magenkrebs sich 
mit Vorliebe auf dem Boden eines alten Magenschwürs ent- 
wickelt. Über die Erblichkeit des Krebses wird weiter unten 
zu reden sein. Über 9 Familien mit Geschwüren des Magens 
oder Zwölffingerdarms (Ulcus duodeni) hat Ohly 1 ) kurz be- 
richtet. Huddy 2 ) hat gefunden, daß auch der Sitz des Ge- 
schwürs entweder im Magen oder im Duodenum bei nahen 
Blutsverwandten im allgemeinen der gleiche war. 

Die Hypothese, daß dem Magengeschwür eine einheitliche einfach 
rezessive Organminderwertigkeit des Magens zugrimdeliege, die J. Bauer 3 ) 
und BertaAschne r 4 ) aufgestellt haben und der sich auch Mattiso n ,r ') 
angeschlossen hat, ist methodologisch unzulänglich begründet. 

Die Veranlagung zu Magengeschwür ist sicher keine erb- 
biologische Einheit. Offenbar können verschiedene Erbanlagen 
je nach dem Zusammenwirken mit Umweltschäden zu ver- 
schieden schweren Krankheitsbildern führen. Disponierend wir- 
ken allergische Veranlagung und Vagotonie (Hyperchlorhydrie 
und Pyloraskrampf), die meist durch dominante Erbanlagen 
bedingt sind. Eine gewisse Korrelation besteht zum astheni- 
schen Habitus. Im ganzen sind anscheinend mehr dominante 
als rezessive Erbanlagen am Zustandekommen von Magen- 
geschwüren beteiligt. 

Für die chronische Stuhlverstopfung (habituelle 
Obstipation) dürfte die erbliche Veranlagung ebenso von Bedeu- 
tung .sein wie für die (seltenere) Neigung zu Durchfällen, unter 
der manche Personen zeitlebens zu leiden haben. Spastische 
(krampfige) Verstopfung ist meist Teilerscheinung von Vago- 
tonie, atonische (schlaffe) von Asthenie. 

Die Kotform ist bei verschiedenen Menschen konstitutionell verschieden. 
Manche haben geformten Kot, ähnlich dem Schafkot, andere breiigen, ähn- 
lich dem Schweinekot, Auch die Anlage zu übermäßiger Gasbildung im Darm 
(Flatulenz) kommt konstitutionell und vermutlich erbbedingt vor. 

Die sog. H ir s ch s p r ung sehe Krankheit, beider es auf 
Grund abnormer Weite des Dickdarms schon im ersten Kin- 



') Ohly, A. Familiäres Auftreten von Ulkus im Gastroduodcnal- 
traktus. Münch. med. Wochenschr. [923. H. 37. 

2 ) Huddy, G. P. B. A study of the family histories of 300 patients 
suffering from chronic Upper abdominal lesions. The Lancet. Bd. 209. Nr. 6. 
1925. 

3 ) B a u e r , J. Die konstitutionelle Disposition zu inneren 'Krankheiten. 
3. Aufl. Berlin 1924. 

4 ) Aschnci, B. Über Konstitution und Vererbung beim Ulcus ventri- 
culi und duodeni. Zeitschrift für Konstitutionslehre. Bd. 9. H. 6. 1923. 

5 ) Mattison, K. Das Magengeschwür. Berlin und Wien 193 i. Urban 
und Schwarzenberg. 



476 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

desalter zu Anhäufung großer Kotmassen im Dickdarm kommt, 
ist in zwei von Gänßlen 1 ) erforschten Sippen anscheinend 
dominant erblich. 

Was die Krankheiten der Atemwege und der 
Lunge angeht, so kommt chronischer Bronchialkatarrh 
und öfter damit zusammenhängend Emphysem oder Lun- 
genblähung ausgesprochen familienweise gehäuft vor. Anderer- 
seits scheint auch eine erbliche „starre Dilatation des Thorax", 
,, bei der der Brustkorb dauernd in einer 

¥ Stellung wie auf der Höhe der Ein- 

p— , — | — , i | , — 1 — , atmung steht, eine Ursache chronischen 
^ ^ ^ (f ^ @ $ Q Emphysems und Bronchialkatarrhs ab- 
geben zu können. B ronchektasien 
Fig. 160. (Erweiterungen der Luftwege der 

Abnorme Weite des Lunge) sind bei mehreren Paaren ein- 
Dickdarms (Hirsch- eiiger Zwillinge gleichartig, also offen- 
sprungsche Krank- bar erbbedingt gefunden worden 2 ), 
heit). Nach Gänßlen. Ozaena, eine chronische Ver- 

änderung der Nasenschleimhaut (Rhi- 
nitis atrophicans) mit Bildung stinkender Borken, scheint auf 
Grund einer dominant erblichen Anlage zu entstehen. Gegen- 
über dem Einwand, daß es sich um die familiäre Ausbreitung 
einer chronischen Infektion handeln könne, macht Albrecht 3 ) 
geltend, daß nur Blutsverwandte, nicht aber z. B. Ehegatten 
von Ozaenaträgern ebenfalls befallen werden. 

Ozaena kommt auch als Teilerscheinung eines rezessiv geschlechtsge- 
bundenen Syndroms von Anidrosis, Hypotrichosis und Zahndefekten vor. 
Hier scheint das Fehlen von Schleimdrüsen der Nase dem Fehlen von 
Schweißdrüsen der Haut zu entsprechen. 

g) Die Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten. 

Bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit galt die Syphilis als ein Muster- 
beispiel einer „erblichen" Krankheit. Ich glaube für die Leser dieses Buches 
kaum noch sagen zu brauchen, daß es sich bei der Übertragung einer In- 
fektionskrankheit von Eltern auf Kinder natürlich nicht um echte Vererbung 
handelt. Bei der Syphilis im besonderen kommt nur eine Übertragung 
durch die Mutter, und zwar durch den mütterlichen Blutkreislauf auf die 
sich entwickelnde Frucht vor. Übertragung ausschließlich vom Vater her, 

*) Nach Weitz, W. Die Bedeutung der Erblichkeit für die Ätiologie 
a. a. O. 

2 ) Nach v. Verschuer, O. Erbpathologie. Dresden u. Leipzig 1934. 

3 ) Albrecht, W. Über Konstitutionsprobleme in der Pathogenese 
der Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Ztschr. für Hals-, Nasen- und 
Ohrenheilkunde. Bd. 29. H. i. S. 18. 1931. 



ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 477 

ohne daß die Mutter angesteckt werde, gibt es nicht. Man spricht daher 
besser nicht von „kongenitaler" sondern von konnataler Syphilis; 
die „hereditäre" Syphilis gehört in die Rumpelkammer. 

Es kann sich bei der erblichen Bedingtheit von Infektions- 
krankheiten immer nur um die Anfälligkeit gegenüber 
Krankheitserregern handeln, 

Jede Infektionskrankheit stellt einen Kampf zwischen eingedrungenen 
Kleinlebewesen und dem befallenen: Organismus dar. Die verschiedenen 
Arten der Tiere haben im allgemeinen auch verschiedene Kleinschmarotzer. 
Der Mensch ist für die meisten Krankheiten seiner Haustiere nicht empfäng- 
lich und umgekehrt diese nicht für die Krankheiten des Menschen. Aber auch 
die verschiedenen Menschen sind durchaus nicht alle gleich empfänglich 
für eine Infektionskrankheit. Wenn z. B. Diphtheriebazillen auf die Schleim- 
haut des Rachens oder des Halses eines Kindes gelangen, so erkrankt doch 
nur ein Teil der Infizierten an Diphtherie, bei einem andern Teil vermögen 
die Bazillen sich dagegen nicht anzusiedeln, und bei einem dritten Teil 
haften sie zwar und vermehren sich auch, die betreffenden Kinder werden 
aber trotzdem nicht krank. Auch bei den Erkrankten verläuft die Krankheit 
sehr verschieden schwer; die einen haben nur leichte Halsbeschwerden, 
andere gehen unter schwersten Krankheitserscheinungen zugrunde. Für 
manche Krankheiten wie Masern, Pocken, Influenza sind zwar die aller- 
meisten Menschen empfänglich, die die betreffende Krankheit noch nicht 
durchgemacht haben; aber auch von diesen Seuchen bleiben einzelne Men- 
schen trotz Ansteckungsgelegenheit völlig verschont. Von andern Krank- 
heiten wie Genickstarre oder Scharlach werden trotz Ansteckungsgelcgen- 
heit die meisten Menschen nicht befallen, sondern nur einzelne. 

Die Empfänglichkeit eines Individuums für eine Krankheit 
bezeichnet man als Disposition; als deutsche Bezeichnung 
für Disposition ziehe ich das Wort Anfälligkeit dem um- 
ständlicheren Worte „Krankheitsbereitschaft" vor. Das Gefeit- 
sein gegen eine Infektion nennt man Immunität. Je größer 
die Immunität, desto kleiner ist die Disposition und umgekehrt. 
Beide Begriffe bilden also ein Paar, von denen der eine das 
Negativ des andern ist. Für den Vorgang der Immunisierung 
hat v. Pfaundler das deutsche Wort „Feiung" vorgeschlagen. 

Man hat bisher meist eine angeborene von einer erworbe- 
nen Immunität bzw. Disposition unterschieden. Diese Unter- 
scheidung läßt sich indessen nicht durchführen; auch die ange- 
borene Immunität ist zum Teil erworben, nämlich im Mutter- 
leibe; und auch die erworbene ist ihrer Möglichkeit nach an- 
geboren, insofern als auch sie ihre Grundlage in den Erb- 
anlagen hat. Wir unterscheiden heute zwischen der erblichen 
(idiotypischen) und nichterblichen (p a r a t y p i - 
sehen) Immunität bzw. Disposition. Auch Personen von glei- 
cher Erbmasse, z. B. eineiige Zwillinge können infolge der ver- 
schiedenen Umwelteinflüsse verschiedene Anfälligkeiten gegen 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Krankheiten aufweisen; diese Unterschiede sind rein para- 
typisch. Wenn andererseits verschiedene Menschen von Geburt 
an genau denselben Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, so sind 
ihre Krankheitsdispositionen doch nicht die gleichen, und zwar 
wegen ihrer verschiedenen erblichen Veranlagung; das sind rein 
idiotypische Dispositionsunterschiede. Die tatsächliche (phäno- 
typische) Disposition eines Menschen ist stets zugleich durch 
Einflüsse der Erbmasse und der Umwelt bedingt ; und wenn 
wir von Unterschieden der einen Bedingungsgruppe reden, so 
setzen wir dabei immer bis zu einem gewissen Grade Gleich- 
heit der andern voraus. Völlig gleiche Anfälligkeit gegen 
Krankheiten würden nur zwei Menschen von genau gleichen 
Erbanlagen, d. h. eineiige Zwillinge haben, die unter genau den 
gleichen Umweltbedingungen aufgewachsen wären. 

Der normale Organismus verfügt über eine große Zahl von Schutzein- 
richtungen gegen Krankheitserreger. Die normale unverletzte Haut schützt 
gegen das Eindringen von Wundinfektionserregern. Durch die Flimmerbe- 
wegung der Schleimhaut der tieferen Luftwege können Krankheits keime 
wieder hcrausbefördert werden, bevor sie sich einnisten. Durch den normalen 
sauren Magensaft können Cholerabazillen und andere Krankheitserreger, 
die mit der Nahrung oder dem Wasser aufgenommen werden, unschädlich 
gemacht werden. Krankheitserreger, die durch Wunden eingedrungen sind, 
können noch in den Lymphdrüsen abgefangen und unschädlich gemacht 
werden. Aber auch nachdem die Vermehrung von Krankheitserregern im 
Körper schon erfolgt ist, stehen dem Organismus noch mancherlei Waffen 
zum Kampf gegen die Eindringlinge zur Verfügung. Durch weiße Blutkör- 
perchen, besonders die gelapptkernigen, können Bakterien und andere Krank- 
heitsreger aufgenommen und abgetötet oder doch eingeschlossen und un- 
schädlich 'gemacht werden. Bei vielen Infektionskrankheiten erfolgt zu diesem 
Zwecke eine starke Vermehrung dieser Freßzellen. Die weißen Blutkörper- 
chen und wohl auch noch andere Organe erzeugen auch chemische Schutz- 
stoffe gegenüber Kleinschmarotzern und deren Giften. Solche Schutzstoffe 
scheinen bis zu einem gewissen Grade auch ohne spezifische Reize einfach 
auf Grund der erblichen Veranlagung gebildet werden zu können. Auf den 
Reiz eingedrungener Krankheitserreger hin erfolgt aber eine starke Ver- 
mehrung der Schutzstoffe, und zwar wird durch eine bestimmte Art von 
Krankheitserregern in der Regel die Bildung ganz bestimmter Schutzstoffe 
ausgelöst, die der Unschädlichmachung gerade dieser bestimmten Klein- 
schmarotzer dienen. Da viele Schutzstoffe auch lange Zeit nach Überstehen 
der Krankheit im Blute bleiben, bzw. da die Umstimmung der Gewebe zu 
ihrer Bildung bestehen bleibt, so ist der Organismus auf mehr oder weniger 
lange Zeit gegen die betreffende Krankheit gefeit. Darauf beruht die soge- 
nannte erworbene Immunität, die insofern paratypiseh, d. h. nichterblich 
ist. Die Immunisierung erfolgt zum Teil stürmisch unter den Erscheinungen 
der betreffenden Krankheit, mindestens ebenso häufig aber unbemerkt in 
Form ,, stiller Feiung" (v. P f a u n d 1 c r), bei der die Mikroorganismen 
nur die Bildung von Schutzstoffen, aber keine Krankheitszeichen hervor- 
rufen. Die Bildung aller Schutzstoffe ist ihrer Möglichkeit nach aber erbbe- 



ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 479 

dingt. Erblich ist also die Fähigkeit, im Bedarfsfälle spezifische Schulz- 
stoffe zu bilden, und die Summe dieser Reaktionsmöglichkeiten ist bei ver- 
schiedenen Menschen recht verschieden. Der Organismus ist keineswegs ein 
unbeschriebenes Blatt, auf das der Immunisierungsreiz alles niederschreiben 
könnte 1 ). Es handelt sich bei der Bildung der Immunstoffe vielmehr nur 
urn eine Entfaltung und Verstärkung der in der Erbmasse vorgebildeten 
Fähigkeiten. Da der Kampf mit den Kleinschmarotzern in besonders hohem 
Maße über Leben und Tod entscheidet, so können alle die zahlreichen Re- 
aktionsmöglichkeiten zur Bildung von Schutzstoffen als durch natürliche 
Auslese gezüchtet verstanden werden. 

Hagedoom und La Brand 2 ) haben in einer Mäusezucht beob- 
achtet, wie sich Immunität gegen Eitererreger (Staphylokokken) einfach 
dominant vererbte; treffender noch könnte man diese Erkenntnis wohl so 
formulieren, daß Anfälligkeit gegen Staphylokokkcninfektion sich einfach 
rezessiv vererbte. Es ist zu vermuten, daß auch sonst bestimmte Anfällig- 
keiten, die auf dem Ausfall bestimmter normaler Abwehrfahigkeiten be- 
ruhen, in der Regel rezessiv erblich sein werden. 

Da eine aktive Anpassung über die in der Erbmasse be- 
gründeten Grenzen hinaus nicht möglich ist, so kann auch die 
erworbene Immunität als solche nicht vererbt werden. Wohl 
kann eine Immunität, die auf dem Vorhandensein aktiv gebil- 
deter Schutzstoffe beruht, durch das Blut der Mutter und auch 
durch die Milch auf das Kind übertragen werden. Das aber 
ist keine Vererbung, und vom Vater her findet eine Übertra- 
gung erworbener Immunität demgemäß nicht statt. Daher sind 
Kinder meist auch nur während der ersten Monate gegen In- 
fektionskrankheiten wie die Masern immun. Die Immunisie- 
rung einer Rasse ist auf diesem Wege nicht möglich, obwohl 
manche Ärzte und Hygieniker das noch mehr oder weniger un- 
bewußt voraussetzen. Ob die in der Erbmasse begründeten Re- 
aktionsmöglichkeiten im Leben des Individuums ausgenützt 
werden oder nicht, ändert an den Reaktionsmöglichkeiten der 
Erbmasse gar nichts. 

Gleichwohl aber ist es für die Erbmasse einer Rasse kei- 
neswegs bedeutungslos, ob die in ihr begründeten Reaktions- 
möglichkeiten gebraucht werden oder nicht, und zwar wegen 
der damit verbundenen Auslese. Durch Ausmerzung dispo- 
nierter Sippen und Überleben von verhältnismäßig immunen, 
nicht aber durch eine angebliche „Vererbung erworbener Eigen- 
schaften" ist es also zu erklären, daß z. B. Neger wenig emp- 
findlich gegen Malaria und gelbes Fieber sind, Chinesen wenig 

*) Iiirszfeld, L: Konstitutionsserologie. Berlin 1928. Springer. 

2 ) Ff a g e d o o r n , A. C., La Brand and Hagedoom, A. L. 
Inhcriled predisposition for a bacterial diseasc. The American Naturalist. 
Bd. 54. S. 368. 1920. 



480 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



gegen Scharlach und Diphtherie, Inder wenig gegen Cholera, 
Europäer relativ wenig gegen Tuberkulose. Die Neger und 
Indianer, in deren Heimat die Tuberkulose keine Rolle spielte, 
und bei denen daher keine Immunität dagegen gezüchtet wer- 
den konnte, sind viel anfälliger gegen Tuberkulose. 

Unter polynesischen Stammen sind die von Europäern eingeschleppten 
Masern als mörderische Seuche aufgetreten, weil auf den isolierten Inseln 
der Südsee vorher keine Auslese durch Masern stattgefunden hatte. Im 
Jahre 1876 sind auf den Fidschiinseln von 150000 Eingeborenen 40000 
an Masern gestorben. Bei einer Influenzaepidemie i. J. 1917 und 18 starben 
auf den Gesellschaftsinseln nach Crampton 1 ) in den verschiedenen Ge- 
meinden 15 bis 25% aller Eingeborenen, von den Mischlingen viel weniger 
und von den Europäern nur einzelne. 

Der Erste, der die Immunisierung durch Auslese klar ausgespro- 
chen hat, ist anscheinend der englische Arzt G. Archdali Reid 3 ) 
gewesen. 

Die Züchtung durch Umweltbedingungen geht in der Re- 
gel in derselben Richtung wie die individuelle Anpassung, zu 
der dieselben Umwelteinflüsse den Organismus nötigen. Diese 
Parallelität der individuellen (reaktiven) und der generellen 
(selektiven) Anpassung hat vielfach zu der falschen Fragestel- 
lung verführt, wie die individuelle Anpassung „erblich fixiert" 
werden könne. Diese kann überhaupt nicht erblich fixiert wer- 
den. Die Ursachenverknüpfung ist gerade umgekehrt : Die 
individuelle Anpassung ist stammesgeschichtlich gesehen eine 
Folge der Züchtung der betreffenden Reaktionsmöglichkeiten; 
nicht aber ist die Anpassung der Rasse eine Folge der indivi- 
duellen Anpassung. 

Webster 3 ) hat die Immunisierung durch Auslese im Tierexperi- 
ment gezeigt. Er hat eine Anzahl Mäuse mit Mäusetyphus infiziert. Bei etwa 
70% führte die Infektion zum Tode. Die Nachkommen der überlebenden 
Mäuse wurden wieder infiziert; von ihnen starben nur noch 42%. In der 
dritten Generation betrug die Sterblichkeit nur noch 15 0/0. Er schließt 
daraus, daß die Widerstandsfähigkeit der Mäuse durch die erbliche Ver- 
anlagung wesentlich mitbedingt ist und daß die Widerstandsfähigkeit einer 
Bevölkerung durch Auslese verstärkt werden kann. Nachkommen von 
Mäusen, die zwei Typhusinfektionen und eine Sublimatvergiftung, an der 
die meisten starben, überlebt hatten, hatten eine Typhusletalität von 24%, 



*) Crampton. On the dif ferential effects of the influenza epidemic 
among native peoples of the Pacific Islands. Science. Bd. 55. 1922. 

2) Reid, G. A. The present evolution of man. London 1896. Chap- 
man and Hall. 

3 ) Webster, L. T. Microbiotic virulence and host suseeptibility in 
paratyphoid-enteritidis infection of white mice. IV. The effect of selcctive 
breeding on host resistance. The Journal of Experimental Medicme. Bd. 39. 
S. 879. 1924. 



ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 481 



während mehrere Vergleichsversuche 70 0/0 ergaben. Schott 1 ) konnte in 
entsprechenden Versuchen die Mortalität im Verlauf von 6 Generationen 
von 82% auf 25^/0 herabzüchten. Die Kreuzung herausgezüchteter wider- 
standsfähiger Stämme mit anfälligen ergab eine Dominanz der Widerstands- 
fähigkeit. Wegen der Rezessiviüit der Anfälligkeit konnte sie auch nur schwer 
durch Auslese unter eine gewisse Grenze herabgedrückt werden. 

Bei diesen und ähnlichen Versuchen ist zu bedenken, daß die Mäusc- 
populalioncn, die für solche Versuche zur Verfügung stehen, viel weniger 
heterogen sind als menschliche Bevölkerungen. Stämme weißer Mäuse sind 
meist hochgradig ingezüchtet und daher weitgehend isogen. Das ist der 
Grund, weshalb so viele Bakteriologen von erblichen Unterschieden der 
Immunität nichts wissen wollten; unter ihren Versuchstieren waren solche in 
der Tat kaum vorhanden (vgl. den Abschnitt über Methoden). 

Die Anfälligkeit eines Menschen gegenüber einer Infektionskrankheit 
ist übrigens nicht nur durch seine eigene Beschaffenheit bedingt, sondern 
nicht weniger durch die des Krankheitserregers. Auch die idiotypische Be- 
schaffenheit (die Rasse) des Erregers spielt eine große Rolle. Die Stammes- 
geschichtliche Züchtung, die beim Menschen in der Richtung auf Immunität 
bzw. Unempfindlichkcit gegenüber seinen Kleinschmarotzern geht, geht bei 
diesen die Ausleserichtung auf Abschwächung der Pathogenität. Klein- 
Schmarotzer, die ihren Wirt schnell töten, gehen mit diesem zugrunde. Der 
Parasitismus hat daher die Tendenz, auf dem Wege der Umzüchlung von 
Wirt und Schmarotzer in Symbiose überzugehen. Vermutlich können auf 
dem Wege der Mutation aus Symbionten gelegentlich wieder Schmarotzer 
werden. So vermute ich, daß der Typhusbazillus durch Mutation aus dem 
Colibazillus entstanden ist, ohne den der Mensch nicht leben kann. 

Schar lach fälle kommen deut- i , 

lieh familienweise gehäuft vor 8 ), und 
zwar nicht nur während derselben Epi- 
demie, was auch durch gemeinsame 
Ansteckung erklärt werden könnte, son- 
dern auch zu verschiedenen Zeiten. 
Von familienw eisern Auftreten von Nie- 
renentzündung nach Scharlach wurde 
aufSeite47i berichtet. FrauDr.Bluh'm 
in Berlin-Lichterfelde verdanke ich ne- 
benstehende Sippentafcl einer Familie, 
in der bei mehreren Mitgliedern nach 
dem Überstehen von Scharlach keine 
dauernde Immunität zurückblieb. 

An Masern erkranken die meisten Menschen nur einmal 
im Leben. Es gibt aber Familien, deren Mitglieder keine 

1 ) Schott, R. G. The inheritance of resistance to Salmonella aertrycke 
in various strains of mice. Genetics. Bd. xy. S. 203. 1932. 

2 ) Fischer, W. Untersuchungen über die Vererbung der Disposition 
bei Scharlach. Arbeiten aus dem Staatsinstitut für experimentelle Therapie 
in Frankfurt a. M, H. 21. Jena. G. Fischer. 1928. 

B n 11 r - V i s c Ii c r - 1, e 11 •/, I. 31 



? 9 



© 



9 



% — Zweimal Scharlach als Kind. 
3 — Einmal Scharlach als Kind. 

Fig. 161. 

Mangelhafte Schutz- 

stoffbildung gegen 

Scharlach. 
Nach Agnes B 1 u h m. 



482 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



dauernde Immunität dagegen erwerben und die daher mehr- 
mals erkranken können 1 ). Nur ein kleiner Hundertsatz unserer 
Bevölkerung bleibt von Masern völlig verschont; und dieses 
dauernde Verschontbleiben ist vermutlich wesentlich erbbe- 
dingt, obwohl es natürlich von der Umwelt, nämlich der An- 
steckung, abhängt, wann ein Kind die Masern bekommt. 

Die Zwillingsbefunde, die v. Versohucr auf S. 110 seiner „Erb- 
pathologie" zusammengestellt und auf S. 45 bildlich dargestellt hat, stehen 
mit dieser meiner Ansicht nicht im Widerspruch. Danach hatten von 294 
Paaren eineiiger Zwillinge 281 = 96% beide Masern, von 239 Paaren zwei- 
eiiger Zwillinge 214 = 900/0. Diese Zahlen harmonieren mit meiner Auf- 
fassung unter der Voraussetzung, daß es nur relativ wenige Zwillingspaare 
gibt, die von Masern völlig verschont bleiben, und daß solche Paare unter 
den zweieiigen noch wesentlich seltener als unter den eineiigen sind. Bei der 
Anwendung der Zwillingsmethode auf sehr häufige Infektionskrankheiten, 
denen die Mehrheit der Bevölkerung verfällt, tut man daher besser, die 
Frage der Erbbedingtheit auf das Freibleibcn von der Krank- 
heit abzustellen. Jene Zwillinge, die beide frei bleiben, sind dabei wichtiger 
als die, welche beide erkranken. Um auch jene erfassen zu können, muß ein 
auslesefreies Material gesammelt werden; d. h. es muß von allen Zwillings- 
paaren, die zur Beobachtung kommen, festgestellt werden, ob sie die be- 
treffende Krankheit gehabt haben oder nicht. 

Die erbbedingte Disposition bzw. Immunität ist nicht nur 
für das Befallenwerden bzw. Verschontbleiben von Krankheiten 
wie Masern, Scharlach und Diphtherie bedeutsam, sondern 
auch für den Verlauf der Krankheit 2 ). In manchen Familien 
treten schwere und tödliche Fälle gehäuft auf. 

Von der Diphtherie gilt Ähnliches wie von Masern und Scharlach. 
v. Pfaundler und Z o c 1 c h 3 ) haben mehrere Sippen verfolgt, in denen 
mehrere Mitglieder wiederholt an Diphtherie erkrankten. Anscheinend be- 
stand zwar die Fähigkeit zu kurzer Immunisierung, nicht aber zu dauernder. 

Die Anfälligkeit bzw. Immunität gegen Diphtherie kann bis zu 
einem gewissen Grade durch die Schickschc Probe festgestellt werden. Bei 
diphtherieempfänglichen Menschen entsteht nach der Einspritzung einer klei- 
nen Menge Diphtheriegift in die Haut an der Einspritzungsstelle eine ent- 
zündliche Röte, bei unempfindlichen nicht. I-I i r s z f c 1 d 4 ) hat auf Grund 
von Erfahrungen an einigen wenigen Familien den Schluß ziehen zu können 
geglaubt, daß die Diphtherieempfänglichkeit rezessiv erblich sei. Daß die 

1 ) Salz mann, Mathilde. Über wiederholte Masern. Zeitschrift 
für Kinderheilkunde 1920. 

2 ) de Rudder, B. Die Einwirkung der erblichen Dispositionen bei 
den ansteckenden Krankheiten. Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. 48. 
S. 91. 1930. 

3 ) v, Pfaundler, M. und Z o e 1 c h. Schutzimpfen oder nicht? 
Klinische Wochenschrift. 1928. Nr. 13 und 14. 

4 ) PI i r s 7. f c 1 d , li. u. L. und Brok m a n , H. Untersuchungen über 
Vererbung der Disposition bei Infektionskrankheiten, speziell bei Diph- 
therie. Klinische Wochcnschr. 1924. Nr. 29. 



ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 483 



erbliche Veranlagung auch bei der Schickreaktion mitspielt, ist zwar zu ver- 
muten; im übrigen aber macht eine positive Schickreaktion im Laufe der 
Jahre derart häufig einer negativen Platz (vermutlich infolge „stiller Fei- 
ung"), daß die Befunde Hirszfelds nicht als beweisend angesehen 
werden können. Auch die Angaben Hirszfelds über Koppelung einer 
Anlage zu Diphtherieempfindlichkeit mit einer bestimmten Blutgruppe haben 
sich nicht bestätigt. 

Von infektiösen Katarrhen, die man meist ein- bis 
zweimal im Jahr epidemisch auftretend beobachten kann, wer- 
den die Mitglieder mancher Familien häufig und schwer, die 
anderer nur selten und leicht heimgesucht. Wie manche Rassen 
von Rosen und Rittersporn immer wieder von Mehltau befallen 
werden, so haben manche menschliche Sippen immer wieder 
unter Schnupfen zu leiden. Bei isolierten Naturvölkern, z. B. 
Indianern Mittclamerikas, führt der Schnupfen gelegentlich zu 
schweren Epidemien (nach Sapper) 1 ). 

Die Anfälligkeit gegen Katarrhe hängt mit der entzündlichen und der 
lymphatischen Dialhese (vgl. S. 431) zusammen. Von den meisten Laien und 
auch noch vielen Ärzten wird der Schnupfen mit Vorliebe auf „Erkältung" 
zurückgeführt. Ich habe seit 2 1 / 2 Jahrzehnten dieser Frage mein Augen- 
merk zugewandt und bei der Beobachtung von zahlreichen Schnupf enaus- 
brüchen bei mir selbst und bei andern Personen keine einwandfreien Anhalts- 
punkte dafür finden können, daß „Erkältung" für das Zustandekommen des 
Schnupfens wirklich eine ernstliche Bedeutung habe. Der Schnupfen 
verläuft unter dem typischen Bilde einer Infektionskrankheit; von einer pri- 
mär infizierten Stelle aus (meist Naseneingang oder Mandeln) verbreitet 
sich die Entzündung über die Schleimhaut der Atemwege. Nach Ablauf des 
Schnupfens bleibt für eine begrenzte Zeit (meist einige Monate) eine Immu- 
nität gegen neue Schnupfeninfektion zurück. Von Nordpolfahrern, die der 
Kälte doch gewiß stark ausgesetzt sind, wird berichtet, daß sie auf ihren 
Reisen nicht unter Schnupfen zu leiden haben, sondern erst dann wieder 
davon befallen werden, wenn sie wieder mit andern Menschen in Berührung 
kommen. In Grönland schließen sich Schiiupfcnepideuhen an das Eintreffen 
von Schiffen an. MUtelamerikanischc Indianer scheuen sich, Kleidungsstücke 
von Europäern anzunehmen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß da- 
durch der für sie gefährliche Schnupfen übertragen werden kann. 

Für Lungenentzündungen (Pneumonien) be- 
steht bei manchen Individuen und in manchen Sippen eine be- 
sondere Anfälligkeit. Herrman 2 ) sah in einer Familie mit 
acht Kindern im Laufe der Jahre sieben an Pneumonie zu- 
grundegehen, davon fünf in den ersten Lebenswochen. 

Auch von Mandelentzündungen (Anginen) wer- 
den gewisse Personen und gewisse Sippen immer wieder be- 

1 ) Sapper, K. Die Bedrohung des Bestandes der Naturvölker und 
die Vernichtung ihrer Eigenart. ARGB. Bd. 12. H. 2. 1917. 

2 ) Herrman, Ch. Multiple deaths in the newborn of one familiy. 
Archives of Pediatrics. 1916. 



484 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN 



fallen. Es scheint eine Beziehung zur lymphatischen Diathese 
zu bestehen. Dasselbe gilt von der Anfälligkeit gegen Blind- 
darmentzündung (Appendizitis), welche durch ganz ähn- 
liche und zum Teil die gleichen Infektionskeime wie die Angina 
veranlaßt zu werden scheint. 

Die Erblichkeit der Anfälligkeil: gegen Mandelentzündungen hat sich 
auch bei den Zwillingsunt er suchungen von Weit? bestätigt. In manchen 
Familien schließt sich auffallend häufig ein Mandclabszeß an eine An- 
gina an. 

Eine familiäre und folglich erbliche Disposition gibt es 
auch zu Gelenkrheumatismus und Herzklappen- 
entzündung. Pribram 1 ) hat mehrere Sippentafeln ge- 
geben, in denen Gelenkrheumatismus und Herzklappenentzün- 
dung sich durch vier und mehr Generationen verfolgen lassen. 
L ö w y und S t e i n 2 ) haben gefunden, daß diese Krankheiten 
in ungefähr der Hälfte der Fälle auch bei den Eltern und Ge- 
schwistern der Kranken beobachtet werden. In den meisten 
Fällen hatten die daran Leidenden Zeichen allgemeiner kon- 
stitutioneller Schwäche (vgl. auch S. 472). 

Eine mehr allgemeine Anfälligkeit gegen verschiedene In- 
fektionskrankheiten wird durch allerlei Konstitutionsanomalien 
bedingt. Von den sog. Kinderkrankheiten (Masern, Scharlach, 
Diphtherie, Keuchhusten) werden am schwersten Kinder mit 
krankhaften Diathesen betroffen 3 ). Scharlachtodesfälle schei- 
nen nach H anhart besonders in Sippen mit allergischer Dia- 
these vorzukommen. Bei dem auf erblichem Schilddrüsenman- 
gel beruhenden Myxödem besteht eine große Gefährdung durch 
Infektionskrankheiten. Die Schilddrüse, die der Regulierung 
des Stoffwechsels dient, wirkt offenbar auch bei der Entste- 
hung des Fiebers, das als Heilanstrengung des Organismus an- 
zusehen ist, und der Erzeugung von Schutzstoffen mit. 

Wenn jemand an einer Infektionskrankheit stirbt, so ist die 
Ansteckung oft nur der äußere Anlaß des Todes, während die 
Grundursache in einem Versagen der Abwehrfunktionen liegt, 
nachdem sie in jüngeren Jahren noch ausgereicht hatte. Man 
kann dieses Versagen dem Altersaufbrauch schwach angelegter 
Organe vergleichen. Auf diese Weise erklärt sich zum guten 



1 ) Pribram. Der akute Gelenkrheumatismus. Wien 1S99. 

E ) Löwy, R. und Stein, G. Zur Ätiologie des akuten Gelenk- 
rheumatismus. Zeitschrift für Konstitutionslehre. 1921. 

3 ) Czcrny, A. Die Bedeutung der Konstitution für die Klinik der 
kindlichen Infektionskrankheiten. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1913. 
Nr. 24. 



ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 485 



Teil die Erbbedingtheit von Unterschieden der Lebensdauer. 
Wenn jemand an Sepsis oder an Typhus stirbt, so ist das ver- 
mutlich oft nur der Ausdruck eines solchen Versagens der Ab- 
wehrkräfte. 

Die Widerstandsfähigkeit gegen Malaria scheint zum Teil 
in direktem Zusammenhang mit dem erblichen Pigmentreich- 
tum der Haut zu stehen, ähnlich wie die Immunität schwarzer 
Schweine gegen die Buchweizenkrankheit. Neger sind gegen 
Malaria im Durchschnitt viel widerstandsfähiger als Indianer 
oder Weiße. Die verhältnismäßig hellhäutigen Polynesier haben 
nur die malariafreien Inselgruppen der Südsee besiedeln kön- 
nen, während sie die übrigen den ihnen geistig unterlegenen 
dunkleren Melanesien! überlassen mußten. 

Die Frage der Erbbedingtheit der Tuberkulose 
war lange lebhaft umstritten und ist es zum Teil noch heute. In 
Mitteleuropa gehen über 10 0/0 aller Menschen an Tuberkulose 
zugrunde, in früheren Jahrzehnten sogar noch viel mehr, In 
unserer Bevölkerung werden die meisten Menschen schon im 
Kindesalter mit Tuberkulosebazillen infiziert, zumal in den 
Großstädten, und doch verfällt nur ein Bruchteil von diesen 
später der Lungentuberkulose oder Schwindsucht (Phthise). 
Gewiß wirken bei dem Zustandekommen der Lungentuberku- 
lose auch Umweltschäden wesentlich mit, besonders Unter- 
ernährung und Berufsschädlichkeiten, z. B. gewerblicher Staub. 
Und doch ist die Schwindsucht eine erblich mitbedingte Krank- 
heit. Die Feststellungen Riff eis 1 ) an zahlreichen Sippen 
haben auch heute noch ihre Bedeutung. Ähnliche Sippentafeln 
hat Munter 2 ) beigebracht. Die Sippen von Ickert und 
Benze 3 ) sind besonders kritisch bearbeitet. Diese Autoren 
fanden in verschiedenen Sippen zum Teil auch besondere Lo- 
kalisationen und Verlaufsformen der Tuberkulose, Auch In 
schwer befallenen Familien bleiben einzelne Kinder öfter dau- 
ernd tuberkulosefrei, was nicht wohl anders als durch erbbe- 
dingte Immunität erklärt werden kann. 

Stiller 4 ) sagt in seinem Buche über die Asthenie: „Ich 
habe in meiner langen Praxis eine Reihe von Familien gekannt, 
wo eins der Eltern an Phthise gestorben, die Nachkommen aber 

x ) Riffel, A. Die Erblichkeit der Schwindsucht. Karlsruhe 1902. 

2 ) Munter, H. Lungentuberkulose und Erblichkeit. Beiträge zur 
Klinik der Tuberkulose. Bd. 76. H. 2 — 5. S. 257. 1931. 

n ) Ickert, F. und Benze, H. Stammbäume mit Tuberkulösen. Leip- 
zig 1933. Barth. 

4 ) Stiller, B. Die asthenische Konstitutionskrankheit'. Stuttgart 1907. 



486 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



ganz kräftig" konstituiert im blühendsten Alter zwischen 20— 30 
Jahren, schon längst dem Elternhause und der möglichen Haus- 
infektion entwachsen, eines nach dem andern tuberkulös wur- 
den und in kurzer Zeit an florider Phthise zugrunde gingen." 
ich kann aus eigener Erfahrung an mehreren Familien diese 
Angaben durchaus bestätigen. Wenn erbliche Unterschiede der 
Disposition für das Haften der Infektion mit Tuberkulosebazil- 
len auch keine besondere Rolle spielen mögen, so tun sie es 
doch für die Entwicklung der Schwindsucht um so mehr 1 ). 

Im Tierversuch haben W r i g h t und Lewis 3 ) bei Meerschweinchen 
nur wenig überzeugende Unterschiede der Anfälligkeit gegen Tuberkulose 
zwischen verschiedenen Inzuchtlinien gefunden. Meerschweinchen sind die 
besten Versuchstiere zum Nachweis von Tuberkulose, weil diese ganz regel- 
mäßig bei ihnen angeht und tödlich verläuft. Aber eben darum taugen sie 
nicht zum Nachweis erblicher Unterschiede der Tuberkuloseanfälligkeit. Ka- 
ninchen, die man zum Nachweis von Tuberkuiosebazillen nicht gebrauchen 
kann, weil sie trotz Infektion durchaus nicht immer erkranken, wären viel 
geeigneter für den Nachweis erblicher Anfälligkeit; und menschliche Bevöl J 
kerungen sind in dieser Hinsicht sicher noch heterogener als die Versuchs- 
kaninchen. Die Leugnung erblicher Unterschiede der Tuberkulosedisposition 
beim Menschen würde bedeuten, daß der Tuberkelbazillus auf allen mensch- 
lichen Nährböden gleich gut wachse. 

Man hat erstaunlicherweise darüber gestritten, ob die Anfälligkeit oder 
die Widerstandsfähigkeit gegen Tuberkulose erblich sei. Beide Formulierun- 
gen besagen bei Lichte besehen dasselbe, nämlich daß es Unterschiede der 
Widerstandsfähigkeit bzw. der Anfälligkeit gebe. 

In der vorigen Auflage dieses Buches (1927) hatte ich die 
Erwartung ausgesprochen, daß „auf dem Wege der Zwillings- 
forschung in absehbarer Zeit so schlagende Belege für die 
Erblichkeit der Tuberkulose beigebracht werden, daß niemand 
sich ihrer Beweiskraft entziehen kann". Diese Belege sind in- 
zwischen von v. Verschucr und Diehl 3 ) beigebracht wor- 
den. Der Arbeit liegen Befunde an ^7 erbgleichen (eineiigen) 
und 69 erbverschiedenen (zweieiigen) Zwillingspaaren zugrunde. 
Von den jj erbgleichen Paaren zeigten 26 gleiches und 11 ver- 
schiedenes Verhalten gegenüber der Tuberkulose, von den 69 
erbverschiedenen 17 gleiches und 52 verschiedenes. Damit ist, 
wie die Verfasser mit Recht betonen, „der eindeutige Beweis 



L ) Naegeli, O. Allgemeine KonsliUitionslehre. 2. Aufl. Berlin 1934. 
Springer. S. 145 ff. 

2 ) W r i g h t , S. und Lewis, P. R, Factors in the resistance of 
guinea pigs lo tuberculosis, with especial regard to Inbreeding and hcredity. 
The American Naturalist. Bd. 55. Nr. 636. 1921. 

a ) Diehl, K. und v. Verschucr, O. Zwillingstuberkulose. Jena 
1933, Fischer. 



ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 487 

erbracht, daß die erbliche Veranlagung von maßgebender Be- 
deutung für die Entstehung und den Ablauf der Tuberkulose 
ist". Bis zum Jahre 1934 war die Zahl der beobachteten tuber- 
kulösen Zwillingspaare auf 132 angewachsen 1 ). Von 51 EZ 
zeigten 35 = 690/0 gleiches und 16 = 310/0 verschiedenes Ver- 
halten. Von 81 ZZ verhielten sich 21 = 260/0 gleich und 60 = 
740/0 verschieden. Für die Abschätzung des Anteils von Erb- 
anlage und Umwelt wäre es allerdings erwünscht, daß in un- 
ausgelesenem Material auch die tuberkulosefreien Zwillinge 
miterfaßt würden (vgl. das Kapitel über Methodenlehre). 

Die erbliche Anfälligkeit gegen Tuberkulose ist offenbar 
nichts Einheitliches; d. h. es gibt nicht nur eine erbliche An- 
lage zur Tuberkulose, sondern viele, oder anders ausgedrückt : 
die Veranlagung zur Tuberkulose ist nicht homogen, sondern 
heterogen. Als eine solche Anlage (wenn auch praktisch nicht 
besonders wichtige) kann die zu Zuckerkrankheit angesehen 
werden. Zuckerkranke verfallen zum großen Teil der Schwind- 
sucht, weil die Tuberkulosebazillen in zuckerhaltigem Gewebe 
besonders gut gedeihen. Die These, daß die Veranlagung zu 
Tuberkulose heterogen sei, bedeutet nicht etwa, daß sie poly- 
mer sei. Die einzelnen Anlagen, die eine Anfälligkeit gegen 
Tuberkulose bedingen, sind vielmehr wohl in der Regel mo- 
nomer, und zwar meist rezessiv. Ich vermute, daß es sich oft 
um ein vorzeitiges Versagen der Abwehrkräfte handelt, das 
in einigen Familien früher, in andern später und in noch 
andern erst im Greisenalter eintritt (vgl. S. 449). 

Man hat in früheren Jahrzehnten die Disposition zu Tuber- 
kulose zu einseitig in morphologischen oder mechanischen Be- 
sonderheiten gesucht. Gleichwohl glaube ich nach wie vor an 
eine Korrelation zwischen Tuberkulose und Asthenie. Die Er- 
fahrungen der Lebensversicherungen haben ergeben, daß die 
an Tuberkulose Sterbenden schon bei ihrer Aufnahme im 
Durchschnitt relativ geringe Brustmaße aufwiesen, obwohl 
damals noch keine Tuberkulose bei ihnen zu finden war 2 ). 
B rüg seh 3 ) hat an einem Material von 226 erwachsenen 
Tuberkulösen gefunden, daß die Engbrüstigen mehrfach so 
häufig der Schwindsucht verfallen als dieMittelbrüstigen. Auch 
nach Naegeli 4 ) verläuft die Lungentuberkulose bei Asthe- 



*) Nach v. V er schuer. Erbpathologie, s. Literaturverzeichnis. 

2 ) Flor schütz, G. Allgemeine Versichcrungsmedizin. Berlin 1914. 

3 ) Brugsch, Th. Allgemeine Prognostik. 2. Aufl. Berlin 1922. 
*) A.a.O. S. 151. 



48! 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



nikern viel häufiger tödlich als bei Pyknikem. Der Zusammen- 
hang ist aber nicht einfach mechanisch zu deuten; vielmehr ist 
auch der asthenische Habitus schon Ausdruck einer gewissen 
physiologischen Schwäche. 

Auch die Veranlagung zu Schizophrenie, die ja ebenfalls 
oft mit asthenischem Habitus einhergeht, bedeutet zugleich An- 
fälligkeit gegen Tuberkulose. Nicht nur erliegen die Schizo- 
phrenen selbst zum großen Teil der Tuberkulose, sondern auch 
ihre nicht schizophrenen Geschwister, wie Luxenburger 1 ) 
gezeigt hat. 

Die Anfälligkeit gegen Tuberkulose besteht anscheinend 
in der Regel in einer immunbiologischen Widerstands- 
schwäche. Dazu kann im Einzelfall eine erbbedingte Organ- 
schwäche kommen, die für die Lokalisation der Tuberkulose 
in den Lungen, den Nieren, den Gelenken usw. bestimmend 
sein kann. 

Daß die Anfälligkeit gegen Lungentuberkulose nichts anderes sei als 
eine Organschwäche der Lunge, die sich ebensogut auch in Bronchitis oder 
Pneumonie äußern könne, wie Munter gemeint hat, halte ich für ausge- 
schlossen. Jede von diesen Lungenerkrankimgen kommt für sich sippenweise 
gehäuft vor. Andererseits brauchen durchaus nicht alle beteiligten Erban- 
lagen für Tuberkulose „spezifisch" zu sein; manche wie die Anlage zu Diabe- 
tes, die zu Asthenie und die zu Schizophrenie, die zugleich Dispositionen zu 
Tuberkulose sind, sind offenbar nicht ,, spezifisch". Schwächezustände der 
verschiedensten Art, erb- und umweltbedingte, vermindern die Widerstands- 
fähigkeit gegen Tuberkulose. Auch Ickert") bestätigt: „Die Schwachen 
und Zarten stellen das Gros." Auch ganz unspezifische Erbanlagen, z. B. 
solche zu Schwachsinn, die oft wirtschaftliche Not, schlechte Ernährung 
und Wohnung zur Folge haben, leisten der Tuberkulose Vorschub. In einer 
Umwelt, in der es keinen Mangel gäbe, würden derartige Anlagen freilich 
nicht zu Tuberkulose führen; aber in einer Umwelt, in der es keine Tuber- 
kulosebazillcn gäbe, würde es auch eine „spezifische" Anlage nicht tun. Wenn 
wir von erblich oder nichterblich reden, setzen wir die Umwelt eben stets 
als gegeben voraus (vgl. Abschnitt über Methoden). 

Ob durch das Überstehen einer tuberkulösen Infektion eine spezifische 
Immunität, die über die unmittelbaren Abwehrreaktionen hinausgeht, er- 
worben werden kann, ist fraglich. Lydtin 8 ) glaubt überhaupt nicht an 
eine erworbene Immunität gegen Tuberkulose. Eine relative Immunisierung 
einer Bevölkerung gegen Tuberkulose kommt nicht auf diese Weise, son- 
dern durch Wegsterben der anfälligen Sippen zustande, wovon im zweiten 
Bande näher die Rede ist. 



*) Luxenburger, H. Tuberkulose als Todesursache in den Ge- 
schwisterschaften Schizophrener. Zeitschrift für die gesamte Neurologie. 
Bd. 109. S. 313. 1927. 

a ) Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Bd. 72. S. 774. 1929, 
a ) Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Bd. 83. S. 662. 1933. 



KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 489 

h) Krebs und andere bösartige Geschwülste. 

Die bösartigen Geschwülste bestehen in abnormen Wucherungen körper- 
eigener Zellen, die sich in die gesunden Gewebe eindrängen, und diese 
schließlich so stark schädigen, daß der Organismus zugrunclegeht. Man 
muß annehmen, daß eine bösartige Geschwulst, z. B. ein Krebs, in der Regel 
von einer einzigen krankhaft veränderten Zelle ausgeht; alle die Millionen 
Zellen, aus denen die Krebsgeschwülste bestehen, gehen auf dem Wege der 
Zellteilung oder Fortpflanzung aus der ursprünglichen Krebszelle hervor. 
Dieses Wachstum unterscheidet sich dadurch von normalem, daß es sich 
nicht dem Bauplan des übrigen Körpers einordnet, sondern ohne Rücksicht 
auf dessen Erhaltung zerstörend fortschreitet. 

Je nach der Zcllart, aus der die Geschwülste hervorgehen und deren 
Charakter sie mehr oder weniger bewahren, gibt es verschiedene Arten bös- 
artiger Geschwülste. Die aus Epithclzcllen (Dcckzcllcn der Haut, Schlcim- 
hautzellcn, Drüsenzellen) hervorgehenden nennt man Krebs (Karzinom), 
es sind die häufigsten unter den bösartigen Geschwülsten. Aber auch aus 
Bindegewebs-, Knorpel-, Knochen-, Muskel- und Nervenzellen können bös- 
artige Geschwülste hervorgehen; die aus Zellen der Bindesubstanz entste- 
henden Geschwülste faßt man herkömmlicherweise unter dem Namen Sar- 
kome zusammen. Bösartige Geschwülste können nicht nur aus Zellen, die 
während der Entwicklung an einen falschen Platz geraten, „versprengt" 
oder mißbildet sind (z. B. aus Naevi), sondern auch aus Zellen, die im 
normalen Verbände ihres Gewebes sitzen, hervorgehen. 

Bei der Entstehung der bösartigen Geschwülste, die letzten 
Endes auf die Umwandlung einer Körperzelle in eine Krebs- 
zelle zurückgeht, sind äußere Ursachen oft von entscheidender 
Bedeutung. Verhältnismäßig am klarsten liegen die Verhält- 
nisse bei gewissen. Geschwülsten der Blase (Krebsen und Pa- 
pillomen), welche bei Personen auftreten, die dem Dampf von 
Anilin, Benzidin und ähnlichen Stoffen ausgesetzt waren. Man 
hat beobachtet, daß in gewissen chemischen Betrieben irn Laufe 
der Zeit die Mehrzahl der Arbeiter daran erkrankte 1 ). Be- 
merkenswert ist dabei, daß durch die gleiche Schädlichkeit 
verschiedene Blasengeschwülste, bösartige wie nicht bösartige 
entstehen können. Nach dem Vorgange der japanischen Pa- 
thologen Yamagiwa und Ichikawa kann man heute bei 
Kaninchen und weißen Mäusen Krebs durch lange fortgesetzte 
Teerpinselungen erzeugen. Durch langdauernde Einwirkung 
von Röntgenstrahlen wird schließlich fast mit Sicherheit Krebs 
der Haut verursacht. Auch Sarkome können infolge von Rönt- 
genbestrahlungen entstehen. Eine ganze Reihe von Röntgen- 
ärzten und Röntgentechnikern ist bereits an Krebs zugrunde 
gegangen, natürlich auch nicht wenige bestrahlte Patienten. 



*) Vgl. Nassauer, M. Über bösartige Blasengeschwülste bei Arbei- 
tern der organisch-chemischen Großindustrie. Wiesbaden 191g. 



490 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Auch im Tierversuch hat man Krebse und Sarkome durch 
Röntgenbestrahlung' erzeugen können. Radioaktive Stoffe wir- 
ken in gleicher Weise krebserzeugend wie Röntgenstrahlen. In 
gewissen Bergwerksbezirken des Erzgebirges sind zahlreiche 
Bergleute an Lungenkrebs zugrundegegangen, der anscheinend 
durch Einatmung radioaktiven S taubes verursacht wurde. 
Wenn schließlich noch an den Lippenkrebs der Pfeifenraucher, 
den Skrotumkrebs der Schornsteinfeger, den Krebs der Paraf- 
finarbeiter und den Speiseröhrenkrebs der Schnapstrinker er- 
innert wird, so bleibt an der Bedeutung äußerer Ursachen für 
die Entstehung bösartiger Geschwülste kein Zweifel. Die ein- 
schlägige Literatur ist sehr vollständig bei Schin z und 
Buschke 1 ) zusammengestellt. 

Fibiger hat bei Ratten und Mäusen Krebs infolge der Infektion mit 
gewissen Wurmlarven entstehen sehen. Beim Menschen kann Blasenkrebs 
und Leberkrebs als Folge des Befallenseins mit Bilharzia, einem parasiti- 
schen Wurm, entstehen. Keine Rede kann aber davon sein, daß der Krebs 
eine Infektionskrankheit in dem Sinne sei, daß regelmäßig ein bestimmter 
Erreger vorhanden sein müßte. Solche Krebserreger „entdecken" heute nur 
noch Phantasten ; die Enttäuschung bleibt nicht aus, und es wird wieder 
still, bis die nächste derartige „Entdeckung" gemeldet wird. 

Ebenso sicher wie die Tatsache, daß viele Krebsfälle in- 
folge äußerer, und zwar meist anorganischer Einwirkungen 
entstehen, ist jene, daß viele andere, vielleicht die meisten 
Krebsfälle auf dem Boden einer krankhaften Erbanlage ent- 
stehen. 

Massenstatistische Berechnungen von Little in Amerika und W a a - 
ler in Norwegen haben ergeben, daß bei Kindern und Geschwistern von 
Krebskranken Krebs überdurchschnittlich häufig auftritt. Diese Tatsache 
weist auf Erbbedingtheit hin, beweist sie aber nicht, da verschiedene Fami- 
lien möglicherweise auch krebsverursachenden Umwelt schaden in verschie- 
denem Grade ausgesetzt sein können. Auch der umweltbedingte Kropf tritt 
in Endemiegebieten ja familienweise gehäuft auf. Die verschiedene geogra- 
phische Verteilung des Krebses dürfte hauptsächlich durch Unterschiede 
der Umwelt bedingt sein (Radioaktivität des Bodens?). 

Bei der Obstfliege Drosophila haben Morgan und Stark eine 
rezessiv geschlechtsgebundene krankhafte Erbanlage gefunden, die bei allen 
damit behafteten männlichen Larven bösartige Gesehwülste (Melanome) zur 
Folge hatte. Eine zweite einfach rezessive krankhafte Erbanlage führte nur 
bei rund 10% der homozygoten Tiere zu Geschwülsten, und zwar zu weniger 
bösartigen. Maud S 1 y e konnte bei Mäusen eine Anlage zu Brustdrüsen- 
krebs weiterzüchten, die sich in einigen Linien bei fast ioo°/o der Weib- 
chen manifestierte und die anscheinend einfach rezessiv war 2 ). 



1 ) S c h i n z , H. R. und Buschke, F. Krebs und Vererbung. Leipzig 
1935. Thiemc. 

2 ) Literatur siehe bei S c h i n z und B u s c h k e. 



KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 491 

Beim Menschen ist die familiäre Häufung von Magen- 
krebs (Carcinoma ventriculi) besonders auffällig. Zwei Sip- 
pentafeln von Paul sen 1 ), die das zeigen, gebe ich in Fig. 162 
und 163 wieder. 

Zu der Familie Fig. 162 ist zu bemerken, daß der mit 28 Jahren gestor- 
bene Mann infolge Unfalls ums Leben kam; er hat also vermutlich seinen 



59 



160er 



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§72 



62 61 51 56 



Wff 63 £8 



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Fig. 162. 
Magenkrebs nach Paulsen. 



Fig. 163. 
Magenkrebs nach Paulsen. 



cf 9 



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Magenkrebs nicht erlebt. Der mit 63 Jahren verstorbene Mann ist in der 
vorigen Auflage dieses Buches noch als gesund angegeben; er ist in der 
Zwischenzeit auch an Magenkrebs gestorben wie seine beiden Eltern und 
alle seine älteren Geschwister. In der Familie Fig. 163 ist der älteste Sohn 
mit 50 Jahren angeblich an Leberkrebs ge- 
storben; da aber primärer Leberkrebs kaum 
vorkommt, dürfte es sich auch bei ihm um 
Magenkrebs gehandelt haben. Dasselbe gilt 
möglicherweise auch von der Todesursache 
des Vaters, von dem „Darmverschluß" an- 
gegeben ist. 

Da etwa 10% aller Menschen, 
die das Kindesalter überleben, an 
bösartigen Geschwülsten zugrunde- 
gehen, von denen der Magenkrebs 
eine der häufigsten ist, so würde 
auch ohne Erbbedingtheit rein, zu- 
fällig gelegentlich eine Häufung von 



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9 



9 7 9 



9 



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9 



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Fig. K 



Magenkrebs. Nach Grotc. 

(Es handelt sich um dieselbe 
mehreren Fällen in einer Familie zu sippe, von der weiter oben die 
erwarten sein. Wenn aber die Hau- Erblichkeit grauen Stars be- 
fung Grade erreicht wie in den hier richtet wurde.) 

wiedergegebenen Familien, so kann 

man nicht gut an der Bedeutung der Erblichkeit für das Zu- 
standekommen des Krebses zweifeln. 

Grote 2 ) hat von einer Sippe berichtet, in der Magenkrebs un- 
unterbrochen durch vier Generationen verfolgt werden konnte. Solche 



2 ) Paulsen, J. Konstitution und Krebs. Zeitschrift für Krebsfor- 
schung. Bd. 21. H. 2. 1924. 

2 ) Grote, L. R. Grundlagen ärztlicher Betrachtung. Berlin 1921. 



492 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Sippen sind auch sonst nicht selten. Aul eine Umfrage 1 ) bei den Ärzten 
Österreichs wurden 15 Sippen mitgeteilt, in denen Krebs durch 4 Gene- 
rationen hindurch auftrat. Diese Umfrage ergab auch Familien, in denen 6, 
7 und g Geschwister an Krebs zugrundegingen; in 34 von 92 Krebsfamilien 
fielen sämtliche Geschwister dem Leiden zum Opfer. 

Magenkrebs entwickelt sich oft auf dem Boden eines 
chronischen Magengeschwürs (vgl. S. 474). Die erbliche Veran- 
lagung ist daher mindestens zum Teil dieselbe wie die zu Ma- 
gengeschwür. 

J. Bauer 2 ) hat die Ansicht vertreten, daß Magenkrebs dann entstehe, 
wenn eine allgemeine Erbanlage für bösartige Geschwülste, die er für rezes- 
siv ansieht, mit einer speziellen Organdisposition, die ebenfalls in der Regel 
rezessiv sei, zusammentreffe. Meines Erachtens sprechen die Erfahrungen 
über mensclilichcn Magenkrebs mehr für eine dominante Erbanlage, womit 
aber nicht gesagt sein soll, daß bei allen Fällen von Magenkrebs eine solche 
mitwirken müsse. 

Auch Darmkrebs, zumal Mastdarmkrebs kommt sip- 
penweise gehäuft vor. Er entsteht oft auf dem Boden einer 



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c^cTc? 

Fig. 165. Polyposis intestini nach Jüngling und Hüchtemann. 

Polyposis intestini, einer Anomalie des Darmes, bei der 
die Wand des Dickdarms mit zahlreichen drüsigen Schleim- 
hautauswüchsen („Polypen") besetzt ist. Diese Polyposis scheint 
schließlich regelmäßig zu Krebs zu führen, öfter an mehreren 
Stellen zugleich. Eine Sippentafel, die Hüchtemann 3 ) auf 
Veranlassung von Jüngling 4 ) erforscht hat, spricht für do- 
minanten Erbgang; vermutlich ist das auch sonst die Regel. 

*) Peller, S. Die Ergebnisse der von der Österreichischen Gesell- 
schaft für Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit veranstalteten 
Sammelf orscliung. Wiener klinische Wochenschrift. 1922. H. 6™ 8. 

2 ) Bauer, J. Das Wesen der vererbbaren Krebsdisposition. Zeitschrift 
für Konstitutionslehre. Bd. 11. H. 2—5. 1925. 

3 ) Hüchtemann, E. Das hereditäre Auftreten der Polyposis recti 
und ihre Beziehungen zum Carcinom. Dissertation Tübingen 1926. 

4 ) Jüngling, O. Polyposis intestini. Bruns' Beiträge zur klinischen 
Chirurgie. Bd. 143. S. 476. 1928. 



KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 493 

In der abgebildete*! Sippentafel bedeutet ein Ring um das Pcrsoncnzei- 
chen Mastdarmkrebs. Von der mit einem Punkt im Kreise bezeichneten Frau 
war Darmtuberkulosc als Todesursache angegeben; vermutlich bestand auch 
bei ihr Polyposis und Darmkrebs. Bei den mit Fragezeichen bezeichneten 
Personen ist es fraglich, ob sie einen normalen Dann hatten, da dies nicht 
ohne Untersuchung mit dem Rcktoskop (Darmrohr) festgestellt werden kann. 
Die vier ältesten Polyposis träger sind sämtlich an Mastdarmkrebs zugrunde- 
gegangen; von den jüngeren ist es noch zu erwarten. 

Da eine Polyposis sich nicht nur im Mastdarm sondern auch in höheren 
Abschnitten des Darmes, gelegentlich sogar im Magen äußern kann, kann 
unter Umständen in derselben Sippe neben Darmkrebs auch Magenkrebs 
auf Grund derselben Erbanlage vorkommen. 

Seltener als bei Magen- und Darmkrebs wird familiäre 

Häufung bei Gebärmutterkrebs (Carcinoma uteri) be- 







" <>p: 

Fig. 166. 
K r e b s nach Warthi 11. 



obachtet. Immerhin sind in einer von Warthin 1 ) beschriebe- 
nen Sippe bisher 1 2 Fälle davon vorgekommen. Wenn die 
Frauenärzte der Familiengeschichte ihrer Patientinnen genauer 
nachgehen würden, würde sich vermutlich auch sonst häufiger 
familiäres Auftreten herausstellen. 



x ) Wart hin, A. S. The further study of a cancer family. Journal 
of Cancer Research. Bd. 9. Nr. 2. 1925. 



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H9 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

In der von Wart hin beschriebenen Sippe sind in drei Generationen 
der Nachkommenschaft eines an Magen- oder Darmkrebs verstorbenen Man- 
nes bisher nicht weniger als 27 Krebsfälle vorgekommen. Da die meisten 
Personen der dritten Generation erst im mittleren Lebensalter stehen, sind 
weitere Fälle noch zu erwarten. Einen Ausschnitt des Stammbaumes zeigt 
Fig. 166. M bedeutet Magen, D Darm, G Gebärmutter, L Leber, U Unterleib 
(genauer Sitz unbekannt). In dieser Sippe liegt der Ausbruch des Leidens um 
etwa iY a Jahrzehnte früher als in der von Pauls en beschriebenen. 

Brustdrüsen krebs (Carcinoma 
mammae) ist wieder etwas öfter sippen- 
mäßig gehäuft beobachtet worden. Fig. 1 67 
gibt eine Sippentafel nach Wachtel 1 ) 
wieder. Auch Leschcziner 2 ) und andere 
haben über ähnliche Familien berichtet. 
Die FI auf igkeits Verteilung bei den Frauen 
ist nach Was sink und van Raams- 
d n k 3 ) so, daß von 7 krebskranken 
Frauen etwa 4 an Magen-, 2 an Gebär- 
mutter- und 1 an Brustdrüsenkrebs leiden, 
fanden diese verschiedenen Krebsarten 



H9 ms ms 



H6 



tt? 



Fig. 167. 

Brustdrüsenkrebs 
nach Wachtel. 



Auch diese Autoren 

jede für sich familiär gehäuft. 

Wenn man von dem Krebs der Geschlechtsorgane und der Brustdrüsen 
absieht, so werden von Krebs der übrigen Organe im ganzen fast doppelt 
so viele Männer als Frauen befallen. Besonders auffallend ist der Unter- 
schied zu Ungunsten des männlichen Geschlechts bei dem Krebs der Zunge, 
des Kehlkopfs und der Luftröhre, Man wird diese größere Krebshäufigkeit 
darauf zurückführen dürfen, daß die Männer gewerblichen Schädlichkeiten 
und Genußgiften stärker ausgesetzt sind. Das weibliche Geschlecht wird 
aber um soviel häufiger von Krebs der Geschlechtsorgane befallen, daß die 
Gesamthäufigkeit des Krebses in beiden Geschlechtern ungefähr gleich ist. 

Von Kranz und anderen sind mehrere Fälle berichtet worden, wo 
zwei eineiige Zwillinge beide an Krebs desselben Organs erkrankten. Aber es 
gibt auch Fälle, wo der eine von zwei eineiigen Zwillingen dauernd frei von 
Krebs bleibt. Diese Erfahrungen entsprechen dem Satz, daß es erbbedingte 
und umweltbedingte Krebse gibt. 

Lymphosarkom, eine bösartige Geschwulst, die von 
Lymphdrüsen des Halses auszugehen pflegt, ist gelegentlich 
bei zwei Mitgliedern derselben Familie beobachtet worden. In 
diesem Zusammenhang seien auch noch einmal die Leuk- 
ämien (vgl. S. 470) genannt. Diese sind nämlich den bös- 

r ) Nach persönlicher Mitteilung. Vgl. auch Wachtel, PL Zur Frage 
der Erblichkeit des Krebses. Münch. med. Wochenschr. 1924. Nr. 26. 

3 ) Leschcziner, IL Über familiären Brustkrebs. Medizinische Kli- 
nik 19 1 7. H. 21. 

3 ) W a s s i n k , W. F., Wassink, C. Ph. und van Raamsdonk. 
Erblichkeit von Krebs. Nederlandschc Tijdschrift vor Geneeskunde. Bd. IL 
326. 



KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 495 

artigen Geschwülsten wesensverwandt; die schrankenlose und 
zerstörende Vermehrung erfolgt in diesem Falle von Mutter- 
zellen der weißen Blutzellen aus. Leukämien können wie 
andere bösartige Geschwülste auch durch Röntgenstrahlen ver- 
ursacht werden. 

Das N etzliautgliom (Glioma retinae) ist eine seltene 
bösartige Geschwulst, die von der Netzhaut des Auges ausgeht. 
Es sind gegen 30 Familien bekannt geworden, in denen Netz- 
hautgliom bei mehreren Geschwistern auftrat ; in einigen weni- 
gen Fällen war das Leiden auch bei einem der Eltern aufge- 
treten 1 ). Im ganzen sprechen die bisherigen Erfahrungen mehr 
für rezessiven Erbgang. 

Auffallend ist, daß in den bisher bekannt gewordenen Familien verhält- 
nismäßig oft die Mehrzahl der Geschwister befallen wurde, so in einem Falle 
10 von 16 (Newton), in einem andern gar alle 8 (Wilson). 

Näheren Aufschluß über das Wesen einer erblichen Ver- 
anlagung zu Krebsbildung gibt uns das sog. Xeroderma pig- 
mentosum, eine rezessive Diathese der Haut, die schon unter 
den Hautleiden besprochen worden ist. Bei Trägern dieser 
Diathese entwickeln sich im Laufe der Zeit regelmäßig Haut- 
krebse, und zwar unter der Einwirkung des Lichtes. Bei Xero- 
dermakranken wirkt Sonnenlicht und in geringerem Grade auch 
gewöhnliches Tageslicht in dieser Flinsicht ganz ähnlich wie 
Röntgendicht auf normale Haut. Auch bei normalen Personen 
entwickeln sich Hautkrebse übrigens fast nur an unbedeckten, 
dem Sonnenlicht und chemischen Schädigungen ausgesetzten 
Stellen. 

Im übrigen ist für die allermeisten Krebse der Haut oder 
allgemeiner des Plattenepithels im Gegensatz zu den Krebsen 
drüsiger Organe (Magen, Darm, Brustdrüse) eine erbliche An- 
fälligkeit nicht wesentlich. Bei den Hautkrebsen sind vielmehr 
äußere Einwirkungen praktisch entscheidend. In dem Bestre- 
ben, die Entstehung der bösartigen Geschwülste unseren all- 
gemeinen biologischen Vorstellungen einzuordnen, habe ich im 
Jahre- 1921 die Hypothese aufgestellt: „Das Wesen des 
Krebses besteh tinein erldiok in esesom atischer 
Zellen." Bei Pflanzen kennt man die sog. Knospenmutatio- 
nen, die darin bestehen, daß eine Zelle eine Mutation erleidet, 
von der dann abgeänderte Sprosse ausgehen, deren Eigenart 
weiterhin erblich ist. Auch die infolge Abänderung ihrer Eigen- 
art zur Krebszelle gewordene Zelle des menschlichen Körpers 



*) Vgl. Waardenburg (s. Literaturverzeichnis). 



496 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



bewahrt ihre abgeänderte Eigenart bei dem Wachstum der 
Krebsgeschwulst erblich durch zahlreiche Zeligenerationcn. Aus 
Erfahrungen an Pflanzen und Tieren kennen wir bestimmte 
Rassen, die eine besondere Neigung zu Mutationen haben. Die 
unmittelbare Verursachung von Mutationen (die Idiokinese) 
aber erfolgt durch äußere Einflüsse., z. B. durch Sonnenlicht 
im Falle des Xeroderma pigmentosum. Bei intensiv kernschä- 
digenden Einflüssen wie den Röntgenstrahlen ist schließlich 
eine besondere erbliche Disposition zu bösartigen Mutationen 
nicht nötig, sondern hier wirken die äußeren Einflüsse über- 
mächtig, insofern ist also jede Zelle „krebsfähig", wie man 
wohl gesagt hat. 

Der Pathologe v. H ans e mann. 1 ) hat i. J. 1897 die Umwandlung 
einer normalen Körpcrzelle in eine Krebszelle als „Anaplasie" bezeichnet, 
womit er eine grundlegende Wesensänderung kennzeichnen wollte. Anknüp- 
fend an diese Lehre hat Whitman 2 ) i. J. 1919 diese Umwandlung als 
somatische Mutation aufgefaßt. Ohne Whitmans Arbeit zu kennen, habe 
ich in der ersten Auflage dieses Buches i. J. 1921 die Entstehung des 
Krebses als Idiokinese somatischer Zellen angesprochen (S. 258—259) und 
diese Hypothese in der zweiten Auflage vom Jahre 1923 (S. 262 — 263) und 
der dritten vom Jahre 1927 (S. 327—329) weiter ausgebaut. Meine Hypo- 
these ging schon i. J. 1921 über die Whitmans insofern hinaus, als ich 
die äußere Verursachung der Mutationen (die Idiokinese) besonders betont 
habe, wodurch der Zusammenhang mit den äußern Ursachen der bösartigen 
Geschwülste hergestellt war. 

Eine etwas andere Hypothese der Entstehung des Krebses hat der 
Zoologe Boveri 3 ) i. J. 1914 entwickelt. Er hat die Ursache in einer Stö- 
rung des Chromosomenbestandes gesehen, die nach seiner Ansicht meist 
durch Unterdrückung einer Zellteilung infolge mechanischer oder chemi- 
scher Schädigung verursacht werden soll. Wie wir heute wissen, können 
durch Verschmelzung zweier diploider Zellen unter Umständen tetraploide 
und in der Folge allerlei abnorme Chromosomcnzahlen entstehen, wie sie 
bei manchen bösartigen Geschwülsten vorkommen. Vermutlich kommt diese 
von Boveri gesehene Möglichkeit neben der Mutation einzelner Gene als 
Ursache der Entstehung bösartiger Geschwülste vor. 

Man hat ein Problem darin gesehen, daß eine Zelle, die bis dahin sich 
den Lebensbedürfnissen des Organismus harmonisch angepaßt hat, auf ein- 
mal „bösartig" werde. Mir kommt das gar nicht problematisch vor. Die 
Anlage zu Wachstum und Teilung haben alle Zellen von der Embryonalzeit 
her. Eher könnte man ein Problem darin finden, warum die Zellen bei Ab- 
schluß der Ontogenese ihr Wachstum aufgeben; es geschieht offenbar auf 
Grund irgendwelcher regelnder Mechanismen, die infolge der Ausbildung 

1 ) v. Hanse mann, D. Die mikroskopische Diagnose der bösartigen 
Geschwülste. Berlin 1897. 

2 ) Whitman, R. C. Soraatic mutations as a factor in the produetion 
of cancer. Journal of Cancer Research. Bd. 4. S. 181. 1919. 

3 ) Boveri, Th. Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren. 
Jena 19x4. 



KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCFIWÜLSTE. 497 

des definitiven Zusiandes in Wirksamkeit treten. Es ist gar nicht verwun- 
derlich, daß diese hemmenden Mechanismen gelegentlich durch äußere Ein- 
flüsse zerstört werden können. Eine Änderung der Erbmasse somatischer 
Zellen wird natürlich nur in einem kleinen Teil der Fälle gerade zu „bös- 
artigem" Wachstum führen. Alle übrigen derartigen Änderungen bleiben 
verborgen oder äußern sich doch nur in einer Schwäche, Verfärbung der 
Zellen oder ähnlichem. Nur diejenigen unter den mancherlei möglichen 
Erbänderungen der Körperteilen, die ein schrankenloses Wachstum bedin- 
gen, treten als bösartige Geschwülste in die Erscheinung. 

Die erbliche Veranlagung zu bösartigen Geschwülsten be- 
stellt nach dieser Auffassung in einer oder vielmehr in ver- 
schiedenen abnormen Bereitschaften zu somatischen Mutatio- 
nen; und diese erbbedingten besonderen Bereitschaften gehen 
ihrerseits auf Mutationen von Keimzellen in irgendeiner frühe- 
ren Generation zurück. Diese beiden verschiedenen Mutations- 
vorgänge sind in der Literatur öfter nicht genügend aus- 
einandergehalten worden 1 ). Es gibt sicher nicht eine einheit- 
liche erbliche Veranlagung zu Krebs, sondern verschiedene. 
Oder anders ausgedrückt: Die erbliche Veranlagung zu Krebs 
ist erbbiologisch nicht homogen, sondern heterogen 2 ). Das 
schließt natürlich nicht aus, daß bei denselben Individuen ver- 
schiedene bösartige Geschwülste entstehen können, wie ja Mu- 
tationen überhaupt ziellos in verschiedenen Richtungen zu 
gehen pflegen. 

Fischer-Wasels 3 ) legt den Nachdruck auf die Tatsache, daß 
Krebs oft dann auftritt, wenn ein Organ zu vielfacher Zellregeneration ge- 
zwungen wird. Diese Tatsache harmoniert durchaus mit der von Fischer- 
Wasels bezweifelten Mutationshypothesc der Geschwülste; denn je mehr 
Zellteilungen stattfinden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit von 
Mutationen. Eine Aiüage zu Krebs besteht daher meist in der Anlage zu einer 
„präkanzerösen" Krankheit*) wie dem Magengeschwür, der Polyposis oder 
dem Xeroderma, bei denen vielfache Zellzerstörungcn und Zcllregenera- 
tionen nacheinander und nebeneinander stattfinden. 

Fischer-Wasels meint, die Umwandlung einer normalen Zelle 
in eine Krebszelle entspreche „den Differenzierungsschritten der Gewebs- 
zellen im Organismus überhaupt"; d. h. er faßt jene Umwandlung nicht als 
Mutation sondern als Dauermodifikation auf. Daß ein Krebs aucli einmal 
auf dem Wege der Dauermodifikation entstehen kann, möchte ich nicht für 
grundsätzlich unmöglich erklären. Die plötzliche, unberechenbare Entste- 



] ) Z. B. bei K. 1-L Bauer. Die Mutationstheorie der Geschwulstent- 
stehung. Berlin 1928. S. 45. 

3 ) Nicht zu verwechseln mit dem Unterschied zwischen monomer und 
polymerl 

3 ) Fischer-Wasels, B. Die Vererbung der Krebskrankheit. Ber- 
lin 1935. Metzner. 

4 ) Weitz, W. Über die Erblichkeit des Krebses. Monatsschrift für 
Krebsbekämpfung. 1933. H. 10. S. 385. 

B a 11 r - 1"'" i s c h e r - 1, c u z T. 32 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

hung des Krebses von einzelnen Zellen aus spricht aber mehr für Mutation, 
ebenso die Verursachung gerade durch solche physikalischen und chemi- 
schen Einflüsse, die wir sonst als idiokinetisch, d. h. mutations er zeugend 
kennen. Modifikatorischc Differenzierungen gehen nieist auch in der Rich- 
tung auf Anpassung; Mutationen dagegen sind in der Regel erhaltungs- 
widrig, und das sind auch die bösartigen Geschwülste. Ich fasse diese (wie 
auch die Mutationen) nicht als Reaktionen des Organismus auf einen Reiz 1 ) 
auf, wieSchinz es tut. Auch seiner Ansicht, daß die Verursachung von Krebs 
durch Röntgenstrahlen eine besondere Disposition voraussetze, vermag ich 
nicht zuzustimmen. Mutationen durch Röntgenstrahlen entstehen ziellos und 
unberechenbar; es ist daher gar nicht anders zu erwarten, als daß nur in 
einem Teil der Fälle Krebs die Folge ist. Röntgcnkrebs tritt meist 
als Spätfolge chronischer Röntgenschädigung, einer sogenannten „Röntgen- 
haut" auf. Eine notwendige Voraussetzung ist eine derartige sichtbare Schä- 
digung aber nicht. Nach allem, was wir über die Verursachung von Muta- 
tionen wissen, ist vielmehr anzunehmen, daß auch durch kleine Strahlen- 
mengen, die unter der Schwelle der Hautreizung liegen, Krebs entstehen 
kann. Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Krebs dürfte der gesamten 
Quantität der Strahlen proportional sein (vgl. S. 566). Und eine große Quan- 
tität kann ebenso durch viele kleine wie durch eine große Menge Zustande- 
kommen. 

Es mag sein, daß es außer erbbedingten Anfälligkeiten bestimmter 
Organe auch krankhafte Erbanlagen gebe, die eine mehr allgemeine An- 
fälligkeit für Krebs bedingen. Die in der Literatur verbreitete Ansicht, daß 
stets eine Allgcmeindisposition mit einer Organdisposition zusammenwirken 
müsse, ist aber unbegründet. Im Einzelfall genügt durchaus eine krankhafte 
Erbanlage. Die erbbedingte Anfälligkeit im Einzelfall ist vermutlich nicht 
dimer, sondern monomer. Unklarerweise lassen viele Autoren eine Erbanlage 
für Allg em ei ndisposition mit einer solchen für Organdisposition „gekoppelt" 
sein, offenbar in der irrigen Annahme, daß Koppelung Korrelation bedinge. 

Auch die Versuche über Transplantation von Krebs bei Mäusen spre- 
chen nicht für eine Allgemeindisposition. Diese Versuche haben ergeben, daß 
Krebszellen von einer Maus sich nicht beliebig auf andere Mäuse überpflanzen 
lassen, sondern nur auf crbgleiche und nahe erbverwandte. In Amerika haben 
Little, Strong u. a. die erbbedingten Grenzen- dieser Transplanticrbar- 
keit unter großem Aufwand von Mühe und Mitteln untersucht. Die Ergeb- 
nisse dieser Versuche besagen meines Erachtens im wesentlichen nur, daß 
Gewebsüberpflanzung nur auf nahe erbverwandte Tiere möglich ist. Zum 
Teil kann die Überpflanzbarkeit auch durch die Mutation, die zur Ent- 
stehung der Krebszelle geführt hat, geändert werden (Strong). Über 
eine Allgemeindisposition zu Krebs sagen diese Versuche aber nichts aus. 
Eine dahingehende Äußerung, die ich in Übereinstimmung mit den meisten 
Autoren In der vorigen Auflage dieses Buches getan habe, nehme ich also 
zurück. Wenn L i 1 1 1 c auf Grund seiner Versuche gescliätzt hat, daß die 
Unterschiede der Transplantierbarkeit von 12 bis 14 Genen abhängig seien, 
so spricht das nur dafür, daß es sich um normale polymere Rassenunter- 
schiede handelt. 

Für die Verhütung des Krebses ergeben sich aus dem Gesagten zwei 
Wege. Erstens sind die idiokinetischen Einflüsse, durch die eine normale 
Zelle in e ine Krebszelle verwandelt werden kann, nach Möglichkeit zu ver- 

i) VgTs. 571. 



UNTÜCHTIGKEIT ZUR FORTPFLANZUNG. 



499 



meiden (chemische Schädlichkeiten, Röntgenstrahl en, radioaktive Wässer). 
Zweitens können aber auch die verschiedenen erblichen Veranlagungen zu 
bösartigen Mutationen eingeschränkt werden, und zwar durch rassenhygie- 
nische Maßnahmen. So läßt eine Polyposis des Darmes die Sterilisierung 
angezeigt erscheinen. Wenn eine bösartige Geschwulst einmal entstanden ist, 
so muß sie womöglich sofort chirurgisch entfernt werden. Auch Zerstörung 
der Geschwulst durch Röntgen- oder Radiumstrahlen ist in manchen Fällen 
erfolgreich. Da in rasch wachsenden Krebsgeschwülsten fast alle Zellkerne 
dauernd in Teilung sind, während die Kerne der sonstigen Körpcrzcllen ge- 
wöhnlich in Ruhe sind, so kann es gelingen, alle wachsenden Krebszellen 
durch die Strahlen zu zerstören, während die normalen Zellen mit ihrem 
ruhenden Kern nur wenig geschädigt werden. Prinzipiell aber sind die Ver- 
ursachung der krebsigen Entartung und die Zerstörung der Krebszellen 
durch Strahlenwirkung nur zwei verschiedene Grade eines gleichartigen Vor- 
ganges. 

i) Untüchtigkeit zur Fortpflanzung. 

„Eine hereditäre Sterilität ist eigentlich ein Nonsens", so 
schrieb ein Autor namens Hofstätter 1 ) noch im Jahre 1 926. 
Tatsächlich kann Unfruchtbarkeit sehr wohl erbbedingt 
sein, und zwar durch rezessive Erbanlagen. Nur dominante 
Sterilitätsanlagen sind praktisch bedeutungslos, weil sie als- 
bald nach ihrer Entstehung wieder ausgemerzt werden. Seit 
den grundlegenden Entdeckungen M u 1 1 e r s wissen wir, daß 
nächst den letalen Mutationen die sterilisierenden zu den häu- 
figsten Mutationen überhaupt gehören (vgl.S. 564). Sie. äußern 
sich zum Teil geschlechtsbegrenzt, nämlich vorzugsweise im 
weiblichen Geschlecht, weil die Bildung weiblicher Keimzellen 
leichter gestört werden kann als die männlicher. Wir müssen 
heute annehmen, daß auch beim Menschen die meisten Fälle von 
Unfmchtbarkeit, für die eine äußere Ursache nicht aufgefunden 
werden kann, auf rezessiven krankhaften Erbanlagen beruhen. 

Da einfach rezessive letale und sterilisierende Mutationen 
recht häufig neu entstehen, aber nur bei homozygotem Zusam- 
mentreffen sich selbst ausmerzen, häufen sie sich in mensch- 
lichen Sippen und ebenso in Haustierzuchten mehr oder weni- 
ger an. Da die meisten dieser Erbanlagen durch normale Allele 
überdeckt werden, werden sie hauptsächlich bei Verwandtenehe 
bzw. Inzucht wirksam. So erklärt sich die Erfahrung der Tier- 
züchter, daß Inzucht die Fruchtbarkeit herabsetzt und in der 
Folge zu völliger Sterilität führen kann. Die Herabsetzung der 
Fruchtb arkeit beruht auf dem Absterben befruchteter Eier in- 

: ) Hofstatt er, R. Sterilität des Weibes. In Marcuses Hand- 
wörterbuch der Sexualwissenschaft. 2. Aufl. Bonn 1926. Marcus und Weber. 
S- 757- 



500 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



folge homozygoter letaler Gene. Während normalerweise eine 
Sau rund ein Dutzend Ferkel bekommt, sind es bei Inzucht da- 
her oft viel weniger. Zu dieser Wirkung der letalen Gene 
kommt weiterhin die der sterilisierenden. Individuen, die 
solche homozygot enthalten, sind völlig unfruchtbar; und da 
mehrere verschiedene sterilisierende Gene in einer Erbmasse 
vorhanden sein können, kann unter Umständen der Hundert- 
satz der sterilen Nachkommen weit über 250/0 hinausgehen. 
Dabei macht die Inzucht als solche einen Stamm mit unver- 
sehrter Erbmasse weder steril noch bringt sie ihn sonst zur 
Entartung (vgl. S. 582). 

Freilebende Tiere und Pflanzen enthalten anscheinend im Durchschnitt 
viel weniger letale und sterilisierende Erbanlagen als Haustiere und Kultur- 
pflanzen. Ich habe in früheren Jahren viele Schmetterlingsartcn gezogen und 
in der ersten Inzuchtgcncration meist weder ein Absterben befruchteter 
Eier noch sterile Individuen beobachtet. Bei weiterer Inzucht pflegen aber 
beide Erscheinungen bald aufzutreten und der Zucht ein Ende zu machen. 
Auch Pflanzen aus der freien Natur zeigen in der ersten Generation nach 
Selbstbestäubung meist weder Letalität noch Sterilität. Die relative Selten- 
heit letaler und sterilisierender Gene bei freilebenden Tieren und Pflanzen 
ist vermutlich aus zwei verschiedenen Ursachen zu erklären. Erstens ent- 
stehen Mutationen in der freien Natur überhaupt seltener als unter den Be- 
dingungen der Domestikation, Zweitens werden die auch dort entstehenden 
letalen und rezessiven Mutationen infolge häufiger Inzucht bzw. Selbst- 
bestäubung in der freien Natur häufiger homozygot und damit häufiger aus- 
gemerzt als in der Domestikation. Die freilebenden Tiere und Pflanzen sind 
gewissermaßen gegen Inzucht bis zu einem gewissen Grade immunisiert. 
Selbstbesläubende Pflanzen wie Bohnen und Erbsen enthalten praktisch 
überhaupt keine Sterililätsgene. 

Es ist anzunehmen, daß die Dinge beim Menschen grund- 
sätzlich genau so liegen, wie bei der Obstfliege Drosophila und 
bei den Haustieren. Es ist also zu vermuten, daß durch Homo- 
zygotwerden letaler Gene in zahlreichen Fällen befruchtete Eier 
absterben, ohne daß dies sich auffällig zu äußern braucht. In 
Fällen, wo das Absterben erst auf einer weiter fortgeschritte- 
nen Stufe der Embryonalentwicklung erfolgt, tritt es als Fehl- 
geburt in die Erscheinung. Homozygotwerden sterilisierender 
Gene hat Unfruchtbarkeit zur Folge. 

Eine derartige erbbedingte Unfruchtbarkeit kommt sicher 
auch bei Männern vor. Fälle von Azoospermie (Fehlen von 
Samenzellen), die nicht durch äußere Schädlichkeiten wie Go- 
norrhöe oder Röntgenstrahlen verursacht sind, sind als erbbe- 
dingt anzusehen. Auch abnorme Kleinheit und völliges Fehlen 
der männlichen Keimdrüsen dürfte in der Regel erbbedingt 
sein. Eine derartige Hypoplasie der Hoden scheint meist auch 



UNTÜCHTIGKEIT ZUR FORTPFLANZUNG. 



501 



die primäre Ursache eines Kryptorchismus zu sein. Auch durch 
erbbedingte Hypospadie kann die Fortpflanzungsfähigkeit be- 
einträchtigt oder aufgehoben sein. Im übrigen sei betont, daß 
nur eine Minderheit der Fälle von Unfruchtbarkeit erbbedingt 
ist'; wesentlich häufiger sind äußere Schäden, insbesondere 
Gonorrhöe, die Ursache. 

Nach Fürbringcr 1 ) findet sich „idiopathische" oder „essentielle" 
Sterilität verhältnismäßig häufig bei osteuropäischen Juden. Die Hoden sind 
in solchen Fällen scheinbar normal entwickelt, insbesondere auch die spezifi- 
schen Zellen des Keimepithels. Hormone werden offenbar normal gebildet; 
aber es findet keine Bildung von Samenzellen statt. Man muß rezessive 
Erbanlagen als Ursache dieser Unfruchtbarkeit vermuten. 

Auch im weiblichen Geschlecht ist Gonorrhöe zwar die 
häufigste Ursache von Unfruchtbarkeit; doch kommen krank- 
hafte Erbanlagen daneben immerhin wesentlich in Betracht. 
Manche von diesen sterilisierenden Erbanlagen äußern sich 
vermutlich nicht in deutlichen Anomalien des Körperbaus 
oder der Geschlechtsorgane. In andern Fällen treten sie 
als Infantilismus in die Erscheinung. Mangelhafte Ent- 
wicklung der Gebärmutter wird öfter bei mehreren weiblichen 
Mitgliedern einer Familie beobachtet. Durch Infantilismus ist 
ein großer Teil aller Fälle von Unfruchtbarkeit der Ehe be- 
dingt, schätzungsweise bei uns vielleicht ein Drittel. Wenn es 
keine Gonorrhöe gäbe, so würden wohl mehr als drei Viertel 
aller Fälle von Unfruchtbarkeit durch Infantilismus bedingt 
sein. Auch dort, wo noch Empfängnis eintritt, scheint bei infan- 
tilis tischem Uterus oft eine normale Entwicklung der Frucht 
nicht mehr möglich zu sein, und es tritt infolgedessen häufig 
Fehlgeburt ein. Bei den nicht absichtlich herbeigeführten Fehl- 
geburten ist der Infantilismus nächst der Syphilis und krank- 
haften Erbanlagen der Frucht wohl als dritthäufigste Ursache 
anzusehen. 

Galton 2 ) hat eine Anzahl Sippen beobachtet, in denen Einkind- 
sterilität gehäuft auftrat, und er hat diese Unfruchtbarkeit als eine Folge 
erblicher Veranlagung gedeutet. Da indessen Einkindsterilität eine typische 
Folge gonorrhoischer Infektion der Frau ist, ist es sehr schwer festzustellen, 
ob in einer Sippe wirklich erblich bedingte Unfruchtbarkeil: oder Unter- 
fruchtbarkeit vorkomme. Auch Lange 3 ) hat zwei Sippentafeln veröffent- 
licht, in denen Einkindsterilität neben völliger Unfruchtbarkeit beobachtet 
wurde. 



1 ) Fürbringer, F. Sterilität des Mannes. Marcus es Handwör- 
terbuch. S. 747. 

2 ) Galton, F. Idereditary Genius. London 1869. 

8 ) Nach Bluhm, A. Zur Erblichkeit der Unfruchtbarkeit. ARGB. 
Bd. 18, IL 4. 1926. 



502 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

Die Fortpflanzungstüchtigkeit von Frauen wird durch 
Myome wesentlich beeinträchtigt. Es sind das Geschwülste in 
der Muskulatur der Gebärmutter, die Kindskopfgröße und dar- 
über erreichen können, im übrigen aber nicht bösartig sind. 
Es gibt ausgesprochene Myomfamilien, besonders in der jüdi- 
schen Bevölkerung. 

Von wesentlicher Bedeutung für die Gebärtüchtigkeit der 
Frauen ist die Große und Gestalt des knöchernen Beckens, das 
der kindliche Kopf bei der Geburt passieren muß. Bei uns stel- 
len sich Geburtsschwierigkeiten in 3 bis 50/0 allein infolge zu 
engen Beckens ein. Die häufigste Ursache zu enger Becken ist 
die Rachitis. Aber auch abgesehen davon, daß die Rachitis 
durch erbliche Anlagen wesentlich mitbedingt ist, ist die erb- 
liche Veranlagung in vielen Fällen entscheidend für zu enge 
Becken. Ganz besonders scheint das für das sogenannte 
allgemein verengte Becken zu gelten. 

Die erblichen Beckenformen haben Beziehung zu den geographischen 
Rassen. Das breiteste Becken scheint der nordischen (bzw. daüschen) Rasse 
eigen zu sein. Viel weniger breite Becken haben die mongoliden Rassen (ge- 
nauer bekannt von Japanern und Maiayen). Die negriden. Rassen haben die 
verhältnismäßig schmälsten Becken. Im allgemeinen sind Form und Größe 
des mütterlichen Beckens und des kindlichen Kopfes aneinander angepaßt. Es 
liegt auf der Hand, daß in gemischtrassigen Bevölkerungen daher oft Ge- 
burtsschwierigkeiten auftreten werden. Aus Erfahrung an der Rinderherde 
meines Vaters kann ich berichten, daß nach Kreuzungen der schlanken wild- 
farbigen Schwyzcr Rindviehrasse mit der breiten schwarzweißen holländi- 
schen bzw. ostfriesischen viel Öfter Geburtsschwierigkeiten auftreten als inner- 
halb der beiden Eltcrrassen. Dabei dürfte freilich auch das Luxuriieren 
der Bastarde eine Rolle spielen, das möglicherweise auch bei Kreuzung 
menschlicher Rassen bzw. in gemischtrassigen Bevölkerungen zu Geburts- 
schwicrigkeiten führen kann. 

Die Chondroclystrophle und die Intersexualität, die natür- 
lich auch fortpflanzungsuntüchtig machen, sind schon an an- 
derer Stelle besprochen worden. Nach Wagner 1 ) treten auch 
Schwangerschaftskrankheiten wie die Hyperemesis, die Eklam- 
psie und die Chorea gravidarum familiär gehäuft auf. 

Gauss 2 ) hat gefunden, daß die in der Freiburger Frauen- 
klinik beobachteten engen Becken unverhältnismäßig häufig 

*) Wagner, G. A. Frauenkrankheiten und Störungen der physiolo- 
gischen Funktionen der Frau unter dem Gesichtspunkt der Vcrerblichkek. 
In dem Sammelwerk „Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank?" Jena 1935. 
G. Fischer. 

a ) Gauss, C. J. Über die Bedeutung der geographischen und sozialen 
Faktoren für die Ätiologie des engen Beckens. Sitzungsbericht der Mittel- 
rhein.. GeseIJsch. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie. Frankfurt 1912. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



503 



aus dem hohen Schwarzwald stammten, wo der Anteil der soge- 
nannten alpinen (jedenfalls nicht nordischen) Rasse größer ist 
als in der Rheinebene. Daneben mag die Kalkarmut des hohen 
Schwarzwaldes, die sich z. B. auch in mangelhafter Geweih- 
biidung bei den Rehböcken äußert, mitspielen. In den Küsten- 
ländern der Nord- und Ostsee, wo die Bevölkerung ganz über- 
wiegend von nordischer (bzw. dalischcr) Rasse ist, sind Ge- 
burtsschwierigkeiten infolge enger Becken viel seltener. Auch 
die größere Häufigkeit enger Becken in den unteren Schich- 
ten der Bevölkerung dürfte wenigstens zum Teil mit derartigen 
Rassenunterschieden zusammenhängen. Nach Agnes B 1 u h m l ) 
waren im Jahre 1904 in Baden bei 6,40/0 aller Geburten ge- 
burtshilfliche Operationen nötig, in Norwegen nur bei 2,80/0, 
obwohl Norwegen reichlicher mit Geburtshelfern versehen war. 

Für die Tüchtigkeit zur Mutterschaft ist auch die Still- 
fähigkeit wesentlich. Wenn man alle Frauen, die ihr Kind 
nicht wenigstens 6 Monate an der Brust ernähren können, mit 
Agnes Blüh m als nicht voll stillfähig ansieht, so liegt mangel- 
hafte 'Stillfähigkeit bei etwa einem Drittel der deutschen Frauen 
vor. Nicht ganz selten kommt auch völlige Stillunfähigkeit vor. 
Einflüsse der Umwelt spielen als Ursachen der Stillunfähigkeit 
und Stillschwäche keine praktisch wesentliche Rolle; dagegen 
kommen diese Mängel ausgesprochen sippenweise vor und sind 
daher im wesentlichen erbbedingt. Für die Ansicht v. Bun- 
ges, daß Stillunfähigkeit in erster Linie durch elterlichen Al- 
koholismus verursacht werde, fehlen einwandfreie Belege. 

Ich habe den Eindruck, daß Stillunfähigkeit oft mit infan- 
tilem und andererseits auch mit maskulinem Habitus cinher- 
geht. Jedenfalls scheint mir die Sache nicht so zu liegen, daß 
spezifische Erbanlagen sich nur in Stillunfähigkeit und keinen 
andern Zeichen äußern. Bekannt ist, daß Unterernährung Still- 
schwäche zur Folge hat. Entsprechend können vermutlich man- 
cherlei Schwächezustände auch Stillschwäche verursachen. 



k) Erbliche Nervenleiden 



Unter Nervenleiden sind hier solche Krankheiten des Nervensystems 
verstanden, die sich vorwiegend in körperlichen Erscheinungen äußern. Jene 
Störungen des Zentralnervensystems, die sich hauptsächlich seelisch äußern, 
werden unter den erblichen Psychopathien besprochen, mögen sie auch wie 
die Neurasthenie und die Hysterie schönfärberisch als „Nervenleiden" be- 



x ) Bluhm, Ä. Zur Frage nach der generativen Tüchtigkeit der deut- 
schen Frauen. ARGB. 1912. 



504 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



zeichnet werden. Einige echte Nervenleiden sind schon in früheren Kapiteln 
behandelt worden, so die Ptosis des Oberlids, die Sehnervverödung und das 
Gliom der Netzhaut unter den Augenleiden, die Ilörnervverödung unter den 
Ohrenleiden, die Neurofibromatose, die Raynaudsche Krankheit und das 
erbliche chronische Ödom unter den Hautleiden, das Quinckesche Ödem 
und die Migräne unter den Diathesen; die Epilepsie wird unter den Psycho- 
sen besprochen. 

Über die erblichen. Nervenleiden liegt eine zusammenfas- 
sende Darstellung von Curtius 1 ) vor. 

Zu den erblichen Nervenleiden werden herkömmlichcr- 
weise auch die fortschreitenden M uskeldy s tr o phien ge- 
rechnet, weil che Analogie mit andern Formen fortschreitenden 
Muskelschwundes dafür spricht, daß es sich im Grunde um ein 
Versagen von Teilen des Nervensystems handelt. Die fort- 
schreitenden Muskeldystrophien äußern sich in einem allmäh- 
lichen Schwächerwerden gewisser Muskelgruppen, das im Lauf 
von Jahren oder Jahrzehnten bis zu völliger Hilflosigkeit füh- 
ren kann. Es gibt aber auch leichtere Formen, bei denen das 
Leiden nur sehr langsam fortschreitet oder zu einem gewissen 
Stillstand kommen kann. Äußerlich können die befallenen 



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Fig. 168. 

Progressive Muskeldystrophie 
(fortschreitender Muskelschwund) nach Kehr er 3 ) 

Muskelgruppen infolge Vermehrung des Fettgewebes in eigen- 
artig unharmonischer Verteilung teilweise an Umfang zuneh- 
men ( Pseudohypertrophie) . 

Es sind mehrere Sippen bekannt geworden, in denen fort- 
schreitende Muskeldystrophie einfach dominanten Erbgang 
zeigt. Ein Beispiel ist die abgebildete Sippe nach Kehrer 2 ). In 
diesen Sippen werden in der Regel zuerst und hauptsächlich 



1 ) Curtius, F. Die Erbkrankheiten des Nervensystems. Stuttgart 
1935. Erike. 

2 ) K e h r e r , F. A. Beitrag zur Lehre von den hereditären Muskelatro- 
phien. Dissertation. Frciburg i. E. 1908. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



505 



die Muskeln des Schultergürtels, der Oberarme und des Ge- 
sichts befallen ; auch pflegt das Leiden verhältnismäßig leicht 
zu verlaufen und erst gegen das dritte Jahrzehnt zu beginnen, 
so daß es in dominantem. Erbgang weitergegeben werden kann. 
Männliche und weibliche Kranke sind in diesen Sippen unge- 
fähr gleich häufig. 

Häufiger sind Sippen, in denen fortschreitende Muskel- 
dystrophie eine oder mehrere Generationen überspringt. Und 
zwar sind gesunde Überträger, der Anlage meist weiblichen Ge- 
schlechts, während männliche Anlageträger regelmäßig selbst 
zu erkranken pflegen. Weitz 1 ) und Davidenkow 2 ) neh- 
men an, daß es sich in diesen Sippen um dominante Anlagen 
von teilweise geschlechtsbcgrenzter Äußerung handle. Da in 
diesen Sippen etwas über doppelt so viele kranke Männer als 
Frauen vorkommen, scheint die Anlage im weiblichen Ge- 
schlecht sich bei nicht ganz der Hälfte der Anlageträgerinnen 
zu äußern. Das Leiden beginnt in diesen Sippen oft schon im 
Kindesalter an den Muskeln des Beckengürtels und der Ober- 

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Fig. t 69. Muskeldystrophie nach K ostako w. 

schenke!, die auch später hauptsächlich, befallen sind. Meist 
besteht ausgesprochene Pseudohypertrophie. Gegen geschlechts- 
gebundenen Erbgang spricht gelegentliches gleichzeitiges Vor- 
kommen des Leidens bei Vater und Sohn. 

Es sind allerdings einige wenige Sippen bekannt geworden, die sich 
nur recht gezwungen mit diesem Erbgang vereinigen lassen, die vielmehr 
das typische Bild des rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgangs zeigen, 
so insbesondere eine von Kostakow 3 ) angegebene Sippentafel. Diese 



r ) Weitz, W. Über die Vererbung bei Muskeldystrophie. Deutsche 
Zcitschr. für Nervenheilkundc 192 1 . 

s ) Davidenkow, S. Über die Vererbung der Dystrophia musculo- 
rum progressiva und ihrer Unterformen. ARGE. Bd. 27. H. 2. S. 169. 1930. 

3 ) Kost a k o w , H. Die progressive Muskeldystrophie, ihre Verer- 
bung und Glykokollbehandlung. Deutsches Archiv für klinische Medizin. 
Bd. 176. H. 5. S. 467, 1934. 



506 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

Sippe ist aber klinisch und genealogisch nicht so gründlich beschrieben, wie 
es wünschenswert wäre. Das sollte womöglich nachgeholt werden. 

Daß es außer den genannten Formen auch (nicht ge- 
schlechtsgebundene) rezessive Muskeldystrophien gibt, scheint 
mir sicher zu sein. Schon ein Teil der von Weitz beigebrach- 
O* q ten Sippentafeln erklärt sich 

* — . » so am ungezwungensten. Eine 



6 6 6" q 6 c ö solche sippe zeigt Fi& - I7 °- 



er 9 g er 



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9 er ö* #"9 



Dafür spricht insbesondere 
auch die schon von Weitz 
festgestellteüberdurchschnitt- 
liehe Häufigkeit von Bluts- 
verwandtschaft bei den El- 
tern der Kranken. Offenbar 
rezessiven Erbgang zeigt auch 
die von Minkowski und 
Srdler 1 ) sorgfältigerforschte 
Sippe. Sie umfaßt 13 Kranke, die sämtlich aus Verwandten-. 
ehen hervorgegangen sind, die aber in keinem Fall einen kran- 
ken Elter oder sonst einen kranken Vorfahren hatten. Dreimal 
trat in dieser Sippe das Leiden bei zwei Geschwistern auf. 



Fig. 170. 
Muskeldystrophie nach Weitz. 



Ein gemeinsames Ahnenpaar 



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999JC? $äc?c?Q ä 



9 



Fig. 171. Muskeldystrophie nach Minkowski und S i d 1 e r. 
(Ausschnitt, umgezeichnet.) 

Rezessiv erbbedingt sind vermutlich auch die meisten isolierten Fälle 
von Muskeldystrophie, d. h. solche, in deren Sippe keine weiteren Fälle 
aufgefunden wurden. Nach Weitz kamen auf 54 „isolierte" Fälle 12 „fami- 
liäre", d. h. Geschwisterreihen mit 2 oder mehr Kranken. Unter der An- 

!-) Minkowski, M. und S i d 1 e r , A. Klinische und genealogische 
Untersuchungen zur Kenntnis der progressiven Muskeldystrophie. Archiv 
der Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 3. S. 239. 1927/28. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



507 



nähme, daß die Familie im Durchschnitt 3 Kinder hat, wären bei einfach 
rezessivem Erbgang auf 54 isolierte Falle 20+4 familiäre zu erwarten. 
W e i t z ist geneigt, die isolierten Fälle als neue Mutationen aufzufassen, die 
bei grundsätzlich dominantem Erbgang nur deshalb isoliert blieben, weil 
sie wegen ihres Leidens nicht zur Fortpflanzung kämen. Meiner Ansicht nach 
bedarf es aber dieser Annahme nicht, da sich das verhältnismäßig häufige 
Vorkommen isolierter Fälle ungezwungen aus rezessiver Erbbcdingtheit er- 
klärt. Zu entscheiden wäre die Frage durch systematische Erforschung der 
Blutsverwandtschaft der Eltern; insbesondere wären die „isolierten" Fälle in 
dieser Hinsicht mit den „familiären" zu vergleichen. 

Jedenfalls ist die klinische Gruppe der Muskeldystrophien genetisch 
ziemlich heterogen. Curtins ruft zwar aus: „Ist es tatsächlich berechtigt, 
Erb's mit großem Scharfblick und genialer Intuition geschaffenes Lebens- 
werk, den Nachweis der Einheit der verschiedenen Dystrophieformen, preis- 
zugeben P" 1 ) Man darf aber vermuten, daß die Lehre E r b s wesentlich 
anders aussehen würde, wenn zu seiner Zeit schon die moderne Erblchre 
existiert hätte. Curtius sagt übrigens gleich darauf: „Daß verschiedene 
Erbgänge der Dystrophie vorkommen, scheint sicher zu sein." Und dann 
wieder: „An der tieferen Verwandtschaft der verschiedenen klinischen und 
erbbiologischen Formen der Dystrophie muß u. E. vorläufig festgehalten 
werden." Es fragt sich, was hier die Worte „tiefer" und „vorläufig" zu be- 
deuten haben. Wenn das Wort „tiefere Verwandtschaft" eine grundsätzlich 
gleichartige Pathogenese in morphologischer und funktioneller Hinsicht oder 
eine praktisch-klinische Zusammengehörigkeit bedeuten soll, so ist nichts 
dagegen zu sagen. Genetisch aber gibt es sicher verschiedene Biotypen der 
Muskcldystrophie. Jeder Sippe kommt ein bestimmter Durchschnittstypus 
zu, der je nach der sonstigen Erbmasse individuelle Abweichungen zeigen 
kann und der auch wohl bis zu einem gewissen Grade entwicklungslabil ist, 
während die Umweltlabilität gering zu sein scheint. 

Die neutrale Muskel- m (5 

atrophie beginnt meist schon '— r— 1 

im Kindesalter mit einem 
Schwächerwerden und Schwund 
der Muskeln der Unterschenkel 
und Füße; einige Jahre später 
werden auch die Unterarme und 
Hände mit einbezogen. Gleich- 
zeitig veröden die entsprechen- 
den Nerven. 

Weitz 2 ) berichtet in einer zusammenfassenden Bearbeitung über 30 
Sippen mit einfach dominantem Erbgang. Eine solche Sippe zeigt Fig. 172 
nach Davidenkow 3 ), In diesen schreitet das Leiden nur sehr langsam 



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9 



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Fig. 172. 

Neurale Muskelatrophic 

nach Davidenkow. 



*) A.a.O. S. 90. 

2 ) Weitz, W. Über die Vererbung der neurotischen Muskelatrophie 
Charcot-Marie. Bibliographia geneüca Bd. 6. S.91. 1930. 

3 ) Davidenkow, S. Über die neurotische Muskelatrophie Charcot- 
Marie. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 107 und 
10S. 1927. 



508 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 




fort, ohne das Leben direkt zu bedrohen. Beide Geschlechter sind gleich 
hauüg befallen. Übertragung durch Gesunde kommt in der Regel nicht vor. 
Für die Ansicht Davidenkows, daß die dominante Muskelatrophie 
vorwiegend auf das männliche Geschlecht begrenzt sei, finde ich keine ge- 
nügenden Belege. 

Dagegen kommt offenbar, wenn auch sehr selten, eine rezessive ge- 
schlechtsgebundene Muskelatrophie vor. Die Sippen tafcl von H er ring- 

harn 1 ) scheint mir nicht 
wohl anders gedeutet wer- 
den zu können (Fig. 173). 
Die linke Seite der Sip- 
pentafel zeigt das Bild 
dieses Erbgangs ganz 
typisch. Fünf Töchter 
eines kranken Mannes, die 
selbst phänotypisch ge- 
sund sind, übertragen das 
Leiden auf einen Teil 
ihrer Söhne, während vier 
Söhne des kranken Vaters 
gesund bleiben. Auf der 
rechten Seite der Sippen- 
tafel hat allerdings einmal 
ein kranker Vater einen 
kranken Sohn; da über die Mutter des kranken Sohnes in Herringlia m s 
Arbeit nichts berichtet ist, steht nichts der Annahme im Wege, daß diese 
mit ihrem Manne blutsverwandt und selbst Trägerin der Anlage war. Daß 
die Sippentafel Hcrringhams in den älteren Generationen nicht genau 

ist, geht übrigens auch daraus hervor, daß 
die Geschwister nicht in der Reihenfolge 
der Geburt sondern zuerst die männlichen 
und dann die weiblichen eingezeichnet sind. 

Daß es auch progressive Mus- 
kelatrophie von einfach rezessivem 
Erbgang gibt, zeigt neben einigen 
anderen Sippentafeln besonders 
typisch eine von Margarete 
S teinthal 2 ) auf Veranlassung 
von Weitz veröffentlichte Sippe. 

Bemerkens werterweise verläuft 
diese rezessive Muskelatrophie 
schwerer bzw- schneller als die 
dominante. In der von Steinthal 



Neurale M u s k e 1 a t r o p h i c 
nach H erri n g h a m. 



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9 d cf 



I II LI 



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9 



1 1 ij 1 1 
99^99 



Fig. 174. Neurale Muskel- 

a t r o p h i e nach M argarete 

S t e i 11 1 h al. 



1 ) II e r r i n g h a m. Muscular atrophy of the peroncal type affecting 
many members of a family. Brain. Bd. 11. S. 230. 1889. 

2 ) S teinthal, M. Zur Vererbung der neuralen progressiven Muskel- 
atrophic. ARGB. Bd. 21. H. 4. S. 425. 1929. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



)09 



beschriebenen Sippe waren die kranken Mitglieder schon im 
dritten Jahrzehnt an Händen und Füßen so gut wie ganz ge- 
lähmt. In anderen Sippen ist rezessive Muskelatrophie mit Ver- 
dickung der Nerven und schweren zcntralnervösen Symptomen 
(Pupilicnstarre, Nystagmus, Ataxie) beobachtet worden. 

D a v i d e n k o w hat j 2 verschiedene Biotypen neuraler Muskelatrophie 
unterscheiden zu können gemeint und die Vermutung ausgesprochen, daß 
diese im Verhältnis multipler Allelie standen. Es kann zwar sein, daß das 
für einzelne zutrifft; eine Möglichkeit des Beweises besteht indessen nicht; 
und es ist genau so gut möglich, daß die verschiedenen Erbanlagen zu 
neuraler Muskelatrophie zueinander nicht allel sind, sondern verschiedene 
Gene betreffen. Der geschlechtsgebundene Biotypus ist den autosomalen ja 
sicher nicht allel. Der normale Zustand der betreffenden Teile des Zentral- 
nervensystems ist nicht durch ein einziges sondern durch zahlreiche Gene 
bedingt; und durch Mutation jedes dieser Gene kann möglicherweise Muskel- 
atrophie verursacht werden. Die Zald der möglichen Erbleidcn ist daher un- 
begrenzt; und es wäre nicht verwunderlich, wenn jede Sippe, in der Muskel- 
atrophic überhaupt vorkommt, ihren besonderen Biotypus hätte. 

Ob die „familiäre hypertrophische Neuritis", bei der 
keine fortschreitende Muskelatrophie eintritt, von der Gruppe der neuralen 
Muskelatrophien grundsätzlich zu trennen ist, ist wohl fraglich. 

Zu den neuralen Muskelatrophien kann man auch die sogenannte 
spinale Muskelatrophie rechnen, die im 4. Jahrzehnt mit einem 
Schwunde der Handmuskeln zu beginnen pflegt und die auf einer Verödung 
der Vorderhornzellcn des Rückenmarks und der von dort ausgehenden Ner- 
ven beruht. Da sie öfter als Spätfolge einer spinalen Kinderlähmung be- 
obachtet worden ist, liegt es nahe anzunehmen, daß hier zu einer schwachen 
Erbanlage eine äußere Schädlichkeit hinzukommt. Möglicherweise bedeutet 
die erbliche Schwäche der Vorderhörner schon eine Disposition zu Polyo- 
myelitis; denn von allen mit dem betreffenden Virus infizierten Kindern er- 
krankt offenbar nur ein kleiner Teil. 

Schließlich gibt es eine schon im Säuglingsalter beginnende bald zum 
Tode führende rezessive spinale Muskelatrophie, die als W e r d 11 i g - II o f f - 
m a n n s c h c Krankheit bezeichnet wird. Auch die sogenannte B u 1 - 
bärparalyse, die auf einem Zugrundegehen der Kerne der Medulla 
oblongata beruht, ist wohl sicher erbbedingt. Auch das Endstadium der 
spinalen Muskelatrophie kann als Bulbärparalyse erscheinen. 

Die spastische Spinalparalyse (krampfige Rük- 
kenmarkslähmung) äußert sich in einer meist im 2. Jahrzehnt 
beginnenden, langsam im Laufe der Jahre zunehmenden spa- 
stischen (krampfigen) Lähmung und Versteifung der Beine. 
Das Leiden beruht auf einem Zugrundegehen von Leitungs- 
bahnen des Rückenmarks, zumal der Pyramidenseitenstrang- 
bahnen. Bremer 1 ) hat eine Sippe beschrieben, in der es 
durch 6 Generationen in ununterbrochener Linie verfolgt wer- 



l ) Bremer, F, W. Klinischer und erbbiologischer Beitrag zur Lehre 
von den Heredodegenerationen des Nervensystems. Archiv für Psychiatrie 
66. 1922. Nr. 3/4. 



510 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

den konnte. Auch sonst sind einige Sippen mit dominantem 
Erbgang bekannt geworden 1 ). Häufiger aber sind anscheinend 
rezessive Fälle. Nach Bremer fand sich bei 100 Fällen 2omal 
Blutsverwandtschaft der Eltern. Auch liier pflegen die rezes- 






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Fig. 175. Spastische Spinalparalyse. Nach Bremer. (Ausschnitt.) 

siven Fälle schwerer als die dominanten zu verlaufen. Das Bild 
rezessiver Erbbedingtheit zeigt z. B. die abgebildete Sippen- 
tafel nach Erb 2 ). : 

Das Bild spastischer Spinalparalyse kann anscheinend auch durch 
äußere Ursachen entstehen. Ich vermute indessen, daß isolierte Fälle oft zu 
Unrecht auf äußere Schädlichkeiten zurückgeführt worden sind. 

Die amyotrophisc he Lateralsklerose 
vereinigt in sich Symptome der spastischen Spinalpara- 
lyse mit solchen progressiver Muskelatrophie. Sie würde 
wohl zweckmäßiger als spastische Muskelatro- 
phie bezeichnet werden. Familiäres Auftreten ist nur in 
verhältnismäßig wenigen Fällen beobachtet worden. 
Über Blutsverwandtschaft der Eltern ist nichts Zuver- 
lässiges bekannt. Das Bild der amyotrophischen Lateral- 
sklerose kann auch durch Syphilis des Zentralnerven- 
systems entstehen. 

Zerebrale Kinderlähmung („Littleschc 
Krankheit"), die sich in spastischer Starre der Beine 
äußert, kann durch Zerstörung gewisser Teile des Ge- 
hirns, z. B. infolge von Verletzungen bei der Geburt, 
entstehen, in andern Fällen aber auf Grund erblicher 
Anlage, wie das Vorkommen bei Geschwistern zeigt. 



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Fig. 176. 

Spastische 
S p i n a 1 p a r a 1 y s e 
Nach Erb. 



*) T h ums, K. Zur Klinik und Erbbiologie der spastischen Heredode- 
generation des Nervensystems. Zeitschrift für Konstitutionslehre. Bd. 16. 
H. 5. 1932. 

2 ) Erb. Über hereditäre spastische Spinalparalyse. Deutsche Zeitschr. 
für Nervcnheilkundc. Bd. 6. S. 137. 1895. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



511 



Die erbliche spastische Paraplegie (Diplegie, Beidseitenlähmung), 
die mit Starre der Beine, Augenzittern, Schielen, Abnahme des Sehvermö- 
gens und der geistigen Fähigkeiten einhergeht, scheint meist rezessiv zu sein. 
Anscheinend gibt es verschiedene Formen, die teils im Säuglingsaltcr, teils 
im Kindesalter und teils erst im späteren Jugendalter beginnen. In einer von 
Wolfslast 1 ) erforschten Sippe zeigt das Leiden rezessiven geschlechts- 
gebundenen Erbgang. 



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Fig. 177. 
Spastische Paraplegie (Beidseitenlähmung). Nach D avidenkow 2 ). 

Die Pelizaeus-Merz bach ersehe Krankheit beginnt in 
früher Jugend mit Zittern und Bewegungsstörungen, denen sich weiterhin 
spastische Lähmungen und geistige Schwäche hinzugesellen. Gegen Ende 
des zweiten Jahrzehnts pflegt der Tod einzutreten. Das Leiden beruht auf 
einem frühzeitigen Zugrundegehen (oder angeborenen Mangel ?) der Mark- 
scheiden der Pyramidenbalmen. Es ist bisher nur in zwei Sippen beobachtet 
worden. ' ' ; , . , 



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Fig. 178. 
Pelizaeus-Merzbacher sehe Krankheit. Nach Merz bach ei 3 ). 

Die hier abgebildete Sippentafel paßt zum Bilde des rezessiven ge- 
schlechtsgebundenen Erbgangs mit einer Ausnahme: den zwei kranken 
Schwestern in einer Geschwisterreihe der letzten Generation. Da der Vater 
gesund war, kann es sich nicht um homozygote Trägerinnen der Anlage 
handeln. Man darf wohl annehmen, daß die krankhafte Anlage nicht ganz 
regelmäßig rezessiv ist, sondern sich ausnahmsweise auch heterozygot im 
weiblichen Geschlecht äußern kann, wie Entsprechendes z. B. bei der erbli- 

1 ) Noch nicht veröffentlicht, nach persönlicher Mitteilung. 

2 ) Mitgeteilt von Dr. S. Weisse nberg im ARGB. ]g. 19. 1927. 

3 ) Merzbacher, L. Gesetzmäßigkeiten in der Vererbung und Ver- 
breitung verschiedener hereditär-familärer Erkrankungen. ARGB. 1909. PI. 2. 



512 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

chen Optikusatrophie vorkommt, ich verdanke Frau Dr. F a 1 1 s e n s t c i n 
in Gotha eine Mitteilung über eine weitere Generation dieser Sippe, in der 
sich noch je zwei kranke Söhne zweier gesunder Mütter finden. Eine von 
Weilz erörterte Deutung, daß die Anlage nicht geschlechtsgebunden sondern 
nur in ihrer Äußerung ganz überwiegend auf das männliche Geschlecht be- 
grenzt sei, muß immerhin als möglich anerkannt werden. Da die männlichen 
Träger des Leidens niemals zur Fortpflanzung kommen, ist eine Weiterver- 
erbung in männlicher Linie, die sonst eine Unterscheidung von dem ge- 
schlechtsgebundenen Erbgang gestatten würde, ausgeschlossen. Eine weitere 
hypothetische Erklärungsmöglichkeit, daß es sich bei den kranken Mäd- 
chen um Individuen gehandelt habe, die trotz Heterogamede (d. h. Besitz 
von nur einem Gcschlechtschromosom) sich zu vorwiegend weiblichen Indi- 
viduen entwickelt hätten, wage ich nur eben anzudeuten. 

Bei der multiplen Sklerose, die auf Krankheitsher- 
den im Gehirn und Rückenmark beruht und sich in fortschrei- 
tender spastisch-a taktischer Lähmung und Abnahme der gei- 
stigen Fälligkeiten äußert, ist Erbbedingtheit zwar vermutet, 
bisher meines E rächt ens aber nicht bewiesen worden. Cur- 
t i u s *) hat trotz eifriger Fahndung- keine deutliche familiäre 
Häufung feststellen können. Die Nachforschung vonThums 2 ), 
der bei mehreren Paaren eineiiger Zwillinge das Leiden stets 
nur bei dem einen Zwilling fand, spricht gegen eine entschei- 
dende Bedeutung der erblichen Veranlagung für die Entste- 
hung der multiplen Sklerose. Manche Autoren halten sie für 
eine Infektionskrankheit; aber auch der angebliche Befund be- 
sonderer Spirochäten hat sich nicht bestätigt. So müssen wir 
einstweilen bekennen: wir kennen die Ursachen der multiplen 
Sklerose nicht. 

Die rezessiv erbliche Wilsons che Pseudosklerose, die ähn- 
liche Symptome wie die multiple Sklerose macht, die aber im späteren Kin- 
desalter beginnend zunächst das Bild einer Leberschrumpfung zu machen 
pflegt, ist schon unter den erblichen inneren Leiden besprochen worden. 

Die diffuse Sklerose, ein seltenes tödlich endendes Leiden, das 
ähnlich der Pelizacusschen Krankheit auf einer Verödung des weißen Gehirn- 
mar'kes (des Leitungsapparates) beruht, ist in einigen Fällen bei Kindern aus 
derselben Geschwisterreihe beobachtet worden. Es seheint rezessiv erblich 
zu sein. In einer von Scholz 3 ) beschriebenen Sippe hatten beide Groß- 
väter zweier aus einer Vetternchc stammender Brüder an leichteren spasti- 
schen Störungen gelitten. Es liegt nahe, diese Störungen als Äußerungen 
der heterozygoten Anlage zu deuten. 



1 ) Curtius, F. Multiple Sklerose und Erbanlage. Leipzig 1933. 

2 ) Thuffls, K. Vorläufige Mitteilung über Zwillingsuntersuchungeu 
bei multipler Sklerose. Zentralblatt für die gesamte Neurologie der Psych- 
iatrie. Bd. 78. FL 1/2. S. 157. 1935. 

3 ) Scholz, W. Klinische, pathologisch-anatomische und erbbiologi- 
sche Untersuchungen bei familiärer diffuser Flirnsklerose im Kindesaller. 
Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 99. Ii. 5. 1925. 



ERBLICHE 'NERVENLEIDEN. 



513 



Die tuberöse Sklerose, die durch geschwulstartige Knoten im 
Gehirn, an der Flaut und in verschiedenen anderen Organen gekennzeichnet 
ist, scheint nach Siemens auf einer dominanten Anlage zu beruhen. Kli- 
nisch pflegt sich das Leiden in epileptischen Anfällen und Schwachsinn 
zu äußern. Die naevusartigen Knoten an der Plaut ähneln denen bei der 
Kecklinghausensehen Neurofibromatose. Es handelt sich anscheinend um eine 
stark entwicklungslabile Anlage, die zu recht verschiedenen Bildern führen 
kann, ähnlich wie gewöhnliche Naevi in sehr verschiedener Zahl und Lokali- 
sation auftreten können. Die epileptischen Anfälle bei diesem Leiden werden 
vermutlich durch naevusartige Herde in der Hirnrinde verursacht. 

Die Friedreich sehe Krankheit oder erbliche 
spinale Ataxie (ausfahrende Rückenmarkslähmung) be- 
ruht auf der Verödung der Hinterstränge und Hinterwurzeln 
des Rückenmarks, von Nervenbahnen, die von den Glied- 



maßen zum Gehirn 
führen. Demgemäß 
fallen die Empfin- 
dungen aus, mittels 
derer die Bewe- 
gungenkontrolliert 
werden. Das Lei- 
den beginnt in der 
Kindheit undpf legt 
im Verlauf von 
Jahrzehnten zum 
Tode zu führen. 

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schung des Erb- 



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Fig. 179. 
Fried reich sc he Ataxie 
Nach H a n h a r t. (Ausschnitt, umgezeichnet.) 
(Ausfahrende Rückenmarksiähmung). 



gangs der atakti- 
schen Rücken- 
marksiähmung hat 

sich besonders 
Hanhart 1 ) verdient gemacht. Eine Sippentafel nach Han- 
hart gebe ich in Fig. 179 wieder. 

In 21 Geschwisterreihen fand Hanhart unter 118 Ge- 
schwistern 29 kranke, das sind 25 + 4%- Noch entscheiden- 
der spricht die große Häufigkeit der Blutsverwandtschaft der 

!) Hanhart, E. Beiträge zur Konstitutions- und Vcrerbungsfor- 
schung an Hand von Studien über hereditäre Ataxien. Schweizerische med. 
"Wochenschrift 1923. Nr. 6. 

II anhart, E. Weitere Ergebnisse einer Sammelforschung über die 
Friedrciehsche Krankheit in der Schweiz. Schweizer Archiv für Neurologie 
und Psychiatrie. Bd. 13. S. 297. 1923. 

H anhart, E. Über die Bedeutung der Erforschung von Inzuchtsge- 
bieten. Schweizerische med. Wochcnschr. 1924. Nr. 50. 



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FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



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1903 1Sm. 131h 1921 



Eltern für rezessiven. Erbgang. Von 46 Fällen Hanharts 
stammten 8, das sind 17 -j- 5 o/ 0j aus Ehen von Geschwister- 
kindern und 26; das sind 56 + 7%, aus nachweisbaren Ver- 
wandtenehen überhaupt. Der ganzen Sachlage nach ist aber 
anzunehmen, daß in weiter zurückliegenden Generationen beide 
Eitern in jedem Falle gemeinsame Vorfahren haben, von denen 
sie die rezessive Anlage überkommen haben. Auch wo das Lei- 
den nur ein einziges Kind in einer Geschwisterreihe befällt, ist 
es daher ais ererbt anzusehen. Einen solchen Fall zeigt Fig. 180. 

In diesem Falle Hegt das gemeinsame 
Stammelternpaar, von dem beide Ei- 
tern des kranken Kindes die rezessive 
Erbanlage bekommen haben, fünf Ge- 
nerationen zurück. Obwohl das Leiden 
weder bei jenem Stammeltcrnpaar noch 
in den Generationen seitdem beobachtet 
worden ist, muß man annehmen, daß 
die Erbanlage schon so lange in der 
Sippe vorhanden war; und es ist na- 
türlich nicht gesagt, daß sie gerade 
zur Zeit jenes „Stammelternpaares" um 
Fig. 180. die Mitte des 18. Jahrhunderts neu ent- 

Friedreichsche Ataxie, standen sei; sie kann vielmehr noch 

Jahrhunderte weiter zurückreichen, ohne 
sich jemals geäußert zu haben. Es ist 
sogar nicht unwahrscheinlich, daß aile 
Fälle von Friedrcichscher Ataxie in der 
Schweiz letzten Endes auf eine gemeinsame Quelle zurück- 
gehen. Dafür spricht der Umstand, daß das Leiden keineswegs 
überall vorkommt. Gerade in der Schweiz aber ist es verhält- 
nismäßig häufig. Hanhart hat 18 schweizerische Sippen, in 
denen Friedreichsche Ataxie vorgekommen ist, in der Haupt- 
sache auf vier Herde zurückführen können. Besonders in 
einigen abgelegenen Tälern, in denen die Bevölkerung sich 
in ziemlich enger Inzucht fortpflanzt, hat er gehäufte Fälle ge- 
funden. 

Außer der rezessiven Ataxie kommt eine dominante vor, 
die später zu beginnen und leichter zu verlaufen pflegt, so daß 
die Träger der Anlage heiraten und Kinder haben können. Eine 
solche Sippe zeigt Fig. 181 nach Valentin 1 ). In England 

x ) Valentin, B. Konstitution und Vererbung in der Orthopädie. 
Stuttgart 1932. S. 24. 



Nach PI a 11 h a r t. 

Die Zalilen geben die 

Geburtsjahre an. 



ERBLICHE -NERVENLEIDEN. 



515 



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scheint dominante Ataxie eher häufiger als rezessive zu sein 
(Gowei's, Brown) 1 ). ■ ' 

Dominanten Erbgang zeigt auch die zerebellare Ata- 
xie oder Mariesche Krankheit, bei der hauptsächlich 
Kleinhirnb ahnen zugrundegehen und die sich in taumelndem 
Gang äußert. In einer von C lassen 2 ) beschriebenen Sippe 
setzte das Leiden erst im 6. Jahrzehnt ein. 

Während die typische Fried- j\ 

reichsche Krankheit sich rezessiv j 

und die typische Mariesche Krank- 
heit sich dominant zu verhalten 
pflegt 3 ), hat Triebe l 1 ) eine 
Sippe mit dominanter Ataxie be- 
schrieben, bei der spinale und zc- 
" rebellare Symptome zugleich vor- 
kamen, Andererseits hat H an- 
haut in einer Schweizer Fried- 
reichsippc einen Fall mit vorwie- 
gend zerebcllaren Symptomen be- 
obachtet. Solche Erfahrungen dür- 
fen aber nicht im Sinne einer 

Gleichheit aller Ataxieanlagcn gedeutet werden. Sie zeigen im Gegenteil, 
daß die Gruppe der erblichen Ataxien recht heterogen ist und jedenfalls 
mehr als zwei Biotypen umfaßt. In einigen Sippen mit anscheinend dominan- 
ter Ataxie ist regelmäßig Optikusatrophie im Verlaufe des Leidens beobach- 
tet worden 5 ). Anscheinend handelt es .sich dabei, um eine besondere Art 



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Fig. 181. 
Spinale Ataxie nach Valentin. 



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Fig. 182. 
KleinhirnlÜlimung. (Zerebellare Ataxie.) Nach Classen. 



a ) Brown. On hereditary ataxy with a series of twenty-oiie cases. 
Brain. Bd. 15. S. 250. 1S92. 

2 ) Classen, K. Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 
durch mehrere Generationen. ARGB. Bd. 13. H. 1. 1918. 

3 ) Kalinowsky, L. Zur Frage der Fricdrcichschen und Marie- 
schen familiären Ataxie. Deutsche Zcitschr. für Nervenheilkunde. Bd. 108. 
H. 4/5. 1929. 

ä ) Triebel, H. Die Familie K. Eine Studie über die Vererbung der 
Fricdreichschen Krankheit. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. 
75. H. 1/3. 1922. 

5 ) Nach Wilbrand und Saenger. Handbuch der Neurologie des 
Auges. Erkrank, des Optikus-Stammes. Bd. 5. Wiesbaden 1913. Bergmann. 



516 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



der erblichen Ataxie. Auch die durch Syphilis verursachte fortschreitende 
Atrophie des zentripetalen Nervensystems (Tabes) führt nicht selten zu 
Atrophie des Optikus, der ja auch zu den zentripetalen Nerven gehört. 

Die Paralysis agitans (P arkins ort sehe Krank- 
heit, Schüttellähmung) ist ein ziemlich häufiges Erb leiden, 
das im sechsten Jahrzehnt mit eigentümlichen gleichförmigen 
Zitterbewegungen der Hände zu beginnen pflegt. Die Hände 
sind dauernd in einer Bewegung wie beim Münzenzählen oder 
Pillendrehen. Im Verlauf des langsam fortschreitenden Lei- 
dens entwickelt sich eine eigentümliche Muskelsteifheit, die 
dem Gesicht einen maskenartigen Ausdruck verleiht und die 
Kranken zu einer nach vorn gebeugten Haltung zwingt. Es 
sind eine Reihe von Sippen bekannt geworden, die für domi- 
nanten Erbgang sprechen 1 ). Da es sich um ein Altersleiden 
handelt, erleben offenbar viele Träger der Anlage den Aus- 
bruch des Leidens nicht. So erklärt es sich, daß der Erbgang 
oft unterbrochen erscheint und daß in vielen Fällen eine 
gleichartige Belastung überhaupt nicht gefunden wird. Es ist 
auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Krankheitsan- 
lage sich öfter nur in verhältnismäßig leichten Tcilerscheinun- 
gen des Leidens äußert. 

Nach Gutmann 2 ) soll die Schüttellähmung in der jüdischen Bevöl- 
kerung mehrfach so häufig als in der nichtjüdischen sein. 

Mit unwillkürlichen Bewegungen ganz anderer Art geht die 
erbliche Chorea (Veitstanz) oder H un t i n g t o n s che 
Krankheit einher. Das Leiden beginnt im 4. oder 5. Jahr- 
zehnt mit zuckenden, oft eigentümlich theatralischen Bewegun- 
gen der verschiedensten Körperteile. Im Verlaufe des unheil- 
baren Leidens tritt meist auch fortschreitende Verblödung ein. 
Der Erbgang ist einfach dominant. Davenport 3 ) hat über 
962 Fälle aus vier Sippen berichtet. In den verschiedenen Sip- 
pen war das Bild ein etwas verschiedenes. In einer Sippe nahm 
die Bewegungsstörung kaum an Schwere zu, in einer anderen 
brach das Leiden ungewöhnlich früh aus ; in einer dritten ver- 
lief es ohne geistige Schwäche ; und in der vierten entwickelte 
sich umsrekchrt die geistige Schwäche ohne choreatische Zuk- 



x ) K c h r c r , F. Der Ursachenkreis des Parkinsonismus. Archiv für 
Psychiatrie. Bd. 91. PL 2. S. 187. 1930. 

3 ) Gut mann, M. j. Die Rasse- und Krankheitsfrage der Juden. 
München. Müller und Sleinicke 1920. 

3 ) Davenport, Ch. B. and Muncey, E. B. Huntington' s chorca 
in relation to heredity and eugenics. Bulletins of the Eugcnics Record 
Office. Nr. 17. 1916. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



517 



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kungen. Es handelte sich offenbar um verschiedene dominante 
Erbanlagen. Den ausnahmslos dominanten Erbgang konnte 
auch Entrcs 1 ) bestätigen, der alle Sippen in Bayern, in 
denen Fälle Huntingtonscher Chorea vorge- * 

kommen sind, genau genealogisch erforscht t 

hat, ebenso Sjögren 2 ) in Schweden. 

Beobachtungen an den Kindern von Huntington- 
kranken sprechen dafür, daß bei Anlageträgern dem 
Ausbruch der Krankheit jähre- oder vielleicht jahr- 
zehntelang leichtere Zeichen vorausgehen können: Be- 
wegungsunruhe, Unbeholfenheit, undeutliche Sprache, 
Eigensinn, Reizbarkeit 3 ). 

Anatomisch liegen der Huntingtonschen Krank- 
heit Verödungen in den Stammganglien des Gehirns, 
zumal dem Corpus striatum und pallidum zugrunde. 

Wie Patzig" ' J: ) in ebenso mühevollen 
wie aufschlußreichen Untersuchungen ge- 
zeigt hat, gibt es Sippen, in denen domi- 
nante krankhafte Erbanlagen sich in gering- 
fügigen choreatischen Bewegungen äußern. 
Neben solchen meist als gesund geltenden 
Anlagcträgern kommen in denselben Sippen 
Fälle von chronischer Chorea, chronischer 
Versteifung und auch von Chorea minor (vorübergehender 
Chorea) vor. Es scheint sich um mehrere genetisch verschie- 
dene Anlageschwächen des striatopallidaren Systems zu han- 
deln, die sich gewöhnlich nur in leichten unwillkürlichen Be- 
wegungen äußern, unter Mitwirkung äußerer Schäden (syphi- 
litische, rheumatische Infektion, Arteriosklerose) aber zur Ver- 
ödung dieses Systems und damit zu schweren Krankheitsbil- 
dern führen können. 

Auch die progressive A the tose, die mit choreaahnlichen ver- 
zerrten Bewegungen hauptsächlich der Arme und Beine einhergeht, und die 



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Fig. 183. 

Chorca. 

Nach Enires. 



x ) E n t r e s , L. Zur Klinik und Vererbung der Huntingtonschen 
Chorea. Berlin, Springer 1 92 1 . 

s ) Sjögren, T. Vererbungsmedizinische Untersuchungen über Hun- 
tingtons Chorca in einer schwedischen Bauernpopulation. Zeitschrift für 
menschliche Vcrcrbungs- und Konstitutionslehre. Bd. 19. IL 2. S. 131. 
*935- ' 

3 ) Reise h. Studien an einer Huntington-Sippe. Archiv für Psychiatrie. 
Bd. 86. 1929. 

4 ) Patzig, B. Vererbung von Bewegungsstörungen. Bericht über die 
11. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissen- 
schaft. Leipzig 1935. Bornträger. 



518 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



T i c - K r a n k h c i t , die schon im jugendlichen Alter mit: zuckenden Be- 
wegungen im Gesicht beginnt, scheinen auf dem Boden derartiger striato- 
pallidären Hypoplasien zu erwachsen. Durch äußere Schäden wie Kopf- 
traumen oder Encephalitis entstehen solche Krankheit sbildcr, wenn über- 
haupt, so jedenfalls nur ausnahmsweise. 

Goldsmith 1 ) hat eine Sippe mit einem harmlosen, nicht fortschrei- 
tenden Gesichtstic beschrieben, der sich in unwillkürlichen Zitterbewegun- 
gen bzw. Zuckungen am Kinn äußerte und in dominantem Erbgang durch 
5 Generationen verfolgt werden konnte. Über die Erbbedingtheit der Ge- 
sichtstics, die vorzugsweise die mimische Muskulatur um die Augen zu be- 
treffen pflegen, scheint sonst nichts bekannt zu sein. Dominanz ist anschei- 
nend nicht die Regel. 

Die Torsionsdystonic oder Torsionsdyskinesie, welche 
sich in langsamen „korkzieherar rigen" Drehbewegungen des Kopfes und 
Rumpfes äußert, kommt fast nur bei Ostjuden vor. Sie scheint ebenfalls auf 
einer Anomalie des striato-pallidären Systems zu beruhen. Eine Sippentafcl 
von Davidenkow legt rezessive Erbbedingtheit nahe. 

K ehre r a ) sah eine ,,torsionsdystonische Idiotie" mit Netzhautver- 
ödung bei drei unter vier aus einer Vetternehe stammenden Kindern, die im 
Anfang des zweiten Jahrzehnts ihrem Leiden erlagen. 

Die M y o c 1 o n u s - E p i 1 e p s i e , die man auch zu den Dyskinesien 
stellen könnte, wird im Zusammenhang mit der Epilepsie besprochen. 

Erbbedingtes Zittern (Tremor) kommt als Teilerscheinung verschie- 
dener Erbleiden (z. B. Basedowdiathese) vor. Es scheint aber auch einen 
„essentiellen Tremor" als dominante Anomalie zu geben, die sich im Ent- 
wicklungsalter zu äußern beginnt und durch das ganze Leben zu be- 
stehen pflegt 3 ). Das mit Augenzittern (Nystagmus) einhergehende erbliche 
Kopf zittern ist schon im Zusammenhang mit den Augenleiden erwähnt 
worden. 

Auch der S chreibkrampf und andere „Intentions"- oder Beschäf- 
tigungskrämpfe scheinen unter Mitwirkung der erblichen Veranlagung zu 
entstehen. Ebenso sind schmerzhafte Muskelkrämpfe (z. B. Wadenkrämpfe), 
familiär beobachtet worden. 

Die Myotonie oder Thomsensche K r a n k h e i t ist 
ein angeborenes Leiden, bei dem Muskeln, die nach längerer 
Ruhe in Tätigkeit gesetzt werden, in einen Zustand angespann- 
ter Steifheit geraten, der sich erst allmählich wieder löst. Außer- 
dem kommen bei den Kranken stundenlange Zustände von 
Muskelatonie vor, in denen die Hände wegen völliger Erschlaf- 
fung nicht gebraucht werden können. Beide Krankheitserschei- 
nungen treten hauptsächlich in der Kälte auf. In einer von 



1 ) Goldsmith, J. B. The inheritance of „facial spasm". Journal of 
Heredity. Bd. 18. Nr. 4. S. 185. [927. 

2 ) Kehr er, F. Ursachen und Erblichkcitskreis von Chorea, Myotonie 
und Athetose. Berlin 1928. Springer. 

3 ) Miner, O. Über das erbliche Zittern. Zeitschrift für die gesamte 
Neurologie. Bd. 90. S. 586. 1925 und Bd. 110. S. 207. 1927. 



\RBLICHE NERVENLEIDEN. 



519 



Thomsen beschriebenen, später von seinem Großneffen Nis- 
sen 1 ) weiterverfolgten Sippe zeigt das Leiden klar dominanten 
Erbgang; es ist ununterbrochen durch 7 Generationen verfolgt 
worden. Eine zweite derartige Sippe hat Sanders 2 ) in Hol- 
land beschrieben. 

Im übrigen scheint es verschiedene Biotypen erblicher Myotonie zu 
geben. In einer von Statt raü 11er 3 ) beobachteten Sippe trat Myotonie 
um die Zeit der beginnenden Geschlechtsreife auf, verlor sich aber nach 
mehreren Jahren wieder fast völlig. Der Erbgang war dominant. Die soge- 
nannte Myatonia congenita scheint mit der weiter oben erwähnten 
rezessiven spinalen Muskelatrophie des Säuglingsalters identisch zu sein. 



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Fig. 184. 
Myotonie (Thomsensche Krankheit). Nach Nissen. (Ausschnitt.) 



Die m y ot onis ch e Dystrophie (auch Myotoniaatro- 
phica) oder Stein ertsche Krankheit beginnt gewöhnlich 
im dritten oder vierten Jahrzehnt mit myo tonischen Erschei- 
nungen an den Händen und einer Linsentrübung von eigentüm- 
licher Form. Die Kranken können Gegenstände, die sie gefaßt 
haben, nicht gleich wieder loslassen. Unter Krampf zuständen 
und Atrophien in verschiedenen Muskelgruppen tritt schließ- 
lich ein allgemeiner Verfall ein. Die Krankheit vereinigt Zei- 
chen der Myotonie und der Myatrophie mit Störungen der in- 
neren Sekretion (Atrophie der Keimdrüsen). Seit man auf die 
myo tonische Dystrophie achten gelernt hat, sind in den letzten 
Jahren schon gegen 200 Fälle beobachtet worden, in einer 



1 ) Nissen, K. Beiträge zur Kenntnis der Thomsenschen Krankheit. 
Zeitschrift für klinische Medizin. Bd. 97. H. 1—3. 1923. 

2 ) Sanders, J. Eine Familie mit Myotonia congenita. Genetica. Bd. 
17- S. 253. 1935. 

3 ) S t a t t m ü 1 1 e r. Beobachtungen an einer Familie mit Thomsen- 
scher Krankheit. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 
Bd. 81. H. 1/2. 1923. 



520 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

durch Fleischer 1 ) 2 ) bekanntgewordenen und durch H enke 
und Seeger 3 ) weiter verfolgten Sippe fanden sich unter den 
Geschwistern der Kranken ungefähr ebenso viele Gesunde wie 
Kranke. Die Dominanz der krankhaften Anlage, auf die man 
daraus schließen kann, ist allerdings nicht regelmäßig, da in 
mehreren Fällen beide Kitern von kranken Kindern anschei- 
nend gesund waren. Auch scheint sich die Anlage öfter nur in 
Teilsymptomen des Krankheitsbildes zu äußern, teils in myo- 
tonischen, teils in dystrophischen und verhältnismäßig häufig 
nur in Linsentrübung. 

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Fig. 185. 

Myotonische Dystrophie nach F r e y 4 ). (Ausschnitt.) 

Schraffierung bedeutet ein Leiden, das nicht mehr genau festgestellt werden 

konnte, das der myo tonischen Dystrophie aber verdächtig war. Ein Punkt 

im Kreise bedeutet Star. 



Es wird von den Autoren angegeben, daß die krankhafte Anlage, die 
nach dem Zusammenhang der Fälle bis zu acht Generationen zurückver- 
folgt werden konnte, im Laufe der Generationen sich immer schwerer krank- 
haft äußere. Aus den frühesten Generationen seien keine entsprechenden 
krankhaften Erscheinungen bekannt geworden; in den mittleren Genera- 
tionen sei bei den Trägern der Anlage im wesentlichen nur Linsentrübung 
aufgetreten; und erst in den beiden letzten Generationen sei schließlich das 
Vollbild der myotonischen Dystrophie beobachtet worden; dabei habe das 
Leiden in der letzten Generation früher eingesetzt und einen schwereren 
Verlauf genommen als in der vorletzten. Es soll also eine „Antizipation" 



x ) Fleischer, B. Untersuchungen von sechs Generationen eines 
Geschlechtes auf das Vorkommen von myotonischer Dystrophie. ARGB. 
Bd. 14. H. 1. 1922. 

2 ) Fleischer, B. Zur Vererbung nervöser Degenerationen. Zeitschr. 
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 84. 1923. 

3 ) Henke, K. und Seeger, S. Über die Vererbung der myotoni- 
schen Dystrophie. Zeitschrift für Konsütutionslehre. Bd. 13. H. 3. 1927. 

4 ) Frey, C. Beitrag zur myotonischen Dystrophie. ARGB. Bd. 17. 
Ii. 1. 1925. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



521 



und „Progression" stattgefunden haben. Ein solcher Vorgang würde der 
von Morel behaupteten aus inneren Gründen fortschreitenden Entartung 
entsprechen, bis zu einem gewissen Grade auch der von manchen Paläonto- 
logen vertretenen „Orthogenese". Bevor man das Vorliegen derartiger unge- 
klärter Vorgänge im Falle der myotonischen Dystrophie annimmt, tut man 
meines Erachtens gut, weitere Erfahrungen abzuwarten. Da die myotonische 
Dystrophie überhaupt erst in den letzten Jahren als besonderes und eigen- 
artiges Leiden erkannt worden ist, das den Ärzten der älteren Generationen 
entgangen ist, obwohl es gar nicht besonders selten ist, so könnte es sein, 
daß es in früheren Generationen einfach übersehen bzw. als „Auszehrung", 
„Kachexie" usw. verkannt worden sei. Dann könnte es sich doch um eine 
im ganzen dominante Anlage handeln, die aber je nach ihrem Zusammen- 
treffen mit andern Erbanlagen einen mehr oder weniger schweren Zustand 
bedingen könnte. 

Während die T h o m s e n sehe Myotonie in den Küstenländern der 
Nordsee und die Steinen sehe myotonische Dystrophie hauptsächlich in 
Württemberg und der Schweiz beobachtet worden sind, hat B o e t e r s 1 ) 
über mehrere schlcsische Sippen berichtet, in denen eine offenbar domi- 
nante Erbanlage sich teils in myotonischen, teils in muskelatrophischen und' 
endokrinen Störungen äußert. Linsentrübung hat er nicht beobachtet, auch 
keine ,, Antizipation" oder „Progression". Ich möchte vermuten, daß es sich 
um einen besonderen in Schlesien verbreiteten Biotypus handelt. 

Als T r o p h o 11 e u r o s e wird eine seltene Krankheit bezeichnet, die 
sich in Bildung von Geschwüren und Hautatrophien an den Füßen, besonders 
den Zehen, und öfter auch an den Händen äußert. Da das Leiden bisher 
ausscldicßlich familiär auftretend (meist bei Geschwistern) beobachtet wor- 
den ist, muß man an rezessive Erblichkeit denken 3 ). 

Zu der Gruppe der trophoneurotischen Störungen kann man auch das 
T r o p h o e d e m , die Sklerodermie, die Erythro in elalgie, die 
R a y n a u d s c h e Krankheit und ähnliche Leiden rechnen, deren Erb- 
lichkeit teils schon bei den Hautlciden erwähnt, teils noch nicht klarge- 
stellt ist. 

Die Syringoinyelie ist ein in manchen Gegenden (z. B. 
Südwestdcutschland) nicht ganz seltenes Leiden, das auf Spalt- 
bildungen und Stützzellenwucherung (Gliose) im Halsteil des 
Rückenmarks beruht und das sich in einem langsam fort- 
schreitenden Ausfall sensibler und trophischer Nervenfunktio- 
nen (Verlust der Temperatur- und Schmerzempfindung, Stö- 
rungen der Gewebsernährung), besonders an den Händen, 
äußert. Meist findet sich kein weiterer Fall von Syringomyelie 
in der Familie. Es ist allerdings zu bedenken, daß Spalten oder 
Gliose des Rückenmarks gelegentlich bei der Sektion von Per- 
sonen gefunden werden, bei denen keine Zeichen von Syringo- 



x ) Boeters, PI. Über Myotonie. Leipzig 1935. Thicme. 

z ) W e i t z , W. Kasuistisches zur familiären Trophoneurose an den 
Füßen und Händen. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. 82. 
H. 1/2. 1924. 



522 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

myclie beobachtet worden sind. Henneberg- 1 ) hat gezeigt, 
daß das Leiden als Folge einer „Hemmung der Raphebildung 
des Rückenmarks" im Sinne eines mangelhaften Verschlusses 
des embryonalen Medullär röhr es aufzufassen ist; und Bre- 
mer 2 ) hat in den Sippen von Syringomyeliekranken nicht nur 
Teilerscheinungen dieses Leidens, sondern auch andere dystro- 
phische Anomalien, wie sie sich auch bei den Kranken öfter 
finden, festgestellt : Trichterbrust, krummes Rückgrat, krumme 
Finger, Überlänge der Arme, einseitige Brustdrüsenmängel, 
Enuresis u. a. Man darf die Syringomyelie wohl als eine ex- 
treme Manifestation einer hochgradig cntwicklungslabilen An- 
lage ansehen, die sich meist nur in anderen dysraphischen Stö- 
rungen äußert. D aller kann Syringomyelie sich bei eineiigen 
Zwillingen diskordant finden (Fall von Weit z). 

So aufschlußreich Bremers Entdeckung einer Korrelation der 
Syringomyelie mit anderen dysraphischen Störungen ist, halte ich es doch 
nicht für glücklich, alle dysraphischen Störungen als Ausdruck eines einheit- 
lichen „Status dysraphicus" anzusehen;. Curtius 3 ) meint, der ,, Status 
dysraphicus" sei „klinisch ein durchaus einheitlicher Konstitutionstyp". Sein 
markantestes Symptom sei die Spina bifida oeculta, die sich bei 17%, viel- 
leicht sogar bei 25% aller Erwachsenen finde. Ferner sieht er außer den im 
vorigen Abschnitt genannten Anomalien Gaumenspalten, Klump- und Hohl- 
fuß als Teilerscheinungen eines einheitlich gedachten „Status dysraphicus" 
an. Daß solche Anomalien infolge mangelhafter Anlage des Rückenmarks 
entstehen können, scheint mir einleuchtend zu sein. Nach dem, was sich bei 
kritischer Nachprüfung anderer „Status" herausgestellt hat, glaube ich 
aber nicht an einen „Status dysraphicus" als genetische Einheit. Der Be- 
griff des „Status" stammt aus der älteren Konstitutionslehre; er bezeichnete 
ursprünglich lediglich einen konstitutionellen Zustand im Unterschied von 
einer vorübergehenden Krankheit. Später faßte mau dann allerlei Anomalien, 
die miteinander in Korrelation standen oder zu stehen schienen, zu „Status" 
zusammen. Wenn zwei Anomalien korreliert sind, so beruht das nach dem 
heutigen Stande unseres Wissens meist darauf, daß sie ganz oder teilweise 
durch dieselbe pathogene Erbeinheit bedingt sind. Man vergleiche das über 
Korrelation von Diathcscn und über den „Status varicosus" Gesagte 
(S. 432 f.). Dabei können die phänotypischen Manifestationen der verschiede- 
nen pathogenen Erbeinheiten sich teilweise decken. Auf diese Weise dürften 
die meisten jener mehrfachen Korrelationen Zustandekommen, die immer wie- 
der zu der Aufstellung einheitlicher „Status" verführen. 

Bettnässen (Enuresis nocturna) tritt sippenweise 
gehäuft auf; es scheint meist auf einer dysraphischen Anomalie 

*) Henneberg und Koch. Zur Pathogenese der Syringomyelie. 
Monatsschrift für Psychiatric. Bd. 54. 1923. 

s ) B r e m er, F. W. Klinische Untersuchungen zur Ätiologie der 
Syringomyelie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde Bd. 95. H. 1/2. 1926. 

3 ) Curtius, F. und Lorenz, Irmgard. Über den Status dysraphi- 
cus. Zeitschrift für die gesamte Neurologie. Bd. 149. H. 1 — 3. S. 1. 1933. 



ERBLICHE NERVENLEIDEN. 



523 



des Rückenmarks zu beruhen. Nach Curtius haben rund 
600/0 aller Bettnässer eine Spina bifida oeculta. Bei Schwach- 
sinnigen und Epileptikern ist Bettnässen häufig. Verzögerte 
Bettreinheit bei Kindern scheint ebenfalls sippenweise vorzu- 
kommen. 

Die als Stottern und Stammeln bezeichneten Sprach- 
störungen treten ausgesprochen sippenweise auf. In der be- 
kannten unter dem Namen der Jukes 1 ) beschriebenen Sippe 
findet sich ein Zweig mit Stotterern, der geradezu für domi- 
nanten Erbgang spricht. Etwa die Hälfte aller Stotterer haben 
nach B r y a n t 2 ) stotternde Verwandte. Die Häufigkeit der 
Stotterer in unserer Bevölkerung beträgt etwa i"/o. Das Stot- 



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Fig. 186. 
Stottern nach Estabrook (Ausschnitt aus der Sippe Jukc). 



tern der Kinder stotternder Eltern ist nicht etwa entscheidend 
durch Nachahmung der Eltern bestimmt; es sind Fälle beob- 
achtet worden, wo Kinder von Stotterern, die von Geburt an 
von den stotternden Eltern getrennt waren, doch in derselben 
Weise stotterten. 

Bei Stotterern und ihren Verwandten sind psychopathischc Zustände 
verschiedener Art (Epilepsie, Hysterie, Schwachsinn) überdurchschnittlich 
häufig. Bei eineiigen Zwillingen ist Stottern mehrlach in übereinstimmender 
Weise beobachtet worden; doch hat Siemens in einigen Fällen Stottern 
auch nur bei einem von zwei eineiigen Zwillingen gefunden. 

Auch die sogenannte Hörstummheit, wie man im Unterschied 
von der Taubstummheit den Zustand von Kindern nennt, die trotz vorhan- 
denen Gehörs nicht zur rechten Zeit zu sprechen beginnen, kommt sippen- 
weise vor. In mehr als einem Drittel der Fälle hat man auch bei einem der 
Eltern verspätete oder unvollkommene Entwicklung der Sprechfähigkeit ge- 
funden. 



*) Estabrook, A. H. The Jukes in 1915. Washington 1916. 
2 ) B r y a 11 1 , F. A. Influenae of hcredity in stamnicring. The Journal 
of Heredity Bd. 8. H. 2. 1 9 17. 



524 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



Die Erblichkeit ist auch für das Lispeln (Sigmatismus) von Bedeu- 
tung; es besteht im Anlegen der Zunge an die Zähne beim Aussprechen 
von Zischlauten. G u t z m a n n 1 ] fand bei Sigmatismus lateralis (seitlichem 
Lispeln) in 38,50/0 dasselbe Sprachübcl in der Verwandtschaft. Zu einem 
eigenartigen leichten Lispeln neigen viele Juden. 

Angeborene Lähmung oder besser Funktionsunfähigkeit bzw. Funk- 
tionsschwäche des Nervus facialis ist mehrfach anscheinend unregelmä- 
ßig dominant erblich beobachtet worden. Andere angeborene Defekte 
von Piirnncrvcn sind unter den Augenleiden und den Ohrenleiden erwähnt 
worden. 

A 1 i k h a n 3 ) hat Mangel des Geruchsinns, der auf einem angeborenen 
Defekt des Geruchsnerven beruhen dürfte, in einer Sippe beobachtet. Sny- 
d e r 3 ) hat eine anscheinend nicht seltene Gcschmacksblindheit für einen 
Bitterstoff (Phenylthiocarbamid) auf Grund anscheinend rezessiver Erban- 
lage beschrieben. 

Auch vorübergehende Lähmungen einzelner Nerven (z. B. des Fazialis 
oder des Radialis), die sich an leichte Infektionen wie Schnupfen anschlie- 
ßen, kommen sippenweise gehäuft vor. Dasselbe gilt vom Muskelrheumatis- 
mus, der auf einem Reizzustand von Muskelnerven beruht, und dem „Hexen- 
schuß" (Lumbago). 

Die meisten der besprochenen organischen Nervenleiden 
wie die fortschreitenden Muskelatrophien, Ataxien und Dys- 
kinesien beruhen auf einem Zugrundegehen von Teilen 
des Zentralnervensystems. Man kann dieses Zugrundegehen 
als ein vorzeitiges Altern dieser Organe auffassen, vergleich- 
bar dem vorzeitigen Ergrauen der Haare und gewissen an- 
deren Leiden, die auf dem vorzeitigen Altern bestimmter Or- 
gane beruhen ( Zuckenkrankheit., Linsentrübung, Nierenschrump- 
fung u. a.). 

Man bezeichnet diese erblichen Nervenleiden nach dem Vorgang des 
ungarischen Neurologen j e 11 d r a s s i k 1 ) oft als „heredodegenerative" 
Krankheiten. In der Erbbiologie versteht man unter Entartung oder Dege- 
neration sonst das Auftreten und die Ausbreitung erblicher Krankheitsan- 
lagen. In diesem Sinne angewandt würde das Wort „Heredodegeneration" 
also nur eine überflüssige Doppelbildung sein. Die meisten Autoren, die 
dieses Wort gebrauchen, meinen damit vermutlich aber einfach ein Zugrunde- 
gehen von Organtcilen auf erblicher Grundlage. In diesem Sinne würde 
das Wort „Heredodegeneration" also nur erbbedingte Verödung bedeuten. 
Vermutlich verdankt das Wort seine Beliebtheit zum guten Teil diesem 
schillernden Doppelsinn. Dazu kommt eine magische Imponierwirkung. Es 

2 ) Gutzmann, FL Die Vererbung von Sprachstörungen. In „Krank- 
heiten und Ehe" von v. Noordcn und Kaminer. S. 470. Leipzig 1916. 

a ) Alikhan. L'epilepsie et l'anosmie hereditaire. Schweizerische med. 
Wochenschrift. 1920, S. 211. 

3 ) Snyder, L. H. The inheritance of taste dcficicncy in man. The 
Ohio Journal of Science. Bd. 32. Nr. 5. S. 436. 1932. 

*) J e 11 d r a s s i k , E. Die hereditären Krankheiten. Im Handbuch der 
Neurologie von Lewandowsky, Bd. 2. Berlin 191 1. 



ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 525 



klingt wissenschaftlich und unheimlich zugleich. Zweckmäßig ist es aber 
trotzdem nicht. 

Immerhin könnte es hingehen, wenn manchen Autoren dabei nicht — 
wenn auch öfter nur halb bewußt — die Vorstellung vorschwebte, daß die 
erblichen Nervenleiden überhaupt nicht durch beslimmle pathogene Erb- 
einheiten verursacht würden, sondern daß es nur eine allgemeine „Here- 
dodegeneration" gebe, die sich bald in diesem, bald in jenem Krankhcits- 
bilde äußern könne, daß also alle erblichen Nervenleiden im Grunde wesens- 
gleich seien. Es ist nach den Ausführungen dieses Kapitels eigentlich kaum 
noch nötig, darauf hinzuweisen, daß es talsächlich zahlreiche verschiedene 
erbliche Nervenleiden gibt, die ihre Eigenart innerhalb derselben Sippe 
bewahren und die oft auch durch ihren Erbgang als besondere Biotypen 
gekennzeichnet sind. J e n d r a s s i k selbst hat auf Grund seiner Erfahrung 
betont, daß die erblichen Krankheiten in den verschiedenen Sippen recht 
verschieden, innerhalb derselben Sippe aber gleichartig zu verlaufen pflegen. 
Durch diese Talsachen wird die Lehre von einer einheitlichen Heredodegene- 
ration eindeutig widerlegt. Wenn Jendrassik selbst diese Konsequenz 
nicht gesehen hat, so muß man ihm zugute halten, daß ihm die Tatsachen 
der wissenschaftlichen Genetik noch nicht bekannt waren. Die modernen 
Heredodegenerationisten aber haben diese Entschuldigung nicht mehr. Es 
wäre auch nicht abzusehen, weshalb es nur eine gemeinsame Quelle gerade 
für Krankheiten und Anomalien geben solle und nicht auch für normale 
Typen und Eigenschaften. Wenn aber Krankes und Normales unterschieds- 
los daraus fließen würde, so würde eine Erbpathologie überhaupt keinen 
Sinn mehr haben. 

Das Trugbild einer einheitlichen „Heredodegeneration" dürfte auf fol- 
gende Weise zustandegekommen sein: Die Neurologie fing mit der Aufstel- 
lung zunächst weniger „Typen" erblicher Nervenleiden an, einer „progressi- 
ven Muskeldystrophic", einer .spastischen Spinalparalysc", einer „Fricd- 
reichschen Ataxie", einer „Thomsenschen Myotonie" usw. Im Laufe der 
Zeit kamen aber immer mehr neue Bilder dazu, die „Übergänge" zwischen 
den „Typen" zu sein schienen, z. B. die myotonische Dystrophie. Anderer- 
seits fanden sich innerhalb einer Sippe gelegentlich Unterschiede im klini- 
schen Bilde, z. B. zerebellare neben spinaler Ataxie. Und schließlich wurden 
neben ausgeprägten Krankheitsbildern in derselben Sippe auch leichle gleich- 
sinnige Anomalien beobachtet. Diese Tatsachen erklären sich zwanglos 
daraus, daß eine bestimmte pathogene Erbeinheit sich bis zu einem gewissen 
Grade verschieden äußern kann, und daß die Äußerungsmöglichkcitcn ver- 
schiedener pathügener Erbeinheiten sich teilweise überschneiden können, 
und soweit das Zusammentreffen wirklich wesensverschiedener Erbleiden 
in einer Sippe nicht auf Zufall beruht, kann eine Häufung verschiedener 
Erbleiden in einer Sippe durch negative geschlechtliche und soziale Aus- 
lese Zustandekommen (vgl. S. 420). Für eine einheitliche „Heredodegenera- 
tion" dagegen gibt es keine Belege. 

1) Erbliche Geisteskrankheiten und Psychopathien. 

Auf keinem andern Gebiet der Medizin steht die Erblich- 
keit so im Vordergrunde der Ursachen wie auf dem der Psy- 
chiatrie; zugleich aber begegnet die Erforschung des Erbgan- 
ges im einzelnen in keinem andern Fach gleich großen Schwie- 



526 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



rigkeiten. Schon über die Abgrenzung und Einteilung der erb- 
lichen Seelenstörungen herrscht bisher keine volle Überein- 
stimmung unter den Fachleuten. Kein Wunder daher, daß fast 
bei keiner einzigen der Erbgang bisher völlig klargestellt wer- 
den konnte. Sicher ist nur, daß die Erblichkeit alle anderen 
Ursachen an Bedeutung übertrifft. 

An zweiter Stelle ist die Syphilis zu nennen, die nicht nur progressive 
Paralyse, sondern in ihrer angeborenen Form auch Schwachsinn und Epi- 
lepsie verursachen kann. Die dritte Stelle nimmt der Alkohol ein, der einer- 
seits bei den Trinkern selbst Delirium tremens und Säuferwahnsinn, anderer- 
seits bei ihren Kindern anscheinend Schwachsinn zur Folge haben kann. 

Man teilt die SeelenstÖrungcn aus praktischen Gründen in eigentliche 
Geisteskrankheiten (Psychosen) und in Psychopathien ein, 
und zwar nach dem Grade der Anpassungsfähigkeit oder Erhaltungsmög- 
lichkeit ihrer Träger im praktischen Leben. Als geistig abnorm oder ge- 
stört überhaupt ist ein Individuum anzusehen, das infolge seiner Seelen- 
beschaffenheit vergleichsweise geringe Anpassungsmöglichkeiten hat. Wenn 
die Störungen so hochgradig sind, daß kein Beruf ausgeübt werden kann, 
so spricht man von Geisteskrankheit. Bei Störungen geringeren Grades, 
die zwar mit' der Ausübung von Berufsarbeit noch vereinbar sind, die 
aber doch entweder dauernd oder gelegentlich eine Beeinträchtigung 
der eigenen Erhaltung oder der Gesellschaft mit sich bringen, spricht man 
von Psychopathie. 

Dieser Einteilung, die das praktische Leben erfordert, entspricht sehr 
wenig jene, die die Erblichkeitsforschung anstreben muß. Das Ziel ist 
hier, die einseinen krankhaften Erbanlagen (die „pathogenen Erbeinheiten") 
in ihren verschiedenen Äußerungsmöglichkeiten zu erkennen und ihren Erb- 
gang festzustellen. Von vornherein ist klar, daß es eine ganze Anzahl verschie- 
dener erblicher SeelcnstÖrungen geben wird. Ebenso wie bei jedem andern 
Organ gibt es natürlich auch zahlreiche erbliche Anomalien des Gehirns, 
dessen Funktion ja die seelischen Vorgänge entsprechen. 

Da eine erbbiologische Einteilung der Seelenstörungen heute noch nicht 
möglich ist, kann die im folgenden gewählte Abgrenzung der einzelnen 
Störungen, die sich an die übliche anschließt, nicht als endgültig angesehen 
werden. Ich bin von fachmännischer Seite aufmerksam gemacht worden, daß 
es unmöglich ist, mit ein paar Sätzen ein dem Nichtarzte verständliches 
Bild der einzelnen Geistesstörungen zu umreißen. Dennoch schien es mir 
nicht angängig, wesentlich mehr Raum darauf zu verwenden; und anderer- 
seits möchte ich nicht nur die Namen aufzählen, die dem Nichtarzte gar 
nichts sagen. Ich lege die Skizzierung daher etwa so an, daß der nicht 
speziell psychiatrisch vorgebildete Arzt an die wesentlichsten Züge erinnert 
wird und daß der Nichtarzt doch immerhin eine ungefähre Vorstellung von 
der Schwere und Art der verschiedenen Zustände erhält, ohne daß er frei- 
lich erwarten darf, nach meiner Schilderung dieselben im Leben etwa wie- 
derzuerkennen. 

Auch in früheren Abschnitten ist gelegentlich von Geistesstörungen 
die Rede gewesen, z. B. hei der erblichen Chorea; da bei dieser die 
körperlichen Störungen (zunächst wenigstens) im Vordergrunde stehen, ist sie 
zu den Nervenleiden gestellt worden. Streng genommen handelt es sich auch 



ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 527 

bei der Taubheit, der Farbenblindheit und dem Mangel des 
Riech Vermögens (A n o s m i e) um seelische Störungen, nämlich Mangel von 
Sinnesempfindungen, während man über die körperliche Seite dieser Leiden 
wenig oder gar nichts weiß. Entsprechendes gilt auch von der Migräne 
und sonstigen erblichen Kopfschmerzen. 

Unter dem Namen Schwachsinn oder Oligophre- 
nie werden angeborene Geistesschwächen sehr verschiedenen 
Grades zusammengefaßt. Der schwerste Grad wird als Idiotie 
oder Blödsinn bezeichnet. Der nächste Grad ist die Imbe- 
zillität (schwerer Schwachsinn); dann folgt die D e b i - 
lität (leichter Schwachsinn). Die meisten Debilen können zur 
Ausübung eines einfachen Berufs erzogen werden; ausgespro- 
chen Imbezille dagegen nicht. Die Debilen stellen die Haupt- 
masse der Hilfsschüler. Für die Häufigkeit des Schwachsinns 
lassen sich wegen der fließenden Grenzen genaue Zahlen nicht 
geben. Man kann vielleicht 2 bis 30/0 Debile, 1/2 °/o Imbezille 
und 1/4% Idioten annehmen, im ganzen 3 bis 40/0 Schwachsin- 
nige unter allen Geborenen. 

Ein erheblicher Teil der Fälle von schwerem Schwach- 
sinn wird durch Syphilis verursacht. Auch der elterliche 
Alkoholismus scheint eine wesentliche Rolle zu spielen. Es ist 
eine immer wieder bestätigte Erfahrung, daß unter den Eltern 
von Schwachsinnigen viele Trinker und unter den Kindern von 
Trinkern verhältnismäßig viele Schwachsinnige sind, obwohl die 
Art des Zusammenhangs nicht klargestellt ist. In Kropfgegen- 
den ist Schwachsinn eine häufige Teilerscheinung des Kretinis- 
mus. Wie schon bei Besprechung der mongoloiden Idiotie er- 
wähnt wurde, zeigt auch die sonstige Idiotie eine gewisse Kor- 
relation zum Alter der Mutter; es kommen also dieselben Um- 
weltwirkungen ursächlich in Betracht. Nach Abzug aller dieser 
umweltbedingten Schwachsinnsfälle bleibt aber "immer noch 
der größte Teil als erbbedingt übrig. Klinisch lassen sich wohl 
manche Fälle als zweifellos umweltbedingt und andere als erb- 
bedingt erkennen; allgemeingültige Kennzeichen dafür haben 
aber nicht aufgefunden werden können. 

Smith 1 ) hat in Dänemark 11 Paare eineiiger Zwillinge 
aufgefunden, die beide übereinstimmend schwachsinnig waren. 
Bei zwei weiteren anscheinend ebenfalls eineiigen Paaren war 
es nur der eine. Unter 50 zweieiigen Zwillingspaaren dagegen 

*) Smith, J. Ch. Das Ursachenverhältnis des Schwachsinns beleuch- 
tet durch Untersuchungen von Zwillingen. Zeitschrift für Neurologie Bd 12^ 
S. 678. 1930. 



528 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

waren nur 4 in dieser Hinsicht gleich und 46 verschieden. Dar- 
aus folgt eindeutig, daß die weitaus meisten Fälle von Schwach- 
sinn erbbedingt sind. Wenn der Umwelt größere Bedeutung 
zukäme, so wäre eine viel größere Übereinstimmung der zwei- 
eiigen Zwillingspaare zu erwarten. Die geringe Konkordanz der 
zweieiigen Paare spricht auch gegen dominanten Erbgang, bei 
dem ein konkordantes Paar auf zwei diskordante zu erwarten 
wäre. Bei einfach rezessivem Erbgang wäre ein konkordantes 
Paar auf 6 diskordante zu erwarten; und dieses Verhältnis ist 
mit dem tatsächlich gefundenen innerhalb der Fehlergrenzen 
vereinbar. 

Brugger 1 ) hat die von 1875 bis 1929 in der thüringi- 
schen Landesheilanstalt Stadtroda untergebrachten Schwach- 
sinnigen genealogisch erforscht. In Fällen, wo eine äußere Ur- 
sache nicht aufzufinden war, waren von den Geschwistern der 
Schwachsinnigen 31 0/0, von ihren Eltern 27 0/0 ebenfalls schwach- 
sinnig. Wenn beide Eltern frei von Schwachsinn waren, waren 
von den Geschwistern 180/0 schwachsinnig; war einer der 
Eltern ebenfalls schwachsinnig, so waren es 410/0, waren beide 
Eltern schwachsinnig, gar 93 0/0. Auch diese Untersuchung 
spricht für rezessive Erbbedingtheit des (schweren) Schwach- 
sinns. 

Der leichte Schwachsinn dagegen scheint zum großen Teil 
dominant erblich zu sein. Reiter 2 ) und Osthoff, die 250 Kin- 
der der Rostocker Hilfsschule, also nicht anstaltsbedürftige Fälle, 
bearbeitet haben, haben gefunden, daß 60 (= 240/0 ) mit Schwach- 
sinn des Vaters, 80 (= 32 0/0) mit Schwachsinn der Mutter 
und 29 (= 11,60/0) mit Schwachsinn beider Eltern belastet 
waren, im ganzen also mindestens zwei Drittel. Es handelt sich 
dabei um Minimalzahlcn, da es sich nicht in allen Fällen fest- 
stellen ließ, ob die übrigen Eltern wirklich über normale Gei- 
steskräfte verfügten. Von den 140 Kindern, die mit Schwach- 
sinn eines Eiters belastet waren, hatten 103 (= 73, 6<Vo)_ noch 
1 oder mehrere schwachsinnige Geschwister. Die 29 Kinder, 
die mit Schwachsinn beider Eltern belastet waren, hatten 
sämtlich auch noch schwachsinnige Geschwister; von den Ge- 
schwistern dieser Gruppe waren 90,70/0 schwachsinnig und nur 

!) Brugger, C. Genealogische Untersuchungen an Schwachsinnigen. 
Zeitschrift für Neurologie. Bd. 130. S. 66. 1930. 

E ) Reiter, H. und Osthoff, H. Die Bedeutung endogener und 
exogener Faktoren bei Kindern der Hilfsschule. Zeitschrift für Hygiene. 
Bd. 94 (1921). 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 529 

9,3 normal, in 2 Familien, wo einer der Eltern schwachsinnig 
war, waren 8 schwachsinnige Kinder vorhanden (8 von 8, bzw. 
8 von 9). Diese Tatsachen sprechen für das Vorliegen domi- 
nanter Erbanlagen für Schwachsinn. Aber auch von 102 
schwachsinnigen Kindern, bei deren Eltern kein Schwachsinn 
nachgewiesen werden konnte, hatten 640/0 schwachsinnige 
Geschwister, was für die Mitwirkung rezessiver Erbanlagen 
spricht. 

Sjögren 1 ) ist der Erblichkeit der Oligophrenie (Imbe- 
zillität und Idiotie) in einem schwedischen Dorf nachgegangen; 
seine Befunde sprechen ebenfalls für rezessive Erbbedingtheit 
der schweren Geistesschwäche. 

Es bestätigt sich hier die Regel, daß innerhalb einer klini- 
schen Gruppe die leichteren Leiden dominant, die schwereren 
rezessiv zu sein pflegen. Idiotie als dominantes Erbleiden könnte 
sich ja nicht halten, da Idioten in der Regel nicht zur Fort- 
pflanzung kommen. Im übrigen scheint gerade die hochgradige 
Geistesschwäche in Form der Idiotie verhältnismäßig häufig 
auch durch angeborene Syphilis und andere Umweltschäden 
verursacht zu sein. Je leichter der Schwachsinn, desto größer 
scheint der Anteil der erbbedingten Fälle und im besonderen 
der dominanten zu sein. 

Lokay 3 ) fand bei Schwachsinns fällen, die auf äußere Schäden zu- 
rückgeführt wurden, eine nur wenig geringere familiäre Häufung als bei 
Fällen, für deren Entstehung solche Umwelt schaden nicht angegeben wurden. 
Daraus folgt, daß äußere Ursachen oft zu Unrecht angeschuldigt werden. 
Der Anerkennung der Erbbedingtheit von Schwachsinn bei einem Kinde 
stehen bei Eltern erfahrungsgemäß starke gefühlsmäßige Widerstände ent- 
gegen. Viel lieber werden Kopfverletzungen bei der Geburt angenom- 
men, die aber in Wirklichkeit nur sehr selten die Ursache von Schwach- 
sinn sind. 

Im Material Sjögrens stammten die meisten Fälle aus entfernten 
Verwand teneheii, was allerdings in einem abgelegenen Dorf auch sonst die 
Regel ist. Eine ausgesprochene Erhöhung der Häufigkeit naher Verwand- 
tenehen bei den Eltern schwer Schwachsinniger ist bisher nicht festgestellt 
worden. Eine starke Erhöhung wäre in Anbetracht der Häufigkeit dieses 
Erblcidens auch bei rezessivem Erbgang nicht zu erwarten. Immerhin ist 
mehrfach angegeben worden, daß aus Verwandtenehen idiotische oder 
hochgradig schwachsinnige Kinder überdurchschnittlich häufig hervor- 



!) Sjögren, T. Klinische und vererbungsmedizinische Untersuchun- 
gen über Oligophrenie in einer nordschwedischen Bauernpopulation. Ko- 
penhagen 1932. 

2 ) Lokay, A. Über die hereditären Bezeichnungen der Imbezillität. 
Zeitschrift für Neurologie. Bd. 122. H. 1 u. 2. S. 90. 1929. 



Eaur-Fischer-I,eiiK T. 



530 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



gehen, nach einer Zusammenstellung von Huth 1 ) in folgenden liundert- 
sätzen : 



Gralliaus 

H o w e 

Down 

I r e 1 a 11 d 

Commission of Connecticut 

Bemiss 

Mitchell 



3,8% von 1388 Kindern 



4,7% von 

7,0% von 

8,5% von 

12,5% von 

1 5,0% von 

18,1% von 



359 Kindern 
852 Kindern 
213 Kindern 
160 Kindern 
? Kindern 
5 19 Kindern 



Die Zahlen der letzten Reihe sind allerdings unwahrscheinlich hoch. 
Leider fehlt es an systematischen Untersuchungen über die Kinder aus nahen 
Verwandtenehen aus neuerer Zeit. 

Außer einfach rezessiven scheinen auch geschlechtsgebundene Erban- 
lagen Schwachsinn verursachen zu können. Unter den Schwachsinnigen über- 
wiegt deutlich das männliche Geschlecht. Auch für Tlilfsschüler trifft das 
regelmäßig zu. Andererseits werden die Mütter schwachsinniger Kinder häu- 
figer ebenfalls schwachsinnig befunden als die Väter 3 ), wie sich auch indem 
Material von Reiter und O s t h o £ f zeigt. Das kann allerdings auch daher 
kommen, daß schwachsinnige Männer weniger zur Ehe kommen als schwach- 
sinnige Mädchen. 

f Ö* Q 



\Narmale Nachkommenschaft] 



c? 
1~~ ~1. 



9 



9 



9 



cf 



-t——\ 



<f & 9 9 9 9 er 



Flg. 187. Schwachsinn nach G o d d a r d. (Ausschnitt aus der Sippe 

„Kallikak".) 

Die erste größere Arbeit über die Erblichkeit des Schwachsinns wurde 
i. J. 1912 von dem Amerikaner Goddard 3 ), einem Nichtarzt (anschei- 
nend einem Philologen), veröffentlicht. Ausgehend von einem debilen Mäd- 
chen, das in einer Internatschuic für schwachsinnige Kinder untergebracht 
war, konnte er eine Nachkommenschaft von 480 Köpfen auf eine debile 
Stammutter zurückführen, die während des amerikanischen Freiheitskrieges 
von einem geistig gesunden Mann geschwängert worden sein soll. Von den 
Nachkommen waren 143 schwachsinnig und außerdem noch andere geistig 
minderwertig. Aus der Ehe desselben Mannes mit einer geistig normalen 



!) Ii u t h , A. II. The marriage of near kin. 2. Aufl. London 1887. 

2 ) Kreyenbcrg. Zur Frage der Erblichkeit des „endogenen" und 
„exogenen" Schwachsinns. Der Erbarzt Jg. 1. Nr. 7. S. 112. 1934. 

3 ) Goddard, H. H. The Kallikak [amily. New York 1912. Deutsch 
von K. Wilker. Die Familie Kallikak. 2. Aufl. Langensalza 1934. 



| ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 531 

f Frau gingen im Lauf der Generationen 496 Nachkommen hervor, unter denen 

kein einziger Fall von Schwachsinn gefunden wurde. Diese Gegenüberstel- 
lung hat seinerzeit großen Eindruck gemacht als Illustration des Satzes, 
daß die Sünden der Väter heimgesucht würden an den Kindern bis ins dritte 
und vierte Glied. Unter dem Einfluß dieser moralischen Tendenz hat 
Goddard die Bedeutung der einen Stammutter überschätzt. Auch wenn 
der Stammvater Martin Kallikak 1 ) das schwachsinnige Mädchen nicht ge- 
schwängert hätte — vorausgesetzt, daß er überhaupt der Vater war — , wäre 
vermutlich eine minderwertige Nachkommenschaft von ähnlichem Ausmaß 
aus den übrigen minderwertigen Ahnen hervorgegangen. Die Erblichkeit 
des Schwachsinns ist also nur eine Voraussetzung seiner Häufung in dieser 
Sippe; die tatsächliche Häufung ist in der Hauptsache auf geschlechtliche 
und soziale Auslese zurückzuführen, darauf, daß geistig Minderwertige in 
der Regel nur ebensolche Ehegatten bekommen. In der „Familie Kallikak" 
gingen aus 40 Ehen zweier Schwachsinniger 220 schwachsinnige und nur 
2 normale Kinder hervor. Bei Dominanz der Anlage — und da es sich meist 
um leichten Schwachsinn vom Grade der Debilität handelte, läge dominan- 
ter Erbgang nahe — wären eigentlich mehr normale Kinder zu erwarten 
(bis zu einem Viertel), bei Rezessivität dagegen lauter schwachsinnige. Es 
ist aber mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die debilen Männer der Mütter 
gar nicht die Väter der beiden normalen Kinder waren. Auch müßte der nor- 
male Stammvater Martin Kallikak im Falle der Rezessivität selbst eine An- 
lage zu Schwachsinn enthalten haben, da er andernfalls nicht den schwach- 
sinnigen Sohn hätte haben können, den Goddard ihm zuschreibt Aus 
diesen und andern Gründen kann die Arbeit Goddards nicht als ein- 
wandfreies Material über die Erblichkeit des Schwachsinns gelten. Die Be- 
deutung illegitimer Vaterschaft wird durch eine Mitteilung von Em -er ick 2 ) 
beleuchtet, der aus einer Schwachsinnigenanstalt des Staates Ohio den Fall 
berichtet hat, daß zwei schwachsinnige weiße Eltern 10 schwachsinnige und 
2 normale Kinder hatten; während die schwachsinnigen Kinder weiß waren, 
waren die beiden normalen Mulatten. 

Da die normalen Unterschiede der Begabung polymer be- 
dingt sind, ist zu vermuten, daß auch die leichten Schwach- 
sinnsformell an der Grenze der normalen Dummheit bis zu einem 
gewissen Grade polymer sein werden. Außerdem aber gibt es 
verschiedene krankhafte Erbanlagen, die teils schon hetero- 
zygot, teils erst homozygot Schwachsinn verursachen. Der 
Schwachsinn ist also keine biologische Einheit. Ebensowenig 
wie alle Arten körperlicher Schwäche auf eine gemeinsame Erb- 
anlage zurückgeführt werden können, darf man das von der 
geistigen Schwäche erwarten. 

Die meisten Schwachsinnigen sind auch körperlich als nicht 
normal zn erkennen. Sie zeigen disharmonische Kopfbildung, 



1 ) Kallikak ist ein Pseudonym; es bedeutet wörtlich gut - schlecht und 
soll andeuten, daß die eine Hälfte der Sippe wertvoll, die andere minder- 
wertig war. 

2 ) Angeführt nach East, E. M. The inheritance of mental characteri- 
stics. Mental Hygiene. Bd. 15. Nr. 45—51. 1931. 



34* 



532 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Asymmetrien, Mikrokephalie u. a. Höchstens ein Zehntel macht 
äußerlich einen einigermaßen normalen Eindruck ; und das 
sind meist Fälle, deren Geistesschwäche durch äußere Ur- 
sachen wie Geburtsverletzung oder Hirnentzündung (Enzepha- 
litis) verursacht ist. Abnorme Kleinheit des Kopfes läßt mit 
Sicherheit auf Schwachsinn schließen. Es gibt zwar Schwach- 
sinnige mit großem. Kopf; aber Individuen mit ausgesproche- 
ner Mikrokephalie (Kopfumfang unter 52 cm) sind nach Zie- 
ten regelmäßig geistesschwach. 

Heilbar ist erbbedingter Schwachsinn nicht. Nur der als Teilerschei- 
nung des Myxocdcms auftretende Schwachsinn kann durch Schilddrüsen- 
präparate gebessert werden. Die vor einigen Jahren da und dort versuchte 
Röntgentherapie des Schwachsinns ist mindestens Unfug. Man hat als Spät- 
folgen solcher Bestrahlungen chronische Röntgenhaut und epileptische 
Krämpfe auftreten sehen. Aufwendungen für Schwachsinnige, die über die 
für normal begabte Kinder wesentlich hinausgehen ■ — Hilfsschule!" kosten 
rund das Doppelte wie andere Volksschüler — , sind ein sozialer Mißstand. 

Die häufigste Gruppe der Geisteskrankheiten ist die der 
S chizophrenie 1 ) oder Dementia praecox 2 ) Das Lei- 
den setzt gewöhnlich im 2. oder 3. Jahrzehnt, öfter aber auch 
erst später ein. Es kann sich in recht verschiedenen Formen 
darstellen; allen gemeinsam ist eine weitgehende Verödung des 
Gefühls- bzw. Willens leb ens. In den meisten Fällen entwickelt 
sich auch eine mehr oder weniger weit gehende Geistesschwäche. 

Die Kranken werden von sinnlosen Antrieben und sinnlosen Hemmun- 
gen beherrscht. Regellose Bewegungsantriebe können zu unbezähmbarem 
Toben führen, und andererseits können die Kranken lange Zeit in eine ganz 
unzugängliche Starre und Willcnssperrung verfallen, so bei einer der schwer- 
sten Formen, der Katatonie. Andererseits kann das Leiden auch von 
vornherein unter dem Bilde einer einfach schleichenden Verblödung ver- 
laufen: Dementia siraplex. Durch eine besondere Zerfahrenheit des 
Denkens ist die Hebephrenie gekennzeichnet. In andern Fällen können 
Sinnestäuschungen und systemlose Wahnbildungen das Bild beherrschen: 
Dementia paranoides. Ist die Walmbildung mehr systematisch und 
beständig, so spricht man von P a t a p h reni e. In den meisten Fällen 
verläuft die Schizophrenie in Schüben mit ziemlich plötzlichen Verschlim- 
merungen, die gelegentlich von Besserungen unterbrochen sein können, bis 
das Leiden schließlich zu einem gewissen Stillstand zu kommen pflegt. 



1 ) Der Name Schizophrenie stammt von F. Bleuler und heißt wört- 
lich „Spaltung des Geistes"; er besagt, daß die geistige Einheit zerspalten 
ist; die Teile der geistigen Persönlichkeit sind gewissermaßen selbständig 
geworden und widerstreben einander, so daß keine einheitliche Willensbil- 
dung mehr erfolgt. 

H ) Der Name Dementia praecox stammt von E. K r a e p e 1 i n 
und bedeutet wörtlich ,, Verblödung im jugendlichen Alter"; er trifft eigent- 
lich nur gewisse Endzustände des Leidens. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 533 

Die schizophren Veranlagten zeigen meist schon vor dem 
Ausbruch einer eigentlichen Geisteskrankheit leichtere Ano- 
malien mit Abstumpfung des Gefühls- und Willens leb ens, und 
andererseits kommen in den Familien Schizophrener in der 
Regel auch noch andere derartige „schizoide" Psychopathen 
vor, bei denen es aber zum Ausbruch einer ausgesprochenen 
Geisteskrankheit nicht zu kommen braucht und meist auch nicht 
kommt. J. Lange 1 ) sagt von den schizoiden Psychopathen: 
„Ihr Persönlichkeitsbild sieht oft genug dem ähnlich, was ein 
erster oder einige leichte schizophrene Krankheitsschübe erst 
aus einer ursprünglich vielleicht wenig auffälligen Persönlich- 
keit schaffen. Es handelt sich um Sonderlinge, eigenartige, ab- 
geschlossene, in sich versponnene Menschen, ohne sichtbare 
Resonanz für ihre Mitmenschen, mit seltsamen religiösen, poli- 
tischen, weltanschaulichen Ideen, mit dieser oder jener Feind- 
schaft, mit Mißtrauen oder Abgunst im Herzen, oft zugleich 
empfindlich, gelegentlich brutal oder stumpf und unberührt." 

Lux enbu rge r 2 ) hat für die Bevölkerung Münchens 
eine Wahrscheinlichkeit von 0,850/0 errechnet, im Lauf des 
Lebens an Schizophrenie zu erkranken. Brugger 3 ) hat für 
Basel eine fast doppelt so große Gefährdung gefunden, näm- 
lich rund 1,5%. In der alemannischen Bevölkerung scheint 
Schizophrenie deutlich häufiger als in der bayerischen zu sein. 
Vermutlich ist auf dem Lande die Häufigkeit der Schizophrenie 
etwas größer als in der Stadt, da schizoide Psychopathen sieb 
dort eher halten können und Verwandtenehen auf dem Lande 
häufiger sind. Für die deutsche Bevölkerung im Durchschnitt 
wird man wohl mit einer Gefährdung von 1 o/ rechnen müssen, 
an ausgesprochener Schizophrenie zu erkranken. Das würde auf 
die Reichsbevölkerung rund 650000 machen. Da die Schizo- 
phrenen im Kindes- und Jugendalter zunächst gesund zu er- 
scheinen pflegen, ist die Zahl der manifest Schizophrenen zu 
einer gegebenen Zeit jedoch nicht ganz halb so groß. Rüdin 4 ) 
schätzt sie auf 280 000. Zu diesen manifest Kranken kommen 



1 ) Lange, J. In „Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt". Ver- 
öffentl. aus dem Gebiet der Medizinalverwaltung. Bd. 38. Ii. 5. 1932. 

2 ) Luxenburgcr, H. Demographische und psychiatrische Unter- 
suchungen der engeren biologischen Familie von Paralytikerehegatten. Zeit- 
schrift für Neurologie. Bd. 112. S. 330. 1928. 

3 ) Brugger, C. Zur Frage einer Belastungsstatistik der Durch- 
schnittsbevölkerung. Zeltschr. für Neurologie. Bd. 1 1 8. FL 3. 1929. S- 459. 

4 ) Gütt,A., Rüdin,E-, Ruttke, F. Kommentar zum Gesetz zur 
Verhütung erbkranken Nachwuchses. München 1934. J. F. Lehmann. 



534 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERDANLAGEN 



aber noch viele leicht Erkrankte, j. Lange 1 ) ist überzeugt, 
es gebe viel mehr im Grunde schizophrene Menschen, als die 
Auszählung der offensichtlich Kranken es annehmen lasse. 
Diese Tatsachen sind auch für die Beurteilung der Erbbedingt- 
heit der Schizophrenie wichtig, 

Die Erhebungen an dem von Rüdin geleiteten Kaiser Wil- 
helm-Institut für Genealogie der Deutschen Forschungsanstalt 
für Psychiatrie in München haben ergeben 2 ), daß von den Ge- 
schwistern der Schizophrenen 7,5 o/o ebenfalls schizophren, 9,70/0 
schizophrenieähnliche Psychopathen und 16,3% andere Psycho- 
pathen, im ganzen also ein Drittel nicht normal waren. Unter den 
Kindern waren 9,1 o/ Schizophrene, 17,6% schizophrenieähnliche 
Psychopathen und 22,6% andere Psychopathen, im ganzen also 
fast die Hälfte abnorm. Diese Zahlen sprechen eher für domi- 
nante oder intermediär sich äußernde Erbanlagen als für 
eigentlich rezessive, die Rudi n 3 ) zunächst vermutet hatte. 
Bei rezessivem Erbgang wäre ein wesentlich größerer Hundert- 
satz unter den Geschwistern als unter den Kindern zu erwarten, 
Wenn beide Eltern schizophren waren, wurden 5 3 0/0 der Kinder 
als schizophren und 29 0/0 als schizophrenieähnliche Psycho- 
pathen befunden. Auch das paßt besser zu unregelmäßig do- 
minantem als zu rezessivem Erbgang. Auch der Umstand, daß 
Rüdin unter 700 Fällen I4mah d. h. in 2+0,5%, Vetternehe 
der Eltern fand, genügt nicht, um Rezessivität zu belegen. Die 
Zahl ist innerhalb der Fehlergrenzen mit der in jener Genera- 
tion durchschnittlichen Häufigkeit der Vetternehen (rund i°/o) 
vereinbar. Bei der großen Häufigkeit der Schizophrenie wäre 
allerdings auch bei rezessiver Erbbedingtheit kein hoher Hun- 
dertsatz von Vetternehen zu erwarten. Unter 21 Paaren ein- 
eiiger Zwillinge fand Luxenburger 4 ) I4mal beide Zwil- 
linge schizophren, 7 mal nur den einen, unter 3J Paaren zwei- 
eiiger Zwillinge immer nur den einen. An der wesentlichen 
Erbbedingtheit der Schizophrenie kann also auch auf Grund 
der Zwillingsforschung kein Zweifel sein. Aus dem Umstände, 
daß die 37 zweieiigen Zwillingspaare diskordant befunden wer- 



2 ) A. a. O. 

3 ) Luxenburger, H. Die Ergebnisse der Erbprognose in den vier 
wichtigsten Erbkreisen. Zeitschritt für psychische Hygiene 1933. 

3 ) R ü d i n , E. Zur Vererbung und Neucntstchung der Dementia prae- 
cox. Berlin 19 16. Springer. 

4 ) Luxenburger, H. Psychiatrisch-neurologische Zwillingspatho- 
logie. Zentralblatt für Neurologie. Bd. 56. S. 145. 1930. 



ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 535 

den, folgt natürlich nicht, daß die Diskordanz 100 0/0 betrage. 
Bei einer Häufigkeit von 7,50/0 unter den Geschwistern wäre 
ein konkordantes Paar auf 25 diskordante zu erwarten; das 
Fehlen eines solchen Paares ist also vermutlich Zufall. Die Dis- 
kordanz bei 7 eineiigen Paaren zeigt, daß die schizophrene 
Erbanlage nicht unter allen Umständen zur manifesten Er- 
krankung zu führen braucht; unter der Annahme, daß das 
Zahlenverhältnis 14 konkordant: 7 diskordant allgemein gelte, 
würde daraus folgen, daß die Schizophrenieanlage bei etwa 
einem Fünftel ihrer Träger nicht zum Ausbruch komme (vgl. 
d. Abschn. über Methoden). Legras 1 ) fand 6 Paare eineiiger 
Zwillinge konkordant schizophren und 10 Paare zweieiiger dis- 
kordant. Die Mitwirkung von Umwelteinflüssen als auslösenden 
Ursachen ist nicht sicher auszuschließen; doch kennt man 
außer der erblichen Veranlagung bisher keine Ursachen der 
Schizophrenie. Einstweilen wird man vermuten dürfen, daß die 
Anlage bis zu einem gewissen Grade entwicklungs- oder viel- 
leicht auch umweltlabil ist. 

R ü d i n , Hoffraann 2 ), Strolimayer und andere haben die Ver- 
mutung ausgesprochen, daß Anlagen, die homozygot Schizophrenie verur- 
sachen, sich heterozygot vielleicht als schizoide Psychopathie äußern würden. 
Solche Anlagen würden also als intermediär anzusehen sein. Wenn man nur 
die ausgesprochene Geisteskrankheit ins Auge faßt und die Psychopathen 
in der Verwandtschaft zu den Gesunden rechnet, würde die Krankheit sich 
als rezessiv erblich darstellen. Wenn man dagegen die Psychopathen mit 
den eigentlichen Geisteskranken zusammenrechnet, würde sich das Bild 
dominanten Erbgangs ergeben. Für die Hypothese, intermediären Verhal- 
tens spricht der Umstand, daß zwei psychopathische Eltern oft schizo- 
phrene Kinder haben. Andererseits sind aber nicht in jedem Falle beide 
Eltern eines Schizophrenen schizoid; auch sind nicht sämtliche Kinder von 
Schizophrenen schizoide Psychopathen, wie es die Hypothese intermediären 
Verhaltens einer Erbanlage erfordern würde. 

S t r o h m a y e r 3 ) hat den Erbgang der schizoiden bzw. schizophrenen 
Anlage in der Geschichte deutscher Fürstengeschlcchter über Jahrhunderte 
verfolgen können. Fürstliche Familien sind für solche Studien besonders 
geeignet, weil über ihre Mitglieder auch aus früheren Jahrhunderten beson- 
ders viele Nachrichten vorliegen. So finden sich in der Nachkommenschaft 
des im J. 1535 geborenen Wilhelm des Jüngeren von Braunschweig-Lüne- 
burg 4 ), der offensichtlich an Schizophrenie litt, eine ganze Anzahl schizoider 

1 ) Legras, A. M. Psychose en criminalität bij tweelingen. Disser- 
tation Utrecht. 1932. 

2 ) HoEfmann, H. Die Nachkommenschaft bei endogenen Psychosen. 
Berlin, Springer 1921. 

3 ) Stiühmayer, W. Die Ahnentafel der Könige Ludwig II. und 
Otto I. von Bayern. Archiv für Rassen- u. Gesellschaftsbiologie 1910. FI. 1. 

4 ) Genealogische Angaben über seine Nachkommenschaft verdanke ich 
Herrn Dr. Friedrich Lehmann in München. 



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536 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Psychopathen, so Georg I. von Hannover und sein Sohn Georg IL, ferner 
Friedrich Wilhelm I. von Preußen und sein Sohn Friedrich II. Das Beispiel 
der beiden Letzteren zeigt, daß die schizoide Anlage sich nicht notwendig 
unheilvoll auszuwirken braucht. In den bayerischen Königen Ludwig IL 
und Otto I, dagegen ist die krankhafte Anlage anscheinend von beiden Eltern 
- her zusammengetroffen. Otto I. litt an 

® typischer Schizophrenie (Dementia Sim- 

plex). Bei Ludwig II. ist Paranoia ange- 
nommen worden. Da sich bei ihm indessen 
auch Sinnestäuschungen des Gehörs und 
Gesichts sowie Verfall der Verstandes- 
kräfte einstellten, kann auch bei ihm 
Schizophrenie (in der Form der Para- 
phrenie) als sichergestellt gelten. Fig. i 88 
zeigt, wie von Wilhelm dem Jüngeren 
verschiedene Linien ausgehen, auf denen 
die krankhafte Anlage weitergegeben 
worden sein kann, bis nach g bzw. io 
Generationen zwei derartige Anlagen wie- 
der zusammengetroffen sein mögen. Psy- 
chopathie findet sich auch in der elter- 
lichen und großelterlichen Generation; in 
den früheren Ist sie genealogisch natürlich 
schwer zu verfolgen, was aber keineswegs 
ihr Vorhandensein ausschließt. 

Eine Sippentafel, die gut zu der 
Annahme paßt, daß gewisse krankhafte 
Erbanlagen heterozygot schizoide Psy- 
chopathie, homozygot dagegen Schizo- 
phrenie bedingen können, hat auch Han- 
h a r t 1 ) in einem Inzuchtgebiet der 
Schweiz erheben können. Ebenso paßt 
das Ergebnis einer Sippenforschung von 
Lange 2 ) zu dieser Hypothese. 

Im übrigen ist die klinisch, 
abgegrenzte Gruppe der Schizo- 
phrenie sicher keine biologische 
Einheit. Auch Kretsc h m e r 3 ) 
er nicht behaupten wolle, daß 
der schizophrene bzw. schizoide Formenkreis etwas biolo- 
gisch Einheitliches sein müsse. Ebenso sieht Bleuler 4 ), von 
dem der Name Schizophrenie stammt, in der Gruppe der 






? 9 ? 



Fig. 188. 
Die Abstammung der bayerischen 
Könige Ludwig II. (* 1845) miQl 
Ottol. (* 1848") von Wilhelm dem 
Jüngeren von Braunschweig-Lüne- 
burg (* 1535)- 

bemerkt ausdrücklich, daß 



*) Nach persönlicher Mitteilung. 

a ) Lange, J. Genealogische Untersuchungen an einer Bauernsipp- 
schaft. Zeit sehr. f. d. ges. Neurologie und Psychiatrie. Bd. 97. H. 3/4. 1925. 

3 ) Kretschmer, E. Körperbau und Charakter. 3. Aufl. Berlin 1925. 
Springer. 

4 ) Bleuler, E. Lehrbuch für Psychiatrie. Berlin. J. Springer. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 537 



T~~r 



0^5 



Fig. 1S9. 

Schizophrenie und schizoide 

Psychopathie (Ausschnitt) 

Nach Hanliar t. 



Schizophrenien eine Anzahl von biologisch nicht gleichartigen 
Anomalien. 

Zu der Gruppe der Schizophrenien haben die paranoiden Geistesstö- 
rungen enge Beziehungen. R ü d i n x ) rechnet auch die chronische Para- 
noia mit zur Schizophrenie. Man spricht von Paranoia oder Ver- 
rücktheit, wenn sich langsam ein unerschütterliches Wahnsystem her- 
ausbildet ohne besondere Störung der sonstigen Klarheit des Denkens. Es 
gibt allerlei Übergänge zur Gesundheit. Die paranoiden Psychopa- 
then zeichnen sich durch eigentümliches Mißtrauen gegen ihre Umgebung 
aus, das mit mehr oder weniger auffälliger Selbstüberschätzung einherzu- 
gehen pflegt. Sie fühlen sich verkannt, angefeindet, beeinträchtigt, unge- 
nügend beachtet. Besonders der 

Q u e r u I a n t e n w a h 11 , der ^71 

sich in äußerst hartnäckigen + 

und langwierigen Anstrengun- ' — i — ' 

gen zur Durchsetzung eingebil- 
deter oder öfter auch wirklicher 
Rechtsansprüche zu äußern 
pflegt, scheint nach v. Eco- 
n o m s ) biologisch zu den 
Schizophrenien zu gehören, v. 
E c o n o m o fand, daß in einer 
Anzalü ausgesuchter Familien 
von den Kindern von Queru- 
lanten ein Viertel bis ein Drittel 
an Schizophrenien erkrankte 

und kaum ein Drittel geistig gesund war, während der Rest psycho- 
pathisch (schizoid) war. Lange 3 ) andererseits ist zu dem Ergebnis ge- 
kommen, daß es eine besondere Veranlagung zu Paranoia bzw. paranoider 
Psychopathie gibt. Beide Ansichten brauchen sich nicht zu widersprechen; 
es kann sein, daß die Paranoia etwas biologisch Besonderes in der klini- 
schen Gruppe der Schizophrenien darstellt. 

Zusammenfassend kann man heute wohl sagen, daß der 
einzelne Fall von Schizophrenie in der Regel nicht durch eine 
einzige pathogene Erbeinheit bedingt ist, daß vielmehr in der 
Regel zwei, sei es allele, sei es nicht allele, Erbeinheiten zu- 
sammentreffen müssen, um das Bild einer schizophrenen Psy- 
chose zu erzeugen. Die einzelnen pathogenen Erbeinheiten die- 
ser Gruppe sind offenbar nicht wesensgleich; je nachdem sie 
mit dieser oder jener anderen Erbeinheit der Gruppe zusammen- 
treffen, entstehen vermutlich verschiedene Krankheitsbilder; 
und durch weitere Erbanlagen, die für sich allein nicht patho- 
gen sind, sowie durch Umwelteinflüsse können weitere Ab- 

*) Gütt, Rüdin, Ruttke. Vgl. S. 533. 

2 ) v. Economo, C. Über den Wert der genealogischen Forschung 
für die Einteilung der Psychosen usw. Münchn. med. Wochenschr. 1922. 

3 ) Lange, J. Über die Paranoia und. die paranoische Veranlagung. 
Zeitschr. für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 94. 1924. 



cf ? cf 9 



CT 



? 



538 f^/rZ 1.C/VZ, D/£ KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

Wandlungen entstehen. Eine Polymerie in dem Sinne anzu- 
nehmen, daß in jedem Falle mehr als zwei pathogene Erbein- 
heiten vorhanden sein müßten, besteht kein Anlaß. 

In der jüdischen Bevölkerung sind Geisteskrankheiten doppelt bis drei- 
mal so häutig als in der nichtjüdischen; insbesondere gilt das für die 
Schizophrenien 1 ). 

Die Dementia senilis oder Altersverblödung scheint nach 
einer Arbeit von Weinbcrger 2 ) aus dem Rüdinschen Institut keine 
genetischen Beziehungen zur Schizophrenie zu haben; dagegen war die 
gleichartige Belastung mit Dementia senilis deutlich größer als in der 
Durchschnittsbevölkerung. Sippenforschungen darüber begegnen großen 
Schwierigkeiten, da die meisten Menschen vorzeitig sterben und da man von 
den lebenden Nachkommen noch nicht weiß, wie sie im Greisenalter be- 
schaffen sein werden. Präscnilc Verblödungen, die im 6. oder 7. Jahrzehnt 
auftreten und wesentlich seltener sind, als die meist 
erst im 8. Jahrzehnt auftretende senile Demenz 
scheinen nach Schottky 3 ) ebenfalls erbbedingt zu 
sein. 

Die Vergreisung scheint zwar durch schwere 
körperliche und geistige Arbeit, durch Sorgen und 
Aufregungen sowie durch Mißbrauch von Genuß- 
giften beschleunigt zu werden; in noch höherem 
Maße aber ist ihr Eintritt offenbar durch die Erb- 
masse bedingt, Sie tritt durchaus nicht bei allen 
Leuten im gleichen Alter und im gleichen Ausmaß 
auf. Ich kannte in meiner Studentenzeit zwei Brü- 
der von etwa 80 Jahren, denen ich mit 20 Jahren 
im Schachspiel kaum gewachsen war, obwohl ich 
eine beträchtliche Übung hatte. Der Höhepunkt geistiger Leistungsfähig- 
keit wird bei den meisten Menschen wohl schon mit 40 Jahren überschritten. 
Zu der Gruppe der erblich bedingten Verblödungen ist 
auch die sog. amaurotische Idiotie zu rechnen. Die 
infantile Form äußert sich bei anscheinend normal, geborenen 
Kindern im ersten oder zweiten Lebensjahr und führt unter 
zunehmender Verblödung, Krämpfen, Lähmung der Gliedma- 
ßen und Erblindung zum Tode. Mit den sonstigen Idiotien, 
die in angeborenen, nicht fortschreitenden Zuständen von Gei- 
stesschwäche bestehen, gehört das Leiden also nicht zusammen, 
eher mit den unter den Augenleiden besprochenen erblichen 



Cf Cf 



1 



Fig. 190. 
Infantile amauro- 
tische I diotic. 
Nach v. S tarck 4 ), 



i) Lang, Th. Die Belastung des Judentums mit geistig Auffälligen. 
Nationalsozialistische Monatshefte. Jg. 3. H. 24. 1932. 

a ) Weinberger, H. L. Über die hereditären Beziehungen der seni- 
len Demenz. Zeit sehr, für Neurologie. Bd. 106. H. 4/5. S. 666. 1926. 

3 ) Schottky, J. Über präsenile Verblödungen. Zeitschrift für Neu- 
rologie. Bd. 140. H. 3/4. S. 333. 1932- 

4 ) v. S tarck. Zur Kasuistik der familiären amaurotischen Idiotie. 
Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd, 18. H. 2. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN Ü. PSYCHOPATHIEN. 539 



MaculaverÖdungen. Man könnte von Dementia amauro- 
ticans sprechen. Bemerkenswert ist, daß dieses Leiden, das 
anscheinend einfach rezessiv ist, fast ausschließlich in jüdischen 
Familien vorkommt. 

Die juvenile amaurotische Idiotie (treffender 
Dementia am au r tic an s juvenilis) setzt meist um 
die Zeit des Zahnwechsels, also um das sechste Lebensjahr ein. 
Die Kinder werden im Lauf einiger Jahre blind und verblöden; 
sie werden schließlich völlig lahm und sterben meist mit 14 
bis 16 Jahren. Das Leiden ist in Deutschland sehr selten, in 
Schweden häufiger; bei jüdischen Kindern ist es im Ge- 
gensatz zu der in- 

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Fig. 191. 

Juvenile amaurotische Idiotie. 
Nach Sjögren. 



fantilen amaurotischen 
Idiotie bisher über- 
haupt nicht beobachtet 
worden. Es ist also ein 
von jener genetisch ver- 
schiedenes Leiden. 
Sjögren 1 ), der in 

jahrelanger Arbeit 
den Erbgang vorbild- 
lich erforscht hat, Ist 
zu dem Schluß ge- 
kommen, daß es sich 

um ein einfach rezessives Erbleiden handelt. 250/0 der damit 
behafteten Kinder stammen aus Verwandtenehen (bis zu Vet- 
ternehen 2. Grades gerechnet), aus Vetternehen 1. Grades 
allein 150/0. Die Geschwistermethode ergibt rund 250/0 gleich- 
artig erkrankte Geschwister. 

Die Anzahl der heterozygoten Anlageträger hat Sjögren näherungs- 
weise auf l,2°/o berechnet; das entspricht einer Häufigkeit des Leidens von 
rund 1:30000. Es wurde in 59 schwedischen Sippen festgestellt, die sich 
auf 22 geographische Herde verteilen. 

Für die Entstehung der Dementia paralytica oder progres- 
siven Paralyse (wenig treffend auch „Gehirnerweichung" genannt) ist 
die erbliche Veranlagung nicht wesentlich. Es handelt sich dabei vielmehr 
um eine besondere Verlaufsform der Syphilis. 

Als Epilepsie (Fallsucht) werden Zustände abnormer 
Anfälligkeit der Hirnrinde zusammengefaßt, die sich in Anfäl- 
len von Bewußtlosigkeit mit eigentümlichen Krämpfen äußern. 
Auch infolge äußerer Ursachen wie Hirnverletzungen oder in- 



1 ) S j ö g r e n , T. Die juvenile amaurotische Idiotie. Hereditas. Bd. 14. 
S. 197. 1931. 



540 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN 

fektiöser Gehinierkrankungen im Kindes alter kann das Bild 
der Epilepsie sich entwickeln. Als „genuine Epilepsie" bezeich- 
net man solche Formen, bei der äußere Anlässe nicht aufge- 
funden werden, in schweren Fälle führt das Leiden zu Verblö- 
dung, die sich anatomisch in Verödung der Hirnrinde darstellt. 

Ein erheblicher Teil aller Fälle von Epilepsie soll durch 
Alkoholmißbrauch ausgelöst werden („Alkoholepilepsie"), Die 
epileptische Veranlagung soll sich auch unter dem Bilde ande- 
rer geistiger Störungen äußern können, z. B. in Anfällen unbe- 
zähmbarer Unruhe oder in Bewußtseinstrübungen ohne Krämpfe 
(sogenannten Dämmerzuständen). 

Ein Teil der Kinder von Epileptikern geht früh an 
„Krämpfen" zugrunde. Andererseits gibt es Epileptiker, bei 
denen nur ganz wenige oder nur ein einziger Anfall im Leben 
beobachtet wird (Oligoepilepsie nach J. Lange). Vermutlich 
gibt es auch Anlageträger, die nie einen Anfall bekommen. 

Rund ioo/o aller Epileptiker stammen von einem epilep- 
tischen Elter ab, und von den Kindern der Epileptiker sind 
rund 10 o/o ebenfalls epileptisch. Unter den Geschwistern der 
Epileptiker sind in Rüdins Institut nur 30/0 Epileptiker ge- 
funden worden, dagegen 19 0/0 epileptische Psychopathen und 
160/0 andere Psychopathen. Boening und Konstantinu 1 ) 
fanden unter 428 Probandengeschwistern 4 bis 50/0 Epileptiker. 
Es ist nicht wohl möglich, aus diesen Befunden auf einen ein- 
heitlichen Erbgang zu schließen. Nach Rüdin 2 ) soll es rezes- 
sive Erbanlagen für Epilepsie geben, außerdem vielleicht auch 
seltene dominante. Indessen spricht der Umstand, daß unter 
den Geschwistern der Epileptiker weniger gleichartig Kranke 
gefunden werden als unter den Kindern, gegen rezessiven Erb- 
gang. 10 «/o gleichartig kranke Kinder finden sich auch bei 
Schizophrenie. Da die Epilepsie höchstens ein Drittel so häufig 
wie die Schizophrenie ist, wären bei rezessivem Erbgang beider 
Leiden lange nicht 10 0/0 epileptische Kinder zu erwarten. Auch 
daß Blutsverwandtschaft der Eltern nicht überdurchschnittlich 
häufig festgestellt werden konnte, spricht gegen rezessive Erb- 
bedingtheit. 



A ) Boening, H. und Konstantinu, Th. Encephalographische 
und erbbiologische Untersuchungen an gesunden Epileptikern. Archiv für 
Psychiatrie. Bd. 100. H. 2. S. 171. 1933. 

2 ) Rüdin, E. Der gegenwärtige Stand der Epilcpsicforsclmng. Genea- 
logisches. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 89. 
FI. 1/3. 1924. 



ERBE. GEISTESKRANKHEITEN ü. PSYCHOPATHIEN. 541 

Ger um 1 ) hat dieses Argument durch den Hinweis auf große Häufig- 
keit gesunder Anlageträger entkräften zu können gemeint. Er schätzt diese 
auf 1 : 100 bis 1 ; 200. Nun sind aber bei der rezessiven Taubstummheit ge- 
sunde Anlageträger sogar noch häufiger; und doch kommt .Blutsverwandt- 
schaft der Eltern dort bei rund einem Drittel vor. Erst wenn eine rezessive 
Erbanlage in mehr als jedem Zehnlei aller Menschen vorhanden sein würde, 
würde der Nachweis einer erhöhten Zahl blutsverwandter Eltern Schwierig- 
keiten machen. Da nur bei rund 3 0/0 der Geschwister Epilepsie beobachtet 
wird, müßte man bei rezessivem Erbgang weiter annehmen, daß die Anlage 
sich auch homozygot nur in einem Achtel der Fälle äußere. Bei einer Häufig- 
keit der Epilepsie von 1 : 400 würde das eine Häufigkeit homozygoter An- 
lageträger von 1 : 50 geben; jeder vierte Mensch wäre dann als heterozygoter 
Träger einer Anlage zu Epilepsie anzusehen. Und selbst bei einer solchen 
Häufigkeit wären nur rund 1,5% epileptische Kinder zu erwarten, während 
es tatsächlich 10 0/0 sind. Die Annahme, daß Epilepsie hauptsächlich durch 
rezessive Erbanlagen bedingt sei, macht also Schwierigkeiten. 

L e g r a s 2 ) berichtet über zwei konkordante und ein dis- 
kordantes Paar einenger Zwillinge. Schulte 3 ) hat 8 diskor- 
dante und 2 konkordante Paare eineiiger Zwillinge gefunden. 
Eine Sammelforschung von Conrad 4 ) aus dem Rüdin- 
sehen Institut, die 253 Zwillingspaare umfaßt, hat dagegen bei 
eineiigen Zwillingen eine ■Konkordanz von 660/0 und bei zwei- 
engen eine solche von 3,1% ergeben. Wenn die nach der Vor- 
geschichte und dem klinischen Bilde als genuin erscheinenden 
Fälle für sich betrachtet wurden, so betrug die Konkordanz bei 
eineiigen Zwillingen sogar 86,30/0. Diese Zahlen sprechen da- 
für, daß die allermeisten Fälle von Epilepsie genuin im Sinne 
von erbbedingt sind und daß eine Erbanlage zu Epilepsie in 
der Regel sich auch äußert. 

In den Sippen von Epileptikern pflegen auch Psychopathen 
und Schwachsinnige gehäuft vorzukommen. Seit Ro einer 5 ) 
eine derartige Sippe beschrieben hat, ist das immer wieder be- 
stätigt worden. Unter den Geschwistern der Epileptiker fanden 
sich nach Luxenburger 190/0 epileptoide Psychopathen 
und 160/0 weitere abnorme Typen. Zum Teil dürfte das daher 
kommen, daß geistig minderwertige Anlagen in manchen Sip- 



1 ) Gerinn, K. Beitrag zur Frage der Erbbiologie der genuinen Epi- 
lepsie. Zeitschrift für Neurologie. Bd. 115. H. 3/4. S. 319. 1928. 

2 ) A. a. O. S. 100. 

3 ) Schulte, H. Zwillingserhebungcn bei genuiner Epilepsie. Monats- 
schrift für Psychiatric. Bd. 88. S. 341. 1934. 

4 ) Noch nicht veröffentlicht. Nach dem Manuskript mitgeteilt von K, IL 
S t a u d e r in den Fortschritten der Neurologie usw. Jg. 8. H. 1. 1936. 

B ) Roemer, H. Zur Symptomatologie und Genealogie der psychi- 
schen Epilepsie und der epileptischen Anla,ge. Allgem. Zeitschrift für Psy- 
chiatrie. Bd. 67. S. 588. 1910. 



& 



542 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



pen durch (negative) soziale Auslese gehäuft werden. Anderer- 
seits aber ist zu vermuten, daß gewisse krankhafte Erbanlagen 
sich meist in sonstiger Psychopathie und nur gelegentlich in 
der Form der Epilepsie äußern. 

Ein wohlgekennzeichnetes Erbleiden ist die Myoklonus- 
epilepsie. Diese geht mit eigentümlichen Reihen von Mus- 
kelzuckungen einher, deren einzelne Zuckungen so kurz sind, 
daß größere Bewegungen nicht zustande kommen. Die epilep- 
tischen Anfälle erfolgen meistens bei Nacht; schließlich kommt 
es zu Verblödung. Lundborg 1 ) beobachtete 17 Fälle bei Kin- 
dern blutsverwandter Eltern. Das von ihm gefundene Zahlen- 
verhältnis entspricht sehr gut dem einfach rezessiven Erbgang, 
so daß dieser als sichergestellt gelten kann. 

Lundborg konnte alle 1 7 in Schweden bekanntgewordenen Fälle 
von Myoklonusepilepsic auf ein einziges Ahnenpaar im 18. Jahrhundert 



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Fig. 192. 
Myoklonusepilepsic nach Lundborg (Ausschnitt). 

zurückführen; außerdem sind nur noch im Baltikum Fälle bekannt gewor- 
den; und diese stehen möglicherweise in genealogischem Zusammenhang 
mit den schwedischen. Aus der von Lundborg erforschten Sippe gebe ich 
einen Ausschnitt nach einer übersichtlichen Darstellung von Hanhart 8 ) 
wieder. 

Ein derart eindeutiges Bild rezessiver Erbbedingtheit zeigt die sonstige 
genuine Epilepsie zweifellos nicht. Man tut gut, sich zu erinnern, daß die 
Möglichkeit zu epileptischen Krampfanfällen auch in der normalen Erbmasse 

r ) Lundborg, H. Medizinisch-biologische Familienforschungen usw. 
Jena 1913. G. Fischer. 

a ) Nach persönlicher Mitteilung. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 543 



angelegt sein muß; denn infolge von Hirnverletzungen und lokalen Hirn- 
erkrankungen kann das Bild traumatischer Epilepsie auch bei normalen 
Menschen entstehen. Vermutlich gibt es eine erbbedingte erhöhte Krampf- 
bereitschaft chemisch-physiologischer Natur, die mit einer allgemeinen er- 
höhten motorischen Erregbarkeit einhergeht. Außerdem mag es entwick- 
lungsbedingte lokale Hirndefekte geben, die ähnlich wie Defekte nach Ver- 
letzungen zu epileptischen Krämpfen disponieren. 

Es gibt mehr als doppelt so viele männliche als weibliche Epileptiker. 
Die Ursache dieser unterschiedlichen Geschlech tsver teilung ist nicht bekannt. 
Ob rezessive geschlechtsgebundene Erbanlagen daran beteiligt sind, ist frag- 
lich. Vermutlich handelt es sich um eine teilweise geschlechtsbegrenztc Äuße- 
rung, wobei die größere Neigung des männlichen Geschlechts zu motori- 
schen Entladungen eine Rolle spielen mag. Die allgemeine Häufigkeit der 
genuinen Epilepsie ist ungefähr l /^/o. Unter Juden ist das Leiden wesent- 
lich seltener. 

Bei dem sogenannten manisch-depressiven oder 
( sprachlich einheitlicher) manisch-me .1 ancholischen 
Irresein oder (kürzer und treffender) der Z ykloph r enie 
handelt es sich um eine Gruppe von Seelenstörungen, die 
durch krankhafte Störungen der Stimmungslage gekennzeich- 
net sind. D ahin gehört die Melancholie, die sich in 
schwerster Hemmung des Seelenlebens durch tiefste traurige 
Verstimmung äußert, weiter die Manie, bei der das Seelen- 
leben durch unbändige heitere Erregung krankhaft gestört 
ist, das zirkuläre oder periodische Irresein, bei 
dem Zeiten von manischen, melancholischen und normalen Zu- 
ständen abwechseln. Auch die Zustände einfacher Melancholie 
oder Manie pflegen nach kürzerer oder längerer Zeit wieder 
einer normalen oder annähernd normalen Seelenverfassung zu 
weichen. Eine dauernde Zerstörung des Seelenlebens tritt also 
nicht ein. In der Hegel zeigen sich auch in den verhältnis- 
mäßig gesunden Zeiten leichtere Anomalien der Veranlagung, 
die auch für sich bestehen können, ohne daß es jemals zu 
schweren Geistesstörungen zu kommen braucht. 

Die leichteren Anomalien dieser Gruppe, soweit sie nur den Grad der 
Psychopathie, nicht den der ausgesprochenen Geisteskrankheit erreichen, 
werden nach Kretschmcr als zykloid bezeichnet, der ganze Formen- 
kreis als zyklothym. Ich habe in der ersten Auflage dieses Buches als 
zusammenfassende Bezeichnung für die manisch-melancholischen Scelcnstö- 
nmgen den Namen P a r a t h y m i e vorgeschlagen, ein Wort, das Meg- 
gendorfer um dieselbe Zeit unabhängig davon, allerdings in anderem 
Sinne gebraucht hat. Lange-Eichbaum hat von Zyklophrenie 
gesprochen, Bumke von Thyraopathie. Es wäre zu wünschen, daß 
sich eines dieser kurzen Worte an Stelle des umständlichen „manisch-de- 
pressives Irresein" einbürgern würde. Die Bezeichnung „Irresein" für die 
zyklophrencn Seelenstörungen ist auch irreführend, da die Kranken auch in 
schweren Phasen ihres Leidens nicht eigentlich „irre" sind. 



544 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Zyklophrene Geistesstörungen können in der Regel durch 
mehrere Generationen verfolgt werden. Unter den Geschwistern 
der Kranken werden rund ein Siebentel ebenfalls Zyklophrene 
gefunden, unter den Kindern ein Drittel und außerdem ein 
Drittel zykloide und andere Psychopathen 1 ). Wenn beide El- 
tern krank waren, so wurden unter den Kindern über ein Drit- 
tel gleichartig Kranke und außerdem fast die Hälfte zykloide 
Psychopathen gefunden, im ganzen neun Zehntel Abnorme. 
Anscheinend sind die meisten pathogenen Erbeinheiten, die 
zyklophrene Seelenstörungen verursachen, dominant. Vettern- 
ehen sind bei den Eltern nicht in überdurchschnittlicher Zahl 
gefunden worden, was gegen Beteiligung rezessiver Erban- 
lagen spricht. 

Es sind rund 30 Paare eineiiger Zwillinge beschrieben 
worden, von denen beide an zyldophrenen Störungen erkrank- 
ten. Bei zweieiigen Zwillingen dagegen kam auf 16 Paare nur 
ein konkordantes. Im einzelnen kann das Krankheitsbild bei 
einengen Zwillingen erhebliche Unterschiede im zeitlichen Auf- 
treten der Phasen und in ihrer Ausprägung aufweisen, wie 
Luxenburger 2 ) gezeigt hat. Man muß also an die Mitwir- 
kung von Umwelteinflüssen denken. 

Bei einem Zwillingsschwesternpaar Luxenburgers, bei deren 
einer sich ein großer Kropf und ein schwerer melancholischer Dauerzustand 
entwickelte, bezweifle ich die Annahme der Eineiigkeit, die nur auf anamne- 
stische Angaben nach dem Tode begründet wurde. Nicht zuzustimmen 
vermag ich auch Luxenburgers Ansicht, daß das Manisch-Depres- 
sive „eine biologische Einheit, einen Biotypus" darstelle. Ein Biotypus im 
Sinne Johannsens setzt die gleiche Erbformel bei allen dazugehörigen 
Individuen voraus. Das aber scheint mir in diesem Falle ausgeschlossen zu 
sein. Auch eine „hochgradige Polymerie", die Luxenburger für das 
manisch-melancholische Irresein annimmt, will mir nicht einleuchten, wenig- 
stens, was die beteiligten krankhaften Erbeinheiten betrifft. Hochgra- 
dige Stimmungs Schwankungen kommen gelegentlich ja auch bei normalen 
Menschen vor — „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" — ; nur treten 
sie beim. Normalen nicht ohne entsprechenden Anlaß auf und sie dauern bei 
ihm nicht Monate oder Jahre. Ein stoischer Gleichmut in allen Lebenslagen, 
wie er gewisse „wurstige" Schizoide kennzeichnet, ist gewiß nicht normal. 
Die Fälügkeit zu normalen Gemütsbewegungen (wie die zu allen sonstigen 
normalen Fähigkeiten) ist sicher hochgradig polymer. Insofern kann ich 
Luxenburger beistimmen. Eine krankhafte Labilität der Stim- 
mungslage entsteht meiner Ansicht nach aber nur, wenn einzelne krank - 

*■) Luxenburger, H. Die Ergebnisse der Erbprognose in den vier 
wichtigsten psychischen Erbkreisen. Zeitschrift für psychische Hygiene. 1933. 

3 ) Luxenburger, IL Über einige praktisch wichtige Probleme aus 
der Erbpathologie des zyklothymen Kreises. Zeitschrift für die gesamte 
Neurologie. Bd. 146. H. 1 u. 2. S. 87. 1933. 



ERBL. GEISTESKRANKE! EITEN U. PSYCHOPATHIEN. 545 

hafte Erbanlagen hinzukommen. Daß Homozygotie wesentlich sei, wie Lu- 
xenburger vermutet, halte ich für unwahrscheinlich; sie wäre gleichbe- 
deutend mit Rezessiv! tat. Daß (monomere) Teilanlagcn zykloide Psychopathie 
bedingen, halte auch ich für wahrscheinlich. 

Die Häufigkeit des manisch-melancholischen Irreseins hat Luxen- 
burger für München auf nicht ganz l / 2 /<s festgestellt. Es ist aber mög- 
lich, daß sie in Norddeutschland kleiner sei als in der zu zyklothymem Tem- 
perament neigenden bayerischen Bevölkerung. Bei Juden kommen zyklo- 



9 



1 1 



Fig 193. 

Zyklophrenie („manisch- 
depressives Irresein"). 
Nach H offman n. 
= hyperthy mische Psychopathen. 



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cf 



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Fig. 194. 

Sclbsttötung 

nach Bremer 

(Ausschnitt). 



phrene Störungen häufiger als bei NichtJuden vor 1 ). Daß etwa doppelt so 
viele Frauen als Männer in zyklophrene Zustände verfallen, scheint nicht 
auf Geschlechtsgebundenheit der krankhaften Anlage zu beruhen, sondern 
darauf, daß die weibliche Seele überhaupt mehr zu Stimmungs Schwankungen 
neigt. Entsprechend neigt auch der weibliche Körper mehr als der männ- 
liche zu rundlichen („pyknischen") Formen, die in Korrelation mit zykloi- 
der Veranlagung stehen. 

Ein recht erheblicher Teil der zyklophren veranlagten Menschen geht 
durch eigene Hand zugrunde, zumal von denen, die zu melancholischer 
Verstimmung neigen. Die Neigung zu Selbsttötung tritt überhaupt 
ausgesprochen gehäuft in manchen Sippen auf, wobei die Wirkung des Bei- 
spiels anscheinend nur eine untergeordnete Rolle spielt. Eine Sippentafel 
nach Bremer 3 ) gebe ich in Fig. 194. 

Als Psychopathie werden im Vergleich zu den Gei- 
steskrankheiten oder Psychosen leichtere seelische Anomalien 
bezeichnet, und zwar Anomalien des Charakters und Tempera- 
ments, wahrend Verstandesschwäche nicht dazugereclmct zu 
werden pflegt. Da es zweifellos eine Anzahl klinisch und gene- 
tisch verschiedener Arten von Psychopathie gibt, gebrauche ich 
das Wort lieber in der Mehrzahl. Während ein erheblicher Teil 

1 ) Lange, J. Über manisch-depressives Irresein bei Juden. Münchn. 
med. Wochenschr. 1921. 

2 ) B r c m e r , F. W. Zur Vererbung der Sclbstmordneigung. Archiv für 
Psychiatrie. Bd. 73. H. 2/4. 1925. 

B a 11 r - F i s c h e r - 1, e u % I. 35 



546 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



der ausgesprochenen Geisteskrankheiten durch äußere Ursachen 
entsteht (z. B. die Paralyse durch Syphilis), kommen äußere 
Schädlichkeiten als Ursachen von Psychopathien viel weniger 
in Betracht. Immeririn kann z.B. nach einer Enzephalitis 
(Hirnentzündung) das Bild einer Psychopathie bestehen blei- 
ben. Außerdem kann Psychopathie Teilerscheinung organi- 
scher Nervenleiden sein, z. B. der multiplen Sklerose und der 
Huntingtonschen Chorea („organische Psychopathien"). 

Ich würde am liebsten alle leichteren seelischen Anomalien einschließ- 
lich der leichteren Geistesschwäche als Psychopathien bezeichnen. Eine Ab- 
grenzung der Geisteskrankheiten als „Prozesse" von den Psychopathien als 
„Zuständen" halte ich nicht für durchführbar, sondern nur eine solche der 
Schwere der Krankhaftigkeit nach. Von den Psychopathien gibt es alle 
Übergänge zur Gesundheit. Es ist daher bis zu einem gewissen Grade willkür- 
lich, wo man die Psychopathien beginnen lassen will. Daher ist auch die Zahl 
der Psychopathen nicht eindeutig bestimmbar. Volle seelische Gesundheit 
ist wohl nicht häufiger als volle körperliche Gesundheit. Aber auch wenn 
man nur solche Seelenvcrfassungen als Psychopathien ansieht, die offensicht- 
lich eine unterdurchschnittliche Erhaltungstüchtigkeit bedingen, kommt man 
auf einen recht erheblichen Bruchteil der Bevölkerung. Der Medizinal Stati- 
stiker Prinzing 1 ) nimmt an, daß etwa 10% der Bevölkerung psychisch 
nicht vollwertig sind. Luxenburgcr 8 ) hat in der Münchener Durch- 
schnittsbevölkcrung 160/0 „eugenisch bedenkliche Typen" gefunden. Das ist 
fast ein Sechstel der Bevölkerung. Wenn man die Zahl der ausgesprochen 
Geisteskranken und die der Schwachsinnigen davon abzieht, bleiben für che 
Psychopathen rund 12%. 

Eine klare Abgrenzung der verschiedenen Psychopathien ist den Psy- 
chiatern bisher ebensowenig gelungen wie bei den ausgesprochenen Gei- 
steskrankheiten. Zum großen Teil handelt es sich um Äußerungen von An- 
lagen, die schon bei Gelegenheit der Geisteskrankheiten besprochen worden 
sind, nämlich der schizoiden, der paranoiden, der e p i 1 e p t i - 
den und der zykloiden Veranlagung. Diese gehören zusammen mit den 
gleichgerichteten Psychosen und können ebensowenig ohne diese wie diese 
ohne jene biologisch betrachtet werden. Jene Psychopathien können daher 
in diesem Zusammenhange als erledigt gelten. 

Die Psychopathien sind für das soziale Leben noch bedeu- 
tungsvoller als die eigentlichen Geisteskrankheiten; denn wäh- 
rend die Geisteskranken in der Regel ziemlich bald aus dem 
sozialen Leben ausscheiden, beeinflussen die Psychopathen das 
Leben der Gesellschaft in der allereinschneidendsten Weise. 

Psychopathen ziehen einander an. Da sie bei normalen Menschen kein 
Verständnis für ihre Vorstellungen und Bestrebungen zu finden pflegen, 
schließen sie sich zusammen. Sie bilden religiöse, okkultistische, astrolo- 
gische Sekten, Bewegungen, die von irgendeiner einseitigen Lehre die Hei- 
lung aller Krankheiten, die Gesundung des persönlichen und politischen 

v ) Prinzing, F. Die statistischen Grundlagen der sozialen Hygiene. 
Im Handbuch der sozialen Hygiene von Gottstein u. a. Berlin 1925. 
2 ) Die Ergebnisse der Erbprognose usw., a.a.O. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN, 547 



Lebens erhoffen. Natürlich geraten sie oft auch gegenseitig in fanatischen 
Streit. Auch in der Ehe finden sich oft zwei psychopathische Persönlichkeiten 
zusammen; sie empfinden sich selbst und einander als besondere, vom ge- 
wöhnlichen Durchschnitt abweichende Menschen; und sie kommen um so 
leichter zusammen, als sie von geistig normalen Menschen meist als sonderbar 
empfunden und instinktiv abgelehnt werden. In der Ehe vertragen sie sich 
natürlich meist auch nicht auf die Dauer. Obwohl die Psychopathen viel 
Unheil in der Welt anrichten, darf man andererseits doch nicht verkennen, 
daß die von ihnen getragenen Bewegungen gelegentlich auch gute Fol- 
gen haben können. Davon soll noch bei Betrachtung des psychopathischen 
Genies die Rede sein. 

Von ganz besonderer Bedeutung für das private und soziale 
Leben ist die hysterische Veranlagung. Ich halte es 
daher für angezeigt, auf diese ausführlicher als auf andere 
Anomalien einzugchen. Die Einsicht in den Mechanismus der 
Hysterie ist nicht nur für den Arzt, sondern auch für den 
Erzieher, den Politiker, den Volkswirt, den Historiker und 
nicht zum wenigsten auch für den Rassenhygieniker geradezu 
unerläßlich. 

Unter Hysterie versteht man in erster Linie gewisse 
scheinbar körperliche Krankheitszustände, für die aber ehre 
körperliche Grundlage nicht aufgefunden werden kann und die 
wieder spurlos verschwinden oder wechseln können. So kom- 
men hysterische Lähmungen von Gliedmaßen vor, Gefühllosig- 
keit umschriebener Körperstellen, „rheumatische" und andere 
Schmerzen, Blindheit, Taubheit, S tummheit, Ohnmächten und 
eine bunte Reihe anderer Erscheinungen. Sehr charakteristisch 
sind eigentümliche Krampf anfalle mit Bewußtlosigkeit, die 
äußerlich epileptischen Anfällen recht ähnlich sein können. 
Ich möchte die Hysterie definieren als eine 
mehr oder weniger unbewußte und unwillkür- 
liche Nachahmung von Krankheitsbildern. 

Es ist dabei nicht nötig, daß der Hysteriker das nachgeahmte Krank- 
heitsbild schon gesehen habe; er bietet vielmehr ein Bild dar, wie er sich 
vorstellt, daß ein bestimmter Krankheitszustand aussehen möge. Man kann 
die Hysterie der Mimikry vergleichen; ein mimetisches Tier, das durch 
Nachahmung eines andern giftigen oder sonst gefährlichen Tieres Eindruck 
auf seine Verfolger macht, weiß auch nicht, daß es nachahmt. Die Rebhuhn- 
muUcr stellt sich flügellahm, um die Aufmerksamkeit eines Feindes von den 
Jungen abzulenken. Auch bei Singvögeln habe Ich mehrfach ein entsprechen- 
des Verhalten beobachtet. Hier geschieht die Nachahmung von Krankheit 
auf Grund eines von der Natur herausgezüchteten, also normalen Instinkts. 
Aus dem Verhalten dieser Vogelmütter habe ich den Eindruck gewonnen, 
daß die Tiere sich des Zweckes der Krankheitsnachahmung bis zu einem 
gewissen Grade bewußt sind. 

Die Auslösung der einzelnen hysterischen Erscheinungen erfolgt durch 
lebhaftes Verlangen nach einem Gegenstande oder Ziele, zu dessen Er- 



548 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



rcichung der Hysteriker den dargebotenen Krankheitszustand mein- oder 
weniger unbewußt als geeignetes Mittel empfindet. So führte während des 
Krieges der Wunsch, dem feindliehen Feuer zu entgehen und in die Heimat 
zu kommen, zu allerhand hysterischen Krankheitserscheinungen, besonders 
oft zu hartnäckigen Zuständen von Zittern und Zappeln. Bei der Renten- 
hystciie ist es der Wunsch, eine Rente zu erlangen, der die zu diesem Zweck 
als geeignet erscheinenden Krankheitsbikler hervorruft. Immer aber ist die 
Verknüpfung mit dem Wunschziel dem Hysteriker mehr oder weniger unbe- 
wußt bzw. aus dem Bewußtsein verdrängt. Im gewöhnlichen Leben ist es oft 
der Wunsch, sich unangenehmen Pflichten zu entziehen, Mitleid zu erregen, 
sich interessant zu machen, jemanden ins Unrecht zu setzen (er soll schuld 
an der Krankheit sein). Darum ist die Nachahmung epileptischer Krämpfe, 
die erfahrungsgemäß auf den Laien immer großen Eindruck machen, bei 
Hysterikern so beliebt. Die Epilepsie wurde ja lange Zeit als „heilige Krank- 
heit" (morbus sacer) angesehen. Wenn der Hysteriker in Krämpfen daliegt, 
so verwandelt sich etwaiger Zorn gegen ihn, weil er seine Pflichten vernach- 
lässigt hat, gewöhnlich in Mitleid oder in abergläubische Scheu. Auch das 
eindrucksvolle Bild der Chorea wird gern nachgeahmt. Aber nicht nur kör- 
perliche, sondern auch seelische Krankheitszustände sind der hysterischen 
Mimikry zugänglich; durch melancholische Zustände wird Mitleid hervor- 
gerufen, durch Erregungszustände Einschüchterung versucht. Bei hysterisch 
veranlagten Angeklagten tritt Verstandesschwäche oder Gedächtnisschwäche 
ein, wenn es vorteilhaft erscheint. Weil die Krankheit Mittel zur Erreichung 
eines lebhaft begehrten Zieles ist, wird sie in den Willen aufgenommen. 

Während die Auslösung der hysterischen Krankheitserschei- 
nungen durch äußere Ereignisse, die zu lebhaften Wünschen 
Anlaß geben, geschieht, ist die konstitutionelle Grundlage in 
einer wesentlich erbbedingten abnorm starken Bestimmbarkeit 
der Vorstellungen, Urteile, Gefühle und selbst Empfindungen 
durch Wünsche zu suchen. Diese abnorme Wunschbe- 
stimmbarkeit braucht sich durchaus nicht nur in der Nach- 
ahmung von Krankheitsbildern zu äußern; viel öfter führt sie 
einfach zur Verdrängung unangenehmer Vorstellungen oder Er- 
innerungen aus dem Bewußtsein oder auch positiv zu allerlei 
Einbildungen oder Wunschillusionen 1 ). So kommt es immer 
wieder vor, daß entsprechend veranlagte Personen sich ohne 
Grund einbilden, daß eine bestimmte Person des andern Ge- 
schlechts oder auch mehrere zugleich verliebt in sie seien. Die 
Flucht vor den Tatsachen in die Illusion ist kennzeichnend für 
die hysterische Wunschbestimmbarkeit. 

Hysterisch veranlagte Frauen suchen durch Durchblickenlassen per- 
sönlichen Leidens, durch unausgesprochene Drohung mit dem Fortbestand 
dieses Leidens ihren Willen durchzusetzen. Tränen und stumme Leidens- 
miene sind beliebte Mittel dazu. Ohnmächten dagegen sind nicht mehr so 



*) Das Wort „Illusion" ist hier nicht im Sinne von Sinnestäuschung 
gebraucht, wie es entgegen dem sonstigen Sprachgebrauch in der Psychiatrie 
üblich ist. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 549 



modern wie zur Zeit unserer Väter. Wirksam sind diese Mittel natürlich 
nur gegenüber Personen, die durch Liebe oder Pflicht an die hysterische 
Person gebunden sind und die unter ihrem Leiden selber zu leiden haben. 
Im übrigen ist die hysterische Durchsetzung des Willens besonders leicht in 
einer moralischen Umwelt, in der Leiden als ein Verdienst gilt, wo die Anschau- 
ung verbreitet ist, daß durch Leiden und Askese als solche etwas geleistet 
werden könne. Die hysterische Mimikry ist daher eine Art von Schmarotzer- 
tum auf dem Boden der asketischen Wertlehre und der Mitleidsmoral. 
Ausdrücklich sei betont, daß eine gewisse Wunschbestimmbarkeit nor- 
mal ist. Der Mensch würde vielleicht das Leben ohne wunschbestimmte Illu- 
sionen gar nicht aushalten. Auch der gesunde Mensch glaubt gern das, was 
er wünscht; aber die Wahrnehmungen der Erfahrung und das logische 
Denken setzen dieser Wunschbestimmbarkeit doch gewisse Grenzen. Eine 
gewisse Wunschbestimmbarkeit der Seele ist offenbar erhaltungsgcmäß fin- 
den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Sic ermöglicht es, daß Anschauungen 
und Willensrichtungen, die im Leben einer Gemeinschaft als erhaltungs- 
gemäß erprobt sind, von den einzelnen Mitgliedern in ihren Willen aufge- 
nommen werden. Das ist für die Gemeinschaft von Vorteil im Daseinskampf. 
So hat im Weltkriege die Illusion, Deutschland sei allein schuldig am 
Kriege und jeder Deutsche sei ein Schuft, ohne Zweifel bei den Feinden die 
Kraft zum Durchhalten und zum Siege gestärkt. Man wird solche Illusionen 
nicht notwendig als Ausfluß krankhafter Veranlagung ansehen können, ob- 
wohl hysterisch veranlagte Personen ihnen am stärksten ausgesetzt sind. 

Es ist eine bekannte Erfahrung, daß starke Suggestivkraft in der 
Regel mit Neigung zu Autosuggestionen einhergeht. Hysterisch Veranlagte 
können sich und andern ungeheure Versprechungen machen, öfter ohne alle 
Worte und ohne klares Bewußtsein. Hysterisch veranlagte Demagogen ver- 
danken ihre Erfolge zum guten Teil der Fähigkeit, „an ihre eigenen Lügen 
zu glauben". Die Seele der Massen reagiert analog wie die des hysterischen 
Individuums. Wenn der einzelne Mensch sieht, daß andere seine Illusionen 
nicht teilen, so ist das sehr heilsam für seine Selbstbesinnung. Wenn aber 
gemeinsame Not oder gemeinsame Begehrlichkeit in Vielen zugleich solche 
Illusionen entstehen laßt, so empfindet der Einzelne die Übereinstimmung 
mit den andern als Bestätigung und Rechtfertigung seiner Illusionen und 
läßt ihnen die Zügel, schießen. Auf diese Weise verstärken sich die Wunsch- 
illuslonen der Vielen gegenseitig, bis schließlich alle Hemmungen fallen. 

Es wäre aber einseitig und folglich falsch, anzunehmen, daß nur schäd- 
liche Massenüberzeugungen auf diese Weise Zustandekommen könnten. Auch 
gesunde, d. h. erhaltungsgemäße religiöse, weltanschauliche, moralische 
Überzeugungen können sich auf diesem irrationalen Wege ausbreiten. Sic 
wenden sich an die Fähigkeit, nicht zu sehen und doch zu glauben. Die 
Wunschbestimmbarkeit als Fähigkeit, Dinge zu sehen, wie sie nicht sind, ist 
eine Grundlage der Liebe, der Moral, der Religion und der Kunst. Liebe, 
Glaube, Hoffnung gelten als die höchsten Kräfte der Seele. Und über das 
Schicksal der Religionen bzw. Weltanschauungen entscheidet die natürliche 
Auslese. Nur die, welche dem Leben der Rasse dienen, bleiben auf lange 
Dauer erhalten. Und so konnte eine normale Wunschbestimmbarkeit, die 
zum Glauben befähigt, gezüchtet werden. Unter diesem Gesichtspunkt er- 
scheint die hysterische Veranlagung als eine krankhafte Steigerung einer 
an und für sich normalen seelischen Reaktionsmöglichkeit. 

Die bestimmenden Wünsche, die zu hysterischen Reaktionen Anlaß 
geben, können sehr verschieden sein, je nach Umständen und sonstiger 



550 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Veranlagung. Oft sind es erotische Wünsche; von den ,, Psychoanalytikern" 
ist aber die Erotik viel zu einseitig in den Vordergrund geschoben worden. 
Sic steht nur in satten Zeiten im Mittelpunkt der menschlichen Wünsche. 
Während des großen Krieges war der Lebenstrieb bzw. die Todesfurcht die 
Hauptcjuclle der Hysterie. Mit dem Geschlechtstrieb und dem Lebenstrieb 
wetteifert der Geltungstrieb in der Hervorbringung hysterischer Erscheinun- 
gen. Hysterisch Veranlagte verfallen auf die sonderbarsten Mittel, um Auf- 
sehen zu erregen und sich mit einem besonderen Nimbus zu umgeben. Es 
sind mehrere Fälle berichtet worden, wo eine „stigmatisierte Jungfrau" die 
Wundmale Christi darbot. Die großen Versprechungen, die hysterisch Ver- 
anlagte sich und andern mit oder ohne Worte machen, werden in der Regel 
natürlich nicht erfüllt. Sie pflegen über immer neue Anläufe, große Worte 
und Gesten nicht hinauszukommen, sind aber auch nie um eine Ausrede 
verlegen und verstehen es meisterhaft, die Schuld auf andere abzuwälzen 
und ihre Schwäche zu verbergen. Durch Anwandlungen von Gewalt- 
tätigkeit, durch Aufbrausen und Halsstarrigkeit wird Charakterstärke vor- 
getäuscht. Das ganze Leben der hysterisch Veranlagten hat etwas Thea- 
tralisches; man könnte von einer Psychologie des „Ms Ob" reden, 

Menschen, denen sie gut bekannt sind, können die Hysteriker natür- 
lich auf die Dauer nicht imponieren. So entsteht die „unverstandene" 
Frau und der Prophet, der in seinem Vaterlande nichts gilt. Wenn die 
hysterische Veranlagung mit bösartigem Charakter verbunden ist, so ent- 
steht hysterischer Haß gegen die eigenen Angehörigen oder gegen den 
eigenen Staat. Den Menschen, die ihre Illusionen nicht teilen, wird die 
Schuld zugeschoben, daß die Illusionen bisher nicht verwirklicht werden 
konnten. 

Die Erforschung der Erbbedingtheit der hysterischen 
Veranlagung begegnet besonderen Schwierigkeiten. In gro- 
ben Fällen ist die Erkennung einer Hysterie zwar einfach; in 
vielen andern ist die Aufdeckung der Wunschbedingtheit einer 
krankhaften Erscheinung aber schwierig und oft nur aus der 
ganzen Lebensbewährung bzw. aus der Art des Versagens ge- 
genüber den Forderungen des Lebens möglich. Es liegt auf der 
Hand, daß Familienanamnesen und Aussagen Dritter in dieser 
Hinsicht unzuverlässig sind. Medow 1 ) hat in einigen Fällen 
von Hysterie direkte gleichartige Vererbung der zugrunde- 
liegenden Konstitution feststellen zu können geglaubt. Krau- 
lis 2 ) hat einerseits Sippen von Hysterikern, die sozial geschei- 
tert, kriminell oder anstaltsbedürftig waren, erforscht und 
andererseits Sippen von Individuen, die nur gelegentlich hyste- 
rische Reaktionen darboten. Von den Geschwistern der sozial 
gescheiterten Hysteriker war rund ein Sechstel ebenfalls sozial 
abnorm und ein Drittel leichtere Psychopathen. Von dieser 



1 ) Medow, W. Zur Erblichkeitsfrage in der Psychiatrie. Zeitschrift 
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 26. S. 493. 1914- 

2 ) Kraulis, W. Zur Vererbung der hysterischen Reaktionsweise. Zeit- 
schrift für Neurologie. Bd. 136. S. 174. 1931. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 551 

psychopathischen Hälfte der Geschwister wiesen zwei Fünftel 
hysterische Reaktionen auf. Von den Eltern war ein Drittel 
ebenfalls sozial abnorm und ein weiteres Drittel leichtere_ Psy- 
chopathen. Von 7 0/0 der Eltern wurden hysterische Reaktionen 
berichtet, was natürlich nur eine Mindestzahl ist. Die Gruppe 
der Individuen mit nur gelegentlichen hysterischen Reaktionen 
war viel weniger familiär belastet. 

Da wunschbestimmte Reaktionen ihrer Möglichkeit nach auch in der 
normalen Erbmasse angelegt sind und die Versuchung zu hysterischer Flucht 
in die Krankheit besonders dann entsteht, wenn jemand einer Aufgabe nicht 
gewachsen ist, so wirken allerlei seelische und auch körperliche Schwächen 
disponierend für hysterische Reaktionen. Das gilt z.B. von der zykloiden Ver- 
stimmung, der schizoiden Affektlahmheit, der epileptischen Psychopathie, 
ganz besonders aber vom Infantilismus, der Neurasthenie und dem Schwach- 
sinn. Bei urteilsschwachen Personen treten hysterische Zustände häufiger 
und plumper als bei einsichtigeren in die Erscheinung, weil bei einer ge- 
wissen Selbstkritik manches doch als unmöglich durchschaut wird. So ent- 
steht die häufige Kombination von Schwachsinn mit Hysterie. Bei hochbe- 
gabten Personen ist die hysterische Mimikry andererseits um so feiner und 
raffinierter. Das spricht dafür, daß es auch spezieile Anlagen gibt, die 
abnorme Wunschbestimmbarkeit bedingen. Andererseits liegt jede Neigung, 
auf Kosten anderer Vorteile zu erreichen, in der Richtung der Hysterie. 
Man hat von einem , .hysterischen Charakter" gesprochen. Es ist aber eigent- 
lich nicht die Hysterie, die zu asozialem Verhalten führt, sondern der asoziale 
Charakter, der zur Hysterie führt. Im übrigen sind keineswegs alle Hyste- 
riker bösartig von Charakter; es gibt mindestens ebenso viele gutmütig- 
schwache Charaktere, die in Lagen, denen sie nicht gewachsen sind, aus 
einer Art Notwehr hysterisch reagieren. 

Hysterie wird mehrfach so häufig im weiblichen als im männlichen 
Geschlecht beobachtet. Das hängt mit dem verschiedenen Charakter der 
Geschlechter zusammen. Der Mann, wenigstens der männliche Mann, sucht 
das Leben durch eigene Leistung zu meistern. Auch die normale, instinkt- 
sichere Frau wird nicht hysterisch. Aber Krankheitsnachahmung als Mittel, 
den Willen durchzusetzen, Hegt eben doch für das weibliche Geschlecht näher 
als für das männliche. Im übrigen haben die Erfahrungen des Weltkrieges 
gezeigt, daß viel mehr Männer zu hysterischen Reaktionen fähig sind als 
man früher annahm. Es sind natürlich hauptsächlich unmännliche und un- 
soziale Männer. 

Bei Juden scheint Hysterie wesentlich häufiger als bei Germanen vor- 
zukommen 1 ); das dürfte damit zusammenhängen, daß die Juden im Durch- 
schnitt einen weniger ausgesprochen männlichen Charakter haben. Unter 
den gewöhnlich weich und passiv veranlagten Russen habe ich Hysterie 
häufiger als unter Juden beobachtet. Auffallend häufig ist aber Krankheits- 
furcht (,, Nosophobie") und Hypochondrie unter den Juden; auch melan- 
cholische Zustände bei Juden sind nach Lange auffallend oft hypochon- 
drisch gefärbt. 



!) Gutmann, M. J. Die Rasse- und Krankheitsfragc der Juden. 
München, Müller u. Steinickc 1920. 



552 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Unterbewußte Wünsche als Quelle der hysterischen Reaktionen hat zuerst 
der jüdische Psychiater Freud gelehrt. Er hat in der „Psychoanalyse" 
auch eine wirksame (wenn auch nicht unbedenkliche) Art der Behandlung 
hysterischer Zustände gefunden. Wenn es gelingt, den hysterisch Kranken 
zu überzeugen, daß die Krankheitserscheinungen nur aus unterbewußten 
Wünschen entsprungen sind, so ist ihnen damit eben ihre Grundlage ent- 
zogen, und sie verschwinden, natürlich aber nicht die hysterische Veranla- 
gung als solche. Es war ein raffinierter Gedanke Freuds, den Hysterikern 
zu sagen, daß sie in der Triebbefriedigung zu kurz gekommen seien; das 
leuchtet ein; und tatsächlich entspringen die hysterischen Krankheitserschei- 
nungen und sonstigen Mätzchen ja aus unbefriedigter Triebhaftigkeit; der 
Hysteriker sucht eben auf diesem Wege seine Wünsche durchzusetzen. Die 
Bedeutung der erblichen Veranlagung für die Hysterie ist von Freud 
und seinen Nachfolgern nicht gebührend gewürdigt worden. Ihrer ganzen 
psychologischen Struktur nach ist die „Psychoanalyse" zu einseitig auf 
Umweltwirkungcn, speziell psychische Erlebnisse, als Ursachen eingestellt. 
Da nun die Erlebnisse des späteren Lebens nicht ausreichten, die hyste- 
rische Veranlagung, die offensichtlich bei manchen Personen viel stärker 
als bei andern ist, zu erklären, so suchte man nach einem „psychischen 
Trauma", einem schädigenden Erlebnis in früher Jugend; und da man 
danach suchte, so fand man es auch meist, und zwar gewöhnlich in irgend- 
einem geschlechtlichen oder doch ins Geschlechtliche gedeuteten Erlebnis. 
Tatsächlich aber dürfte es sich bei derartigen Kindheitserlebnissen meist 
nur um die erste Auslösung einer Anlage handeln, die ohnehin über kurz 
oder lang durch andere Gelegenheitsursachen ausgelöst worden wäre und 
deren eigentliche Ursache noch viel weiter zurück, nämlich in der Erb- 
masse liegt. 

Besonders hartnäckig geleugnet werden die erblichen Unterschiede der 
Veranlagung von dem ebenfalls jüdischen Nervenarzt Adler, Begründer 
der sogenannten „Individualpsychologie", einer Untersekte der „Psycho- 
analyse". Adler führt die neurotischen Zustände hauptsächlich auf „Ent- 
mutigung" zurück, und daran ist insofern etwas Wahres, als das Gefühl 
eigener Unzulänglichkeit zu hysterischem Verhalten disponiert. Tatsächliche 
Unzulänglichkeit aber kann durch „Mutfassen" natürlich nicht beseitigt wer- 
den. Durch die Anerkennung der Erbbedingtheit der meisten Unzulänglich- 
keiten würde die „Psychoanalyse" bzw. die „Individualpsychologie" stark 
an Boden verlieren. 

Es ist zu hoffen, daß der Sieg der nationalsozialistischen Weltanschau- 
ung, die das Starke und Gesunde wertet und der Krankheit und Schwäche 
als wertfeindlich gelten, eine Abnahme der Hysterie als einer unbewußten 
Krankheitsnachahmung zur Folge haben wird. 

Die Neurasthenie oder 'Nervosität besteht in einer 
abnorm starken seelischen Ermüdbarkeit und damit zusammen- 
hängenden abnorm starken Reizbarkeit. Da es sich um eine 
seelische Anomalie handelt, wäre der von Koch 1 ) eingeführte, 
später von Janet leider in engerem Sinne gebrauchte Aus- 
druck Psychasthenie eigentlich treffender. Der Name 



r ) Koch, J. L. A. Die psychopathischen Minderwertigkeiten. Ra- 
vensburg 1891—93. 



ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 553 



Neurasthenie ist aber schonender, höflicher und darum ge- 
bräuchlich, Im Gegensatz zu der als Schwachsinn bezeichneten 
Geistesschwäche handelt es sich bei der Neurasthenie um eine 
seelische Schwäche ganz anderer Art. Die geistige Regsamkeit 
pflegt überdurchschnittlich zu sein, aber die Ausdauer ist ge- 
ring. Gewöhnlich wird zwischen einer konstitutionell bedingten 
Nervosität und einer durch Überanstrengung erworbenen Neur- 
asthenie unterschieden; in beiden Fällen wirken aber die erb- 
liche Veranlagung und äußere Ursachen zusammen. Wenn 
schon durch die gewöhnlichen Anstrengungen des Berufslebens 
nervöse Erschöpfung ausgelöst wird, so ist die erbliche Anlage 
praktisch wichtiger, wenn dagegen erst durch außergewöhnlich 
aufreibende Anstrengungen und Sorgen diese äußeren Ursachen. 

In der Regel sind die einzelnen nervösen Erschöpfungszustände, die 
auf dem Boden neurasthenischer Veranlagung durch Überarbeitung ent- 
stehen, in kurzer Zeit der Erholung wieder vollständig ausgleichbar. Ande- 
rerseits scheint durch dauernde Überarbeitung auch konstitutionelle Neur- 
asthenie entstehen oder mindestens verstärkt werden zu können. Es ist 
freilich erstaunlich, welches Maß an 'geistiger Arbeit manche Menschen 
leisten können, ohne neurasthenisch zu werden. 

Die konstitutionelle Grundlage der Neurasthenie kann auf zwei ver- 
schiedene Arten gedacht werden. Einerseits kann der Vorrat geistiger Energie 
gering sein, wobei unter Energie die Fähigkeit, Arbeit zu leisten, verstanden 
ist. Andererseits kann die geistige Energie, auch wenn sie in normaler 
Menge vorhanden ist, zu leicht verausgabt werden; die Stoffe, aus denen das 
Zentralnervensystem die Energie seiner Arbeit bestreitet, können gleichsam 
zu schnell verbrennen. Mittel, die den Ablauf seelischer Vorgänge hemmen 
(z. B. Brom), können daher Erleichterung bringen, während anregende Mit- 
tel fz. B. Kaffee) die Erschöpfung beschleunigen. Geistig regsame Menschen 
sind leichter der Neurasthenie ausgesetzt als geistig trage. Neurastheniker 
sind zum Teil zu glänzenden Leistungen befähigt, aber ohne Ausdauer. Ihre 
Leistungen sind einem Feuerwerk vergleichbar, das rasch abbrennt. Bei 
körperlicher Schwäche führt geistige Anstrengung leichter zu nervöser Er- 
schöpfung als bei robustem Körperbau. Daher zeigen Neurastheniker oft 
asthenischen Körperbau. 

Neurasthenische Veranlagung beeinträchtigt das Wohlbefinden im 
Leben schwer, zumal wenn geistige Überarbeitung zu quälender Schlaflosig- 
keit führt, die ihrerseits die Erholung hindert. Im Leben vieler Neurasthe- 
niker liegt eine schmerzliche Tragik darin, daß sie infolge ihrer sonstigen 
Begabung und geistigen Regsamkeit sich zu Aufgaben berufen fühlen, denen 
sie infolge ihrer leichten Erschöpfbarkcit doch nicht gewachsen sind. 

Rund ein Drittel der Neurastheniker stammt von ebenfalls 
neurasthenischen oder sonst psychopathischen Eltern ab. Wenn 
die seelische Beschaffenheit der Eltern immer genau bekannt 
wäre, so würde man vermutlich zu noch höheren Zahlen kom- 
men. Neurasthenie kommt so ausgesprochen sippenweise vor, 
daß die Beteiligung dominanter Erbanlagen naheliegt. 



554 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 



Wie schon bei Besprechung" der Hysterie kurz erwähnt wurde, dispo- 
niert das neurasthenische Gefühl des Unvermögens gegenüber den Anfor- 
derungen des Lebens und die tatsächliche seelische Schwäche der Neur- 
astheniker zur hysterischen Flucht in die Krankheit. Auf diese Weise ent- 
steht das Bild der „Hysteroneurasthcnic". Unter den Ncurasthcnikcrn in 
ärztlicher Behandlung sind viel mehr Männer als Frauen. Die stärkeren 
Anforderungen, die das Leben an die geistige Leistungsfähigkeit des Mannes 
zu stellen pflegt, lassen eine abnorme Ermüdbarkeit bei ihm offenbar häu- 
figer in die Erscheinung treten. Andererseits entspricht die hysterische 
Flucht in die Krankheit weniger dem. Charakter und der sozialen Lage des 
Mannes. Daher können eventuell dieselben Erbanlagen im männlichen Ge- 
schlecht 211 Neurasthenie, im weiblichen zu Hysterie führen. 

Ein ähnlicher Zusammenhang scheint zwischen Epilepsie und Hysterie 
zu bestehen. Kraul is hat unter den nächsten Verwandten der Hysteriker 
fast cbcnsoviele Epileptiker gefunden wie unter denen der Epileptiker; und 
umgekehrt hat L u x c n b u r g e r unter den Geschwistern der Epileptiker 
rund achtmal so viele Hysteriker als im Durchschnitt der Bevölkerung ge- 
funden. Möglicherweise besteht zwischen epileptischen und hysterischen 
Krämpfen doch mehr als eine bloß äußerliche Ähnlichkeit. Es ist denkbar, 
daß eine erbbedingte motorische Erregbarkeit bzw. Krampf bereit schaft im 
Zusammentreffen mit gewissen andern Anlagen zu epileptischen, im Zu- 
sammentreffen mit wieder andern zu hysterischen Krämpfen führt. So mag 
ein epileptoider Psychopath durch seine physische Krampfbereitschaft auch 
zu hysterischen Krämpfen disponiert sein („Hysteroepilcpsic"). 

Schneider 1 ), der das Vorkommen epileptoider Psychopathen be- 
streitet, hat eine besondere Gruppe als explosible Psychopathen unterschie- 
den. K ehre r 2 ) sieht auch die sogenannte „Affektepilepsie" oder die Affekt- 
krämpfe als Äußerung einer derartigen seelischen Übererregbarkeit an. 
Sommer 3 ) hat auf das familienweise Vorkommen solcher Veranlagungen 
hingewiesen. 

Die Zwangsneurotik e r , denen sich gewisse Vor- 
stellungen aufdrängen und wider bessere Einsicht behaupten, 
z. B. eine bestimmte verbotene Handlung begehen zu müssen, 
ohne sie doch tatsächlich zu begehen, gehören nach Luxen- 
burgers Untersuchungen in den Formenkreis der schizoiden 
Psychopathie. Piltz 4 ), Stock er 5 ), M eggendo r f e r 6 ) ha- 

*) Schneider, K. Die psychopathischen Persönlichkeiten. In Aschaf- 
fenburgs Handbuch der Psychiatrie Abt. 7. Teil 1. Leipzig und Wien 1923. 

2 ) Kehr er, F. und Kretschmer, E. Die Veranlagung zu seeli- 
schen Störungen. Berlin 1924. J. Springer. 

3 ) Sommer, R, Familienforschung und Vererbungslehre. 2. Aufl. 
Leipzig 1922. J. A. Barth. 

4 ) Piltz, J. Über homologe Heredität bei Zwangsvorstellungen. Zeit- 
schr. f.d. ges. Neur. Bd. 43. S. 134. 1918. 

5 ) Stocket. Über Genese und klinische Stellung der Zwangsvorstel- 
lungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. Bd. 23. S. 121. 1914. 

e ) Meggeudorfer, F. Über spezifische Vererbung einer Angst- 
und Zwangsneurose. Zentralbl. f. d. ges. Neurologie und Psychiatric. Bd. 30. 
S. 221. 1922. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 555 



ben die Anlage zu Zwangsvorstellungen durch mehrere Gene- 
rationen verfolgen können. Verwandt damit ist auch die Angst - 
neurose, die sich in unbegründeter aber unbezwinglichcr Angst 
vor bestimmten Dingen oder Vorgängen äußert, z. B. vor dem 
Überschreiten eines freien Platzes („Platzangst") oder vor 
Menschen oder vor dem Alleinsein in geschlossenen Räumen. 
Die willenlosen Psychopathen (Schneider), 
von Kraepelin als PI altlose bezeichnet, sind charakter- 
schwache, leicht und wechselnd beeinflußbare Menschen. S om- 
ni er bemerkt, daß starke psychische Beeinflußbarkeit in man- 
chen Familien einen hervorstechenden Charakterzug bildet. Es 
scheinen Beziehungen zur hysterischen Veranlagung zu bestehen. 

Die Gruppe der gelt ungsbe dürftigen Psychopathen bei 
Schneider fällt weitgehend mit der der hysterisch veranlagten zusammen, 
bei denen ich das „Geltungsbedürfnis" als treibende Kraft hervorgehoben 
hatte (1921). 

Die ge mutlosen Psychopathen sind durch Mangel 
des Mitgefühls mit andern Menschen gekennzeichnet. Bleuler 1 ) 
hat bei Gemütlosen regelmäßig gleichartige Belastung gesehen. 

Diese und andere geistige Anomalien bedeuten zugleich 
eine erbliche Veranlagung zu Verbrechen. Unter 
Verbrechern verschiedener Art findet sich ein großer Teil 
schizoider Psychopathen. Schizophrene begehen gelegentlich 
kaltherzige Grausamkeiten oder sinnlose Gewalttaten ; man 
pflegt unzurechnungsfähige Geisteskranke zwar nicht als Ver- 
brecher, sondern eben als Kranke anzusehen; eine scharfe 
Grenze gibt es aber nicht. Paranoiker werden gelegentlich in 
der Verteidigung gegen eingebildete Verfolgung kriminell. Pa- 
ranoide Psychopathen werden nicht selten zu Überzeugungs- 
verbrechern aus politischen oder religiösen Gründen. Die Epi- 
leptiker sind in hohem Maße an Gewalttätigkeiten beteiligt. 
Geltungsbedürftige Hysteriker stellen einen großen Teil der 
Schwindler und Hochstapler 2 ). Schwachsinnige kommen leicht 
zu Verbrechen, weil sie die Folgen ihres Tuns nicht genügend 
voraussehen können. Gemütlosigkeit und Anomalien des Trieb- 
lebens führen daher besonders leicht zu Verbrechen, wenn sie 
mit Schwachsinn verbunden sind. Nach einer Untersuchung 
von Williams 3 ) an 470 männlichen Jugendlichen, die mit 



a ) Bleuler, E. Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin. J. Springer. 

s ) Vgl. v. Baeyer, W. Zur Genealogie psychopathischer Schwindlcr 
und Lügner, Leipzig 1935. Thieme. 

a ) Williams, J. H. The intclligence of l:he dclinquent boy. Jour- 
nal of Delinquency, Monograph Nr. 1. Whittier (Col.) 1919. 



556 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN 

dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, waren 300/0 davon 
ausgesprochen schwachsinnig; und auch der Rest zeigte eine 
deutlich geringere Intelligenz als andere Jugendliche gleichen 
Alters. Williams sieht in der mangelnden Einsicht geradezu 
die Hauptursache ihres gemeinschädlichen Verhaltens. Auch 
Goddard hat sich in seiner Studie über die Debilensippe 
Kallikak in diesem Sinne geäußert. J. Lange hat mittels 
Intelligenzpriifungen an Zuchthausgefangenen festgestellt, daß 
Rückfälle um so häufiger sind, je geringer die Intelligenz ist. 
Andererseits gibt es freilich auch gewisse Arten von Verbre- 
chen, z. B. raffinierte Betrügereien und Hochstapeleien, die ein 
großes Maß von Klugheit erfordern. Man erinnere sich an den 
Fall des schwedischen Zündholzkönigs Kreuger und den des 
französisch -jüdischen Großbankiers Stavisky. In solchen Fäl- 
len darf man auf einen stark asozialen Charakter schließen. 
Im übrigen zeigt die Erfahrung des Lebens, daß die Neigung 
zur Erringung von Vorteilen auf Kosten anderer oder der Ge- 
meinschaft sehr verbreitet ist und daß viele derart Veranlagte 
sich nur wegen der sonst zu befürchtenden persönlichen Fol- 
gen veranlaßt sehen, einigermaßen im Rahmen des Erlaubten 
zu bleiben. 

Ein großer Teil aller Vergehen wird unter dem Einfluß 
des Alkohols begangen; und* da zum Zustandekommen des Al- 
koholmißbrauchs mancherlei krankhafte Seelenverfassungen 
beitragen können, wirkt auch auf diesem Wege die erbliche Ver- 
anlagung mit. Zykloide Psychopathen hyperthymischer Färbung 
neigen zu Vergehen aus Leichtsinn. Nicht selten sind haltlose 
Psychopathen, die ohne eigentlich bösartig zu sein, hingegeben 
dem unmittelbaren Sinneseindruck einfach ihren jeweiligen 
Triebregungen folgen, die z. B. einfach alles stehlen, was ihnen 
gerade begehrenswert erscheint, die keinen Sinn für Wahrheit 
haben und die auch ihren geschlechtlichen Regungen ohne 
Rücksicht auf die Folgen nachgehen. Erziehbar sind solche In- 
dividuen wenig oder gar nicht. Andererseits stellt die Gruppe 
der gemütlosen Psychopathen „geborene Verbrecher", denen 
ohne sonstige Geistesstörung eine grenzenlose Gemütsroheit 
eigen ist und deren Leben von Verbrechen und Freiheitsstrafen 
mehr oder weniger ausgefüllt zu werden pflegt. Selbstverständlich 
erwächst diese, glücklicherweise nicht häufige, schwere seelische 
Abnormität im wesentlichen aus der erblichen Veranlagung. 

Man hat vielfach von einem besonderen „m oraiischen Irresein" 
(auch „moralischen Schwachsinn" oder „moral insanity") gesprochen. Der 



ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 557 



Begriff des „Moralischen" ist indessen zur biologischen Abgrenzung einer 
besonderen Art von Geistesstörung nicht geeignet. Ein großer Teil dessen, 
was man so genannt hat, gehört nach M c g g en d o r f e r ins Gebiet der 
schizoiden Psychopathie bzw. der Schizophrenie. Im übrigen können biolo- 
gisch recht verschiedene geistige Anomalien zum Verbrechen führen. Das 
Wort „moral insanity" ist nach Schneider zuerst von Prichard 
('835) gebraucht worden, und zwar sollte es im Gegensatz zu „intellectual 
insanity" krankhafte Störungen des Gemüts und Charakters bezeichnen, 
also durchaus nicht nur „moralisches Irresein" in dem später diesem Worte 
untergelegten Sinne. Das Wort „moral" im Englischen bedeutet ja nicht 
dasselbe wie das Wort „moralisch" im Deutschen. 

Die Erbbedingtheit des Verbrechens ist schla- 
gend auf dem Wege der Zwillingsforschung aufgezeigt wor- 
den, j. Lange 1 ) hat im Jahre 1929 eine epochemachende 
Arbeit unter dem Titel „Verbrechen als Schicksal" veröffent- 
licht. Er verfügte über die Lebensgeschichte von 13 Paaren 
eineiiger und 17 Paaren zweieiiger Zwillinge gleichen Ge- 
schlechts, von denen mindestens einer kriminell geworden war. 
Unter den eineiigen waren bei 10 Paaren beide Zwillinge Ver- 
brecher, bei 3 Paaren nur der eine, unter den zweieiigen da- 
gegen nur bei 2 Paaren beide, bei 15 nur einer. Eher noch ein- 
drucksvoller ist der Vergleich der Lebensgeschichten der Zwil- 
linge. Bei den eineiigen Zwillingen waren auch Art, Umfang 
und Zeit der verbrecherischen Betätigung ganz auffallend ähn- 
lich. In zwei von den drei Fällen, wo nur der eine von zwei ein- 
eiigen Zwillingen verbrecherisch' geworden war, war dieser 
von einer groben Hirnschädigung betroffen worden. Unter- 
schiede der seelischen und der sozialen Umwelt dagegen er- 
gaben keine wesentliche Verschiedenheit des Verhaltens in 
krimineller Beziehung. 

Legras 2 ) fand 4 Paare eineiiger Zwillinge konkordant kriminell, 
5 Paare zweieiiger sämtlich diskordant. Kranz 3 ) fand von 27 eineiigen 
Paaren 17 konkordant und 10 diskordant, von 37 gleichgeschlechtigen zwei- 
eiigen 18 konkordant und 19 diskordant. Der Unterschied gegenüber den 
Befunden Langes erklärt sich daraus, daß Langes Material haupt- 
sächlich Rückfallvcrbrecher, jenes von Kranz dagegen mehr einmalige 
Rechtsbrecher ■enthalt, bei denen die Erbanlage nicht im gleichen Maße 
entscheidend ist. 

Stumpfl 4 ) fand unter den Brüdern von Rückfallver- 
brechern über ein Drittel ebenfalls straffällig, unter den Brü- 

') Lange, "f. Verbrechen als Schicksal. Leipzig 1929. G. Thieme. 
sVA.a. O.vgl.S. 535- 

3 ) Kranz, H. Die Kriminalität bei Zwillingen. Zeitschrift für induk- 
tive Abstämmlings- und Vererbungslehre. Bd. 67. S. 308. 1934. 

4 ) Stumpfl, F. Erbanlage und Verbrechen. Zeitschrift für die ge- 
samte Neurologie, Bd. 145. LI. 1/2, S. 283. 1933. 



558 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



dem einmaliger Vertreter dagegen nur io% ; auch war der An- 
teil der rückfälligen unter den verbrecherischen Verwandten 
der Rückfallvcrbrecher größer als unter denen der einmaligen. 

Fctsclier 1 ) fand unter den Geschwistern von Sexualverbrechern 
einen erhöhten Hundertsatz von Kriminellen, insbesondere wieder Sexual- 
verbrechen!. R a t h 3 ) hat in einer Anzahl Sippen verbrecherische Veran- 
lagung durch mehrere Generationen verfolgen können. Einige große Ver- 
brecher- und Vagabundensippen, die in der rassenbiologischen Literatur be- 
schrieben worden sind (Jukc, Zero, Markus u. a.) sind ebenso wie die schon 
erwähnte Sippe Kallikak mehr unter dem Gesichtspunkt der sozialen Aus- 
lese als der Erblichkeit von Interesse; über diese wird daher im zweiten 
Bande berichtet. Dasselbe gilt von der erblichen Belastung entgleister Ju- 
gendlicher, die von G r u h 1 e , L u n d und andern studiert worden ist. 

An den meisten Verbrechen sind Männer viel mehr als Frauen beteiligt, 
insbesondere an Mord, Körperverletzung, Betrog. Das liegt offenbar zum Teil 
an der aktiveren Natur des Mannes, zum Teil aber auch an seiner stärkeren 
Beteiligung am Berufsleben, die eine größere Versuchung mit sich bringt. 

Der Psychiater Aschaf f cnburg 1 ') hat die biologischen Ursa- 
chen des Verbrechens zusammenfassend dargestellt; und Birnbaum 1 ) 
hat die psychopathischen Verbrecher geschildert. Besonders verwiesen sei 
auch auf die gründliche Studie von Stumpf! 6 ). 

Zu den Psychopathien sind auch die Anomalien der 
geschlechtlichen Triebe zu rechnen. Krankhafte Stärke 
des Begattungstriebes kommt deutlich familienweise vor, an- 
dererseits auch abnorme Schwäche oder völliges Fehlen. Die 
wichtigste Anomalie des Fortpflanzungstriebes ist die soge- 
nannte H omosexualität, bei der sich die geschlechtli- 
chen Triebe auf Personen des gleichen Geschlechts richten. 
In einem Teil der Fälle ist diese wohl als Äußerung geschlecht- 
licher Zwischenstufen 6 ) (vgl. S. 403) aufzufassen, da bei homo- 
sexuellen Personen sich auch in der körperlichen Erscheinung 
häufiger als bei andern Anklänge an das andere Geschlecht 
zeigen. Bei einem größeren Teil ist aber gerade der Gegen- 
satz zwischen der körperlichen Ausstattung und der seelischen 
Triebrichtung auffallend. Zum Teil scheint Homosexualität auch 

1 ) E c t s c h e r , R. Erbbiologische Studien an Sexualverbrechen!. 
ARGE. Bd. 17. II. 3. S. 256. 

s ) R a t h , C. Über die Vererbung von Dispositionen zum Verbrechen. 
Stuttgart 1 9 1 4. 

3 ) Aschaffenburg, G. Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 
3. Aufl. Heidelberg 1923. 

4 ) Birnbaum, K. Die psychopathischen Verbrecher. 2. Aufl. Leipzig 
1926. Thieme. 

5 ) Stumpft, F. Erbanlage und Verbrechen. Berlin 1935. Springer. 
G ) Goldsch m i d t , R. Die biologischen Grundlagen der konträren 

Sexualität und des Hermaphroditismus beim Menschen. ARGB. Bd. 12. 
H. r. 19 r 6. 



ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 559 



durch Verführung, Beispiel und Gewöhnung entstehen oder 
doch verstärkt und befestigt werden zu können, zumal auf dem 
Boden psychopathischer Bestimmbarkeit und Haltlosigkeit. Die 
Erlebnisse in der Zeit der Pubertät scheinen hier von erheb- 
lichem Einfluß zu sein. Nicht wenige jugendliche beiderlei 
Geschlechts haben in diesem Alter gleichgeschlechtliche Nei- 
gungen (schwärmerische Freundschaften, Schwärmen vonMad- 
chen für Lehrerinnen) ; aber nur bei einem kleinen Teil von die- 
sen kommt es zu einer dauernden Fixierung der Neigung zum 
gleichen Geschlecht. Die meisten Jugendlichen haben von vorn- 
herein eine klare Neigung zum andern Geschlecht. Schließlich 
aber gibt es einen glücklicherweise kleinen Hundertsatz, der 
ebenso eindeutig von vornherein auf das gleiche Geschlecht 
eingestellt ist ; es mögen vielleicht 2 0/0 in beiden Geschlechtern 
sein, Anderweitige Psychopathie (Hysterie, schizoide Psychopa- 
thie) ist bei Homosexuellen häufig; bei einem Teil von ihnen 
ist die Gleichgeschlechtlichkeit aber die einzige Anomalie 1 ). Als 
normale Variante, wie ihre Verteidiger es wollen, kann diese 
aber natürlich nicht angesehen werden, da sie der Erhaltung 
der Rasse widerstreitet Daß familiäre Häufung nur verhält- 
nismäßig selten beobachtet 2 ) worden ist, kann an der Schwie- 
rigkeit der Feststellung dieser als Laster geltenden Veranla- 
gimg liegen. Auch Zwillingsuntersuchungen in dieser Richtung 
sind schwierig, jedenfalls meint auch der Psychiater Keh- 
rer 3 ): „An dem Vorkommen einer isolierten Perversion des 
Geschlechtstriebes, die ausschließlich durch die Keimanlage 
bedingt ist, meist von der Pubertät und mehr oder minder un- 
abhängig von psychogenen Einflüssen der Umwelt zum Durch- 
brach kommt und zeitlebens bestehen bleibt, kann wohl nicht 
mehr gezweifelt werden," 

Ein ,,E n t a r t u n g s i r r e s e i n" läßt sich ebensowenig wie ein „mo- 
ralisches Irresein" als besondere Geisteskrankheit aufrechterhalten 4 ). Wes- 
halb z. B. die Schizophrenie oder die Epilepsie nicht zur Entartung gehören 
sollten, ist nicht ersichtlich. Gegen den Begriff eines ,, Entartungsirreseins" 
gelten dieselben Gründe wie gegen den Begriff des ,, Status degenerativus" 
und den der „Heredodegeneration" als biologischer Einheit (vgl. S. 419). 

1 ) Kronfeid, A. Sexualpsychopathologie. In Aschaffenburgs Hand- 
buch der Psychiatrie. Leipzig und Wien 1923. 

3 ) Piltz, J. Homologe Vererbung der Homosexualität. Ref. im Zen- 
tralbl. f. d. gesamte Neurologie und Psych. Bd. 26. S. 76. 1921. 

3 ) K e h r e r , F. Über Wesen und Ursachen der PI omosexualität. 
Deutsche med. Wochenschr. 1924. Nr. 19. 

4 ) Vgl. Rüdin, E. Korreferat über „Degenerationspsychosen". Archiv 
für Psychiatrie. Bd. 83. H. 2. S. 376 1928. 



560 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



Geistige Störungen oder Anomalien äußern sich gewöhn- 
lich auch in körperlichen Zeichen, und zwar nicht nur in sol- 
chen, die als Folgen der geistigen Störung zu betrachten sind 
(Mienenspiel u. a.), sondern auch in körperlichen Anomalien 
bzw. Entwicklungsstörungen. Bei der Besprechung des Schwach- 
sinns wurde bereits auf die Kleinköpfigkeit und das disharmo- 
nische Äußere der Idioten und Imbezillen hingewiesen. Darauf 
beruht die Lehre von den Entartungszeichen. Es ist 
zwar nicht möglich, in jedem einzelnen Falle aus der Erschei- 
nung eines Menschen die Art seiner Geistesstörung zu erken- 
nen; wenn aber die verschiedenen Geisteskranken einer An- 
stalt gruppenweise gesondert würden, so würde niemand, 
der einige psychiatrische Erfahrung hat, im Zweifel sein, wel- 
ches die Gruppe der Schizophrenen, der Zyklophrenen, der 
Epileptiker, der Idioten sei. Auch viele Psychopathen kann 
man schon an ihrem Äußeren erkennen, z. B. in der Eisen- 
bahn, auch wenn sie nicht das Haar lairg tragen oder durch 
sonstige auffallende Aufmachung sich abzuheben suchen. 
Man kann direkte und indirekte Entartungszeichen unterschei- 
den. Ein direktes ist z. B. die Mikrokephalie, die mit Sicherheit 
auf Schwachsinn zu schließen gestattet. Direkte Entar- 
tungszeichen sind von denselben Erbanlagen abhängig, 
die die krankhaften Geistesverfassungen bedingen. Dahin ge- 
hören gewisse Mißbildungen des Auges, die an Zahl und 
Schwere in demselben Maße zunehmen wie der geistige De- 
fekt 1 ). Es ist indessenzu bedenken, daß ein Zusammenbestehen 
eines körperlichen mit einem geistigen Defekt im Einzelfall 
keine ursächliche Verknüpfung durch eine gemeinsame krank- 
hafte Erbanlage beweist. Ein solches Zusammentreffen kann 
natürlich in Einzelfällen auch zufällig sein. Weiter können auch 
nichterbliche Fälle von Geistesschwäche mit Mißbildungen des 
Auges, der Zähne oder anderer Organe einhergehen. Dieselben 
äußeren Schäden, die auf früher Embryonalstufe die Entwick- 
lung des Zentralnervensystems hemmen, können auch die des 
Auges und anderer Organe stören. In solchen Fällen aber ist 
die körperliche Anomalie kein wirkliches Entartungszeichen, 
da Entartung sich immer nur auf die Erbmasse bezieht. Bei 
den „Degenerationszeichen", die Curtius 2 ) und andere be- 

i) Vgl. Gelpke, Th. Über die Beziehungen des Sehorgans zum 
jugendlichen Schwachsinn. Halle 1904. C. Marhold. 

z ) Curtius, F. Über Degeneraüonszeichen. Eugenik. Jahrgang 3. 
H. 2. 1933. 



ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 561 

schrieben haben, ist der Zusammenhang mit der Erbmasse oft 
fraglich. 

Indirekte Entartungszeichen sind solche, deren 
Zusammenhang mit geistigen Defekten durch selektive Häu- 
fung verschiedener Erbanlagen in derselben Erbmasse bedingt 
Ist. Individuen mit entstellenden Fehlern oder Mißbildungen 
werden hauptsächlich von ebensolchen und von geistig nicht- 
vollwertigen Personen geheiratet. So kommt es, daß man auch 
aus der Häufung körperlicher Mängel, die nicht von denselben 
Erbanlagen abhängen wie geistige, mit einer gewissen Wahr- 
scheinlichkeit auf solche schließen kann, wenn auch natürlich 
mit viel geringerer als im Falle direkten Zusammenhangs. Da 
psychopathische oder sonst geistig minderwertige Menschen 
meist keine vollwertigen Ehegatten bekommen und daher vor- 
zugsweise untereinander heiraten, so entsteht auch eine Kor- 
relation verschiedener psychopathischer Anlagen. Seelische 
Anomalien können daher bis zu einem gewissen Grade auch 
„Entartungszeichen" in bezug auf andere sein. Diese Häufung 
von geistiger Minderwertigkeit in gewissen Sippen und Bevöl- 
kerungsschichten wird im zweiten Bande im Zusammenhang 
mit der sozialen Auslese näher besprochen. 

Als besonders bedeutungsvoll hat sich eine von Kretsch- 
mer 1 ) entdeckte Korrelation zwischen dem geistigen und dem 
körperlichen Habitus erwiesen. Er hat durch zahlreiche Mes- 
sungen belegt, daß unter den Geisteskranken der schizophre- 
nen Gruppe der schlanke „leptosome" und der athletische Ha- 
bitus weit überwiegen, daß die Kranken der zyklophrenen 
Gruppe dagegen in der Regel von untersetztem „pyknischen" 
Habitus sind. Die Schizophrenen haben ferner im Durchschnitt 
kleinere Köpfe, schmalere Gesichter, stärker vorspringende 
Nasen und kleinere Unterkiefer als die Zyklophrenen. Diese 
Befunde sind seitdem allgemein bestätigt worden. Auch 
die mit den genannten Hauptgruppen der Geistesstörun- 
gen gleichgerichteten Psychopathien stehen nach Kr et Sch- 
mer in Korrelation mit den entsprechenden Formen des 
Habitus. Schließlich meint Kretschmer, diese Beziehun- 
gen auch im Bereich, der normalen Charakterunterschiede ver- 
folgen zu können. Er faßt die schizoiden Psychopathien mit 
den in gleicher Richtung ausgeprägten nicht krankhaften Cha- 
rakteren zu der Gruppe der schizothymen Charaktere zu- 

2 ) Kretschmer, E. Körperbau und Charakter. 3. Aufl. Berlin 
1925. J. Springer. 

Baur-Fisclier-I,eiizl, 36 



562 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

sammen, die zykloiden Psychopathien mit den entsprechenden 
nicht krankhaften Charakteren zu der Gruppe der zyklo- 
thymen Charaktere. Er hat aber selbst betont, daß die Men- 
schen sich nicht etwa glatt in diese beiden Gruppen aufteilen 
lassen. Selbstverständlich ist ein Mensch durch die Einordnung 
in diese Gruppen nach Charakter und Temperament noch kei- 
neswegs vollständig gekennzeichnet. So wenig wie man alle 
Farben in die Reihe Schwarz-Weiß einordnen kann, so wenig 
ist Entsprechendes auf dem Gebiete der seelischen Konsti- 
tutionen möglich 1 ). 

Die besprochenen Beziehungen zwischen Körperbau und seelischer 
Eigenart sind vermutlich zum großen Teil durch die individuelle Besonder- 
heit der inneren Sekretion bedingt. In diesem Zusammenhang sei darauf lim- 
gewiesen, daß auch die Unterschiede der Geschlechter den Kretschm ersehen 
Befunden entsprechen. Der Mann neigt körperlich mehr zu leptosomem 
und athletischem Bau, seelisch zu schizothymem Charakter, das Weib kör- 
perlich zu pyknischem Bau, seelisch zu zyklothymem Temperament, übri- 
gens auch mehr zu zyklophrenen Störungen. Auch in den Unterschieden 
der Lebensalter lassen sich entsprechende Beziehungen verfolgen. Kleine 
Kinder zeigen mehr pyknischen Körperbau und zyklothyme Seelenverfas- 
sung. In der Zeit der Pubertät nimmt der Körper mehr leptosome For- 
men an; zugleich sind diese Jahre durch mehr schizothyme Seelenregungen 
gekennzeichnet, und auch der Ausbruch schizophrener Psychosen fällt mit 
Vorliebe in diese Zeit. Später nach der Mitte des Lebens ändert sich der 
Körperbau wieder mehr in der Richtung auf den pyknischen Habitus, die 
Seele in der Richtung auf zyklothyme Verfassung. Auch in den körperlichen 
und seelischen Unterschieden der großen Rassen finden sich Anklänge an 
diese Zusammenhänge, wovon weiter unten noch zu reden sein wird. 



Alle krankhaften Erbanlagen müssen natürlich zu irgend 
einer Zeit erstmalig entstanden sein. Man kann zwar gewisse 
Krankheitsanlagen durch zahlreiche Generationen zurückver- 
folgen, so z.B. die Nachtblindheit in einer Sippe durch mehr 
als drei Jahrhunderte; rezessive Anlagen können auch schon 
viele Generationen lang überdeckt, in einer Bevölkerung vor- 
handen gewesen sein, ehe sie sich zum ersten Male äußern; 
aber irgend wann einmal müssen auch sie natürlich neu ent- 
standen sein. In der Erbmasse der ersten. Menschen sind selbst- 
verständlich noch nicht alle jene erblichen Krankheit s anlagen 
vorhanden gewesen, mit denen die gegenwärtigen Bevölkerun- 

i ) Mayer-Groß, W. Grundsätzliches zur psychiatrischen Kon- 
stitutions- und Erblichkeitsforschung. Zeitschrift für die gesamte Neuro- 
logie und Psychiatrie. Bd. 100. H. 2/3. 1926. 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 563 

gen durchsetzt sind. Da biologisch kein Wesensunterschied 
zwischen krankhaften und normalen Anlagen besteht, so ver- 
halten sich die krankhaften Erbanlagen natürlich auch hin- 
sichtlich ihrer Entstehung nicht anders wie die sogenannten 
normalen. Da die Erbmasse als chemisch-physikalisch bestimmt 
vorgestellt werden muß, so muß sie auch durch chemisch- 
physikalische Einflüsse änderbar sein; und da die einzelnen 
Erbeinheiten wegen ihrer Molekularstruktur nicht fließende 
Übergänge haben können, so muß auch ihre Änderung in 
mehr oder weniger großen Sprüngen oder „stoßweise", durch 
Verlust, Anlagerung oder Umlagerung von Molekeln oder Mo- 
lekelgruppen erfolgen. Wir bezeichnen nun jene chemischen 
oder physikalischen Einflüsse, welche Änderungen der Erb- 
masse zur Folge haben, als idiokinetis che Einflüsse, die' 
Verursachung solcher Erbänderungen oder Idio Variationen seh 
ber als I diokinese 1 ). 

Das Wort I diokinese ist nicht gleichbedeutend mit dem von Forel 
gebrauchten Ausdruck „Blastophthorie" (Keimverderb}, da dieser auch nicht - 
erbliche Änderungen bezeichnete und andererseits auf schädliche Änderungen 
eingeschränkt war. Den Vorgang der Verursachung nie h [erblicher Änderun- 
gen, sei es nun der fertigen Lebewesen oder der Keimzellen, bezeichnen wir 
mit Siemens als Parakinese; und wir sprechen demgemäß auch von 
para kinetischen Einflüssen im G-egensatz zu den idiokine tischen. 

Mit Sicherheit ist eine idiokinetische Wirkung von den 
Röntgenstrahlen und ebenso von den Strahlen der radio- 
aktiven Stoffe, die mit jenen ja wesensverwandt sind, nach- 
gewiesen. 

Schon O s k a r H e r t w i g 2) 3) nat Samen und Eizellen von Amphibien 
mit radioaktiven Stoffen bestrahlt und gefunden, daß auch in jenen Versu- 
chen, wo nur die Samenfäden allein bestrahlt wurden, die aus der Befruch- 
tung normaler Eier mit solchen Samenfäden hervorgehenden Individuen 
allerlei Mißbildungen und Schwächezustände zeigten. Ganz ähnliche Ergeb- 
nisse erzielte er durch Einwirkung von Chemikalien (Methylenblau, Chloral- 
hydrat, Chinin) auf reife Samenfäden. Er hat damals auch bereits geschlos- 
sen: „Durch die mitgeteilten Versuche mit radioaktiven und mit chemisch 
wirkenden Substanzen wurde der nicht anzufechtende experimentelle Nach- 
weis erbracht, daß durch sie das Idioplasma der Keimzellen dauernd ver- 
ändert werden kann." Da die erzielten Veränderungen indessen (aus äußeren 
Gründen) nicht weitergezüchtet werden konnten, hat die, wie wir heute 
wissen, richtige Ansicht O. Hcrtwigs keine allgemeine Anerkennung ge- 
funden. Dazu dürfte allerdings auch der Umstand beigetragen haben, daß 

x ) 10 Idiov = das Eigene, das innere Wesen; xivelv = etwas Fest- 
stehendes erschüttern, verändern. 

3 ) Hcrtwig, O. Die Radiumkrankheit. Archiv für mikroskopische 
Anatomie 1911. 

5 ) Derselbe. Das Werden der Organismen. 2. Aufl. Jena, Fischer 1918. 



36" 



564 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

O. Hcrtwig den Vorgang der Idiokincse in unklarer Weise als eine „Ver- 
erbung erworbener Eigenschaften" zu deuten suchte. 

Ich habe i. j. 1912 den Schluß gezogen, daß Mutationen durch che- 
mische und physikalische Einflüsse verursacht würden und daß insbesondere 
die krankhaften Erbanlagen auf diese Weise entständen. Damals habeich das 
Wort Idiokincse für diesen Vorgang cingeführti). r} a ß insbesondere Röntgen- 
strahlen und Radiunistrahlen Erbanderungen verursachen könnten, habe ich 
auch in den früheren Auflagen dieses Buches bereits als sicher dargestellt. 

Das Verdienst, in einwandfreier und umfassender Weise 
gezeigt zu haben, daß man durch Röntgenstrahlen Erbände- 
rungen in beliebiger Anzahl verursachen kann, kommt dem 
amerikanischen Genetiker H. J. Muller, Professor der Zoo- 
logie an der Universität Texas, einem früheren Mitarbeiter Th. 
H. Morgans, zu. Muller 3 ) 3 ) 4 ) hat durch Bestrahlung so- 
wohl von Männchen als auch von Weibchen der Obstfliege 
Drosophila mclanogaster zahlreiche Mutationen erzeugen kön- 
nen, die durch beliebig viele Generationen weitergezüchtet 
werden konnten. Die verursachten Mutationen folgten in ihrer 
Erblichkeit dem Mendehschen Gesetz genau so wie jene, die 
man unter den gewöhnlichen Lebensbedingungen („spontan") 
auftreten sieht. 

Die große Mehrzahl der erzeugten Mutationen ist letal, 
und zwar meist rezessiv bzw. homozygot letal. Einige waren 
semiletal, d, h. sie konnten wegen großer Lebensschwäche nur 
mühsam weitergezüchtet werden. Auch „dominant" letale Mu- 
tationen hat Muller auftreten sehen; da diese schon auf 
früher Entwicklungsstufe zum Absterben des befruchteten Eies 
oder des Embryos führen, bedingen sie eine partielle Sterilität 
der bestrahlten Tiere; sie können nur nachgewiesen werden, 
wenn die befruchteten Eier alle einzeln beobachtet werden. 
Nächst den letalen Mutationen waren Sterilität bedingende am 
häufigsten 5 ). 

Mutationen, die die Lebensfähigkeit weniger beeinträch- 
tigen, die also nicht letal, sondern nur krankhaft sind, sind ent- 

1 ) Lenz, F, Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes. Jena 1912. 
G. Fischer. 

2 ) Muller, H.J. Artificial transmutaüon of the gene. Science. Bd. 66. 
Nr. 1699. I927. 

3 ) Patterson, J. T. and Müller, H. J. Are „progressive" muta- 
tions produeed by X-rays ? Genetics. Bd. 15. S. 495. 1930. 

4 ) Muller, H. J. Radiation and Genetics. American Naturalist. Bd. 
64. S. 220. 1930. 

6 ) Diese bei den Nachkommen auftretende Sterilität ist natürlich nicht 
mit der bei den bestrahlten Tieren auftretenden partiellen Sterilität zu ver- 
wechseln. 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 565 

schieden in der Minderzahl. Sie sind aber immer noch viel 
häufiger als solche, bei denen eine Beeinträchtigung der Le- 
benstüchtigkeit nicht besteht oder doch nicht beobachtet wer- 
den konnte. Bei genauer Untersuchung ergab sich, daß auch 
nicht wenige Mutationen entstanden, die nur ganz geringfügige 
phänotypische Änderungen bedingen. Unter diesen „kleinen" 
Mutationen werden natürlich am ehesten solche sein, die die 
Lebenstüchtigkeit nicht beeinträchtigen und die von der natür- 
lichen Auslese daher unter Umständen ausgebreitet werden 
können, zumal wenn eine Änderung der Umwelt eine neue An- 
passung der Rasse erfordert. 

Die meisten der bei Drosophila durch Röntgenstrahlen er- 
zeugten Mutationen waren auch früher schon in den Unter- 
suchungen Morgans und seiner Mitarbeiter beobachtet wor- 
den. Es wurde sogar die Mehrzahl der früher schon beobach- 
teten Mutationen bei den Röntgenversuchen wieder erhalten, 
viele davon mehrfach. Man kann das so deuten, daß durch 
Herausschlagen von Bausteinen aus der Erbmasse oft wieder 
dieselben Defekte entstehen. 

Von den lebensfähigen Mutationen verhalten sich die mei- 
sten einfach rezessiv, d. h. sie äußern sich erst, wenn bei der 
Weiterzucht zwei gleichartige Erbanlagen zusammentreffen. 
Zuerst in die Augen fallen die rezessiven geschlechtsgebun- 
denen Mutationen, da sie sich bereits an den direkten männ- 
lichen Nachkommen bestrahlter Weibchen äußern. Auch eine 
nicht ganz unbeträchtliche Minderheit der nicht geschlechts- 
gebundenen (autosomalen) Mutationen äußert sich schon in der 
nächsten Generation, cl. h. heterozygot. Diese werden gewöhn- 
lich als „dominant" angesehen, was aber eigentlich voraus- 
setzen würde, daß sie sich im homozygoten Zustand nicht we- 
sentlich anders als im hetcrozyg'oten äußern; tatsächlich sind 
aber manche von diesen noch homozygot letal. 

Außer der Abänderung einzelner Gene, d. h. der Mutation im engeren 
Sinne, werden auch Störungen in der Anordnung der Gene durch Röntgen- 
strahlen verursacht; diese geben sich in einer Störung des Austausches' 
(des Crossing-over) zu erkennen. Auch Ausschaltung größerer Teile von 
Chromosomen (deficiency) kann durch Röntgenstrahlen entstehen. 

je intensiver und länger die Erbmasse von Röntgenstrah- 
len getroffen wird, desto mehr Erbänderungen werden ver- 
ursacht. Bei der schwersten Bestrahlung, nach der überhaupt 
noch Nachkommenschaft erzielt wurde, hatte nach M u 1 1 e r un- 
gefähr jede zweite Samenzelle eine Erbänderung erlitten. Auch 
durch ganz schwache Bestrahlung können letale Mutationen 



566 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



entstehen. Der Grad der Krankhaftigkeit ist also nicht etwa 
der Intensivität der Bestrahlung proportional. Auch gibt es 
keinen Schwellenwert der Bestrahlung, unterhalb dessen keine 
Erbänderungen vorkämen. Lediglich die Häufigkeit der Mu- 
tationen wird mit abnehmender Stärke der Bestrahlung ge- 
ringer. Die Zahl der entstehenden Mutationen ist proportional 
der Quantität der Strahlung, gemessen an der Ionisation. Ob 
eine bestimmte Strahlendosis auf einmal oder über lange Zeit 
verteilt einwirkt, ist, was die Zahl der verursachten! Mutationen 
betrifft, gleichgültig. 

Durch starke Röntgenbestrahlung entsteht dauernde Un- 
fruchtbarkeit in beiden Geschlechtern, und zwar im weiblichen 
leichter als im männlichen. Nach schwächerer Bestrahlung 
tritt bei Drosophilaweibchen ebenso wie bei Säugetieren und 
beim Menschen vorübergehende Sterilität ein. Die nach dem 
Wiedereintritt der Fruchtbarkeit reifenden Eier sind aber nicht 
etwa unversehrt ; sie enthalten vielmehr zum Teil defekte Erb- 
anlagen. 

Es ist darüber gestritten worden, ob die an der Obstfliege 
Drosophila festgestellten Tatsachen auch für den Menschen 
gelten. Die Frage ist praktisch wichtig, weil bei der diagnosti- 
schen und therapeutischen Anwendung von Röntgenstrahlen 
zum Teil auch die Keimdrüsen getroffen werden; ja, von man- 
chen Frauenärzten wird die sogenannte temporäre Sterilisie- 
rung sogar ziemlich häufig als Heilmethode angewandt 1 ). Einige 
Frauenärzte und Röntgenärzte haben sich auf den Standpunkt 
gestellt, daß die temporäre Sterilisierung unbedenklich sei, weil 
durch Beobachtungen am Menschen und durch Versuche an 
Säugetieren bisher eine Erbschädigung durch Röntgenstrahlen 
nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Gewiß, der Mensch 
ist keine Fliege; aber niemand, der mit den Grundlagen der 
Genetik vertraut ist, zweifelt daran, daß die an der Obstfliege 
gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich auch für den Menschen 
gelten. Im einzelnen können die Verhältnisse beim Menschen 
natürlich besonders liegen; es ist z, B. möglich, daß Erbände- 
rungen durch Röntgenstrahlen beim Menschen leichter oder 
schwerer als bei Drosophila entstehen. Ein direkter Nachweis 
durch Erfahrungen am Menschen ist allerdings kaum zuführen. 
Wenn bald nach der Bestrahlung eines menschlichen Eier- 
stocks eine sogenannte Frühbefruchtung eintritt, so entstehen 

*■) D o e d c r I c i n , A. Strahlenbehandlung und Nachkommenschaft. 
Deutsche Med. Wochenschr. 1928. Nr. 48. 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 567 

daraus so häufig lebensschwache Kinder, daß gerade auch An- 
hänger der sogenannten temporären Sterilisierung die Unter- 
brechung der Schwangerschaft in solchen Fällen gefordert 
haben, worauf z. B. H. Martius 1 ), der selbst ein Gegner sol- 
cher Bestrahlungen ist, hinweist. Es ist nun allerdings kaum 
zu entscheiden, wieweit es sich dabei um Schädigungen der 
Erbmasse und wieweit um bloße Modifikationen handelt. Nach 
sogenannter Spätbefruchtung, d. h. wenn die Empfängnis erst 
mehrere Monate oder länger nach der Bestrahlung eintrat, hat 
man an den Kindern meist keine krankhaften Zeichen beob- 
achtet. Daraus folgt aber durchaus nicht, daß die Erbmasse in 
diesen Fällen unversehrt geblieben sei. Der größte Teil der 
Mutationen verhält sich ja rezessiv; d. h. es tritt erst bei Zu- 
sammentreffen zweier solcher Erbanlagen ein krankhafter Zu- 
stand in die Erscheinung. Da in der Erbmasse des andern El- 
ternteils nicht gerade dieselbe krankhafte Erbanlage vorhanden 
zu sein pflegt, so ist nicht zu erwarten, daß schon die Kinder 
einer bestrahlten Frau erbliche Defekte zeigen. Das möge an 
einem Schema veranschaulicht werden. 



O O 



O 



.Zeitpunkt der Entstehung einer 
rezessiven krankhaften 
Erbanlage. 



o o o © o 



O0OO0O0O 



f ■■■ ■ I T ~~> 

o © 



Zeitpunkt ihres 
Offenbarwerdens. 



Fig. 195. 
Schema des ersten Auftretens einer rezessiven krankhaften Anlage. 

Angenommen, eine bestimmte Erbanlage in einer Keim- 
zelle werde durch Röntgenstrahlen zerstört. Dann wird ein 
Kind der bestrahlen Person eine entsprechende rezessive krank- 
hafte Anlage überdeckt enthalten (dargestellt durch einen Punkt 
im Kreise). Da das Kind in der Regel einen Ehegatten bekom- 
men, wird, der nicht denselben Defekt in der Erbmasse enthält, 
so wird sich die krankhafte Anlage auch an den Enkeln noch 
nicht äußern. Aber die Hälfte der Enkel wird die Anlage über- 

!) Martius, H. Röntgenstrahlen und Keimschädigung. Strahlenthe- 
rapie. Ed. 37. S. 164. 1930. 



568 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



deckt enthalten. Da die Träger der krankhaften Anlage in der 
Enkelgeneration alle Geschwister sind, kommen solche nicht 
für die Kindererzeugung miteinander in Betracht; auch in der 
Urenkelgeneration wird die Anlage daher nicht in die Erschei- 
nung treten, jene Enkel, die Träger der Anlage sind, werden 
aber unter ihren Kindern wieder zur Hälfte Träger der Anlage 
haben. In der Urenkelgeneration können daher Geschwister- 
kinder die Anlage überdeckt enthalten; und in der Ururenkel- 
generation können aus Vetternehen der Urenkelgeneration 
Kinder hervorgehen, die nun wirklich mit dem Leiden behaftet 
sind, dessen Anlage schon in der Erbmasse ihrer Ururgroß- 
mutter oder ihres Ururgroßvaters entstanden ist. Die erbbio- 
logischen Folgen einer Röntgenbestrahlung werden also oft 
erst nach mehr als 100 Jahren oder noch viel später in die Er- 
scheinung treten. 

Dieses von mir gegebene Schema ist dahin mißverstanden worden, 
als ob Erbschäden infolge von Röntgenstrahlen, überhaupt erst nach so vielen 
Generationen aultreten könnten. Geschlechtsgebundene Erbschäden können 
schon bei den Söhnen einer bestrahlten Mutter in die Erscheinung treten; 
dominante Erbschäden, die nach den Befunden an Drosophila in einer nicht 
ganz geringen Minderheit entstehen, würden in der Regel schon an den 
Kindern beobachtet werden. Außerdem ist zu erwarten, daß durch Erbschä- 
digung zum großen Teil dieselben rezessiven krankhaften Erbanlagen ent- 
stehen, die auch sonst schon in der Bevölkerung vorhanden sind. Folglich 
können auch neu entstandene rezessive Erbanlagen unter Umständen infolge 
Zusammentreffens mit gleichartigen schon in der nächsten bzw. den näch- 
sten Generationen manifest werden. Die obigen Überlegungen sollen nur 
zeigen, daß man aus der Geburt anscheinend gesunder Kinder nicht schließen 
darf, daß die Erbmasse unversehrt geblieben sei. 

Andererseits ist das Auftreten erbkranker Kinder kein Beweis für eine 
in der oder den letzten Generationen stattgehabten Erbschädigung. Unsere 
Bevölkerung ist derart mit rezessiven Krankheit sanlagen durchsetzt, daß 
ohnehin mit dem Auftreten von Fallen rezessiver Erbleiden gerechnet werden 
muß. Unter diesen Umständen ist ein Nachweis stattgehabter Erbschädigung 
beim Menschen im Einzelfall nicht wohl möglich; noch weniger aber ist eine 
solche Erbschädigung auszuschließen. Es wäre daher keine dankbare Auf- 
gabe, ein Verzeichnis der bestrahlten Frauen anzulegen, um unter ihren 
Nachkommen nach mehr als hundert Jahren nach rezessiven Erbleiden zu 
suchen. Sinnvoll ist es dagegen, Kinder bestrahlter Frauen und ebenso Kin- 
der von Röntgenärzten und Röntgentechnikern zu untersuchen und die Be- 
funde, wenn eine genügend große Zahl beisammen ist, mit denen der Durch- 
schnittsbevölkerung zu vergleichen. Im Hinblick auf gelegentliche Mittei- 
lungen ist zu bedenken, daß nach Bestrahlungen lieber über gesunde als 
über kranke Kinder berichtet wird. 

Zuchtversuche an Säugetieren (Mäusen, Kaninchen) zur Klärung der 
Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen sind bisher niemals mit 
einer genügend großen Zahl von Versuchs- und Kontrolltieren angestellt 
worden. Daher sind sowohl die anscheinend positiven als auch die ansehe!- 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKIT AFTER ERBANLAGEN. 569 

nend negativen Versuche nicht eindeutig. Wie Paula Hertwig 1 ) aus- 
gerechnet hat, würde ein einziger Versuch rund 50 000 Mäuse erfordern. 
Sie hat jetzt einen derartigen Versuch, der natürlich große Mittel und jahre- 
lange Arbeit erfordert, im Gange. 

Für die wissenschaftliche Entscheidung der Frage, ob überhaupt Erb- 
änderungen infolge von Röntgenbestrahlung vorkommen, sind solche Säuge- 
tierversuche eigentlich nicht nötig. Diese Frage ist durch die Untersuchungen 
an Drosophila und Anürrhinum eindeutig positiv entschieden. Es kann sich 
nur noch um die Häufigkeit handeln, mit der solche Erbänderungen bei 
Säugetieren und Menschen zu erwarten sind. Auch ist von Säugetierver- 
suchen ein größerer Eindruck auf Ärzte, die nicht genetisch zu denken 
gewohnt sind, zu erwarten. 

Letale Mutationen, die ja die große Mehrzahl ausmachen, sind im. 
Säugelierversuch viel schwerer als im Drosophllaversuch aufzufinden, weil 
man bei Säugetieren das Absterben einzelner Eier nicht feststellen kann. 
Nur aus einer verminderten Wurfgeschwisterzahl, aus Fehl- und Totgeburten 
kann man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf schließen. Auch in 
Bezug auf Mutationen der Augenfarbe, der Flügelform usw. ist Drosophila 
ein viel dankbareres Objekt. Erbkrankheiten wie beim Menschen sind bei 
weißen Mäusen und Kaninchen auch nur schwer oder gar nicht auffindbar. 
Man ist bei diesen Tierversuchen daher in der Hauptsache auf den Vergleich 
der Wur[geschwi5terzahl, der Sterblichkeit der Jungen und der Häufigkeit 
steriler Tiere angewiesen. 

Die von Muller an Drosophila entdeckten Gesetzmäßig- 
keiten der Idiokinese sind von Baur 2 ) und Stubbc 3 ) am 
Löwenmaul, Antirrhinum majus, bestätigt worden; und nichts 
spricht dafür, daß der Mensch sich in dieser Hinsicht grund- 
sätzlich anders verhalten sollte, als Fliegen und Pflanzen. 

Ärzte, denen eine eigene Röntgeneinrichtung zur Verfügung steht, wen- 
den diese natürlich zu Untersuchungs- und Behandlungszwcckcn häufiger an 
als andere Ärzte. Es ist auch begreiflich, daß solche Ärzte sich gegen die 
Vorstellung wehren, sie könnten in Unkenntnis der Gefahr Erbschädigungen 
verursacht haben. Besonders in dem von Doederlein herausgegebenen 
Archiv für Gynäkologie sind Veröffentlichungen dieser Tendenz erschienen. 
So ist Borak infolge ungenügender Kenntnis der genetischen Tatsachen 
zu dem Satz gekommen; „Bei weiblichen Individuen der Säugetierreihe gibt 
es demnach überhaupt keine Möglichkeit einer Keimschädigung, sondern 
lediglich die einer Fruchtschädigung als Folge der Bestrahlung*)." Und 



!) Hertwig, P. Wie muß man züchten, um bei Säugetieren die 
natürliche oder experimentelle Mutationsrate festzustellen? ARGB. Bd. 
27. H. 1. S. 1. 1933. 

2 ) B aur , E. Der Einfluß von chemischen und physikalischen Reizun- 
gen auf die Mutationsratc von Antirrhinum majus. Zeitschi-, für induktive 
Abstammung.?- und Vererbungslehre. Bd. 60. H. 4. S. 467. 1932. 

3 ) Stubbe, H. Untersuchungen über experimentelle Auslösung von 
Mutationen bei Antirrhinum majus. Ebenda. Bd. 56. H. 1 und 2. 1930. Bd. 
60. Ii. 4. 1932. 

") Borak, J. Archiv für Gynäkologie. Bd. 147. Ii. 2. S- 304. 1931. 



570 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN. 



P e L I e r 1 ) hat auf Boralcs Veranlassung eine „Berechnung" angestellt, 
nach der in Deutschland nach Ovarialbestrahlung von 50000 Frauen unter 
einer Million F 2 -Nachkommen weniger als 0,2 infolge der Bestrahlung als 
erbkrank zu erwarten wären. Dieser Trugschluß rührt hauptsächlich daher, 
daß P e 1 1 e r nur ein Paar von Erbeinheiten, je Frau angenommen hat, 
während es in Wirklichkeit mindestens Hunderte, wahrscheinlich sogar Tau- 
sende sind. Mit der Möglichkeit geschlechtsgebundener und dominanter Mu- 
tationen hat er überhaupt nicht gerechnet. 

Irrige und nicht unbedenkliche Vorstellungen werden auch durch den 
Satz B oraks erweckt: ,,Die durch Röntgenstrahlen ausgelösten Mutationen 
können durch neuerliche Bestrahlung zurückgebildet werden." Es fehlt nur 
noch, daß die Behauptung aufgestellt wird, alle krankhaften Erbanlagen 
könnten durch Röntgenstrahlen wieder in gesunde verwandelt werden. Leider 
hat auch T i m o f e e f f -R e s s o v s k y 2 ) dieser gefährlichen Illusion Vor- 
schub geleistet durch den Satz: „Da die Röntgenstrahlen verschieden ge- 
richtete, zum Teil entgegengesetzte Geno Variationen hervorrufen können, 
kann ihre Einwirkung nicht destruktiv, sondern eher rekonstruktiv sein, wie 
es schon früher von Müller und mir vermutet wurde." Er beruft sich hier 
zu Unrecht auf Müller. Dieser bahnbrechende Forscher, dessen Arbeiten 
ja die Kenntnis der Erbänderung durch Röntgenstrahlen überhaupt zu danken 
ist, hat schon in seiner ersten Veröffentlichung über diesen Gegenstand auf 
die Gefahren hingewiesen, die der Erbmasse von der Röntgentherapie drohen. 
Er hat in seiner Arbeit von 1930 nur zu zeigen gesucht, daß die verursachten 
Erbändenmgen nicht ausnahmslos Defektmutationen bzw. krankhaft zu sein 
brauchen. Daß die übergroße Mehrzahl letal oder krankhaft ist, daran kann 
gar kein Zweifel sein. Und selbst wenn es möglich wäre, Rückmutationen 
ebenso häufig zu verursachen wie sonstige Mutationen, so würde durch Be- 
strahlung einer mutierten Sippe nur ein ganz verschwindender Bruchteil 
der mutierten Gene wieder rekonstruiert werden können. Zugleich aber wür- 
den zahlreiche andere Gene ungünstige Erbänderungen erleiden. 

Die allermeisten Erbänderungen sind, und bleiben Defekte. 
Diese Tatsache ist nicht nur durch die besprochenen Arbeiten 
Mullers, sondern auch durch die umfassenden Erfahrungen 
Morgans 3 ) und Baurs*) sichergestellt; und es ist auch 
unter allgemeinbiologischen Gesichtspunkten gar kein anderer 
Sachverhalt zu erwarten. Die verschiedenen Arten der Lebe- 
wesen sind seit ungezählten Jahrtausenden so weitgehend an 
ihre Lebensbedingungen angepaßt, daß in der Regel — wenn 
auch nicht ausnahmslos — eine Änderung der Erbmasse eben 

1 ) V e 1 1 e r , S. Über die Wahrscheinlichkeit von Erbschädigungen nach 
Ovarialbestrahlungen. Archiv für Gynäkologie. Bd. 147. H. 2. S. 360. 1931. 

2 ) Tiraofeeff-Rcssovsky, N. W. Rückgenovarialion und die 
Genovariabilität in verschiedenen Richtungen. Archiv für Entwicklungsme- 
'chanik. Bd. 115. S. 620. 1929. 

3 ) Morgan, Th. FL, Bridges, C. B. und Sturtevant, A, 
FI. The Genetics of Drosophila. Haag 1925. Nijhoff. 

4 ) B a u r , E. Untersuchungen über das Wesen, die Entstehung und 
die Vererbung von Rassenunterschieden bei Antirrhinum majus. Bibliotheca 
Genetica. Bd. 4. Leipzig 1924. 



DIE NEUENTSTEHUNO KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 571 

eine Beeinträchtigung der Lebenstüchtigkeit mit sich bringt. 
Bei einem Lebewesen, das absolut vollkommen an seine Lebens- 
bedingungen angepaßt wäre, würden überhaupt nur ungün- 
stige Erbänderungen noch möglich sein. Bei den wirklichen 
Lebewesen, die nur relativ vollkommen angepaßt sind, werden 
also die allermeisten, wenn auch nicht grundsätzlich alle, Erb- 
änderungen ungünstig sein. So faßt auch Morgan 1 ) die Sach- 
lage auf. 

In der Literatur werden die Erbänderungen durch Röntgenstrahlen 
meist als Reizwirkungen und die Röntgenstrahlen als auslösender Reiz be- 
zeichnet. Ich halte das für grundsätzlich falsch. Reizwirkungen sind Ant- 
worten des Organismus auf Einflüsse der Umwelt auf Grund von Reaktions- 
möglichkeiten, die der Anpassung dienen. Die Summe dieser Reaktionsmög- 
lichkeiten ist letzten Endes in der gesunden Erbmasse begründet. Außer den 
Reiz-Wirkungen gibt es aber auch andere Änderungen von Organismen. Der 
Verlust eines Armes durch eine verstümmelnde Verletzung ist keine Reizwir- 
kung. Einen Reiz übt die Verletzung nur insofern aus, als der Wundreiz zur 
Heilung führt. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die Verstümmelung 
als solche. So sind auch Erbänderungen keine Reizwirkungen; sie erfolgen 
nicht auf Grund der bisherigen Reaktionsmöglichkciten und nicht im Sinne 
der Anpassung. Sie stellen vielmehr direkte Änderungen infolge von physika- 
lischen oder chemischen Ursachen dar, welche die Anpassung in der Regel 
beeinträchtigen. Sie geschehen passiv und daher ziellos. 

Außer durch Röntgen- und Radiumstrahlen hat man Erb- 
änderungen auch durch verschiedene andere physikalische und 
chemische Einflüsse verursachen können. Schon Muller hat 
eine Steigerung der Mutationshäufigkeit bei hoher Temperatur 
beobachtet; und seitdem ist es einwandfrei gelungen, bei Dro- 
sophila durch Einwirkung einer Temperatur von 35 bis 37 Mu- 
tationen zu verursachen. Stubbe 2 ) hat bei Antirrhinum außer 
durch Röntgenstrahlen auch durch Zentrifugieren und verschie- 
dene Chemikalien (Chloralhydrat, Alkohol u. a.) Erbänderun- 
gen erzielt. „Innerhalb jeder Sippe traten nach den verschie- 
denartigen Behandlungen im allgemeinen die gleichen Formen 
auf." Die Natur der Mutationen ist also weniger von der Art 
der idiokinetischen Einflüsse als von der bisherigen Beschaf- 
fenheit der Erbmasse abhängig. Es gibt Sippen, die leicht, und 
andere, die schwer mutieren. BeiDrosophila funebris treten zum 
Teil dieselben, zum Teil, aber auch andere Erbänderungen als 
bei Drosophila melanogaster auf. 

Eine willkürliche Erzeugung bestimmter oder bestimmt ge- 
richteter Mutationen ist, wie ich das vorliegende Tatsachen- 
material beurteile, bisher nicht gelungen und meines Erachtens 

x ) Morgan, Th. I-I. Evolution and genetics. 1925. 

a ) A. a. O. 



572 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN, 

auch nicht zu erwarten. Daß man unter einer großen Zahl ziel- 
loser Krbänderungen schließlich auch solche in erwünschter 
Richtung erhält, ist natürlich etwas anderes. 

JoJlos 1 ) hat allerdings angegeben, er habe durchwärme von 35 bis 
36" bei Drosophila gerichtete Mutationen erhalten. Die normale rote Augen- 
farbe der Drosophila sei auf diese Weise in mehreren Mutationsschritten 
über hellrot und gelblich schließlich in weiß übergegangen. Die Beobachtun- 
gen erklären sich meines Erachtens einfach dadurch, daß das Gen für rote 
Augenfarbe durch Defekte eben in der Richtung auf hellere Farbe und 
schließlich Weiß abgeändert wird. Daß gerade diese Mutationen sehr leicht 
erfolgen, war schon aus den Untersuchungen Morgans und seiner Mit- 
arbeiter bekannt; meist entsteht Weiß unmittelbar aus Rot; es kann aber 
auch aus Hellrot und Gelblich entstehen. Umgekehrt dagegen entsteht aus 
Weiß nicht wieder Rot. Weiß beruht eben auf einem Defekt jenes Gens, das 
normale rote Augenfarbe bedingt. Ich fasse die Beobachtungen von Tollos 
einfach als einen stufenweisen Abbau auf. Seine Schlußfolgerungen für die 
Phylogenese sind auf jeden Fall verfehlt. Er meint nämlich, er habe durch 
den Nachweis gerichteter Mutationen das Znstandekommen orthogenetischer 
Entwicklungsreihen unserem Verständnis nähergebracht. Ich kann auf die 
Erscheinung der Orthogenese in diesen Zusammenhang nicht naher eingehen, 
möchte aber doch darauf hinweisen, daß orthogenetische Entwicklungen 
sich im Lauf von Jahrmillionen abspielen und nicht in ein paar Generationen 
wie bei J o 1 1 o s. Weißäugige Drosophilastämme haben eine geringere Er- 
haltungswahrscheinlichkeit als rotäugige. Sie bleiben daher nur in der Hand 
des Züchters erhalten. In der freien Natur hilft eine ,, gerichtete" Muta- 
tion gar nichts, wenn sie nicht erhaltungsmäßig ist. Für das Zustandekommen 
einer Orthogenese im Lauf von Jahrmillionen aber bietet auch ziellose 
Mutation eine Handhabe. Wenn ein früherer Mutationsschritt erhaltungsge- 
mäß ist, so wird es in manchen Fällen ein späterer, der in der gleichen 
Richtung über den ersten hinausgeht, ebenfalls sein, obwohl er rein zufällig 
unter einer großen Zahl nicht erhaltungsmäßigcr Mutationen auftritt. Ortho- 
genetische Entwicklungen erklären sich also durch Naturzüchtung in be- 
stimmten Richtungen, nicht aber durch eine angeblich gerichtete Mutation 2 ). 
J oll os ist bezeichnenderweise mit der Frage an die Arbeit gegangen, ,,ob 
die Mutationen wirklich ganz richtungslos entstehen oder aber durch die 
Einwirkung gleichsinnig 3 ) veränderter Umweltfaktoren auf viele aufeinander- 
folgende Generationen in der einmal eingeschlagenen Auswirkungsrichtung 
weitergetrieben werden können"; und entsprechend dieser seiner Erwartung 
hat er dann seine Befunde gedeutet. 

Für die menschliche Rassenhygiene ist die Frage von be- 
sonderer Bedeutung, ob der Alkohol Schädigungen der Erb- 



] ) Jollos, V. Über die experimentelle Hcrvorrufung und Steigerung 
von Mutationen bei Drosophila melanogaster. Biologisches Zentralblatt. Bd. 
50. S. 541. 1930. 

a ) Vgl. Lenz, F. Der phylogenetische Aufbau der Erbmasse. Kapitel 
im Abschnitt „Erblichkeitslehre". Handbuch der Physiologie von Bethe 
u. a. Bd. 17. S. 951. Berlin 1926. Springer. 

3 ) Was heißt liier „gleichsinnig"? Das Wort verrät lamarc Iris tische 
Tendenzen. 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 573 

masse verursache oder nicht. Eine eindeutige Beantwortung 
dieser Frage ist auf Grund von Erfahrungen in menschlichen 
Bevölkerungen kaum möglich. Bei den Nachkommen von Al- 
koholikern finden sich zwar allerlei geistige Störungen und 
Schwächezustände, die zum großen Teil erblich sind. In vielen 
Fällen dürfte der Zusammenhang aber so liegen, daß die 
Trunksucht der Eltern (meist des Vaters) schon eine Äußerung 
derselben Erbanlage war, die sich bei den Kindern als Schwach- 
sinn, Epilepsie oder Psychopathie darstellt. Ob der Alkohol- 
mißbrauch die Ursache oder die Folge geistiger Minderwertig- 
keit in der Sippe ist, ist im Einzelfall nicht zu entscheiden. Da- 
mit entfällt aber auch die Möglichkeit, die Frage durch stati- 
stische Sammelforschung eindeutig zu klären. 

Immerhin bleibt das häufige Vorkommen von Schwachsinn und Epi- 
lepsie bei Alkoholikernachkommen ein Verdachtsmoment gegen den Alkohol. 
Ein weiteres Verdachtsmoment ist der Schwund des Keimgewebes, der sich 
bei den meisten Leichen schwerer Trinker findet 1 ). Damit hängt es zusam- 
men, daß Trinker über kurz oder lang unfruchtbar zu werden pflegen. Es 
wäre nun geradezu ein Wunder, wenn ein Gift", das die Keimgewebe völlig 
zerstören kann, bei schwächerer Einwirkung nicht auch gelegentlich Ände- 
rungen der darin enthaltenen Erbmasse zur Folge haben würde. Der ser- 
bische Histologe Kostitch 2 ) hat nach längerer Verabfolgung von täglich 
1,4 cem Alkohol an weiße Ratten regelmäßig Unfruchtbarkeit auftreten 
sehen und Störungen der Kernteilung in der Keimdrüse gefunden. 

Die meisten Tierversuche, die man zur Frage der Erbschä- 
digung durch Alkohol angestellt hat, sind ebensowenig bewei- 
send wie die erwähnten Säugetierversuche zur Frage der Erb- 
schädigung durch Röntgenstrahlen. Auch Alkoholversuche die- 
ser Art würden die Aufzucht und genaue Beobachtung von Zehn- 
tausenden von Tieren erfordern. Verhältnismäßig am wenigsten 
Einwänden ausgesetzt sind die in jahrelanger hingebungsvoller 
Arbeit durchgeführten Versuche von Agnes Bluhm 3 )an 
32 000 weißen Mäusen. 

Es wurden nur Männchen alkoholisiert. Da die männlichen Keimzellen 
außer dem Kern nur sehr wenig anderes Plasma enthalten, war auf diese 
Weise am ehesten zu erwarten, daß eine Schädigung der Erbmasse von 
einer bloßen Plasmaschädigung unterschieden werden konnte. 1 14 Ausgangs- 
tierc erhielten längere Zeit hindurch an sechs Tagen der Woche je 0,2 cem 

*) Bertholet, E. Die Wirkung des chronischen Alkoholismus auf 
die Organe des Menschen, insbesondere auf die Geschlechtsdrüsen. (Deutsch 
von A. Püeiderer.) Stuttgart 1913. 

2 ) Kostitch, A. Action de l'alcool sur les ccllules seminales. Inter- 
nationale Zeitschrift gegen den Alkoholismus. 1922. H. 2. 

3 ) Bluhm, A. Zum Problem „Alkohol und Nachkommenschaft". 
ARGB. Bd. 24. S. 12. 1930. Erweitert auch als Sonderdruck erschienen. 
München 1930. J. F. Lehmann. 



574 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



einer 150/oigen Alkohollösung unter die Haut eingespritzt. Sie wurden dann 
mit unbehandelten Weibchen gepaart. Außerdem wurde die Nachkommen- 
schaft von 114 unbehandelten Kontrollpaaren aufgezogen. 

Frau Dr. Bluhm ist der Ansicht, daß durch ihre Versuche der Nach- 
weis einer erbschädigenden Wirkung des Alkoholismus erbracht sei und daß 
ihr eine willkürliche Mulationserzcugung bei Säugetieren gelungen sei. So- 
weit ich mir ein Urteil zu bilden vermochte, scheinen mir die Ergebnisse 
nicht eindeutig zu sein. Daß erbliche Mißbildungen oder sonstige leicht er- 
kennbare Eigenschaften nicht beobachtet wurden, ist nicht zu verwundern; 
ich habe schon bei Besprechung der Rontgenmutationen auf die Schwierig- 
keit der Erfaßbarkeit solcher Eigenschaften bei weißen Mäusen hingewiesen. 
Das Augenmerk ist also hauptsächlich auf letale und Sterilität bedingende 
Mutationen zu richten. Vorgeburtliche Sterblichkeit würde sich in Verringe- 
rung der Wurfgröße äußern. Diese betrug bei den Kontrolltieren im Durch- 
schnitt rund 5,5. Die Alkoholikernachkommen der F r Generation bekamen 
im Durchschnitt von 239 Würfen 4,5 junge. Allerdings war in dieser Gene- 
ration auch bei den Kontrolltieren die Wurfgröße nur 4,78. In der F a - Gene- 
ration war die Wurfgrößc bei den Alkoholikernachkommen 4,90, bei den 
Kontrolltieren 4,85. Ein Unterschied, der über den Fehler der kleinen Zahl 
hinausginge, bestand also nicht, obwohl bei den Früchten der aus Geschwi- 
sterpaarung gewonnenen F 2 -Generation Letalwirkungen bereits hätten er- 
wartet werden können. Bei Drosoplnla sind Letalwirkungen besonders leicht 
von den geschlechtsgebundenen Anlagen nachweisbar. Da das Geschlechts- 
chromosom des alkoholisierten Männchens auf die Töchter übergeht, hätten 
in Agnes B 1 u h m s Versuchen Letalwirkungen an den Früchten dieser 
Töchter erwartet werden können. Solche Töchter erzeugten mit Kontroll- 
männchen gepaart im Durchschnitt 5,07 Junge je Wurf, Alkoholikersöhne 
mit Kontrollweibchen gepaart 5,32. Ein deutlicher Unterschied ergab sich 
also nicht. In den späteren Generationen hatten die Alkoholikernachkommen 
zum Teil eine erheblich verminderte Wurfgröße, die sehr wohl auf rezessiven 
Letalanlagen beruhen könnte; doch ist deren Ausbleiben in F 2 auffällig. 
Bei den Totgeburten zeigte sich kein deutlicher Unterschied. 

Ein Absterben der jungen Mäuschen in den ersten beiden Lebenstagen 
wurde als Ausdruck von Lebensschwäche aufgefaßt. In diesem Sinne starben 
in Fi 12,100/0 (60 unter 496) der männlichen Alkoholikernachkommen und 
8,560/0 der Kontrollmännchen an Lebensschwäche; im weiblichen Geschlecht 
waren die entsprechenden Zahlen 10,33 UIK 1 IO >3 5- Da in den Kontrollen 
die Sterblichkeit der Männchen im Vergleich zu der der Weibchen um etwa 
ebensoviel vermindert ist, wie sie unter den Alkoholikernachkommen erhöht 
erscheint, kann man zufällige Schwankungen nicht ausschließen. Die männli- 
chen Jungen der mit Kontrollmännchen gepaarten Alkoholikertöchter zeigten 
sogar eine auffallend niedrige Sterblichkeit an Lebensschwäche (2,170/0), 
obwohl gerade an ihnen letale geschlechtsgebundene Anlagen sich hätten 
äußern können. 

Die Beobachtungen über die Säuglingsterblichkeit scheinen mir nicht 
verwertbar zu sein, da diese nach Agnes Bluhm infolge Überlastung des 
Hilfspersonals und ungenügender Häufigkeit des Käfigwechsels sehr hoch 
war. Auffallendcrweise war sie gerade in den späteren Generationen der 
Alkoholikernachkommen niedriger als in den Kontrollzuchten. Der Deutung 
Agnes Bluhms, daß es sich hier um eine erworbene Immunität des 
Plasmas gegen die Alkoholwirkung handle, vermag ich mich nicht anzu- 



DIE NEU ENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 575 



schließen. Die vorgeburtliche Sterblichkeit, beurteilt an der Wurfgröße, war 
ja in denselben Generationen vermindert. 

Der Iiundertsatz unfruchtbarer Männchen betrug in F x bei den Alko- 
holikernachkommein 26,41, bei den Kontrollen 18,54, in F 2 entsprechend 
38,06 gegen 16,15. Unfruchtbare Weibchen fanden sich in F t 27,54 
gegen 21,52% und in F a 39,19 gegen 19,47(1/0. Diese Unterschiede der 
Fruchtbarkeit zuungunsten der Alkoholikernachkommen sind vermutlich auf 
die Entstehung von Sterilitätsanlagen zurückzuführen. Unter den Nachkom- 
men aus Kreuzungen zeigten die Söhne der Alkoholikertöchter den höchsten 
Hunderstaz von Unfruchtbarkeit (36,670/0), was für die Beteiligung rezessiver 
geschlechtsgebundener Anlagen spricht. Bei 1498 Tieren (27%) konnte 
leider nicht festgestellt werden, ob sie fruchtbar waren oder nicht. 

Ich habe die Arbeit von Agnes Bluhm so ausführlich 
besprochen, weil es die bisher umfassendste Untersuchung die- 
ser Art ist. Sie spricht im ganzen für das Vorkommen von Erb- 
schädigungen durch Alkohol. Andererseits ergibt sich aus den 
Befunden, daß auch chronischer Alkoholismus nicht so regel- 
mäßig und nicht in dem Umfang erbschädigend wirkt, 
wie Forel, Bunge, Kraepelin und andere angenommen 
haben. 

Aus sehr umfangreichen Versuchen an vielen Tausenden 
von Kaninchen, die Alfred Ploetz, der Begründer der 
deutschen Rassenhygiene, durchgeführt hat, folgt, daß ein 
malige Alkoholvergiftung bzw. Zeugung im Rausch in der Re- 
gel eine Schädigung der Erbmasse nicht zur Folge hat. In- 
wieweit die Versuche von Ploetz etwa erbändernde Wirkun- 
gen chronischer Alkoholvergiftung ergeben, bleibt abzuwarten. 
Es ist zu vermuten, daß mancherlei Gifte, die chronische Schä- 
digung und schließlich dauernden Verfall des Körpers zur 
Folge haben, auch die Erbmasse schädigen. Praktisch kommen 
hauptsächlich Stoffe in Betracht, die als häufige Ursachen ge- 
werblicher Vergiftungen bekannt sind. Als solche sind zu nennen 
Blei, Quecksilber, Phosphor, Nikotin, Schwe- 
felkohlenstoff, Benzol, Anilin und verwandte Stoffe. 
Diese Gifte können zum Absterben der Frucht im Mutterleibe 
und damit zur Fehlgeburt führen. Auch Unfruchtbarkeit ist 
eine häufige Folge solcher chronischer Vergiftungen. 

Frauen, die gewerblich mit Blei zu tun hatten, hatten in etwa der Hälfte 
der Fälle in der Ehe keine Kinder. Fehlgeburten und Lebensschwäche der 
Kinder waren häufig 1 ). Während man dies auch als Folgen direkter Ver- 
giftung der Früchte oder der Keimdrüsen ansehen kann, spricht Lebens- 
schwäche der Kinder von Bleiarbeitern, deren Frauen einer Bleivergiftung 
nicht ausgesetzt waren, mit großer Wahrscheinlichkeit für echte Schädigung 



x ) S e i s e r , A. und Litzncr, H. Bleivergiftung. Ergebnisse der ge- 
samten Medizin. Bd. 13. H. 3/4. 1929. S. 370. 



576 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



der Erbmasse. So fand Renner! 1 ) in 11 derartigen Familien unter 79 
Kindern 56 kranke; besonders Krämpfe und eigentümliche Vergrößerung des 
Kopfes kommen bei Kindern von Bleiarbeitern häufig vor. Auch Tierver- 
suche mit Blei sind gemacht worden. Professor C o 1 e 2 ) von der Universität 
Wisconsin ließ Kaninchenweibchen zugleich von einem mit Blei behandelten 
und einem nicht vorbehandeltcn Männchen von anderer Rasse belegen; es 
zeigte sich, daß die Nachkommen des mit Blei behandelten Männchens 
schwächer und kränklicher waren als ihre Halbgeschwister aus demselben 
Wurf. Wenn Hahne mit Blei vergiftet wurden, so starben von ihnen befruch- 
tete Eier viel häufiger als andere in der Entwicklung ab; auch die Küken 
hatten eine erhöhte Sterblichkeit. Well er 3 ) fand, daß die Nachkommen 
bleivergifteter Meerschweinchenmännchen um ein Fünftel leichter waren als 
Vergleichstiere, eine verzögerte Entwicklung und höhere Sterblichkeit als 
Vcrgleichsticre hatten. In diesen Versuchen wie auch in denen von C o I c 
wurden allerdings nur die Nachkommen erster Generation beobachtet. Was 
das Nikotin betrifft, so wird vielfach angegeben, daß bei Tabakarbeiterin- 
nen Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit besonders häufig seien. U m b a u e r 4 ) 
konnte im Tierexperiment Schädigung der Eierstöcke feststellen. Jedenfalls 
ist das Nikotin erb schädigender Wirkung entschieden verdächtig. Umfas- 
sende Tierversuche wären erwünscht. 

Auch von einer Anzahl von Arzneimitteln, zumal den proto- 
zoentötenden wie Chinin, Quecksilber, Jod, Arsen 
sind idiokinetische Wirkungen nicht von der Hand zu weisen, 
Im Tierversuch wird schon durch verhältnismäßig geringe Ga- 
ben von freiem Jod, die sonst keinen merklichen Einfluß auf 
das Befinden haben, vorübergehende und durch größere Men- 
gen dauernde Unfruchtbarkeit bewirkt 5 ) 6 ). Die genannten Gifte 
werden ja alle dazu angewandt, tierische Krankheitserreger 
im menschlichen Körper abzutöten, z. B. die Erreger der Ma- 
laria und der Syphilis; und daß dadurch auch menschliche Zel- 
len getötet werden können, folgt aus der Tatsache, daß durch 
diese Gifte auch die Frucht im Mutterleibe abgetötet werden 
kann. Es ist nun nicht anzunehmen, daß Keimzellen dadurch 
immer nur entweder völlig abgetötet oder unversehrt bleiben. 
Zwischen diesen beiden Möglichkeiten liegt vielmehr die einer 



1 ) Renner tj O. Über eine hereditäre Form chronischer Bleivergif- 
tung. Archiv für Gynäkologie. Bd. 18. S. 109. 1881. 

2 ) Cole, L. J. and Bachhub er, L. F. The effect of lead on the 
germ cells of the male rabbit and fowl as indicated by their progeny. 
Proceedings of the Society of Experimental Biol. Bd. 12. S. 24. 1914. 

3 ) Weller, C. V. The biastophthoric effect of chronic lead poisoning. 
Journal of Mcdical Research. Bd. 33. S. 271. 191 5. 

4 ) Archiv für Gynäkologie 1 93 1 . S. 147 und 371. 

s ) Adler. Über die Jodschädigungen der Blöden. Archiv für experim. 
Pathologie u. Pharmakologie. Bd. 75. H. 5. 

8 ) Loebu. Zoeppritz. Die Beeinflussung der Fortpflanzungsfähig- 
ke.it durch Jod. Deutsche med. Wochenschr. 1914. 



DIE NEUENTSTEI1UNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 577 



mehr oder weniger weitgehenden Schädigung der Zellen und 
ihrer Erbmasse. 

Kostitch 1 ) berichtet, daß er bei weißen Ratten nach Jodbehand- 
lung schwere Störungen der Samenzellcnbildung histologisch nachweisen 
konnte, ähnlich auch nach Arsenbehandlung und nach Bleibehandlung bei 
weißen Mäusen. 

Idiokinetische Änderungen können anscheinend am leichte- 
sten während der Reifung der Keimzellen entstehen, weil dann 
deren Kerne nicht in dem relativ geschützten Ruhezustand, 
sondern in komplizierten Teilungsvorgängen begriffen sind. 

Dafür spricht auch die Tatsache, daß unter der Einwirkung von 
Jod und ähnlich wirkenden Giften einerseits, von Röntgenstrahlen anderer- 
seits am leichtesten die Keimzellen während der Reifung und junge Früchte, 
in denen fast alle Zellen dauernd in Teilung sind, abgetötet werden. Auch 
durch chemische Abtreibungsmittel, als welche einige der oben genannten 
Gifte, aber auch andere, wie z. B. Aloe und Juniperus sabina mißbraucht 
werden, dürften gelegentlich idiokinetische Schäden entstehen, sei es an 
der Erbmasse des Kindes (bei mißlungenem Ab treibungs versuch), sei es 
an der der Mutter. Auch die Möglichkeit einer Schädigung der Erbmasse 
durch chemische Mittel, die der Verhütung der Empfängnis dienen sollen, 
ist nicht von der Hand zu weisen. Alle diese Mittel sind mehr oder weniger 
unsicher in der Wirkung; und wenn ,einmal ein Samenfaden nicht ganz 
abgetötet wird, sondern noch zur Befruchtung kommt, so können außer 
unmittelbarer Schädigung des Kindes (Idiotie ?) möglicherweise auch un- 
ausgleichbare Schäden der Erbmasse die Folge sein. 

Oft wird auch die Syphilis als Ursache erblicher Ent- 
artung genannt. Es ist auch gewiß nicht unmöglich, daß Sloff- 
wechselprodukte, die im Verlaufe der Krankheit entstehen, ge- 
legentlich idiokinetisch wirken. In der Hauptsache dürfte aber 
die Ähnlichkeit in der Wirkung der Syphilis und der idiokineti- 
sehen Gifte äußerlich sein. Wenn bei Syphilis der Eltern kranke 
Kinder geboren werden, so liegt das daran, daß die Kinder im 
Mutterleibe selber mit dem Syphiliserreger angesteckt sind. Nun 
wird freilich angegeben, daß die Kinder syphilitischer Eltern 
auch dann, oft schwächlich und kränklich sind, wenn sie selber 
frei von eigentlicher Syphilis sind. Peiper 2 ) hat diese Anga- 
ben, die meist aus älterer Zeit stammen, kritisch beleuchtet und 
ist zu dem Schluß gekommen, daß sichere Belege für das Vor- 
kommen einer Idiokinese durch Syphilis nicht vorhanden sind. 

Das braucht natürlich nicht zu heißen, daß sie nicht vorkomme. Wenn 
auch syphilisfreie Kinder von Syphilitikern verhältnismäßig oft schwächlich 
und wenig widerstandsfähig sukI, so liegt es zur Erklärung dieser Erschei- 
nung aber viel näher, an schädliche Nebenwirkungen der gegen die Syphilis 

1 ) Veröffentlichungen aus den Jahren 1927, 1931 und 1932 in serbi- 
scher Sprache, die ich vom Verfasser als Sonderdrucke erhielt. 

2 ) Peiper, A. Ist Syphilis ein Keimgift? Med. Klinik. 1922. Nr. 12. 

Baur-FiscIier-l,enzI. 37 



578 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN. 



als Heilmittel angewandten Gifte (Quecksilber, Jod und Arsenverbindungen) 
zu denken, Bei der Behandlung der Syphilis wurden früher oft schwerlös- 
liche Quecksilbersalze in ziemlich großen Mengen in die Muskeln einge- 
spritzt, wo sie lange Zeit liegen bleiben und dauernd etwas Quecksilber in 
den Kreislauf senden, wodurch das Wachstum der SypliiLiserreger gehemmt 
wird. Davon kann natürlich ebenso eine Schädigung der Nachkommenschaft 
ausgehen wie von der Einatmung von Quecksilberdampf und Staub in ge- 
werblichen Betrieben. Von den Arsenverbindungen (Salvarsan u. a.) ist eine] 
Schädigung der Erbmasse nicht in gleichem Maße wahrscheinlich, weil das 
Arsen viel schneller ausgeschieden wird. 

Nicht jede konstitutionelle Schwäche oder Kränklichkeit, 
die bei syphilisfreien Kindern von Syphilitikern beobachtet 
wird, braucht auf einer Schädigung der Erbmasse zu beruhen. 
Es ist vielmehr anzunehmen, daß es auch Dauermodifikationen 
beim Menschen gibt, d. h. umweltbedingte Eigenschaften, die 
mehr oder weniger das ganze Leben hindurch bestehen, aber 
doch nicht erblich sind. Der Ausdruck Dauermodifikationen ist 
von J oll os 1 ) eingeführt worden. Dieser sah nach Einwirkung 
arseniger Säure bei Protozoen (Paramaecium) Abwandlungen 
entstehen, die sich zum Teil durch zahlreiche ungeschlechtliche 
Generationen erhielten, aber nach (einer oder in seltenen Fällen 
nach einigen) Konjugationen (Paarungen) wieder in den Aus- 
gangstypus zurückschlugen, sich dadurch also von Mutationen 
unterschieden. Beim Menschen, dessen einzelne Körperzellen 
den Individuen der Protozoen entsprechen, wird man als Dauer- 
modifikationen solche ansehen dürfen, die sich durch zahl- 
reiche Zellgenerationen erhalten und bis ans Lebensende be- 
stehen bleiben, die aber in der Regel nicht auf die nächste Ge- 
neration übergehen. Als Dauermodifikationen möchte ich auch 
die normalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gewe- 
ben auffassen; diese entstehen ja nicht durch erbungleiche Tei- 
lung, wie Weismann einst meinte, sondern durch Differen- 
zierung unter Bewahrung gleicher Erbmasse der Zellen. Auf 
ähnliche Weise können vermutlich auch erworbene Schwäche- 
zustände der befruchteten oder auch der unbefruchteten Ei- 
zelle oder späterer embryonaler Zellen sich durch die weitere 
Individualentwicklung erhalten und dem Individuum ihren 
Stempel aufdrücken, ohne daß die Ursache dieser Zustände in 
der Erbmasse liegt. So könnten Kinder von Syphilitikern, Al- 
koholikern und Bleivergifteten infolge von Keim- oder Frucht- 
schädigung schwach oder kränklich sein, ihrerseits aber wieder 
gesunde Kinder haben. 

1 ) J o 1 1 o s , V. Experimentelle Protistenstudien. Archiv für Entwick- 
lung sniechanik 1921. Auch als Buch bei Fischer, Jena. 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 579 

Derartige nichterbliche Schäden entstehen vermutlich im 
wesentlichen nur auf dem Wege über eine Vergiftung oder 
Erkrankung der Mutter, während Schädigungen von Seiten 
des Vaters stets des echten Erbschadens verdächtig sind. Das 
menschliche Ei enthält eine Menge von Plasma, die die Masse 
des Samenfadens millionenfach übertrifft; der Samenfaden da- 
gegen enthält außer der Kernmasse Plasma nur in verschwin- 
dender Menge; und man stellt sich vor, daß erbliche Schä- 
den durch die Beschaffenheit des Kerns, nichterbliche dagegen 
durch die des Plasmas bedingt sind. 

Auch aus einem anderen Grunde könnten kenn schädig ende 
Einflüsse, sowohl idiokinetische als auch parakinetische, in bei- 
den Geschlechtern verschieden wirken. Während die männ- 
lichen Keimzellen im geschlechtsreifen Alter aus den Stamm - 
zellen in den Hoden durch Teilung dauernd neugebildet wer- 
den, sind die weiblichen Keimzellen in den Eierstöcken schon 
in ihrer endgültigen Zahl vorgebildet (40000 bis 100 000 nach 
verschiedenen Schätzungen). Da wir nun Anlaß haben, anzu- 
nehmen, daß idiokinetische Schädigungen hauptsächlich wäh- 
rend der Reifungsteilungen statthaben können, so werden im 
weiblichen Geschlecht solche Schäden vielleicht weniger wäh- 
rend des erwachsenen Lebens als während der Embryonaient- 
wicklung entstehen. 

Außer den bisher besprochenen erbändernden Ursachen, 
die im wesentlichen nur in der menschlichen Kultur vorkom- 
men (Röntgenstrahlen, Gifte), gibt es vermutlich noch man- 
cherlei andere mit der „Domestikation' ' verbundene erbändernde 
Einflüsse. Wenn freilebende Tiere unter die Verhältnisse künst- 
licher Zucht gebracht werden, so scheint das schon zu genügen, 
um krankhafte Erbanlagen in großer Zahl entstehen zu lassen. 
Wenn man z. B. eine Schmetterlingsart in der Gefangenschaft 
fortzüchtet, so tritt regelmäßig schon nach wenigen Genera- 
tionen eine so starke Entartung ein, daß die weitere Fortzüch- 
tung große Schwierigkeiten macht oder gar nicht mehr mög- 
lich ist, wovon ich mich an zahlreichen Zuchten überzeugt 
habe. Auch die vielen Erbänderungen, die Morgan und 
seine Mitarbeiter bei der Obstfiiege Drosophila fanden, sind 
vielleicht zum großen Teil auf die unnatürlichen Verhält- 
nisse der künstlichen Zucht zurückzuführen. Aber auch in 
der freien Natur treten immer wieder Mutationen in nicht ge- 
ringer Zahl auf. Idiokinetische Einflüsse sind also auch dort 
wirksam. 



580 



FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



Man ist geneigt, hier an jene Strahlen zu denken, die von dem Gehalt 
an Radium und ähnlichen Stoffen in manchen Gesteins- und Bodenarten 
ausgehen, sowie an die sogenannten kosmischen Strahlen, die man beson- 
ders in höheren Luftschichten nachgewiesen hat. Babcock und C o 1 1 i n s 1 ) 
haben Drosophilakulturcn in einem Tunnel gezogen, in dem die radio- 
aktive Bodenstrahlung etwa doppelt so stark wie an der Erdoberfläche war; 
und sie fanden auch ungefähr doppelt so viele Mutanten wie in gewöhnlichen 
Zuchten. Hanson und Heys 2 ) erhielten in einem Bergwerk in Colorado 
eine Steigerung- der Mutationshäufigkeit auf etwa das Dreifache. Mullor 
und Mott-Smith 3 ) sind aber zu dem Ergebnis gekommen, daß solche 
Strahlungen von den in der freien Natur vorkommenden Mutationen weniger 
als ein Tausendstel verursachen. 

Was die Häufigkeit von Mutationen unter gewöhnlichen 
Lebensbedingungen betrifft, so begegnet man sowohl der An- 
sicht, daß sie sehr selten, als auch der andern, daß .sie sehr 
häufig seien. Da „häufig" und „selten" relative Begriffe sind, 
tut man gut zu fragen, wie häufig sie sind. Muller 4 ) hat 
schon in seiner ersten einschlägigen Arbeit, die in dieser Hin- 
sicht bahnbrechend war, gefunden, daß bei Drosophila unter 
den gewöhnlichen Bedingungen der Zucht mehrere Prozent 
aller Individuen Träger neuer Mutationen sind. Auf eine eben- 
so hohe Zahl hat Baur auf Grund seiner Erfahrungen an 
Antirrhinum geschätzt. Timofeeff 5 ) hat bei seinen Ver- 
suchen o,i bis 0,2 o/o letale Mutationen für das X-Chromosom 
der Drosophila gefunden. Wenn man bedenkt, daß in den 
übrigen Chromosomen Mutationen in gleicher Häufigkeit zu 
erwarten sind und daß zu den letalen Mutationen noch die 
sterilisierenden und die krankhaften hinzukommen, so sprechen 
auch diese Befunde für eine Mutationshaufigke.it von mehreren 
Prozent. Meiner Ansicht nach besteht kein Anlaß anzunehmen, 



x ) Babcock, E. B. and C o 1 li n s , J. L. Does natural ionizing radia- 
tion control rate of mutation? Proceedings of the National Academy of 
Sciences. Bd. 15. S. 625. 1929. 

2 ) H a n s o n, F. E. and Heys, A. A possible relation berween natural 
(earth) radiaüon and gene mutations. Science Bd. jv. S. 43. 1930. 

3 ) Müller, H. J. and Mott-Smith, L. M. Evidence that natural 
radioactivity is inadequate to explain the frequency of ,, natural" mutations. 
Proceedings of the National Academy of Sciences. Bd. 16. Nr. 4. S. 277. 
1930. 

") Müller, IL J. und A 1 1 c 11 b u r g , E. The rate of change of 
hcreditary factors in Drosophila. Proceedings of the Society for Experimenlal 
Biology and Medicine. Bd. 17. S. 10. [919. 

5 ) T i m o f e e f f - R e s s o v s k y , N. W., Zimmer, K. G. und D el- 
brück, M. Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur. Nach- 
richten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. r. Nr. 13. 
Berlin 1935. Weidmann. 



DIE 'NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 581 

daß Mutationen beim Menschen grundsätzlich viel seltener 
seien als bei der Obstfliege und dem Löwenmaul. Solange nicht 
Belege für das Gegenteil beigebracht werden, wird man also 
auch für den Menschen eine Mutationshäufigkeit von einigen 
Prozent für wahrscheinlich halten müssen. Die letalen und die 
sterilisierenden Mutationen — und das sind die meisten — 
haben allerdings eine verhältnismäßig geringe Bedeutung, da 
sie sich immer wieder selbst ausmerzen. Auch wenn man diese 
abrechnet, bleibt für die krankhaften Mutationen aber noch 
eine Häufigkeit von rund 1%. In einer Bevölkerung von über 
60 Millionen kommen in einer Generation also vielleicht einige 
Hunderttausend Mutationen vor, die zum größten Teil in dem 
Auftreten krankhafter Erbanlagen bestehen. 

Wenn man nicht die Individuen sondern die einzelnen 
Gene ins Auge faßt, erscheint die Häufigkeit der Mutationen 
viel geringer, obwohl im Grunde beides auf dasselbe hinaus- 
kommt. Muller kam zu dem Schluß, daß in seinen Droso- 
philazuchten im Durchschnitt ein Gen etwa alle 2000 Jahre 
oder alle 50000 Generationen mutiere. Beim Menschen, ist die 
Zahl der Gene vermutlich größer als bei Drosophila; auch die 
Zahl der Chromosome beim Menschen ist ja größer. Wenn 
man die Häufigkeit krankhafter Mutationen beim Menschen 
auf 1 0/0 aller Individuen schätzt und einige Tausend Gene für 
die Erbmasse des Menschen annimmt, so würde sich für das 
einzelne Gen eine Mutationshäufigkeit von eins auf einige Hun- 
derttausend ergeben. Da ein Gen in verschiedenen Richtungen 
mutieren kann, würde die Wahrscheinlichkeit einer Genmuta- 
tion in bestimmter Richtung noch wesentlich geringer sein, 
vielleicht eins auf viele Millionen. 

Nicht selten begegnet man der Ansicht, daß übermäßige 
geistige Arbeit, wie sie in manchen Berufen die Regel ist, 
zur Entartung und zum Aussterben der Familie führe. Bewie- 
sen ist ein solcher Zusammenhang aber nicht ; vielmehr kann 
das Aussterben der Familien geistiger Arbeiter sehr wohl haupt- 
sächlich durch Gonorrhoe, Syphilis und absichtliche Geburten- 
verhütung verursacht sein, und krankhafte Erbänderungen in 
diesen Familien können durch ungesunde Einflüsse des städti- 
schen Lebens entstehen; andererseits möchte ich aber auch die 
Möglichkeit einer direkten schädlichen Wirkung übermäßiger 
geistiger Arbeit auf die Erbmasse nicht ganz in Abrede stellen. 
Wir wissen eben, bisher nichts Sicheres darüber, und vorsichti- 
ger ist es, auch mit der schlimmeren Möglichkeit zu rechnen. 



582 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist „Inzucht" keine 
Ursache der Entartung im Sinne der Erbänderung. Die ein- 
zige schädliche Wirkung der Inzucht, die wir kennen, besteht 
in der Homozygotici'ung letaler, sterilisierender und sonstiger 
krankhafter Erbanlagen (vgl. S. 499 f.). Gerade in jenen Fällen, 
wo engste Inzucht durch mehrere Generationen berichtet wird, 
wie von der Sippe der Ptolcmäer und dem altperuanischen Herr- 
scherhause der Inkas, sind schädliche Folgen der Inzucht nicht 
berichtet worden. Thu.tm.ose III., der nach Ruffer aus einer 
fünf Generationen langen engsten Inzucht (Geschwisterehen) 
der 18. ägyptischen Dynastie hervorgegangen ist, soll der tat- 
kräftigste und weitschanendste aller ägyptischen Pharaonen 
gewesen sein 1 ). 

Miss King 3 ) hat weiße Ratten 25 Generationen hindurch in In- 
zucht weitergezüchtet und keinerlei schädliche Folgen feststellen können; 
im ganzen umfaßte die Zucht 25000 Ratten. Dabei fand allerdings eine 
scharfe Auslese der kräftigsten Tiere für die Weiterzucht statt; das aber hat 
sich jedenfalls mit Sicherheit ergeben, daß auch lange fortgesetzte engste 
Inzucht als solche bei Ratten nicht zur Entartung zu führen braucht. Castle 3 } 
hat die Obstfliege Drosophila sogar 59 Generationen hindurch in engster 
Inzucht fortgezüchtet, ohne schädliche Folgen feststellen zu können. 

Ein „Altern" einer Sippe und eine „Verjüngung" durch 
„Blutauffrischung" gibt es nicht. Auch die „ältesten" Adels- 
geschlechter sind ja biologisch nicht älter als alle anderen Sip- 
pen. Schon beim Einzelmenschen beruht durchaus nicht jede 
fortschreitende Schwäche auf Altern; erst recht nicht bei einer 
Sippe oder einer Rasse, die ein „Altern" aus inneren Grün- 
den überhaupt nicht kennt. 

Auch die Ansicht, daß zu niedriges Alter der Eltern Minderwer- 
tigkeit der Nachkommen zur Folge habe, läßt sich nicht aufrechterhalten. 
Wenn die Kinder sehr junger Eltern (unter 17 Jahren) im Durchschnitt 
minderwertiger befunden werden, so kommt das daher, daß unter unsom 
Lebensverhältnissen Individuen, die in so früher Jugend zur Fortpflanzung 
kommen, meist selber minderwertig sind (schwachsinnige Mädchen). Ande- 
rerseits stellen auch alte Erstgebärende, deren Kinder ebenfalls oft minder- 
wertig sein sollen, eine ungünstige Auslese dar; und alte Väter, zumal spät 
heiratende, haben im Durchschnitt häufiger Syphilis erworben als junge 
und sind allerlei Schädlichkeiten (Alkohol, Tabak u. a.) viel länger ausge- 
setzt gewesen. Die mongoloidc Idiotie (s. d.), die sich vorzugsweise bei 
Kindern alter Mütter findet, ist vermutlich kein echtes Erbleiden, sondern 
eine Dauermodifikation. 



1 ) Nach Popcnoe, P. Modern Marriage. New York 1925. S. 62 — 64. 

s ) King, H. D. Studies 011 Inbreeding. Journal of Experimcntal 
Zoology. Bd. 26. Nr. 1 u. 2, Bd. 27. Nr. 1 u. Bd. 29. Nr. 1 (1918—-I9). 

3 ) Castle, VV. E. Genetics and Eugenics. Cambridge (Mass.) 1922. 
S. 230, 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 583 



Auch eine angebliche „Minderwertigkeit der Erstgeborenen", von der 
in der älteren rassenhygienischen Literatur viel die Rede ist, hat sich nicht 
bestätigt. Zwar sind die Erstgeborenen im Durchschnitt etwas leichter als 
die folgenden Kinder, vermutlich weil die Gebärmutter das erste Mal an ihre 
Aufgabe noch nicht ganz so gut angepaßt ist wie später; aber dieses ge- 
ringere Geburtsgewicht gleicht sich später aus. Die statistischen Belege, die 
man für eine „Minderwertigkeit der Erstgeborenen" in bezug auf Geistes- 
krankheiten, Kurzsichtigkeit, Tuberkulose u. a. hat beibringen wollen, halten 
der Kritik nicht stand. Daß unter den Minderwertigen sich verhältnismäßig 
viele Erstgeborene finden, kommt erstens daher, daß es überhaupt mehr 
Erstgeborene als Kinder von irgendeiner andern Geburtennumrner gibt. Zwei- 
tens trägt der Umstand, daß kranke Familien im Durchschnitt weniger 
Kinder haben als gesunde, zu jener Erscheinung bei 1 ). Sodann sind Leiden 
wie Geisteskrankheiten, Kurzsichtigkeit, Tuberkulose, die erst im Laufe des 
Lebens zur Entwicklung kommen, öfter schon bei Erstgeborenen ausgebil- 
det, wenn sie bei später geborenen Geschwistern noch nicht gefunden wer- 
den. Wenn in Familien von gleicher Kinderzahl Individuen von gleichem 
Lebensalter verglichen wurden, hat sich nichts von einer „Minderwertigkeit 
der Erstgeborenen" gezeigt 3 ). 

Auf großen Beifall pflegt die Behauptung rechnen zu kön- 
nen, daß die Entartung vor allem durch Unterernährung ent- 
stehe und daß sie also vermieden werden könne, wenn mehr 
gegessen und getrunken werde. Durch Unterernährung im 
Kindes- und Jugendalter kann das Wachstum nicht nur vor- 
übergehend, sondern bis zu einem gewissen Grade auch dauernd 
gehemmt werden. Ein derartiger Kummer wuchs ist aber als 
Dauermodifikation aufzufassen; er bedeutet also keine Erb- 
änderung oder Entartung. Die Unterernährung der deutschen 
Bevölkerung in der Hungerzeit der späteren Kriegs- und der 
ersten Nachkriegsjahre hat zwar zweifellos eine gesundheit- 
liche Schädigung des Nachwuchses zur Folge gehabt, und die 
betreffenden Jahrgänge sind etwas kleiner und leichter ge- 
blieben, als sie unter anderen Umständen geworden wären; es 
besteht aber glücklicherweise gar kein Grund zu der Annahme, 
daß dadurch eine wirkliche Entartung bewirkt worden sei. So- 
weit erbbedingte Schwächezustände in jenen Jahrgängen häu- 
figer sind als in andern, ist das darauf zurückzuführen, daß der 
Nachwuchs der Kriegs- und Nachkriegszeit vorzugsweise von 
schwächlichen und kränklichen Vätern, die nicht kriegs tauglich 
waren, stammt. Die Stellungnahme in solchen Fragen wird 
bei unkritischen Köpfen gar zu leicht durch politische, mora- 



1 ) Ploetz, A. Neomalthusianismus und Rassenhygiene. ARGB. Bd. 
10. II. 1/2. S. 169. 

2 ) Vgl. auch Weinberg, W. Über die Frage der Minderwertigkeit 
der Erstgeborenen. Öffentliche Gesundheitspflege. Jg. 1. FI. 6. 191 6. 



584 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 

lische oder sonstige Gefühlsregungen beeinflußt. Aus ähn- 
lichen Gründen ist übrigens offenbar oft auch die erbschä- 
digende Wirkung des Alkohols und der Syphilis übertrieben 
worden; und andererseits wird die Gefahr einer Schädigung 
der Erbmasse durch Röntgenstrahlen und Arzneimittel aus 
Gefühlsgründen gern geleugnet. Es besteht vielfach die Nei- 
gung, die Entartung als Folge unmoralischen Verhaltens anzu- 
sehen und alle Dinge, die als moralisch einwandfrei gelten, als 
unschädlich auch in dieser Hinsicht. Die Natur aber kennt 
keine moralischen Wertunterschiede, sondern nur Notwendig- 
keit. Es sind keineswegs immer „Sünden der Väter", die im 
Sinne der Entartung wirken; oft ist es vielmehr gerade die 
Aufopferung der Besten, z. B. im Kriege oder im Röntgen- 
betrieb. Gerade darin liegt eine besondere Tragik. Hinter der 
Behauptung einer Entartung durch Unterernährung, Überarbei- 
tung usw. verbergen sich oft auch lamarekistische Unklarhei- 
ten, indem die durch solche äußeren Schäden erworbenen Er- 
schöpfungszustände einfach als erblich angenommen werden. 

Nahe Beziehungen zu dem lamar elastischen Aberglauben hat auch das 
sogenannte „Versehen der Schwangeren". Wenn z. B. ein Kind mit einem 
behaarten „Muttermal" zur Weit kommt, so wird das vom Vülksabcrglauben 
darauf zurückgeführt, daß die Mutter während der Schwangerschaft durch 
eine Maus erschreckt worden sei. Entsprechend sollen „Feuermäler" von 
dem Anblick eines Feuers oder vom Anblick roter Erdbeeren herrühren. 
Wenn ein Kind auffallend häßlich ist, so hat sich die Mutter z. B. an einem 
Affen „versehen". Selbstverständlich handelt es sich in allen solchen Fällen 
um nachträgliche Zurcchtdeutungen. Mißbildungen sind vielfach auf den 
Anblick eines Verstümmelten zurückgeführt worden, oft auch einfach auf 
einen heftigen Schreck, den die Mutter erlitt. Wenn ein Kind weinerlich 
veranlagt ist, so soll das daher kommen, daß die Mutter während der Schwan- 
gerschaft viel geweint habe, während der wirkliche Zusammenhang vielleicht 
darin liegt, daß bei Mutter und Kind sich dieselbe Erbanlage äußert. 

Seit man in weiteren Kreisen etwas von „innerer Sekretion" 
gehört hat, begegnet man öfter der Ansicht, daß die Erbände- 
rung auf diesem für viele mit dem Reiz des Pikanten umgebe- 
nen Wege zustandekomme, so z. B. in der „Sozialbiologie" des 
Juristen Elster 1 ). Derartige dilettantische Lehren werden von 
Laien um so leichter kritiklos hingenommen, je weniger sie 
sich eine Vorstellung von dem behaupteten Vorgang machen 
können. Der Zusammenhang zwischen der Erbmasse und der 
inneren Sekretion besteht nicht darin, daß die innere Sekretion 
die Erbmasse ändere, sondern vielmehr umgekehrt darin, daß 
die Organe der inneren Sekretion ihren Ursprung aus derErb- 

1 ) Elster, A. Sozialbiologie. Berlin u. Leipzig 1923. 



DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 585 

masse nehmen. Die innere S-ekretion ist ein Weg, auf dem die 
Erbmasse sich auswirkt, wie Morgan 1 ) sich ausgedrückt hat. 

Sehr verbreitet ist der Aberglaube von einer Nachwirkung 
früherer Befruchtungen; man hat dafür auch die als wissen- 
schaftliche Fachausdrücke imponierenden Worte „Telegonie" 
und „Imprägnation" geprägt. So soll eine Hündin von edler 
Rasse, che einmal von einem unedlen Köter befruchtet worden 
ist, in Zukunft auch von keinem Hunde ihrer eigenen Rasse 
mehr reinrassige Nachkommen bekommen können. Wenn eine 
derartige Nachwirkung wirklich stattfände, so würden natür- 
lich auch erbliche Krankheiten auf ähnliche Weise verbreitet 
werden können, und dieser Unsinn ist denn auch tatsächlich 
behauptet worden. Anhaltspunkte für eine solche Möglichkeit 
in Gestalt einwandfreier Tierversuche gibt es nicht; und nach 
allem, was wir über die Gesetze der Erblichkeit wissen, kann es 
sich nur um einen Aberglauben handeln. Dieser ist zu einer Zeit 
entstanden, als man noch nicht wußte, daß die Befruchtung 
durch Eindringen eines Samenfadens in die Eizelle zustande 
kommt, daß also ein Tier nur einen Vater haben kann. Psycho- 
logisch dürfte der Aberglauben von der „Telegonie" sich fol- 
gendermaßen erklären : 

Vor der Entdeckung des Mendelschen Gesetzes mußte es 
als höchst auffallend erscheinen, wenn eine Hündin nach Be- 
fruchtung durch einen Hund von demselben Typus gelegent- 
lich Jung"e mit Merkmalen einer anderen Rasse warf. Heute 
wissen wir, daß es sich dabei um Ausmencleln verborgener Erb- 
anlagen handelt. Wenn die betreffende Hündin nun früher von 
einem Hunde einer anderen Rasse oder gar von einem „Köter" 
gemischter Rasse belegt worden ist, was meist nur gegen den 
Willen und sehr zum Ärger des Hundezüchters geschieht, so 
kommt dieser, wenn er nach dem für ihn nächstliegenden 
Augenschein urteilt, zu der Annahme, daß der Erbwert der 
Hündin durch fremde Befruchtung verdorben worden sei. Und 
in der Tat setzt das Äusmendeln fremder Rassenanlagen eine 
fremdrassige Beimischung voraus. Diese hat aber in früheren 
Generationen stattgefunden und nicht durch die Begattung 
seitens eines Hundes, von dem die abweichenden Jungen gar 
nicht stammen. 

In manchen Fällen mag der Trugschluß auch auf noch gröbere Weise 
entstanden sein. Es kommt vor, daß eine Hündin in demselben Wurf Junge 

J ) Morgan, Th. IT. Human inheritance. The American Naturalist. 
Bd. 58. Nr. 65S. 1924. 



586 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN. 



von zwei verschiedenen Hunden bekommt. Da eine laufige Hündin nicht 
leicht zu überwachen ist, weiß der Hundebesitzer, der die Hündin mit 
einem Hunde paart, öfter nicht, daß sie am Tage vorher von einem andern 
Hunde belegt worden ist. Und wenn er in dem Wurf Junge mit fremden 
Rassenmerkmalen beobachtet, so schreibt er diese womöglich einer früher 
von ihm beobachteten Begattung zu, die vor einem Jahr oder länger statt- 
gehabt haben mag. 

Eine dankenswerte Kritik angeblicher Belege einer Tele- 
gonie hat Prof. Lothar Loeffler auf Veranlassung des 
Rassenpolitischen Amtes in der Zeitschrift des Nationalsozia- 
listischen Deutschen Ärztebundes veröffentlicht 1 ). 

Der Aberglaube von der „Telcgonie" bildet eine Hauptgrundlage eines 
antisemitischen Sensationsromans. (A. D int er, „Die Sünde wider das 
Blut"), der in den ersten Jahren nach dem Kriege in Hunderttausende!! 
von Exemplaren verbreitet worden ist. Es wird darin so dargestellt, als ob 
infolge solcher Nachwirkungen das deutsche Volk mehr und mehr durch 
jüdisches Blut vergiftet werde. Es liegt mir fern, die Vermischung deutscher 
Sippen mit jüdischer Erbmasse etwa als unbedenklich hinzustellen; diese 
Frage wird im zweiten Bande besprochen. Hier ist nur festzustellen, daß es 
eine „Telcgonie" nicht gibt und daß ein derartiger Vorgang an der Rassen- 
verschlechterung nicht beteiligt ist. 



Vierter Abschnitt 

>ie Methoden menschlicher 
Erbforschung 

Von 
Professor Dr. Fritz Lenz. 



2 ) Loeffler, L, Gegen Aberglauben in der Rassenfrage. Ziel und 
Weg. Jg. 5. H. 20. S. 448, 1935. 



Die menschliche Erblehre gründet sich in ihren allgemei- 
nen Sätzen auf Analogieschlüsse aus Ergebnissen der 
experimentellen Erbforschung an Tieren und Pflanzen und in 
ihren speziellen Sätzen auf, direkte Erfahrungen am Menschen. 
Der Erkenntniswert von Analogieschlüssen hat natürlich seine 
Grenzen, aber doch nicht so enge wie öfter angenommen wird. 
Gesetzlichkeiten, die bei Erbsen und Löwenmaulpflanzen, bei 
Fliegen und Schmetterlingen, bei Hühnern und Kanarienvögeln, 
bei Mäusen und Kaninchen in gleicher Weise Geltung haben, 
die gelten selbstverständlich auch für den Menschen. 

So kann die Geltung des M endeis clien Gesetzes 
für den Menschen durch Analogieschluß als sichergestellt gel- 
ten. Das heißt: Auch die Erbmasse des Menschen 
bestellt ausgesonderten, in den Keimz eilen s to ff - 
lieh angelegten Einheiten, die im Laufe der Ge- 
nerationen unter Wahrung ihrer Eigenart sich 
trennen und neu zusammenfügen und von denen 
je zwei sich gegensätzlich verhalten in dem Sinne, 
daß sie bei der Keimzellenbildung niemals in 
dieselbe, sondern regelmäßig in verschiedene 
Keimzellen gehen, von denen also jede die Wahr- 
scheinlichkeit 1 / 2 h a t , am Aufbau eines bestimm- 
ten Kindes mitzuwirken. Die mannigfachen direkten Er- 
fahrungstatsachen über die Erblichkeit menschlicher Anlagen 
stimmen durchaus damit überein, und wir kennen keine Tat- 
sachen genealogischer oder statistischer Erfahrung, die einer 
ausnahmslosen Geltung des Mendelschen Gesetzes für den Men- 
schen etwa widersprächen. Was bei Pflanzen als sichere Tat- 
sachen nichtmendelscher Vererbung vorgebracht worden ist 
(Chromatophorenübertragung u. a.), hat beim Menschen keine 
Analogie. 

Aus den Erfahrungen an Tieren und Pflanzen darf man 
auch schließen, daß auch beim Menschen keine „Vererbung 
erworbener Eigenschaften" vorkommt. Es wäre widersinnig an- 
zunehmen, daß der Mensch in dieser Hinsicht sich anders ver- 
halten sollte als die Tiere. 

Durch Analogieschluß aus Erfahrungen an Tieren in Ver- 
bindung mit den Erfahrungen über geschlechtsgebundene Erb- 



590 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



anlagen ist auch die Geschlechtsbestimmung beim Menschen 
aufgeklärt worden. In welchem Sinne, wurde ja weiter oben 
auseinandergesetzt. Die Zahl der Chromosome beim Menschen 
beträgt 48 in diploiden Zellen (befruchtete Eizelle, Körper- 
zellen) und 24 in haploiden Zellen (Keimzellen). Beim Mann 
ist nach Painter 1 ) außer einem X-Chromosom auch ein klei- 
nes Y-Chromosom vorhanden. Die Zahl der Chromosome scheint 
in allen menschlichen Rassen dieselbe zu sein 3 ). Im übrigen 
ist die Zellforschung als Methode für die menschliche Erb- 
lehre nur von sehr beschränkter Bedeutung. 

Wo es sich nicht um die allgemeinen Gesetzlichkeiten han- 
delt, sondern um spezielle Verhältnisse, da können diese beim 
Menschen natürlich anders liegen als bei einem Tier, das den 
Anlaß zur Prüfung einer Frage bezüglich des Menschen gab. 
So ist der Anstoß zur Klarstellung der Geschlechtsbestimmung 
beim Menschen ursprünglich nicht von den Befunden an der 
Obstfliege Drosophila, die analoge Verhältnisse zeigt, ausge- 
gangen, sondern von denen an Schmetterlingen, bei denen 
nicht das männliche Geschlecht das heterogametische ist, son- 
dern das weibliche. Aber auch das gerade umgekehrt-analoge 
Verhalten genügte, um den richtigen Weg für die Lösung der 
Frage beim Menschen zu weisen. In andern Fällen geht die 
Analogie freilich viel weiter. Der vollständige Albinismus beim 
Menschen ist in derselben Weise erblich, bedingt wie bei man- 
chen Tieren, nämlich einfach rezessiv. Da man aber von vorn- 
herein nicht weiß, wie weit die Analogie gehen wird, ist in 
jedem Fall die Prüfung an menschlichem Erfahrungsmaterial 
unerläßlich. 

Der Hauptwert der Analogieschlüsse liegt darin, mögli- 
che Hypothesenzu zeigen ; und unter diesen muß dann auf 
Grund des unmittelbaren Erfahrungsmaterials am Menschen 
eine Auslese getroffen werden. Ohne die Erkenntnis der Ge- 
schlecht sbestimmung bei Tieren wäre die Lösung der Frage 
beim Menschen schwerlich so bald gelungen. Man kann aber 
nicht sagen, daß sie unmöglich gewesen wäre. Seit Jahrtausen- 
den sind allerlei Hypothesen darüber aufgestellt worden, die 
aber alle mit den Erfahrungstatsachen mehr oder weniger in 
Widerspruch gerieten. Es ist jedoch durchaus nicht von der 

1 ) Painter, T. S. Sex chromosomes of man. American Naturalist 
Bd. 58, S. 506, 1924. 

3 ) Evans, H. M. and Swezy, O. The chromosomes in man, sex 
and somatic. Memoirs of the University of California. Bd. 9. 1929. 



ANALOGIESCHLOSSE AUS EXPER1M. BEFUNDEN. 



591 



Hand zu weisen, daß schließlich auch einmal die richtige auf- 
gestellt worden wäre, und diese würde der Kritik am Erfah- 
rungsmaterial, zumal den Tatsachen über die geschlechtsge- 
bundene Vererbung, dann standgehalten haben. 

Der Fortschritt der Wissenschaft geschieht dadurch, daß 
unter den möglichen Hypothesen durch das beigebrachte Er- 
fahrungsmaterial eine Auslese getroffen wird, indem die einen 
dadurch widerlegt werden, die andern an Wahrscheinlichkeit 
gewinnen. Erst wenn unter einer großen Zahl von Erfahrun- 
gen sich kein Widerspruch gegen eine Hypothese ergibt, wird 
diese zu einem wohlbegründeten Besitz der Wissenschaft. Vor 
voreiligen Schlüssen kann bis zu einem gewissen Grade die Be- 
rechnung des Fehlers der kleinen Zahl bewahren (vgl. S. 616). 

Irrige Tagesmeinungen entstehen öfter auf folgende Weise: Ein phan- 
tasiebegabter Autor hat einen Einfall. Er macht ein paar Versuche, die zu- 
fällig seiner Erwartung entsprechen und veröffentlicht sie schleunigst. Das 
lesen minder phantasiebegabte Autoren, und es entsteht in ihnen der Wunsch, 
an der Entdeckung beteiligt zu sein. Bei den meisten von ihnen haben die 
Versuche kein deutliches oder ein entgegengesetztes Ergebnis; diese sehen 
von einer Veröffentlichung ab, weil bei den Versuchen „nichts herausge- 
kommen" ist. Andere Nachuntersucher, bei denen die Versuche zufällig auch 
im Sinne der Erwartung ausfallen, veröffentlichen dagegen ihre Ergebnisse, 
Dann schreibt jemand ein Sammelreferat, in dem festgestedt wird, daß die 
Entdeckung bereits durch mehrere Nachuntersucher bestätigt worden sei. 
Das wirkt auf weitere strebsame Autoren so suggestiv, daß sie ihre eigenen 
Befunde nun auch im. „Lichte" der neuen Theorie sehen und deuten. Wenn 
sich einzelne Gegenstimmen erheben, wird die Verfechtung der Entdeckung 
zur Ehrensache; und es dauert unter Umständen viele Jahre, bis sie von 
einer neuen abgelöst wird. 

Die gewaltigen Erfolge, die die allgemeine Genetik der 
Verwendung der Drosophila als Versuchstier verdankt, legen 
den Gedanken nahe, daß auch der menschliche Erbforscher 
gut tue, mit Drosophila zu arbeiten. Selbstverständlich muß der 
menschliche Erbbiologe auf dem Gebiet der allgemeinen Ge- 
netik beschlagen sein ; und es ist für ihn auch nützlich 1 , wenn 
er mit der Biologie der Tiere und Pflanzen aus eigener Erfah- 
rung vertraut ist, Die experimentelle Genetik ist aber bereits 
so weit ausgebaut, und ihre Untersuchungen erfordern heute 
einen so großen Aufwand an Material, Einzelarbeit und Fach- 
kenntnissen, daß der menschliche Erbforscher nicht erwar- 
ten darf, er könne gewissermaßen nebenher genetische Ent- 
deckungen mit Drosophila machen. Dem Anfänger passiert 
es nur zu leicht, daß er Befunde, die dem Fachgenetiker längst 
bekannt, sind, für neue Entdeckungen hält. Er pflegt dann neue 
anspruchsvolle Fachausdrücke dafür zu erfinden, und es gelingt 



392 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



ihm wohl auch, bei dem wissenschaftlichen .Publikum den Ein- 
druck zu erwecken, daß er eine bedeutende wissenschaftliche 
Entdeckung gemacht habe. Im Grunde aber hat er nur die baby- 
lonische Sprachverwirrung der Erblehre um einige Fremdwörter 
bereichert, die vielleicht nicht einmal klar definiert sind. 

Selbst Säugetierversuche sind für die menschliche Erbfor- 
schung nur in recht beschränktem Umfang verwendbar. Die Erb- 
lichkeit bestimmter Krankheiten oder besonderer Eigenschaften 
kann auf diese Weise nicht aufgeklärt werden. Wie "in dem Ab- 
schnitt über die krankhaften Erbanlagen ausgeführt wurde, 
können klinisch sehr ähnliche Krankheitsbilder teils dominant, 
teils rezessiv, teils geschlechtsgebunden und teils rein umwelt- 
bedingt sein. Analogieschlüsse vom Tier auf den Menschen sind 
hier also nicht statthaft. Auf die großen Schwierigkeiten der 
Feststellung von Erbänderungen bei Säugetieren wurde schon 
bei Besprechung der Versuche zur Erzeugung von Mutationen 
hingewiesen. Immerhin ist dies ein Gebiet, auf dem Untersu- 
chungen an Säugetieren durch solche an Drosophila nicht voll 
ersetzt werden können. Die grundsätzlichen und allgemeinen 
Verhältnisse der Erbänderung können zwar an Drosophila 
aufgeklärt werden. Im einzelnen, z.B. in quantitativer Hinsicht, 
aber sind die Verhältnisse bei Säugetieren denen beim Men- 
schen sicher ähnlicher (vgl. S. 568 f.). 

Auf eine naheliegende Gefahr des Irrtums sei besonders 
hingewiesen. Die gebräuchlichen Versuchstiere Mäuse, Kanin- 
chen, Meerschweinchen stammen meist aus Inzuchtlinien; die 
Individuen eines Stammes sind daher in viel höherem Maße 
erbgleich als die Individuen einer menschlichen Bevölkerung, 
Dieser Umstand macht die genannten Versuchstiere gerade 
besonders geeignet für das Studium von 'Umweltwirkungen wie 
Infektionen, Gift Wirkungen, Ernährungseinflüssen. Eben dar- 
um aberhaben die Bakteriologen bei ihren Tierversuchen meist 
keine erblichen Unterschiede der Widerstandsfähigkeit bzw. 
Anfälligkeit gefunden. 

Agnes Bhhm 1 ) hat in ihren Mäusezuchten keine wesentlichen erb- 
lichen Unterschiede des Geburtsgewichts gefunden; in ihrem ingezüchteten 
Mäusestamm trat daher die Erbbedingtheit des Geburtsgewichts gegenüber 
den Einflüssen der Umwelt ganz zurück. Fahlbusch 3 ) dagegen, der auf 
meine Veranlassung die Erbbedingtheit des Geburtsgewichts in verschiede- 

] ) Blüh m , A. Über einige das Geburtsgewicht der Säugetiere beein- 
flussende Faktoren. Archiv für Entwicklungsmechanik. Bd. 116. S. 348. 1929. 

3 ) Fahlb usch, W. Wie weit ist das Geburtsgewicht erbbedingt? 
Dissertation München 1934. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



593 



nen Kaninchenrassen und ihren Kreuzungen untersucht und damit die Er- 
fahrungen am Menschen verglichen hat, ist umgekehrt zu dem Schluß ge- 
kommen, daß das Geburtsgewicht im wesentlichen erbbedingt ist und daß 
die gewöhnlichen Unterschiede der Lebensbedingungen nur einen geringen, 
kaum nennenswerten Einfluß darauf haben. Die Bestände der gezüchteten 
Kaninchen entsprechen in ihrer genetischen Buntheit ungefähr der mensch- 
licher Bevölkerungen, nicht aber ingezüchtete Stamme weißer Mäuse, natür- 
lich auch nicht ingezüchtete Stämme von Kaninchenrassen.Man kann daher 
aus den Befunden von Agnes Bluhra keine weitgehenden Schlüsse auf 
die Bedeutung des Geburtsgewichts beim Menschen ziehen 1 ). 



sgisch- 

Während der experimentierende Erbforscher bestimmte 
Kreuzungen absichtlich herbeiführt, sucht der menschliche Erb- 
forscher sie auf. So hat Eugen Fischer die Nachkommen 
von Hottentottenkreuzungen planmäßig aufgesucht (vgl. S. 288), 
Rodenwaldt die von Malayenkreuzungen (S. 289). Über- 
haupt ist anzunehmen, daß alle Kreuzungen, che praktisch von 
Interesse sind, in den Millionenbevölkerungen der Menschen 
irgendwo schon vorhanden sind ; und wenn man sie aufsucht, 
so ist das ein vollwertiger Ersatz für ihre absichtliche Herbei- 
führung, die noch den Nachteil haben würde, viel zeitraubender 
zu sein. Auch bei krankhaften Anlagen ist dieser Weg ange- 
zeigt. So hat Vogt systematisch nach £"amilien mit rotgrün- 
blinden Töchtern gesucht und dabei wertvolle Aufschlüsse er- 
halten (vgl. S. 363). 

Wenn in der menschlichen Erbforschung die Erhärtung 
der Hypothesen nicht an der Hand von experimentellen son- 
dern nur von statistischen Erfahrungen erfolgen kann, so ist 
das kein so grundsätzlicher Unterschied gegenüber der expe- 
rimentellen Forschung, wie öfter angenommen wird. Auch die 
Bestimmung einer chemischen oder physikalischen Zahl erfolgt 
als Mittel aus einer Anzahl von Messungen und ist darum mit 
einem wahrscheinlichen Fehler behaftet. Der Erkenntniswert 
der Statistik ist von dem der experimentellen Methode nur dem 
Grade nach verschieden; und die menschliche Erblehre kann 
sich, was die Sicherheit der Erkenntnisse betrifft, neben der 
sonstigen Heilkunde und Hygiene durchaus sehen lassen. Die 
experimentell fundierte allgemeine Erblehre läßt gar nicht so 
unübersehbar viele Möglichkeiten offen, und die Wahl unter 



x ) B 1 u h m , A. Die Bedeutung des Geburtsgewichtes für die körperliche 
Entwicklung des Individuums. Archiv für soziale Hygiene und Demographie. 
1928. tieft 5. 



Baur-FisclieF-I,eiiz I. 



594 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



595 



diesen kann in sehr vielen Fällen an der Hand statistischen 
Materials beim Menschen mit einer praktisch völlig genügen- 
den Sicherheit getroffen werden, einer Sicherheit, die gegen- 
über den sonstigen Entscheidungen des praktischen Lebens 
durchaus nicht zurückstellt. 

Die Erfassung gegebener Tatsachen durch Maß und Zahl 
und ihre Verarbeitung zum Zwecke der Gewinnung allgemein- 
ner Regeln oder Gesetze macht das Wesen der statisti- 
schen Methode aus. Auf dem Gebiete der menschlichen 
Erblehre kann und muß diese auf zwei verschiedenen Wegen 
betrieben werden, einerseits mehr individualstat istisch 
oder genealogisch und andererseits mehr massenstati- 
stisch oder biometrisch. 

Die individualstatistische Erbforschung geht bestimmten 
Erbanlagen innerhalb einzelner Verwandtschaftskreise nach. 
Ihre Methode ist die der Sippengeschichte oder Ge- 
nealogie. Der Historiker Kekule vonS t radonitz 1 ) hat 
sogar gemeint, es sei die Hauptaufgabe der Genealogie, „für 
die Vererbungswissenschaft, soweit sich diese mit dem Men- 
schen beschäftigt, den Stoff heranzuschaffen". Danach wäre 
die Genealogie im wesentlichen nur eine Hilfswissenschaft der 
Erblehre. Mir scheint indessen, daß ihre eigentliche Bedeu- 
tung nicht auf naturwissenschaftlichem sondern auf histori- 
schem Gebiet liegt. Der Erblehre als Naturwissenschaft kommt 
es auf das Allgemeine und Gesetzliche an, während ihr die 
einzelnen Personen und Sippen als solche gleichgültig sind. Sie 
will z. B. wissen, wie sich die Schizophrenie vererbt und nicht 
eigentlich, wie diese gerade in den Sippen der Weifen und Wit- 
telsbacher aufgetreten ist. Die historische Kenntnis ist ihr nur 
Mittel zum Zweck der allgemeinen Erkenntnis. Die Genealogie 
dagegen ist ihrem Wesen nach eine historische Disziplin; es 
kommt ihr auf das Individuelle an, auf die einzelnen Personen 
und Sippen und deren Zusammenhänge. Für sie ist die Erblehre 
als Hilfswissenschaft unentbehrlich, während sie ihrerseits für 
die Erblehre nur in beschränktem Maße als Hilfswissenschaft 
in Betracht kommt. 

Das von der Genealogie zusammengetragene Material ist 
für die Erbforschung in der Regel unzulänglich. Aus früheren 
Zeiten fehlen meist zuverlässige Unterlagen; und solche hätten 
hinsichtlich der meisten Eigenschaften auch nur von medizini- 



1920. Nr, i. 



S t r a d o 11 1 1 z , St., Im „Deutschen Herold", 



sehen oder psychologischen 'Fachleuten beschafft werden kön- 
nen. Die historische Genealogie kann der Erbforschung daher 
in der Hauptsache nur durch den Nachweis von Sippenzusam- 
menhängen dienen und nur in zweiter Linie durch Berichte über 
die Eigenschaften einzelner Personen. 

DieFamilienforschung, die der Erbforscher betreiben muß, 
ist naturwissenschaftliche Familienkunde oder 
F a m i 1 i e n a n t h r o p o 1 o g i e. Zweckmäßige Anweisungen 
dafür finden sich bei Seh ei dt 1 ) und Siemens 2 ). 

Wenn die Eltern und Voreltern einer Ausgangsperson 
(eines Probanden), zusammengestellt werden, so spricht 
man von ihrer Ahnentafel, wenn alle Nachkommen eines 
bestimmten Stammelternpaares aufgezeichnet werden, von einer 
Nachkommentafel (Deszendenztafel) oder einem Stamm- 
baum. Für che Kennzeichnung 



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cf 



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+ 



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Fig. 196. 
Schema einer A h 11 e 11 1 a f e 1. 



der einzelnen Personen einer 
Ahnentafel oder eines Stamm- 
baums sind verschiedene Beziffe- 
rungssysteme aufgestellt worden, 
die bei S c h e i d t besprochen 
sind. Siemens ordnet einfach 
nach dem Namen in Form 
einer Kartothek. Der vor Jah- 
ren geführte Streit zwischen 
Stammbaum und Ahnentafel 
kann heute als dahin entschieden 

gelten, daß beide Methoden einseitig und in dieser Einseitig- 
keit für die Erbforschung unzulänglich sind. Für die erbbiolo- 
gische Beurteilung eines Menschen sind nicht nur seine Vor- 
fahren sondern auch seine Geschwister und andere nähere Sei- 
tenverwandte sowie seine eventuellen Kinder von Bedeutung. 
Durch Zusammenstellung aller dieser Blutsverwandten entsteht 
eine S i p p e n t a f e 1 , die oft, wenn auch nicht ganz treffend, 
ebenfalls als Stammbaum bezeichnet wird. 

Die schematische Darstellung einer männlichen Person 
durch einen Kreis mit oben schräg anschließendem Pfeil und 
einer weiblichen durch einen Kreis mit unten anschließendem 
Kreuz, wie sie in diesem Buch angewandt wird, ist die in 



*) Scheidt, W. Einführung in die naturwissenschaftliche FamiHen- 
kundc. München 1923. 

8 ) Siemens, H. W. Bedeutung und Methodik der Ahnentafelfor- 
schung. ARGB. Bd. 24. S. 185. 1930. 



38* 



596 



FRITZ LENZ, /METHODEN. 



Deutschland und England übliche. Daneben ist eine andere in 
Gebrauch, hauptsächlich in Amerika, bei der eine männliche 
Person durch ein liegendes Quadrat, eine weibliche durch einen 
Kreis und eine Person unbekannten Geschlechts durch ein auf 
der Spitze stehendes Quadrat oder durch ein Dreieck bezeich- 
net wird. 

Unter Verwendung dieser Symbole hat die International Föderation of 
Eugenic Organizations ein standardisiertes System für alle Darstellungen 
von Sippentafeln empfohlen 1 ). Zur Begründung ist angegeben worden, daß 
solche Sippentafeln übersichtlicher seien. Ich kann das nicht finden; für 
mich sind vielmehr die herkömmlichen, auch in der Biologie seit je gebräuch- 
lichen Geschlcchtssymbole ungleich übersichtlicher. Just 2 ) erklärt die ame- 
rikanischen Symbole geradezu für unpraktisch. Zum guten Teil ist es eine 
Sache der Gewohnheit, welche Symbole man leichter lesen kann. Im übrigen 
haben die uralten überlieferten Geschlechtssymbole eine Art von Prioritäts- 
recht; sie stehen den amerikanischen jedenfalls in keiner Weise an Handlich- 
keit und Deutlichkeit nach. Das oben gegebene Ahnentafel Schema nimmt 
sich in der amerikanischen Art der Darstellung folgendermaßen aus: 

Man muß sich hüten, die Bedeu- 

O | | O EU O D O tuIi S einzelner Ahnen für die Beurtei- 

i i i i i i i i lung der Erbbeschaffenheit eines Men- 

_ sehen zu überschätzen. Ein großer Teil 

I I \_) L_J \~J aller weit zurückreichenden Stammbäu- 

! | I i ; ! me fängt mit Karl dem Großen an; 

i — | r") und in der Tat stammt wohl ein gro- 

, ; ßer Teil aller heute lebenden Deut- 

schen irgendwie von diesem ab, viel- 
leicht sogar alle Angehörigen alter 
Adelsgeschlechtcr. Das besagt aber 
l< ig. 197. se j lr wcn |g j wenn man bedenkt, daß 

Dieselbe Ahnentafel in der amerikani- seitdem Über 30 Generationen verflos- 
senen Art der Darstellung. sen sind und daß ohne Ahnenverlust 

jeder unserer Zeitgenossen über 2 ;{I >, 
d. h. mehr als eine Milliarde Ahnen jener Generation haben würde, die 
grundsätzlich alle dasselbe Recht auf Berücksichtigung hätten. An diesem 
Beispiel wird so recht klar, wie irreführend die herkömmliche Stammbaum- 
forschung mit ihrer einseitigen Verfolgung einer Linie ist. Warum läßt man 
jene Stammbäume übrigens nicht mit Pipin dem Kleinen beginnen? Von 
diesem weiß man doch bestimmt, daß er der Vater Karls des Großen war. 
Die Antwort liegt auf der Hand. 

Wenn z. B. S o m m e r 3 ) eine auffallende Ähnlichkeit im Wesen Goe- 
thes mit einem gewissen Ferdinand Lindheim er, der über den 
Urgroßvater eines Urgroßvaters mit ihm verwandt war, gefunden zu haben 
glaubt, so vermag ich diesem Umstände keinerlei Gewicht beizumessen, da 



O 



1 ) Z. B. in der Zeitschrift für ind. Abstammungs- und Vererbungslehre. 
Bd. 43. S. 261. 1927. 

s ) In ,, Methoden der Vererbungslehre" s. Literaturverzeichnis. 

3 ) Som m er, R. Goethe im Lichte der Vererbungslehre. Leipzig 1 908. 
J. A. Barth. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



597 



dem Verwandtschaftsgrade nach nur zu erwarten wäre, daß beide Männer 
einen verschwindenden Bruchteil mehr an Erbmasse gemeinsam hätten als 
mit dem Durchschnitt der Bevölkerung. 

Auf die Erforschung entfernter Vorfahren viel Zeit und 
Mühe zu verwenden, lohnt sich für den Erbforscher meist nicht. 
Die Kenntnis der Beschaffenheit von Nachkommen ist nicht 
weniger wichtig als die von Vorfahren, und dasselbe gilt auch 
von Verwandten in Seitenlinien. Mit jedem seiner Kinder hat 
ein Mensch im Durchschnitt ebensoviel seiner Erbmasse ge- 
meinsam wie mit einem seiner Eitern, mit einem Vetter ebenso- 
viel wie mit einem Urgroßvater; und da man über Lebende 
natürlich viel leichter etwas Sicheres feststellen kann als über 
Verstorbene, so ist die Erforschung der Seitenverwandtschaft 
sogar wichtiger als die vollständige Erforschung der Vorfah- 
ren. Für die meisten Zwecke genügt es, wenn die Verwandt- 
schaft bis zu den Großeltern und deren Nachkommen er- 
forscht wird. Ganz besonders wichtig ist die Kenntnis der Ge- 
schwister (s. u.). 

Man begegnet öfter der Ansicht, daß ein Mensch mit jedem seiner 
Eltern die Hälfte der Erbmasse gemeinsam habe, mit einem. Großeiter und 
einem Elterngeschwistcr im Durchschnitt ein Viertel, mit einem Urgroßeltcr 
und einem Vetter ein Achtel usw. Das ist insofern, nicht richtig, als man mit 
einem Elter ja auch einen großen Teil jener andern Hälfte der Erbmasse 
gemeinsam haben kann, den man nicht von ihm bekommen hat. In einer 
völlig einheitlichen (isogenen.) Bevölkerung stimmen Eltern und Kinder in 
ihrer ganzen Erbmasse überein; in einer gemischten mindestens in der halben. 
Mit andern Verwandten hat man wenigstens theoretisch möglicherweise gar 
keine gemeinsamen Erbanlagen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß man 
von einem bestimmten Großeiter keine einzige Erbanlage habe; im Durch- 
schnitt hat man mindestens ein Viertel mit ihm gemeinsam, mit einem Ge- 
schwister im Durchschnitt mindestens die Hälfte. Aber theoretisch denkbar 
ist es, daß in einem seltenen Ausnahmefall jemand mit einem Geschwister 
überhaupt nicht erbverwandt, d. h. auch nicht „blutsverwandt" ist. 

Für die Erbforschung ist es gleichgültig, ob jemand eine 
Anlage von einem andern Mitglied der Sippe wirklich über- 
kommen hat oder ob die (teilweise) Erbgemeinschaft auf an- 
dere Weise zustandegekommen ist. Tatsächlich kann man eine 
Erbanlage wohl von einem Großvater, nicht aber von einem 
Onkel haben. Für die Erbforschung ist die „Belastung" durch 
einen Onkel aber genau so bedeutungsvoll wie die durch einen 
Großvater. Unter Belastung versteht man herkömmlich er- 
weise das Vorkommen von erblichen oder der Erblichkeit ver- 
dächtigen krankhaften Zuständen, bei Blutsverwandten. Man 
hat dabei zunächst nur an die Eltern und Vorfahren gedacht, 
dann aber den Begriff auch auf Seitenverwandte ausgedehnt. 



598 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENE ALOGISCH -STATISTISCHE METHODEN. 



599 



Man kann also auch durch Geschwister „belastet" sein, ja 
sogar durch seine Kinder. 

Die Merkmale, die auf Erblichkeit zu untersuchen sind, 
kann man in morphologische, physiologische und psychologi- 
sche einteilen. Ob man die psychologischen Merkmale als Un- 
terabteilung der physiologischen betrachten oder sie den phy- 
sischen im ganzen gegenüberstellen will, ist dabei nicht von 
grundsätzlicher Bedeutung. Jedenfalls erfordern alle drei Grup- 
pen von Merkmalen je ihre eigenen Methoden zu ihrer Fest- 
stellung und Beschreibung. Auf diese kann hier nicht einge- 
gangen werden; sie sind ja nicht auf die Erbforschung be- 
schränkt, sondern müssen auch sonst in der Morphologie, 
Physiologie und Psychologie angewandt werden. Krankhafte 
Merkmale, die je eine Unterabteilung der genannten drei 
Gruppen ausmachen, bedürfen zu ihrer Feststellung und Be- 
schreibung der Methoden der verschiedenen klinischen Fächer. 
Wenn Hilfskräfte, die mit der Untersuchung von Sippen 
in der Bevölkerung beauftragt sind (in Amerika fiele! wor- 
kers genannt), die zu erforschenden Zustände nicht richtig 
zu erkennen vermögen, so ist der Wert der ganzen Arbeit von 
vornherein in Frage gestellt. Viele Krankheiten und Anomalien 
können nur von damit vertrauten bzw. eigens eingearbeiteten 
Ärzten richtig erkannt werden. Die Erforschung der erblichen 
Krankheiten ist daher in erster Linie eine Aufgabe der Fach- 
arzte. Da diese aber in der Regel nicht über die genügenden 
Kenntnisse auf dem Gebiete der allgemeinen Erblehre und der 
statistischen Methodik verfügen, so empfiehlt sich die Zusam- 
menarbeit mit einem Erbforscher. Andererseits sollten nicht 
unnötig zunftmäßige Schranken errichtet werden. Viele erb- 
liche Leiden können auch von nicht spezialistisch vorgebildeten 
Ärzten richtig erkannt werden, manche sogar von Laien, deren 
Angaben für die Erbforschung unter Umständen sehr wertvoll 
sein können und auf die sie nie ganz wird verzichten können. 

Die sogenannten Familienanamnesen, die der Arzt 
durch Ausfragen eines Kranken oder eines ihn begleitenden 
Angehörigen erhält, können zwar wertvolle Hinweise geben; 
als Grundlage für die Erbforschung sind sie aber unzulänglich. 
Wie besonders Curtius 1 ) gezeigt hat, wird auf diese Weise 
nur ein kleiner Bruchteil der tatsächlich in einer Sippe vorkom- 
menden Krankheiten und Anomalien erfaßt. Mütter neigen 

! ) Curtius, F. Familienanamnese und Familienforschung. Münch. 
Med. Wach. 1931. Nr. 14, 



dazu, den Zustand ihrer Kinder zu beschönigen. Fälle von Gei- 
stesstörungen und andern Leiden in der Familie werden gern 
verschwiegen, weil man davon Nachteile für Lebende befürch- 
tet, z.B. für die Heiratsaussichten von Töchtern 1 ). Diese Nei- 
gung zur Verheimlichung ist neuerdings durch die Furcht vor 
Zwangssterilisierung und durch den Wunsch nach Ehestands - 
beihilf en noch verstärkt worden. Zum großen Teil ist die Un- 
zulänglichkeit der Familienanamnesen auch einfach eine Folge 
von Unwissenheit der Kranken und ihrer Angehörigen über 
die in der Familie vorgekommenen Krankheiten. Kluge und 
gewissenhafte Personen können daher stärker „belastet" er- 
scheinen als dumme und weniger wahrheitsliebende. Auch sind 
um so mehr B elas tu ngs fälle zu erwarten, je köpf- bzw. kinder- 
reicher die Sippe ist, je weiter die Nachforschung ausgedehnt 
wird und je weiter der Untersucher den Kreis der „belasten- 
den" Merkmale ausdehnt. Prozentangaben über die Höhe der 
„Belastung" sind daher ziemlich wertlos. Mit dem Kleinerwer- 
den der Familien infolge des Geburtenrückgangs ist übrigens 
eine Abnahme der „Belastung" zu erwarten. 

Das Ideal ist die Untersuchung aller Sippenmitglieder 
durch sachkundige Fachleute, auf dem Gebiet der medizini- 
schen Erbforschung also durch sachkundige Ärzte. In Ver- 
öffentlichungen sollte stets deutlich angegeben werden, wel- 
che Sippenmitglieder ärztlich untersucht worden sind und wel- 
che nicht. Auch von den gesunden oder anscheinend gesunden 
Mitgliedern muß die körperliche und seelische Beschaffenlie.it 
möglichst genau festgestellt werden, wenigstens in Bezug auf 
alle Merkmale, die mit dem Gegenstande der Nachforschung 
in Zusammenhang stehen könnten. So müssen bei der Erfor- 
schung der Erbbedingtheit der Geisteskrankheiten nicht nur 
die psychopathischen sondern auch die normalen Sippenglieder 
genau berücksichtigt werden. 

Es liegt auf der Bland, daß die Befolgung aller dieser 
Richtlinien einen großen, von einem einzelnen Forscher meist 
nicht zu bewältigenden Aufwand an Zeit, Mühe und Kosten er- 
fordert. Am nächsten sind der Erfüllung dieser idealen Forde- 
rungen bisher Rüdin und seine Mitarbeiter im Kaiser-Wil- 
helm-Institut für Genealogie der Deutschen Forschungsanstalt 
für Psychiatrie in München gekommen. 

x ) In einem Falle von Curtius hatte eine Frau in i5jähriger Ehe 
ihrem Manne mit Erfolg verheimlicht, daß sie drei hochgradig schwach- 
sinnige Geschwister hatte („Multiple Sklerose und Erbanlage." S. 39). 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



Die Untersuchung der gesunden oder anscheinend gesun- 
den Sippenmitglieder ist eher noch schwerer durchführbar als 
die der kranken. Von den Kranken liegen meist mehr oder 
weniger ausführliche Krankengeschichten schon vor; oder sie 
können doch in einer Klinik genau untersucht werden. Alle ge- 
sunden Sippenmitglieder für schwierigere Untersuchungen zu 
bekommen, die wie z. B. Stoff Wechseluntersuchungen den 
Aufenthalt in einer Klinik erfordern, ist praktisch fast un- 
möglich'. 

Für die Zukunft ist eine erbbiologische Bestands- 
aufnahme der gesamten Bevölkerung zu fordern, nicht nur 
aus wissenschaftlichen Gründen sondern auch aus solchen der 
praktischen Rassenhygiene (Sterilisierung, Eheberatung u. a.). 
Von jedem Staatsbürger bzw. Einwohner sollte eine erbbio- 
logische Akte geführt werden. Diese hätte mit der Ge- 
burt zu beginnen, Aufzeichnungen über die Befunde des Schul- 
arztes, die Leistungen in der Schule, im Arbeitsdienst und im 
Militärdienst zu enthalten. Krankheiten und gegebenenfalls 
Straffälligkeit wären einzutragen. Mindestens ebenso wich- 
tig aber wären Aufzeichnungen über die positiven Eigen- 
schaften und die Leistungen in körperlicher und mehr noch in 
geistiger Hinsicht. Diese erbbiologischen Akten, die zweck- 
mäßig in erbbiologischen Abteilungen der Gesundheitsämter 
aufzubewahren wären, würden im Lauf der Jahre eine sehr 
zuverlässige Grundlage für die menschliche Erbforschung bie- 
ten. Die Aufzeichnungen über den ganzen Lebenslauf sind in 
dieser Hinsicht einmaligen Erhebungen zu einer bestimmten 
Zeit weit überlegen. Wegen der besonderen Bedeutung, die 
die Verwandtenehen und die Zwillinge für die menschliche 
Erbforschung haben, sollte in den erbbiologischen Archiven 
eine besondere Kartei der Verwandtenehen und eine 
Kartei der Zwillinge geführt werden. 

Vom Kaiser -Wilhelm -Institut für Genealogie 
der Deutschen Forschungsanstalt für Psychia- 
trie in München werden nach Möglichkeit Krankengeschich- 
ten aus Irrenanstalten und andern Krankenhäusern benutzt. 
In der bayerischen Kriminalbiologischen Sammel- 
stelle liegen Tausende von erbbiologisch bearbeiteten Le- 
bensgeschichten von Verbrechern bereit. Die gesammelten Ak- 
ten der Erbgesundheitsgerichte bilden in Zukunft ein ähn- 
liches hauptsächlich Material über Schwachsinnige und Gei- 
steskranke. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



60] 



Besonders bei einem Material, das durch einmalige Unter- 
suchung gewonnen worden ist, ist damit zu rechnen, daß ge- 
wisse Krankheiten oder sonstige Merkmale, die erst in einem 
gewissen Alter in die Erscheinung zu treten pflegen, bei einem 
Teil der Anlageträger noch nicht vorhanden sind. Daher muß 
das Lebensalter aller Sippenmitglieder genau aufgezeichnet 
werden. Die Schwierigkeit, die die Bearbeitung eines solchen 
Materials macht, läßt sich nur durch Aufstellung einer Erkran- 
kungstafel für das betreffende Leiden nach Art der bekannten 
Sterbetafeln überwinden, wie Weinberg in Rüdin s Arbeit 
über die Dementia praecox gezeigt hat. Die von J. Bauer und 
B. Aschner angegebene „Kompensations- und Exklusions- 
methode" ist nur scheinbar exakt, da aus dem Alter der Er- 
krankenden nicht ohne Kenntnis der Gesamtbesetzung der 
Altersklassen die Krankheitsgefährdung erschlossen werden 
kann 1 ). Eine abgekürzte Methode zur Berücksichtigung des 
Erkrankungsalters hat Luxenburger 2 ) angegeben; und 
Curtius 3 ) hat sich um eine genauere Erfassung bemüht. 

Wegen der Wichtigkeit für die Erkennung rezessiven Erb- 
gangs muß stets auch festgestellt werden, ob die Eltern von 
Merkmalsträgern in nahem Grade blutsverwandt sind oder nicht. 
Für gewöhnlich genügt die Feststellung der Blutsver- 
wandtschaft bis zu Vetternehen ersten Grades. In besonde- 
ren Fällen kann aber auch die Feststellung von entfernter 
Blutsverwandtschaft der Eltern aufschlußreich sein (vgl. z. B. 
S.514). Blutsverwandtschaft der Großeltern ist in dieser Hin- 
sicht bedeutungslos, weil in den Merkmalsträgern Anlagen nur 
von beiden Eltern her zusammentreffen können. 

Daß man durch die Erfahrungen an einer einzigen Sippe 
den Erbgang einer Eigenschaft feststellen kann, ist nicht die 
Regel sondern die Ausnahme. Es ist nur bei regelmäßig domi- 
nantem und bei rezessivem geschlechtsgebundenen Erbgang 
möglich. 

Bei regelmäßig dominantem Erbgang findet 
sich das betreffende Merkmal stets auch bei einem der Eltern 
eines Merkmalträgers (abgesehen von dem ganz seltenen Fall 

l ) Vgl. Weinberg, VV. Methoden und Technik der Statistik. In 
dem „Handbuch der sozialen Hygiene" von Gottsteinu. a. Berlin 1925, 
J. Springer. Bd. I. S. 107 und 138. 

a ) Luxenburger, H. Demographische und psychiatrische Untersuchun- 
gen in der engeren Familie von Paralytikerehegatten. Berlin 1928. Springer. 

3) Curtius, F. Multiple Sklerose und Erbanlage. Leipzig 1933. 
Thieme. S. 67 ff. 



602 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENEALOGISCHSTATISTISCHE METHODEN. 



603 



der Neuentstehung des Merkmals auf dem Wege der Muta- 
tion.). Das Merkmal ist also in ununterbrochenem Erbgang 
durch die Generationen zurück zu verfolgen. Von den Kindern 
eines Merkmalträgers sind im Durchschnitt die Hälfte eben- 
falls mit dem Merkmal behaftet. Da die Wahrscheinlichkeit 
des Behaftetseins für jedes Kind 1 / 2 beträgt, können die Kin- 
der eines Merkmalträgers unter Umständen auch frei davon 
bleiben; d. h. der Erbgang kann in absteigender Linie jeder- 
zeit abreißen. Diese Zweige der Sippe sind dann für immer 
frei von dem Merkmal. Ein Beispiel, wie schon durch die Er- 
fahrungen an einer einzigen Sippe regelmäßig dominanter 
Erbgang festgestellt werden kann, ist die von Nettleship 
erforschte Sippe mit Nachtblindheit (vgl. S. 356). 

Streng genommen setzt der Begriff der Dominanz eigent- 
lich voraus, daß eine dominante Erbeinheit sich im heterozygo- 
ten Zustande ebenso wie im homozygoten äußert. Tatsächlich 
kennen wir aber fast alle krankhaften Erbanlagen, die wir beim 
Menschen als dominant bezeichnen, nur im heterozygoten Zu- 
stande, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß viele davon sich 
im homozygoten Zustande ganz anders darstellen würden, und 
zwar viel schwerer krankhaft. In solchen Fällen würde es sich 
also nicht um eigentliche Dominanz, sondern um intermediäres 
Verhalten handeln. Bei seltenen Anomalien kommt dieser Un- 
terscheidung keine besondere Bedeutung zu, da homozygote 
Träger solcher Anomalien wenig oder gar nicht vorkommen. 
Bei häufigeren Anomalien dagegen kann die Unterscheidung 
zwischen dominantem und intermediärem Verhalten auch prak- 
tisch wichtig sein. Intermediäres Verhalten wurde z. B. bei der 
schizoiden Psychopathie erörtert (vgl. S. 535 f.). Die methodi- 
schen Gesichtspunkte für den Nachweis intermediären Verhal- 
tens ergeben sich teils aus dem Gesagten, teils entsprechen sie 
denen, die für den Nachweis rezessiven Erbgangs gelten, näm- 
lich soweit es sich um die stärkere Ausprägung des Merkmals 
bei Homozygotie handelt; man vergleiche damit das über die 
Erbbedingtheit der Schizophrenie Gesagte. 

Häufiger als regelmäßig dominante Anlagen sind solche, 
die bei im ganzen dominantem Erbgang doch Generationen 
überspringen können. Man. spricht dann von unregelmäßig 
dominantem Erbgang. Derartige Sippentafeln können 
folgendermaßen Zustandekommen: Es gibt krankhafte Erban- 
lagen, die sich erst im mittleren oder höheren Alter äußern; 
und wenn ein damit behaftetes Individuum vor dem Ausbruch 



des Leidens stirbt, so wird es in der Sippentafel leicht fälsch- 
lich als normal geführt. Sodann gibt es Anlagen, die der Aus- 
lösung durch äußere Einflüsse bedürfen; bleiben diese Ein- 
flüsse aus, so entsteht ebenfalls das Bild des Überspringens von 
Generationen. Auch an die Entwicklungslabilität gewisser An- 
lagen ist hier zu erinnern (vgl. S. 390). Schließlich können 
gewisse Erbanlagen durch andere an der Manifestation gehin- 
dert werden. Das Auftreten des Merkmals hängt hier also 
eigentlich nicht nur von einer, sondern von mehreren Erban- 
lagen ab, d. h. es handelt sich um Polymerie, von der noch zu 
reden sein wird. 

Wie der regelmäßig dominante so ist auch der rezes- 
sive geschlechtsgebundene Erbgang oft schon an 
den Erfahrungen einer einzigen Sippe zu erkennen. Man ver- 
gleiche z. B. die Blutersippe nach S chloeßmann auf S. 442. 
Meist sind nur Männer befallen, die in weiblicher Linie ver- 
wandt sind, Frauen nur ausnahmsweise, nämlich dann, wenn 
sie die Anlage homozygot enthalten, wie es bei der Rotgrün- 
blindhe.it nicht ganz selten vorkommt, oder wenn die Rezessivi- 
tät nicht regelmäßig ist, wie es in manchen Sippen mit Sehnerv- 
verödung beobachtet worden ist. Niemals aber geht eine ge- 
schlechtsgebundene Erbanlage vom Vater auf den Sohn über. 

Rezessive geschlechtsgebundene Anlagen dürfen nicht mit 
solchen verwechselt werden, die sich nur im männlichen Ge- 
schlecht äußern können, wie dieHypospadie (s.S. 402). Früher 
pflegten beide Möglichkeiten als „geschlechtsbegrenzte 
Vererbung" bezeichnet zu werden. Nach dem Vorgange 
Morgans nennt man jetzt aber die im Geschlechtschromosom 
lokalisierten Erbanlagen nicht mehr geschlechtsbegrenzt, son- 
dern geschlechtsgebunden. Auch der Dominanzwechsel 
nach dem Geschlecht ist nicht gleichbedeutend mit der 
Erscheinung, daß sich gewisse Erbanlagen überhaupt nur in 
einem Geschlecht äußern können. Man kennt gewisse Erban- 
lagen bei Schafen, die im männlichen Geschlecht auch bei hete- 
rozygotem Vorhandensein Hornbildung bewirken, im weibli- 
chen Geschlecht aber nur bei homozygotem. Eine solche Erb- 
anlage verhält sich im männlichen Geschlecht also dominant, 
im weiblichen rezessiv. Eine im männlichen Geschlecht domi- 
nante Anlage zu Hypospadie dagegen könnte sich im weibli- 
chen auch bei homozygoter Anwesenheit nicht äußern. Erb- 
anlagen mit Dominanz Wechsel nach dem Geschlecht sind beim 
Menschen nicht bekannt. Im Zweifelsfall könnten sie von den 



FRITZ LENZ, METHODEN. 

geschlechtsgebundenen dadurch unterschieden werden, daß sie 
vom Vater auf den Sohn übergehen können. Die Geschlechts- 
begrenztheit eines Merkmals ist oft unvollständig, d. h. es tritt 
bei einem Geschlecht nur stärker oder häufiger auf als bei dem 
andern; in diesem Falle wird die Äußerung der Erbanlage 
durch das Geschlecht also nur begünstigt. 

Die Unterscheidung dominanter geschlechtsge- 
bundener Erbanlagen von rezessiven geschlechtsgebun- 
denen ist leicht dadurch, daß diese sich auch im weiblichen 
Geschlecht äußern und daher in ununterbrochenem Erbgang 
Verfolgt werden können. Die Unterscheidung einfach dominan- 
ten und geschlechtsgebundenen dominanten Erbganges ist an 
einigen wenigen Stammbäumen meist nicht sicher möglich. 
Stärkeres Überwiegen weiblicher Kranker spricht für Ge- 
schlechtsgebundenheit einer dominanten Anlage; Übergang 
vom Vater auf den Sohn schließt sie aus, da ja ein Mann sein 
Geschlechtschromosom immer nur von der Mutter bekommt. 
Praktisch spielt der dominante geschlechtsgebundene Erbgang 
im Vergleich zum rezessiven nur eine untergeordnete Rolle. Ei- 
lst bisher nur in wenigen Fällen nachgewiesen bzw. wahr- 
scheinlich gemacht worden und auch da nicht in reiner Aus- 
prägung, insofern als die Dominanz nur unvollständig oder 
unregelmäßig war. Wenn die weiblichen Träger einer ge- 
schlechtsgebunden erblichen Anlage das Merkmal in stark 
abgeschwächter Form zeigen, so liegt intermediäres ge- 
schlechtsgebundenes Verhalten vor. 

Anmerkungsweise sei der theoretischen Möglichkeit eines Erbgangs in 
ausschließlich männlicher oder ausschließlich weiblicher Linie gedacht. Man 
hat öfter gemeint, daß gewisse Züge sich vorwiegend im Manncsstamm (in 
der Namcnslinic) vererben würden; sichere Erfahrungstatsachen für einen 
solchen Erbgang sind aber nicht beigebracht worden. Theoretisch möglich 
wäre er indessen. Anlagen, die im Y-Chromosom lokalisiert waren, würden sich 
nämlich so verhalten. Einen Erbgang in ausschließlich weiblicher Linie hat 
man bei gewissen krankhaften Zuständen von Pflanzen und etwas Ähnliches 
auch bei einem Schmetterling gefunden. Falls beim Menschen ein Erbgang 
in ausschließlich weiblicher Linie gefunden werden sollte, müßte man an 
Übertragung durch das Plasma (nicht durch den Kern) der Eizellen denken. 

Während die Feststellung regelmäßig dominanten und re- 
zessiven geschlechtsgebundenen Erbgangs verhältnismäßig ein- 
fach ist, stößt die Klarstellung anderer Arten erblicher Bedingt- 
heit auf mehr oder weniger große Schwierigkeiten; sie ist auf 
Grund der Erfahrungen an einer Sippe meist überhaupt nicht 
möglich Wenn man auch hier die Erbbedingtheit analysieren 
will, so ist es nötig, die Erfahrungen vieler Sippen zusammen- 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



605 



V 



zuzählen und festzustellen, ob eine gesetzmäßige Häufung des 
Merkmals oder anderer möglicherweise damit zusammenhän- 
gender Merkmale besteht. 

Eine große Schwierigkeit liegt darin, daß es in vielen Fäl- 
len nicht von vornherein möglich ist, zu sagen, welche Merk- 
male wirklich genetisch zusammengehören. So können Krank - 
heitszustände, die sehr ähnlich und klinisch nicht sicher unter- 
scheidbar sind, auf der Auswirkung verschiedener Erbeinheiten 
beruhen. Es gibt z. B. in der Gruppe der Muskelatrophien 
dominante, einfach rezessive und rezessive geschlechtsgebun- 
dene Arten, ohne daß diesen genetischen Unterschieden auch 
Unterschiede im klinischen Bilde zu entsprechen brauchen. In 
der Gruppe des Schwachsinns gibt es neben erbbedingten auch 
rein umweltbedingte Fälle. Wenn man in solchen Gruppen zum 
Zweck der Feststellung bestimmter Zahlen Verhältnisse die Erfah- 
rungen an verschiedenen Familien zusammenzählt, so läuft man 
Gefahr, Heterogenes zu summieren und irreführende Zahlen 
zu erhalten. Eine solche Summierung heterogener Erfahrungen 
läßt sich öfters gar nicht vermeiden. Die klinische Medizin ist 
in manchen Fällen nicht in der Lage, gleichsam die Blind- 
schleichen unter den Krankheiten von den Schlangen zu unter- 
scheiden. Der Erbforscher muß sich daher des nur vorläufigen 
Wertes derartiger Zahlenergebnisse bewußt sein; dann wird 
er Fehlschlüsse vermeiden. Und dann darf er auch hoffen, die 
klinisch zusammengefaßten Gruppen von Erbleiden allmählich 
genetisch aufzulösen und womöglich die einzelnen pathogenen 
Erbeinheiten in ihren Auswirkungsmöglichkeiten gesondert zu 
verfolgen. 

Eine weitere Gefahr des Irrtums entsteht dann, wenn ein 
zusammengetragenes Material eine einseitige Auslese darstellt, 
die nicht für das durchschnittliche Verhalten zutreffend ist, Oft 
werden „interessante Fälle" von Vererbung veröffentlicht, wo 
in einer Sippe auffallend viele Mitglieder mit einer Anomalie 
behaftet sind, was aber mit dem Erbgang als solchem nichts 
zu tun zu haben braucht, sondern zufällig bedingt sein kann. 
Wenn man durch Summierung der Erfahrungen an solchen Fa- 
milien eine familäre Häufung feststellen wollte, so würde man 
zu hohe Zahlen erhalten. Familien mit wenigen Fällen sind von 
nicht geringerer Bedeutung wie solche mit vielen. Das muß 
schon bei der Sammlung des Materials beachtet werden; denn 
Fehler, die dabei gemacht werden, lassen sich später auf keine 
Weise mehr ausgleichen. Familien, in denen nur ein einziger 



606 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENE ALOGISCH -ST AT IST ISCHE METH ODEN. 



607 



Fall vorgekommen ist, dürfen nicht etwa mit der Begründung 
weggelassen werden, daß „Erblichkeit nicht vorliege". Es ist 
durchaus nicht nötig, daß ein Erbleiden, das bei einem Men- 
schen angetroffen wird, sich auch bei andern Mitgliedern, der 
Familie finden müsse. Wenn nicht mehr als 4 bis 6 Kinder 
vorhanden sind, so wird besonders bei rezessiven Leiden in den 
meisten Fällen nur eines damit behaftet sein. Das veranschau- 
licht Fig. 198, die nach der Theorie des rezessiven Erbgangs 
konstruiert ist. Mit der Kinderzahl nimmt die Zahl der „heredi- 

OO 0O OO 



OOO ©OO0 OOOO 



©0O0 ©OO© O 



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Fig. 198. 

Schema des Erb- 
gangs einer rezessi- 
ven Anlage mit iso- 
liertem Auftreten des 
durch Zusammentref- 
fen zweier Anlagen 
bedingten Merkmals. 



tären" und „familiären" Fälle ab, die der „isolierten" zu. In- 
folge des Geburtenrückgangs sind daher heute verhältnismäßig 
mehr vereinzelte Fälle zu erwarten als früher. 

Fehlen von „Belastung" schließt also Erb- 
lichkeit nicht aus; und Vorliegen von „Bela- 
stung" beweist im Einzelfall nicht Erblichkeit, da 
auch nichterbliche Zustände in einer Sippe zufällig mehrfach 
vorkommen können. Infolgedessen ist der Nachweis, ob eine 



Eigenschaft erbbedingt ist oder nicht, oft gar nicht leicht zu 
führen. Wenn trotz sorgfältiger Nachforschung äußere Ur- 
sachen nicht festgestellt und auch nicht wahrscheinlich ge- 
macht werden können, so muß man immer an Erbbedingtheit 
denken. Es bleibt aber oft sehr schwer auszuschließen, ob eine 
familienweise Häufung einer Eigenschaft nicht durch gemein- 
same äußere Einflüsse bedingt sei, z. B. bestimmte geistige 
Fälligkeiten durch die geistige Umwelt und Überlieferung der 
Familie oder eine Krankheit wie die Tuberkulose durch Über- 
tragung des Erregers innerhalb der Familie. liier ist die 
Z will ing sf o r s chung die maßgebende Methode, zu ent- 
scheiden, ob ein Zustand im allgemeinen erbbedingt ist oder 
nicht. Die Zwillingsmethode, die weiter unten im Zusammen- 
hang dargestellt wird, setzt ein großes Material von Zwillings- 
paaren voraus, von denen mindestens einer das auf Erblichkeit 
zu untersuchende Merkmal aufweist. Ein solches Material ist 
zwar von häufigen Merkmalen zu beschaffen, von seltenen 
aber nur schwer oder gar nicht, jedenfalls nicht beliebig. Glück- 
licherweise läßt sich gerade bei seltenen Merkmalen die Erb- 
bedingtheit auch durch familiäre Häufung nachweisen, insbe- 
sondere durch regelmäßige Häufung unter den Geschwistern, 
während bei häufigen Merkmalen familiäre Häufung auch bei 
reiner Umweltbedingtheit oft zufällig sein wird. 

Ein sicheres Zeichen von Erbbedingtheit ist deutlich über- 
durchschnittliche H auf igkeit von Blutsverwandtschaft 
der Eltern. Eine solche ist zwar nur bei seltenen rezessiven 
Zuständen zu erwarten, aber gerade bei diesen ist ja Erblich- 
keit auf andere Weise schwer nachzuweisen. 

Häufung von Merkmalen in einzelnen Sippen hat schon oft zu voreiligen 
Schlüssen auf Erbbedhigthcit verführt. Man lernt die Vermeidung solcher 
Fehler am besten an einigen Beispielen. So scheint die alltägliche Erfahrung 
zu lehren, daß es Familien gibt, in denen vorwiegend Knaben und andere, 
in denen vorwiegend Mädchen geboren werden; und es ist leicht, entspre- 
chende Familien zu sammeln. Aber auch, wenn die Wahrscheinlichkeit einer 
Knabengeburt stets nur 1 / 3 ist, sind Familien zu erwarten, in denen nur Kna- 
ben und andere, in denen nur Mädchen geboren werden. Bei sechs Kindern 
beträgt die Wahrscheinlichkeit z. B. rund (}j 2 f = i/ Sil daß es lauter Knaben 
sind; d.h. unter 64 Familien mit je 6 Kindern ist im Durchschnitt eine mit 
lauter Knaben zu erwarten; in weiteren 6 Familien auf 64 würden 5 Knaben 
und 1 Mädchen zu erwarten sein. Durch Zusammentragen solcher Fälle 
kann eine erbliche Anlage zu Geburten eines Geschlechts also nicht nach- 
gewiesen werden. Es muß vielmehr sorgfältig berechnet werden, ob im 
großen Durchschnitt ein Junge wirklich häufiger Brüder als Schwestern hat. 
Eine Berechnung auf Grund eines Materials von fast 40 000 Geburten, die 
Baumann unter meiner Leitung durchgeführt hat, hat keine wesentliche 



608 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



609 



Abweichung von dem durchschnittlichen Geschlechtsverhältnis 106: roo, unter 
den Geschwistern von Knaben ergeben 1 ). Die landläufige Vorstellung von 
Knabenfamilien und Mädchenfamilien ist also irrig. 

Auch die verbreitete Ansicht, daß Zwillingsgeburten in erbbedingter 
familiärer Häufung vorkämen, ist bisher mindestens nicht bewiesen. Die 
Häufigkeit von Zwillingsgeburten bei Schwestern und Müttern von Zwülings- 
müttern, ja. auch die unter weiteren Geburten von Zwillingsmüttern selber, 
ist gegenüber der allgemeinen Häufigkeit von Zwillingsgeburten nur ganz 
wenig erhöht; die Unterschiede sind nicht deutlich größer als die zwischen 
jungen und älteren Müttern, zwischen Stadt und Land und zwischen ver- 




Fig. 199. 
Eine Sippe mit 32 Zwillingspaaren. 

schiedenen Klima ten. Sie können daher wie diese umweltbedingt sein. Ich 
hatte in der vorigen Auflage dieses Buches selbst noch die landläufige An- 
sicht geteilt^ daß es eine erbliche Veranlagung zu Zwillingsgeburten gebe; 
eine kritische Nachprüfung hat mir dann aber gezeigt, daß es keine Belege 
dafür gibt 2 ). 

Lehrreich ist z. B. obige Sippentafel. Der „gesunde Menschenver- 
stand", d. h. ein von Fachkenntnissen nicht beeinflußtes Urteil, meint in 
solchen Fällen, es sei ganz klar, daß die Zwillings anläge erblich sein müsse, 
wenn 32 Zwillingspaare in einer Sippe gefunden werden. Der Autor, der noch 

1 ) Ba umarm, R. Über die Frage einer familiären Häufung von Ge- 
burten desselben Geschlechts. ARGB. Bd. 18. S. 152. 1926. 

2 ) Lenz, F. Zur Frage der Ursachen von Zwillingsgeburten. ARGB. 
Bd. 27. H. 3, S. 285. 1933. 



zahlreiche ähnliche Sippentafeln zusammengestellt hat, hat zu der hier ab- 
gebildeten geschrieben : „Das Vorhandensein eines Erbfaktors auf bei- 
den Seiten ist eindeutig: der Vater ist selbst Zwilling, eine Brudertochter der 
Mutter hat Zwillinge, ein Bruder des Großvaters hat Zwillinge." Wenn 
man indessen in dem Gesamtmaterial die Häufigkeit des Auftretens von Zwil- 
lingsgeburten bei den Schwestern der Zwillingsmütter mit der sonstigen 
Zuillingshäufigkcit des betreffenden Ortes vergleicht, so ergibt sich kein 
Unterschied, der über die Grenzen des Fehlers der kleinen Zahl hinaus- 
ginge. Das Bild der Sippentafel täuscht also eine Häufung vor, der min- 
destens in diesem Grade auch nicht annähernd eine gesetzmäßige sippen- 
maßige Häufung zugrunde liegt. Der Schein einer Häufung ist noch dadurch 
verstärkt worden, daß der Autor aus Gründen der Raumersparnis Zweige 
der Sippen, die ihm unwesentlich erschienen, -weggelassen hat. So sind 
die Zwillinge in den Sippentafcln künstlich angereichert worden. Wenn in 
jedem Falle eine „Belastung" beider Zwillingseltern mit Zwillingsgeburten 
nachgewiesen werden konnte, so folgt daraus keineswegs rezessive Erbbe- 
dmgtheit; denn bei einem so häufigen Ereignis muß die „Belastung" jedes 
Menschen damit nachgewiesen werden können, wenn man nur genügend weit 
nachforscht. Man kann auch in der Verwandtschaft jedes Menschen das 
Vorkommen von Unfällen nachweisen, ohne daß diese darum erbbedingt zu 
sein brauchen, 



& 



a 



9 



c? 



A 7\ s\ /"\ 7\ 7K /\ /\ 7\ 



5 2 cf 2 2 cf 



Fig. 200. 
Angebliche Vererbung der Zwillings schwanger schalt durch den Mann. 



Ein anderer Autor hat obige Sippcntafel veröffentlicht, die die 
Vererbung der Zwillingsschwangerschaft durch den Mann dartun sollte. 
Sie war auf Grund der Angaben der angeblichen Zwillingsmutter aufgestellt 
worden. Offenbar handelt es sich um ein hysterisches Phantasiegcbilde. Spielt 
schon die Schwangerschaft als solche eine große Rolle in den Phantasien 
hysterischer Frauen, so scheint die mehrfache Zwillingsschwangerschaft ein 
ganz besonders wirksames Mittel zu sein, sich interessant zu machen. Ent- 
sprechend sind vermutlich auch einige noch fabelhaftere Fälle aus der älte- 
ren Literatur zu beurteilen, z. B. folgender Bericht: „Eine Mutter und Toch- 
ter, beide epileptisch, hatten je 32 Kinder, die Mutter 6mal Zwillinge, 4mal 
Drillinge, 2 mal Vierlinge, die Tochter mit 40 Jahren 3mal Zwillinge, 6mal 
Drillinge, 2mal Vierlinge und ging mit Mehrungen schwanger." 

Ich bekam einmal ein Manuskript vorgelegt, in dem die Erblichkeit 
der Lebensdauer behandelt war. Der Verfasser hatte in einer Gegend Familien 
gesammelt, deren Mitglieder im Durchschnitt ein hohes Alter erreicht hatten, 
und andere, deren Mitglieder meist früh gestorben waren. Das mag gewiß 



Baiir-Fischcr-Leiia I. 



39 



610 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



zum Teil auf erblichen Unterschieden beruht haben; aber auch wenn die 
Lebensdauer ausschließlich von äußeren Zufällen abhängig wäre, würde 
sich in manchen Familien rein nach der Wahrscheinlichkeit der Zulallshäu- 
fung ein höheres durchschnittliches Lebensalter als in andern finden. Die 
Erbbedingtheit der Lebensdauer kann also auf diese Weise nicht nachge- 
wiesen werden. Eher ist das dadurch möglich, daß man feststellt, ein wie 
hohes Alter im Durchschnitt die Eltern und die Geschwister der Achtzig- 
jährigen, der Siebzigjährigen usw. erreicht haben. Die Korrelation zwischen 
dem erreichten Lebensalter von Eltern und Kindern oder von Geschwistern 
kann indessen zu einem gewissen, wenngleich kleinen Teil durch gemeinsame 
Umwelt bedingt sein. Die beste Methode zur Feststellung der teil weisen 
Erbbedingtheit ist auch hier die Zwiliingsmethode. 

Belastung mit häufigen Krankheiten oder Anomalien läßt 
sich' für jeden Menschen feststellen, wenn man den Kreis 
der Nachforschung entsprechend weit zieht. Das gilt z. B. für 
Psychopathie, die sich bei mehreren Prozenten der Bevölkerung 
findet. Noch stärker erscheint die „Belastung", wenn man 
das Vorkommen der verschiedensten krankhaften Zustände 
als „Belastung" rechnet (z. B. „Belastung" von Polysklero- 
tikera mit Psychopathie, Suicid, Potatorium, Dementia senilis 
und Zyklophrenie I). Verschiedene Anomalien, die in derselben 
Sippe vorkommen, brauchen durchaus nicht durch gemeinsame 
Erbanlagen bedingt zu sein. In manchen Sippen sammeln sich 
vielmehr allerlei erbliche Anomalien und Schwächezustände 
infolge negativer sozialer und gcsclilechthcher Auslese. Das 
neuerdings wieder aufgetauchte Bestreben, ein solches Zusam- 
mentreffen im Sinne einer allgemeinen neuropathischen oder 
gar einer überhaupt allgemeinen krankhaften Belastung auf- 
zufassen, bedeutet einen Rückfall in die unklare Belastungs- 
statistik der vormendelschen Zeit. 

In allen Gärten kommen neben Blumen die verschiedensten 
Unkräuter vor, und zwar mehr oder weniger dieselben Un- 
kräuter. Wenn es nun nicht statthaft wäre, die spezifische Erb- 
bedingtheit der einzelnen Unkrautarten im Züchtungsversuch 
aufzuklären, so könnte ein Gartenpraktiker, der von der gene- 
tischen „Theorie" nichts wissen wollte, auf den Gedanken kom- 
men, alle Unkräuter erwüchsen aus demselben Samen, weil sie 
immer wieder miteinander vorkämen. Am meisten sind jene 
Gärten mit Unkraut belastet, in denen zu wenig gejätet wird. 
Die Belastung der Gärten mit sehr verschiedenem Unkraut be- 
ruht also nicht auf genetischer Einheit des Unkrauts, sondern 
auf besonderen Auslesebedingungen. Vor einem entspre- 
chenden Trugschluß muß der medizinische Erbforschcr sich 
hüten. 



GENEÄ L OGISCHS TA T IST ISCHE METH ODEN. 



611 



Die Trugschlüsse, die von manchen Autoren aus einzelnen 
Sippentafeln mit gehäuften Fällen gezogen worden sind, haben 
andere Autoren gegen das Sammein von Sippentafeln über- 
haupt mißtrauisch gemacht. Das geht nun aber auch wieder 
zu weit. Die Erforschung der Sippen wird immer eine unent- 
behrliche Grundlage der menschlichen Erbforschung bilden. 
Wie schon erwähnt, kann in gewissen Fällen die Erbbedhigt- 
heit eines Merkmals schon durch eine einzige Sippcntafel weit- 
gehend geklärt werden. 

Im übrigen ist es nötig, ein möglichst im aus gelesenes Ma- 
terial über Sippenerfahrungen zu beschaffen. Von allen Trä- 
gern eines Merkmals, z. B. von allen Kranken mit einem be- 
stimmten Leiden, die in die Behandlung eines Arztes oder einer 
Klinik kommen, sind zu diesem Zweck der Reihe nach Erhe- 
bungen über die näheren Blutsverwandten anzustellen. Im Hin- 
blick auf die Erkennung rezessiven Erbgangs ist die Unter- 
suchung der Geschwister besonders wichtig. Seltenere rezes- 
sive Eigenschaften finden sich ja in der Regel nicht bei Eltern 
und Kindern gemeinsam; "wohl aber kommen sie unter Ge- 
schwistern gehäuft vor. 

Der quantitativen Erfassung dieser Häufung unter den Ge- 
schwistern dient die von Weinberg eingeführte Geschwi- 
stermethode 1 ). Eine einfache Auszählung der behafteten 
und der nicht behafteten Geschwister ergibt nämlich falsche 
Werte, und zwar einen zu hohen Hundertsatz behafteter. Wenn 
für jedes Kind eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, mit 
einem Merkmal behaftet zu sein, so sind auch Geschwisterreihen 
ohne Merkmalsträger zu erwarten. Wenn nun auch die Eltern 
frei von dem Merkmal sind, wie das bei rezessiven Anlagen die 
Regel ist, so können diese „leeren" Geschwisterreihen nicht er- 
faßt werden. Aber auch von den übrigen Geschwisterreihen 
haben die mit verhältnismäßig vielen Merkmalsträgern eine 
größere Wahrscheinlichkeit erfaßt zu werden als die mit weni- 
gen. Eine Geschwisterreihe mit mehreren Schwachsinnigen z. B. 
hat größere Aussicht, bei einer Sammelforschung erfaßt zu 
werden als eine mit nur einem Schwachsinnigen. Aus ihr wird 
eben mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Fall zur Beobach- 
tung eines Arztes oder in eine Anstalt kommen und damit den 

: ) W einberg, W. Über Methode und Fehlerquellen der Untersu- 
chung auf Mendelsche Zahlen beim Menschen. ARGB. Bd. 9. 1912. Auslcsc- 
wirkungen bei biologisch-statistischen Problemen. Ebenda Bd. 10. 191 3. Die 
Darstellung Weinbergs ist allerdings recht undurchsichtig. 



612 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



613 



Anlaß zu einer Erhebung über die Sippe geben. Man nennt 
solche Ausgangsfälle der Forschung Probanden. 

Die Geschwistermethode in der allgemeinen Form 
der Probandenmethode beruht auf der Voraussetzung, 
daß für die Geschwister der Probanden dieselben Wahrschein- 
lichkeiten der Kombination der Erbanlagen der Eltern bestan- 
den wie für die Probanden, daß die Geschwister aber einer ein- 
seitigen Auslese im Sinne einer Pläufung der Merkmalsträger 
nicht ausgesetzt seien. Wenn man also das Zahlenverhältnis 
unter den Geschwistern mit Ausschluß der Probanden feststellt, 
so muß man dem wahren Zahlenverhältnis nahe kommen. 
Wenn in einer Familie mehrere Probanden vorhanden sind, 
d. h. wenn mehrere Kranke zur Behandlung kamen, so daß sie 
nicht erst bei der Nachforschung erfaßt werden, so muß auch 
jeder Proband als Geschwister gezählt werden, und zwar sooft, 
als weitere Probanden außer ihm vorhanden sind. Und wenn alle 
Familien mit Trägern des Merkmals in einer Bevölkerung er- 
faßt sind oder wenn ein gleichartig zusammengesetztes Mate- 
rial vorliegt, so ist so zu verfahren, als ob sämtliche kranken 
Individuen Probanden wären. 

Es dürfte angezeigt sein, diese Methode an einem analyti- 
schen Beispiel zu erläutern. Wenn die Wahrscheinlichkeit, daß 
bei gegebener Erbkonstitution der Eltern ein bestimmtes Kind 
erkrankt, 1 / <i ist, so werden beim Vorhandensein von je zwei 
Kindern im Durchschnitt erst in jeder 16. Ehe beide Kinder 
erkranken. Die Verteilung gesunder und kranker Kinder in 

@©@#oooooooooooo 

@OOO@@0OOOOOOOOO 

Fig. 20 1. 

Wahrscheinliche Verteilung von gesunden und kranken Kindern in Zweikinder- 
ehen, wo beide Eltern eine rezessive krankhafte Erbanlage überdeckt enthalten. 

Zweikinderehen ergibt sich' aus der binomischen Formel 
( 1 k -|- 3 g) 2 . = 1 kk -j- 3 kg + 3 gk ~j~ 9 gg. Sie wird also durch 
folgendes Schema dargestellt, in welchem je zwei unterein- 
anderstehende Kreise zwei Kinder einer Ehe bedeuten. 

Das Verhältnis zwischen kranken und gesunden Geschwi- 
stern ist 1 : 3, wie es dem rezessiven Erbgang entspricht. Wenn 
nun aber von der Sammelforschung nur jene Familien erfaßt 
werden, in denen mindestens ein krankes Kind vorhanden ist, 
so entgehen die letzten neun Familien der Erfassung, und man 



erhält das Zahlenverhältnis 8 : 6, was ganz und gar nicht dem 
rezessiven Erbgang entspricht, nach dem doch die Zusammen- 
setzung der Familien konstruiert wurde. Das richtige Zahlen- 
verhältnis dagegen erhält man, wenn man die Zahl der kranken 
Geschwister kranker Kinder in Beziehung zu der Zahl der ge- 
sunden Geschwister kranker Kinder setzt. In der ersten Familie 
hat jedes der beiden Kinder ein krankes Geschwister (das zweite 
ist ein krankes Geschwister des ersten und das erste ein kran- 
kes Geschwister des zweiten). In den übrigen sechs Familien, 
wo kranke Kinder vorkommen, haben diese nur gesunde Ge- 
schwister, nämlich im ganzen sechs. Setzt man zu dieser Zahl 
die der kranken Geschwister kranker Kinder, nämlich zwei, in 
Beziehung, so erhält man das richtige Zahlenverhältnis 2 : 6 
-=1:3, wie es dem rezessiven Erbgang mit der Wahrschein- 
lichkeit 7 4 für jedes Kind entspricht. Ganz Entsprechendes läßt 
sich für Familien mit größerer Kinderzahl zeigen. 

Eine Voraussetzung der Anwendbarkeit dieser Geschwister- 
methode ist, daß entweder in der durchforschten Bevölkerung 
wirklich alle Familien mit Trägern des Merkmals, auf das die 
Forschung sich bezieht, erfaßt sind, oder doch, daß das tat- 
sächlich vorliegende Material eine entsprechende Zusammen- 
setzung hat. Es muß also eine .Summe repräsentativer Familien- 
stichproben, nicht eine Auslese nach Individuen vorliegen. Die 
Geschwistermethode in der geschilderten Form ist ein Grenz- 
fall der Probandenmethode. Auf ein von Merkmalsträgern (Pro- 
banden) aus gewonnenes Material angewandt, würde auch sie 
noch ein zu hohes Zahlenverhältnis geben, wie leicht einzu- 
sehen ist. 

In dem obigen Schema hat die Familie 1 eine doppelt so 
große Wahrscheinlichkeit, in eine Individualauslese hineinzu- 
kommen als jede der 6 folgenden Familien. In einer Individual- 
auslese aus einer entsprechend zusammengesetzten Bevölkerung 
würden also auf eine Familie mit 2 kranken Kindern nur 3 
mit einem kranken kommen (bei der Familienauslese dagegen 
eine auf 6), und daher ergibt bei Individualauslese auch die ge- 
schilderte Geschwistermethode noch zu hohe Werte, in dem ge- 
dachten Beispiel 2:3 (statt 1 13). 

Hier ist die allgemeinere Probandenmethode angezeigt. 
Unter den Geschwistern der Probanden stehen in den Familien 
1 bis 4, die einer „Individualauslese" entsprechen, einem kran- 
ken drei gesunde gegenüber; es ergibt sich also das für rezes- 
sive Anlagen mit einer Wahrscheinlichkeit des Auftretens von 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



615 



V4 bei jedem Kinde typische Verhältnis 1:3. Der Ausdruck 
„Proband" stammt aus der Genealogie und bezeichnete ur- 
sprünglich eine Person, deren Abstammung geprüft werden 
sollte, also die Ausgangsperson einer Nachforschung. Auch Ge- 
schwister von Probanden können Probanden sein, dann näm- 
lich, wenn sie ebenfalls unmittelbar erfaßt werden, z. B. wenn 
sie selbst als Kranke in die Behandlung kamen. Mit fort- 
schreitender Erfassung aller Merkmalsträger in einer Bevölke- 
rung als Probanden geht die Individualauslese in die vollstän- 
dige Erfassung aller Familien über und die Probandenmethode 
in die spezielle Geschwistermethode. 

Man begegnet öfter dem Mißverständnis, als sei die Ge- 
schwistermethode nur zur Prüfung auf rezessiven Erbgang 
brauchbar. Das ist nicht der Fall. Sie ist gerade so gut bei do- 
minantem Erbgange anwendbar, ja auch ohne Rücksicht auf 
Erblichkeitsfragen überall da, wo es sich um die Feststellung 
eines Zahlenverhältnisses unter Geschwistern handelt, z. B. zur 
Entscheidung der Frage, ob in manchen Familien Knaben, in 
andern Mädchen häufiger vorkommen, als der allgemeinen 
Wahrscheinlichkeitsverteilung entspricht (vgl. S. 607). 

Die Geschwistermethode hat eine Zeitlang in der mensch- 
lichen Erbforschung eine beherrschende Rolle gespielt. Dann 
aber hat sich herausgestellt, daß sie erhebliche Mängel hat. 
Ihre Voraussetzung, daß die Geschwister der Probanden einer 
Auslese nicht ausgesetzt seien, trifft nämlich nicht zu, wenig- 
stens nicht genau. Vielmehr wird ein Mitglied einer Geschwi- 
sterreihe mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Behandlung 
eines Arztes oder einer Klinik kommen, wenn schon ein ande- 
res Geschwister erfolgreich behandelt worden ist; und bei un- 
heilbaren Leiden wird andererseits die Tatsache einer erfolg- 
losen Behandlung weitere Geschwister weniger geneigt machen, 
sich in Behandlung zu begeben. Da das Ausmaß einer der- 
artigen positiven oder negativen Auslese nicht genau erfaßt 
werden kann, darf man von der Geschwistermethode auch keine 
genauen Zahlen erwarten. 

Ein weiterer Mangel besteht darin, daß alle Geschwisterreihen mit nur 
einem Merkmals trag er bei der Berechnung ausfallen. Diese pflegen bei 
rezessivem Erbgang gerade in der Mehrzahl zu sein. Dadurch wird der 
Fehler der kleinen Zahl verhältnismäßig hoch. Es ist entschieden ein Schön- 
heitsfehler, daß die Geschwistermethode, die den durch Häufung von Merk- 
malsträgern entstehenden Fehler beseitigen soll, sich gerade auf die Ge- 
schwisterreihen mit gehäuften Merkmalsträgern stützt. Eine Methode zur 
Prüfung auf Verhältniszahlen unter Geschwistern, die diesen Fehler vermei- 



det, dafür jedoch einen andern in Kauf nimmt, hat Bernstein 1 ) angege- 
ben. Bernstein bringt den Anteil der auf Grund der Hypothese rezessi- 
ven Erbgangs zu erwartenden leeren Geschwisterreihen auf der Seite der 
Erwartung in Ansatz und vergleicht damit das talsächlich gefundene Zah- 
lenverhältnis. Geschwisterlose Merkmalsträger beeinflussen auf diese Weise 
das Ergebnis im Sinne der Erwartung, während sie tatsächlich für die Fest- 
stellung eines Zahlenverhältnisses gar nicht verwertbar sind. Man müßte die 
Bernstein sehe Methode also dahin abändern, daß man die einzigen 
Kinder einfach wegläßt. Die Bernsteinsche Methode ergibt meist nur, daß 
das gefundene Verhältnis mit dem bei einfach rezessiver Bedingtheit zu 
erwartenden nicht in Widerspruch stehe und verführt dazu, diesen Erbgang 
dann als erwiesen anzunehmen. Bernstein selbst hat den Schluß gezo- 
gen, alle Erbkrankheiten seien monomer bedingt, was zweifellos übertrieben 
ist. Die Bernstein sehe Methode setzt auch voraus, daß alle Geschwistcr- 
reihen mit gleicher Wahrscheinlichkeit im Material vertreten sind, also ohne 
Abhängigkeit von der Zahl der Mcrkmalsträgcr, eine Voraussetzung, die 
an tatsächlich zur Verfügung stehenden Materialien in der Regel nicht er- 
füllt ist. Eine Methode, die die Mängel der Weinbergschen und der Bcrn- 
steinschen Methode zu vermeiden sucht, habe ich angegeben 2 ). Ich sehe in- 
dessen davon ab, sie hier zu schildern, da auch sie keine genauen Zahlen 
erwarten läßt. Die Unsicherheit ist dadurch bedingt, daß weitere Mcrkmals- 
trägcr einer Geschwisterreihe mit größerer oder geringerer Wahrscheinlich- 
keit zur Beobachtung kommen können als die ersten. Die Weinbergsche Ge- 
schwistermethode habe ich ausführlicher besprochen, weil auf diese Weise die 
Fehlerquellen, zu deren Überwindung sie dienen sollte und die der mensch- 
liche Erbforscher auf alle Fälle kennen muß, besonders deutlich werden. 
Eine , .empirische Prüfung der Geschwistermethode" mittels Drosophila- 
experimenten, auf die ein Autor jahrelang viel Mühe verwandt hat, ist grund- 
sätzlich unmöglich. Der betreffende Autor hat aus Larven einer Drosophila- 
kultur, die ein bestimmtes Zahlenverhältnis erwarten ließ, künstliche Ge- 
schwisterreihen von der Kleinheit menschlicher Geschwisterreihen gebildet 
und durch Auszählung der daraus hervorgehenden Fliegen mittels der Ge- 
schwistermethode dann annähernd dasselbe Zahlenverhältnis erhalten, das 
die ganze Zucht ergab. Er hätte seine Versuche genau so gut mit toten wie 
mit lebenden Fliegen machen können. Es waren also bei Licht besehen 
gar keine biologischen Versuche. Auch ein Beutel mit schwarzen und weißen 
Kugeln hätte dieselben Dienste getan; er hätte daraus blindlings Kugelgrup-' 
pen in der Größe menschlicher Geschwisterreihen herausgreifen und diese 
dann bei Licht nach der Geschwistermethodc auszählen können. Ich könnte 
mir denken, daß das eine nützliche Übung in der Anwendung der Geschwi- 
stermethode für Anfänger sei. Zur Begründung oder Nachprüfung einer erb- 
statisüschen Methode aber ist ein solches Verfahren nicht geeignet. 

x ) Bernstein, F. Variations- und Erblichkeitsstatistik. Lieferung 8 
des Handbuchs der Vererbungswissenschaft, herausgegeben von E. Baur 
und M. Hartmann- Berlin 1929. 

3 ) Lenz, F. Methoden der menschlichen Erblichkeitsforschung. Im 
Handbuch der hygienischen Untersuchungsmethoden. Herausgegeben von E. 
Gotschlich. Jena 1929. 

Die von mir angegebene Methode ist auch dargestellt und an einem 
Beispiel erläutert in dem Buch von Erna Weber, Variations- und Erb- 
lichkeitsslatistik. München 1935. Lehmann. S. 203 ff. 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



GENEÄLOGISCH-S TA TIS TISCHE ME TH ODEN. 



617 



Bei der Feststellung des Zahlenverhältnisses zwischen Trä- 
gern und Nichtträgern eines Merkmals sollte in jedem Falle 
der mittlere Fehler der kleinen Zahl berücksichtigt 
werden. Es ist hier nicht der Ort, die Theorie der Fehlerbe- 
rechnung abzuleiten 1 ). Es scheint mir aber nötig zu sein, we- 
nigstens die Formel des mittleren Fehlers von Prozentzahlen 
anzugeben und seine Berechnung an einem Beispiel zu zeigen. 

Wenn von n Individuen p°/o ein Merkmal aufweisen und die übrigen 



(100 — p)o/o nicht; so ist der mittlere quadratische Fehler = 



p(100-p) 



o/o. 



Oder im Beispiel: Wenn unter einer großen Zahl von Individuen 25% ein 
Merkmal haben, die übrigen 75% nicht, und 300 Individuen wahllos heraus- 
gegriffen werden, so ist zu erwarten, daß das an diesen 300 Individuen fest- 
gestellte Prozentverhältnis mit einem mittleren quadratischen Fehler von 

'. 1 = 2, 5° L behaftet ist. Man rechnet meist mit der Möglichkeit des dreifa- 

300 /0 

chen quadratischen Fehlers und demgemäß in dem angenommenen Fall mit der 
Möglichkeit einer Abweichung von 7,5% von dem. theoretischen Verhältnis. 
Wie die Analyse der Gaußschen Fehlerkurve zeigt, liegen außerhalb der 
Grenzen der dreifachen mittleren quadratischen Abweichung nur noch etwa 
Ya-jo aller Varianten. Es besteht in unserm Fall daher eine Wahrscheinlich- 
keit von ^VäJO' daß das an 300 Fällen gefundene Zahlenverhältnis inner- 
halb der Grenzen 17,5 und 32,50/0 Hege. Würde man das Verhältnis aus der 
Verteilung von 30 000 Fällen berechnen, so würde der mittlere Fehler nur 

noch \ ...win ~~ °' 2 5 /° betragen. Das an 30000 Fällen festgestellte Ver- 
hältnis würde mit der Wahrscheinlichkeit 3e9 / 3 7o innerhalb der Grenzen 24,25 
und 25,75% liegen. Die Vermehrung der Beobachtungen auf das Hundert- 
fache hätte also eine Verminderung des mittleren Fehlers nur auf den zehnten 
Teil zur Folge. Allgemein nimmt der Fehler der- kleinen Zahl mit der Wur- 
zel aus der Zahl der Beobachtungsfälle ab. Man fügt der gefundenen Pro- 
zentzahl gewöhnlich den einfachen mittleren Fehler an, schreibt also im 
Falle des letzten Beispiels 25+ 0,250/0. 

Wenn das wirkliche Zahlenverhältnis 25:75 ist, so beträgt der mittlere 

Fehler bei 12 Fällen \ /-^— — 1,5 Fälle 2 ). Die Grenzen des dreifachen 

Fehlers sind 3 ±4,5 Fälle. Ein rezessives Merkmal, das bei 2 5 0/0 der Ge- 
schwister zu erwarten wäre, kann also in einer Reihe von 12 Geschwistern 



1 ) Zur Einführung in die Fehl erber cclmung sei in erster Linie das Buch 
von Erna Weber empfohlen (s. S. 615), sodann auch 

P 6 I y a , G. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Fehlerausgleichung, Stati- 
stik. In Abderhaldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden Abt, 5, 
Teil 2, H. 7. Berlin u. Wien 1925. 

Zur praktischen Anleitung genügt auch 

Just, G. Praktische Übungen zur Vererbungslehre. 2. Aufl. Berlin 
1935. Springer. 

3 ) 3 und 9 sind die beiden Summanden von 12, die sich wie 1:3 ver- 
halten. 



unter Umständen ganz fehlen und in einer andern Reihe bei 7 Geschwi- 
stern von 12 auftreten. Allerdings wären das seltene Grenzfälle. 

Wenn es sich darum handelt, zu prüfen, ob ein hypothetisches Zahlen- 
verhältnis mit der tatsächlichen Erfahrung übereinstimmt oder nicht, be- 
rechnet man den Fehler von dem hypothetischen und nicht von dem gefun- 
denen Verhältnis aus. Auch das möge an einem groben Beispiel gezeigt 
werden. Wenn die allgemeine Häufigkeit eines Merkmals 10% beträgt, so 
wird man unter 10 Geschwistern am häufigsten eins damit behaftet finden. 
Nicht viel seltener aber wird man gar kein behaftetes unter 10 Geschwistern 
finden. Würde man aus diesem empirischen Verhältnis o: 10 nun den mittle- 
ren Fehler berechnen wollen, so würde man diesen = o finden. Von dem 
hypothetischen Verhältnis 10:100 ausgehend, würde man für 10 Fälle da- 
gegen einen mittleren Fehler von fast 10 0/0 finden, woraus man ohne weite- 
res sehen würde, daß das Verhältnis 0:10 sehr wohl mit der Erwartung 
1:10 vereinbar ist. Diese Überlegung gilt übrigens nicht nur für die Erblich- 
keitsstatistik, sondern überall dort, wo es sich darum handelt, auf Grund 
von statistischem Material unter möglichen Hypothesen zu wählen, und das 
macht den Hauptteil statistischer Forschung aus. 

Oft erhebt sich die Frage, ob die Verschiedenheit zweier Prozent- 
zahlen, die sich aus zwei verschiedenen Beobachtungsr einen ergeben haben, 
eine biologische Verschiedenheit des Materials anzeige oder ob sie einfach 
durch den Fehler der kleinen Zahl bedingt sein könne. Man berechnet in 
solchen Fallen den mittleren quadratischen Fehler der Differenz der Prozent- 
Wahlen. Dieser ist gleich der Wurzel aus der Summe der Quadrate der Fehler 
der beiden Prozentzahlen, also f<i == ]/ f^ _|_ Q. Eine reale Grundlage der 
Dilferenz kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, wenn 
die Differenz der empirischen Zahlen größer als ihr dreifacher Fehler ist. 

Auf weitere Einzelheiten der Fehlerberechnung kann hier 
nicht eingegangen werden. Die hier besprochenen einfachen 
Fälle der Fehlerberechnung' muß der menschliche Erbforscher 
aber beherrschen. 

Kant hat einmal geäußert, in einem Gegenstande sei nur 
soviel echte Wissenschaft enthalten, als Mathematik darin ent- 
halten sei. Er hat mit dieser überspitzten Formulierung offen- 
bar die Wichtigkeit quantitativen Denkens betonen wollen. Lei- 
der haben aber gewisse Erbforscher gemeint, sie müßten ihre 
Arbeiten mit zahlreichen komplizierten Formeln und viele Sei- 
ten langen Entwicklungen von Gleichungen spicken. Sie haben 
mit gehäufter Anwendung des großen Summenzeichens (I>) 
zwar einigen Lesern und vielen Nichtlesern ihrer Arbeiten zu 
imponieren verstanden, zugleich aber viele Leute vom Lesen 
ihrer Arbeiten und, was schlimmer ist, von eigener Forschungs- 
arbeit auf dem Gebiet der Erblehre abgeschreckt. Diesen zum 
Trost sei gesagt, daß die Beherrschung „höherer" Mathematik 
keine Voraussetzung fruchtbarer Arbeit auf dem Gebiet der 
Erbforschung ist. Auch die Korrelationsrechnung ist keine 



618 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



„höhere" Mathematik. Nur elementare Wahrscheinlichkeits- 
rechnung ist nötig. 

Bei rezessivem Erbgang sind unter den Geschwi- 
stern von Merkmalsträgern, deren Eltern das Merkmal nicht 
aufweisen, 250/0 Mcrkmalsträger zu erwarten, unter den Ge- 
schwistern von Merkmalsträgcrn, deren einer Elter ebenfalls 
das Merkmal hat, 500/0. Wenn man bei der Bearbeitung eines 
Materials Zahlen erhält, die innerhalb der Fehlergrenzen mit 
den genannten vereinbar sind, so ist damit rezessiver Erbgang 
indessen noch nicht bewiesen. Auch bei dinier dominanten 
Merkmalen, die im Unterschied von den einfach rezessiven 
nicht auf dem Zusammentreffen zweier gleichartiger alleler, 
sondern zweier verschiedener, nicht alleler Erbeinheiten be- 
ruhen, ist zu erwarten, daß 250/0 der Geschwister Merkmals- 
träger sind. Ähnliche Zahlen können sich auch bei unregel- 
mäßiger Dominanz einer monomeren Erbanlage ergeben. Bei 
dominanten Erbanlagen, die keiner starken Auslese unterwor- 
fen sind, ist der Hundertsatz der Merkmalsträger bei Eltern 
und Kindern ungefähr gleich dem unter den Geschwistern zu 
erwarten; bei rezessiven Merkmalen dagegen ist der Hundert- 
satz unter den Geschwistern wesentlich höher als der bei den 
Eltern und den Kindern der Merkmalsträger. Ein solcher Un- 
terschied spricht also für rezessiven Erbgang. 

Bei rezessiven Erbleiden ist die große Mehrzahl der ent- 
sprechenden Erbanlagen in der Bevölkerung überdeckt, tritt 
also nicht in Erscheinung. Beträgt die Häufigkeit eines rezes- 
siven Erbleidens in einer Bevölkerung z. B. 1:10000, so ist 
unter der Voraussetzung wahlloser Paarung die Häufigkeit der 
zugehörigen Erbanlage 1 :ioo; d. h. von allen alleien Erban- 
lagen sind 1 0/0 Anlagen zu dem betreffenden Leiden. Da jeder 
Mensch zwei Sätze von Erbeinheiten enthält, kommen auf 
100 Individuen rund zwei heterozygote Träger der Erbanlage. 
Ist die Häufigkeit eines rezessiven Erbleidens 1 : 100, so ist die 
der Erbanlage rund 1:10. Ist die Häufigkeit eines rezessiven 
Erbleidens n, so ist die_der entsprechenden Erbanlage unge- 
fähr \/n; und gegen 2 \/n sind heterozygote Träger der Anlage. 
Genau stimmt diese Beziehung nicht, da durch Verwandten- 
ehen die Häufigkeit des homozygoten Zustandes gegenüber dem 
heterozygoten etwas erhöht wird. Bei den Kindern (und ebenso 
bei denEltern) der Erbkranken ist das Leiden mit der 1 Häufig- 
keit V|n zu erwarten (gegenüber einer Häufigkeit von y 4 bei 
den Geschwistern). Alle Kinder (und alle Eltern) der Erbkran- 



GENEALOGISCH-ST ATISTISCHE METHODEN. 



619 



keil haben die Erbanlage ja mindestens einmal; und eine zweite 
wird damit nach Maßgabe der allgemeinen Häufigkeit der An- 
lage V 11 zusammentreffen. 

In einer Publikation, die trotz ihrer Unwissenschaftlichkeit leider Auf- 
nahme in die Annais of Eugen ics gefunden hat, behauptet Dr. Ewald 
Bodewig 1 ) aus Leipzig, „Lenz und überhaupt alle anderen deutschen 
Autoren" vertreten den Satz: „Ist ein Mensch unter 100 Träger eines 
rezessiven Merkmals, so ist jeder 10. Mensch Träger eines solchen Gens." 
Hier liegt ein grobes Mißverständnis vor, das auch schon D a h 1 b c r g 
passiert ist und das ich bereits in einer Fußnote auf S. 434 der vorigen 
Auflage zurückgewiesen habe. Tatsächlich würde die Häufigkeit der 
entsprechenden Erbanlage ungefähr doppelt so häufig sein. Die Publikation 
von Bodewig dient im Grunde nur der Stimmungsmache gegen die Ste- 
rilisierung von Erbkranken im nationalsozialistischen Deutschland, die als 
ein Schlag ins Wasser hingestellt wird. Der Verfasser hat seinen Wohnort 
Inzwischen Ins Ausland verlegt; auf einem Sonderdruck dieser Publikation, 
den ich von ihm erhielt, ist als Anschrift angegeben „Basel, Hauptpostlager." 

Wenn beide Eltern Träger desselben rezessiven Merkmals 
sind, so ist zu erwarten, daß auch alle Kinder das Merkmal auf- 
weisen. Aus anscheinend entgegenstehenden Einzelerfahrungen 
darf aber nicht unbedingt der Schluß gezogen werden, daß es 
sich nicht um rezessive Anlagen handle ; denn es besteht die 
Möglichkeit, daß die Merkmale beider Eltern biologisch nicht 
gleichartig seien. So können z. B. aus der Kreuzung zweier ver- 
schiedener rezessiver weißer Hühnerrassen farbige Nachkom- 
men hervorgehen (vgl. S. 368). 

Das entscheidende Kennzeichen rezessiven 
Erbgangs bei seltenen Merkmalen, also bei den 
meisten Erbleide 11, ist eine erhöhte Häufigkeit 
von Blutsverwandtschaft der Eltern. In dem Ab- 
schnitt über die krankhaften Erbanlagen wurde davon in vielen 
Fällen Gebrauch gemacht. Die durchschnittliche Häufigkeit 
der Verwandtcnchen, mit der die bei den Eltern der Merkmals- 
träger zu vergleichen ist, beträgt in unserer Bevölkerung ge- 
genwärtig rund 1 /^°/o ! vor einem Menschenalter noch rund 1 0/0, 
gerechnet bis zu Vetternehen ersten Grades. Die Häufigkeit 
blutsverwandter Ehen bei den Eltern ist um so größer zu er- 
warten, je seltener das untersuchte Merkmal in der Bevölke- 
rung ist 3 ). Wenn eine bestimmte rezessive Krankheitsanlage 
überhaupt nur in einer einzigen Sippe überdeckt vorhanden 

*) Bodewig, E. Mathematische Betrachtungen zur Rassenhygiene, 
insbesondere zur Sterilisation. Annais of Eugcnics Bd. 5. H. 3/4. S. 339. 

'933- 

2 ) Lenz, F. Die Bedeutung der statistisch ermittelten Belastung mit 
Blutsverwandtschaft der Eltern. Münch. med. Wochenschr. 191g. Nr. 47. 



620 



FRITZ LENZ, METHODEN, 



OENE ALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



621 



wäre, so würden zwei solcher Anlagen ausschließlich nur durch 
Verwandtenehe zusammengeführt und damit offenbar werden 
können; die Merkmalsträger würden in diesem angenommenen 
Grenzfall also zu iooo/o aus blutsverwandten Ehen stammen, 
Wenn dagegen eine rezessive Anlage in einer Bevölkerung sehr 
verbreitet ist, so werden zwei solcher Anlagen oft auch ohne 
Verwandtenelle zusammentreffen, und die Häufigkeit der Ver- 
wandtenehen unter den Eltern der Kranken wird demgemäß 
geringer sein. Bei sehr verbreiteten rezessiven Anlagen wie 
denen zu blauer Augenfarbe wird man daher keine deutlich 
überdurchschnittliche Häufigkeit der Verwandtenehen bei den 
Eltern erwarten dürfen. Wenn man bei den Eltern gewisser 
Kranker auch an großem Material keine überdurchschnittliche 
Häufigkeit von Blutsverwandtschaft nachweisen kann, so 
spricht das entschieden gegen die Bedingtheit des Leidens 
durch rezessive Erbanlagen. 

W ulz 1 ) hat in ländlichen katholischen Gemeinden in Oberbayern unter 
16000 Ehen 0,60/0 nähere Verwandtenehen (bis zu Vctternelien 1. Grades) 
feststellen können, in zwei kleinen Landstädten unter 5000 Ehen 0,20/0. 
Orcl 3 ) hat in der katholischen Bevölkerung Österreichs eine Häufigkeit 
von 0,5 bis 1 o/ gefunden. Während Spindler 3 ) in drei württembergischen 
Dörfern unter 453 Ehen 9 Vetternehen ersten Grades fand {= 1,8 + 0,70/0), 
konnte Reutlinger 4 ) in zwei hohenzollernschcn Kleinstädten unter 117 
jüdischen Ehen nicht weniger als 19 (=16,2+3,40/0) Vetternehen ersten 
Grades nachweisen. In katholischen Gegenden sind Verwandtenehen im allge- 
meinen seltener als in evangelischen, weil nach katholischem Kirchenrecht 
Verwandtenehen nur mit besonderer Genehmigung zulässig sind. Besonders 
häufig sind Verwandtenehen in kleinen Gemeinden einer Konfession, die rings 
von einer Bevölkerung anderer Konfession umgeben sind. In Preußen waren 
nach den standesamtlichen Erhebungen Verwandtenehen 1907 0,450/0, 1908 
0,480/0, 1909 0,440/0, 1910 0,420/0, 191 1 0,420/0, 1912 0,400/0, 1924 0,220/0 
(bis zu Vetternehen ersten Grades). Auch dürften schwerlich alle Fälle von 
den Standesämtern erfragt worden sein. Czellitzer hat auf Grund der 
standesamtlichen Erhebungen in Berlin 1896-—1913 eine Häufigkeit der 
Verwandtenehen von 0,620/0 (bis zu Vetterneben 1. Grades), von Vctternelien 
1. Grades allein 0,570/0 gefunden. Um einigermaßen exakte Vergleiche zu 
erhalten, ist es nötig, stets anzugeben, wie weit der Begriff der Verwandten- 1 
ehe gefaßt ist, was bisher leider meist versäumt wurde. Verwandtenehen 
bei den Großeltern sind für unsere Frage bedeutungslos, was ebenfalls noch 

3 ) Wulz, G. Ein Beitrag zur Statistik der Verwandtenehen. ARGE. 
Bd. 17. H. 1. 1925. 

3 ) Orel, N. Die Verwandtenehen in der Erzdiözese Wien. ARGB. 
Bd. 26. Ii. 3. S. 249. 1932. 

3 ) Spindler. Über die Häufigkeit von Verwandtenehen in drei würt- 
tembergischen Dörfern. ARGB. Bd. 14. H. 1. 1922. 

4 ) Reutlingen Über die Häufigkeit der Verwandtenehen bei den 
Juden in Hohcnzolleni. ARGB. Bd. 14. H. 3. 1923. 



oft übersehen wird. Der Hundertsatz der Verwandtenehen ist gegenwärtig 
im Rückgang begriffen. Zum Teil ist das eine Folge der Zunahme der Bin- 
nenwanderung. Die Geschwisterkinder wachsen nicht mehr so oft benach- 
bart auf wie früher. Hauptsächlich aber ist der Rückgang der Verwandten- 
ehen eine Folge des Geburtenrückgangs 1 ). Wenn auf die Familie im Durch- 
schnitt 4 Kinder kommen, so hat ein junger Mann im Durchschnitt rund 
12 Basen; wenn die Familie im Durchschnitt nur noch 2 Kinder hat, so hat 
er dagegen im Durchschnitt auch nur 2 Basen. Infolge des Geburtenrück- 
gangs der letzten Jahrzehnte werden um 1950 die Vetternehen daher auf 
etwa 0,1 0/0 zurückgegangen sein. 

H anhart a ) hat die systematische Durchforschung von 
Inzuchtgebieten für die Klarstellung des Erbganges rezessiver 
Leiden empfohlen und mit Erfolg in Angriff genommen. 

Wenn man bei den Eltern der Träger gewisser Anomalien 
eine überdurchschnittliche Häufigkeit von Verwandtenehen fin- 
det, so folgt daraus nur, daß rezessive Erbanlagen bei dem Zu- 
standekommen der Anomalie mitwirken. Man muß aber stets 
die Möglichkeit im Auge behalten, daß außerdem auch andere 
Erbanlagen oder auch Umwelteinflüsse ähnliche Bilder bewir- 
ken oder bei der Entfaltung der rezessiven Erbanlagen mit- 
wirken können. Dann wird die Zahl der Mcrkmalsträger unter 
den Geschwistern hinter 250/0 zurückbleiben. 

Tatsächlich ist das sehr oft der Fall. Man hat in solchen Fällen öfter 
voreilig auf die Beteiligung zweier Paare rezessiver Erbanlagen, auf soge- 
nannten doppelt rezessiven oder dimer rezessiven Erb- 
gang geschlossen. Ein solcher ist zwar theoretisch möglich, für mensch- 
liche Erbleiden meines Erachtens bisher aber nicht nachgewiesen wor- 
den. Wenn die eine von zwei derartigen Erbeinheiten in einer Bevölkerung 
allgemein verbreitet wäre, so würde die andere einfach rezessiven Erbgang 
zeigen. Bei seltenen Erbanlagen würden unter den Geschwistern der Kranken 
im Grenzfall nur 6,25% (= ein Sechzehntel) ebenfalls krank zu erwarten 
sein. Bei häufigeren Anlagen wäre dagegen trotz doppelt rezessiver Bedingt- 
heit ein höherer Prozentsatz zu erwarten, der freilich 2 5 0/0 nie ganz errei- 
chen würde. Wenn ein Kranker z. B. die Formel aabb hat, so kann er von 
zwei äußerlich gesunden Eltern von der Formel A a B b abstammen. Er wird 
dann u. a. gesunde Geschwister von der Formel Aabb oder a a B b haben 
können. In diesen Fällen würde der Faktor A als ein HcmmungsEaktor in 
bezug auf die krankhafte Anlage b b "wirken und der Faktor B als Hemmungs- 
faktor in bezug auf a a. Anfänger in der Erbforschimg neigen öfter zu der 
Annahme derartiger ,, Hemmungsfaktoren", ohne daß es aber bisher gelungen 
wäre, solche bei bestimmten Krankheiten wirklich nachzuweisen. 

Für die Erkennung rezessiven Erbgangs kann auch das Zahlenverhält- 
nis zwischen „sporadischen" und ,, familiären" Fällen von Bedeutung sein. 
Bei monomerem rezessiven Erbgang hat ein Kind heterozygoter Eltern die 



1 ) Lenz, F. Die Hauptursache des Rückgangs der Verwandtenehen. 
ARGB. Bd. 2i. H. 3. S. 318. 1929. 

2 ) H a n h a r t , E. Über die Bedeutung der Erforschung von Inzucht s- 
gebieten usw. Schweizerische med. Wochenschr. 1924. Nr. 50. 



622 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



Wahrscheinlichkeit 1 / i , krank, und die Wahrscheinlichkeit 3/-t.. gesund zu 
sein. In einer Geschwisterreihe von n Köpfen kombinieren sich die Wahr- 
scheinlichkeiten also gemäß den Summanden, die das Binom ( l / i k -j- 3 / 4 g) u 
ergibt. Dabei ist die Summe der Wahrscheinlichkeiten gleich. 'i. Will man 
den kleinsten Summandus gleich i haben, also berechnen, auf wieviele Ge- 
schwisterreihen eine kommt, die nur kranke Geschwister aufweist, so muß 
man das Binom (ik-f 3 g) 11 entwickeln. Für Familien mit 4 Kindern er- 
gibt sich z. B. 

1 • 4 k + 12 {3 k + 1 g) + 54 (2 k -f 2 g) + 108 (1 k + 3 g) + 81 - 4 g. 
Auf 256 Familien, wo beide Eltern heterozygot sind, ist also im Durch- 
schnitt eine zu erwarten, in der alle 4 Kinder krank sind, 12 mit 3 Kranken, 
54 mit 2 Kranken, 108 mit einem Kranken und 81 mit keinem Kranken. Auf 
108 ,, sporadische" Fälle würden also 67 „familiäre" zu erwarten sein. Bei 
größeren Kinderzahlen wird die Zahl der sporadischen Fälle relativ kleiner, 
bei kleineren Kinderzahlen großer. Aus dem Überwiegen sporadischer Fälle 
darf also nicht geschlossen werden, daß das Leiden in der Mehrzahl der 
Fälle nicht erbbedingt sei. 

Wenn die Verhältniszahl isolierter Fälle wesentlich die bei rezessivem 
Erbgang zu erwartende übertrifft, so muß man auch an die Beteiligung 
neuer Mutationen denken (vgl. S. 507). Wenn isolierte Fälle nur durch homo- 
zygote Kombination rezessiver Erbanlagen entstehen, so ist zu erwarten, daß 
der Hundertsatz der Verwandteriehen bei den Eltern der isolierten Fälle 
gleich dem bei den familiären ist. Andernfalls müßte er dahinter zurück- 
bleiben. Damit ist eine methodologische Möglichkeit gegeben, Anhaltspunkte 
für die Beteiligung anderer Ursachen (Mutationen, Umweltwirkungen) an 
der Entstehung isolierter Fälle zu gewinnen. 

Für die Erforschung der Erblichkeit aller Zustände, die 
nicht offensichtlich monomer bedingt sind, ist es wichtig, ein 
Bild über ihre Häufigkeit in der Bevölkerung zu ge- 
winnen. Bei rezessiven Anlagen hängt es wesentlich von der 
allgemeinen Häufigkeit des Zustandes ab, wie häufig dieser 
auch bei den Eltern und Kindern von Merkmalsträgern zu er- 
warten ist; und die so aufschlußreiche Häufigkeit der Bluts- 
verwandtschaft der Eltern ist um so größer zu erwarten, je 
seltener die betreffende Anlage ist. Eine zuverlässige Bestim- 
mung der Häufigkeiten krankhafter Zustände wäre freilich erst 
nach Durchführung einer allgemeinen erbbiologischen Bestands- 
aufnahme der Bevölkerung möglich (vgl. S. 600). Immerhin be- 
steht die Möglichkeit, aus vorhandenen medizinalstatistischen 
Unterlagen und eventuell aus Stichproben an Teilbevölkerun- 
gen ein wenigstens annäherndes Bild zu gewinnen. Für die Gei- 
steskrankheiten hat Luxenburger 1 ) eine derartige Erhe- 
bung durchgeführt. Für die Entscheidung, ob ein Leiden rezes- 
siv erbbedingt ist oder nicht, genügt meist die Kenntnis der 
Größenklasse der Häufigkeit, ob 1:10, 1 : 100, 1 : 1000 usw. 

r ) Vgl. S. 533. 



GENE AI OGISCTI-S TA T IST ISCHE ME TH ODEN. 



623 



Wenn die bisher besprochenen einfachen.M.öglic.hkeiten nicht 
ausreichen, die erbliche Bedingtheit eines Leidens oder eines 
sonstigen Merkmals zu erklären, so wird man kompliziertere 
Verhältnisse, d. h. Polymerie vermuten müssen. Eine ge- 
naue Aufklärung polymerer Bedingtheit ist beim Menschen je- 
doch nicht möglich. Schon Fälle dimerer Bedingtheit können 
unüberwindliche Schwierigkeiten machen. Glücklicherweise aber 
dürfen wir annehmen, daß die erblichen Krankheiten und Ano- 
malien, die für die Rassenhygiene praktisch bedeutsam sind, in 
der Regel einem ebenso einfachen Erbgang folgen wie die zahl- 
reichen krankhaften Erbanlagen, die man von der experimen- 
tellen Forschung an der Obstfliege und am Löwenmaul kennt 
und die man fast alle als einfach dominant oder rezessiv oder 
als geschlechtsgebunden hat einreihen können. 

Auch wenn die genaue Aufklärung polymerer Bedingt- 
heiten möglich wäre, würde übrigens praktisch nicht viel da- 
mit gewonnen sein. Je polymerer eine erbliche Eigenschaft ist, 
desto geringere praktische Bedeutung hat die einzelne dabei 
beteiligte Erbanlage, desto häufiger müssen auch (bei gleicher 
Häufigkeit der Eigenschaft) die einzelnen bei ihrem Zustande- 
kommen mitwirkenden Erbeinheiten in der Bevölkerung sein. 
Und wenn die verschiedenen beteiligten Erbeinheiten verschie- 
den häufig sind, so sind die selteneren die praktisch wich- 
tigeren. Wenn z. B. ein krankhafter Zustand durch mehrere 
Erbeinheiten bedingt ist, von denen nur eine selten ist, so ist 
gerade diese als die eigentlich krankhafte anzusehen. Entspre- 
chendes gilt auch hinsichtlich der relativen Bedeutung von Erb- 
anlage und Umwelteinfluß. Wenn eine verbreitete Erbanlage 
nur verhältnismäßig selten durch eine bestimmte Umweltwir- 
kung zur Äußerung gebracht wird, so ist die Umweltwirkung 
praktisch wichtiger als die Erbanlage. Wenn dagegen die aus- 
lösende Umweltwirkung sehr verbreitet, die Erbanlage aber 
selten ist, so ist diese die praktisch wichtigere Ursache. 

Wenn ein Erbleiden wie die Schizophrenie, dem gegen 1 °/o 
aller Geborenen verfallen, in höherem Grade polymer wäre, so 
müßten die beteiligten Erbeinheiten geradezu unheimlich häu- 
fig sein. Schon bei monomerer rezessiver Bedingtheit wäre die 
Häufigkeit der rezessiven Erbanlage rund 10 0/0 und die ihrer 
Träger gegen 200/0. Bei Dimerie wären die entsprechenden 
Zahlen bereits rund 320/0 und 93%; nur 70/0 der Bevölkerung 
würden frei von solchen Erbanlagen sein, bei Trimerie schon 
fast niemand mehr. 



624 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



Auch Fälle multipler All eile werden beim Menschen 
in der Regel nicht aufgeklärt werden können, obwohl sie sicher 
zahlreich vorkommen. Eine Ausnahme bildet die durchBern- 
stein 1 ) aufgeklarte Erbbedingtheit der sogenannten Blut- 
gruppen bzw. der Isohaemagglutinine (vgl. S.236). Die vier 
vorkommenden Blutgruppen sind durch drei allele Gene bzw. 
ihre Kombination bedingt. Daß diese Gene einander allel sind, 
folgt daraus, daß ein Mensch, der zwei von diesen Genen in 
seiner Erbmasse enthält, niemals zugleich das dritte hat. Aus 
einer Ehe AB X 00 gehen stets nur .Kinder AO und BO hervor, 
niemals aber AB oder OO. Auch das Verhältnis der Häufig- 
keiten der verschiedenen Blutgruppen in einer Bevölkerung ist 
so, wie es der Hypothese der Allelie entspricht, nicht aber so, 
wie es bei Unabhängigkeit oder Koppelung der Gene zu erwar- 
ten wäre. 

Von menschlichen Erbkrankheiten und Anomalien, die sich 
auf dasselbe Organ beziehen, kann man in gewissen Fällen 
zwar vermuten, daß sie im Verhältnis multipler Allelie stehen; 
aber ein Nachweis in der Art des für die Blutgruppen geführ- 
ten ist nicht möglich, da die betreffenden krankhaften Erb- 
anlagen nur selten oder gar nicht in einem Menschen ver- 
einigt vorkommen. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß es 
von zahlreichen menschlichen Anomalien desselben Organs ge- 
schlechtsgebundene Formen neben nicht geschlechtsgebunde- 
nen gibt. Hier liegt also sicher keine Allelie vor. 

Auch K o p p e lu 11g von Erbeinheiten wird beim Menschen 
in der Regel nicht nachzuweisen sein, obwohl man in Analogie 
zu den Erfahrungen an Tieren und Pflanzen schließen darf, 
daß sie auch beim Menschen vorkommt. Seit die Erforschung 
der Koppelung von Erbeinheiten sich in der experimentellen 
Erblehre so fruchtbar erwiesen hat, haben zahlreiche medizi- 
nische Schriftsteller gemeint, es müsse damit auch etwas in der 
menschlichen Erblehre zu machen sein. Die allermeisten haben 
dabei die Begriffe Koppelung und Korrelation durcheinander- 
gebracht, besonders unklar z. B. Julius Bauer. Sie haben da- 
bei übersehen, daß eine Erbeinheit, die mit einer andern in 
einem Koppelungs Verhältnis steht, zugleich mit jeder Erbein- 
heit, die dieser allel ist, in demselben Grade gekoppelt ist. Eine 
Erbeinheit, die mit der rezessiven Erbanlage für allgemeinen 



J-) Bernstein, F. Zusammenfassende Betrachtungen über die erbli- 
chen Blutstrukturen des Menschen. Zeitschrift f. induktive Abstammungs- 
und Vererbungslehre. Bd. 37. S. 237. 1925. 



GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN. 



625 



Albinismus gekoppelt wäre, müßte z. ß. auch mit der allelen 
dominanten Anlage für Pigmentierung gekoppelt sein. In einer 
gemischten Population hat Koppelung von Erbeinheiten daher 
keine Korrelation von Eigenschaften zur Folge, sondern nur 
innerhalb derselben Geschwisterreihe. Hier scheitert aber der 
Nachweis an der kleinen Zahl. Bei der Obstfliege Drosophila, 
wo man Hunderte von Geschwistern aufziehen kann, ist der 
Nachweis von Koppelungen leicht, beim Menschen praktisch 
unmöglich'. 

Übrigens ist Koppelung von Erbeinheiten beim Menschen auch viel 
seltener als bei Drosophila zu erwarten. Da bei Drosophila nur vier Chromo- 
somenpaare vorhanden sind, ist in grober Annäherung zu erwarten, daß eine 
bestimmte Erbeinheit etwa mit jeder vierten andern in irgendeinem Koppe- 
lungsverhältnis steht. Beim Menschen aber, der 24 Chromosomenpaare hat, 
wird eine Erbeinheit rund nur mit jeder 24. anderen gekoppelt sein. Nur 
von den geschlechtsgebundenen Erbanlagen darf man annehmen, daß sie alle 
untereinander gekoppelt sind, da sie alle im gleichen Chromosom liegen; 
doch ist auch diese Koppelung vermutlich keine absolute, sondern nur eine 
relative 1 ). 

Gewisse Autoren neigen dazu, sich besonders mit dem von Gold- 
schmidt so genannten „höheren" Mendelismus beim Menschen zu be- 
schäftigen. Darunter sind Möglichkeiten erblicher Bedingtheit verslanden, 
die über die einfachen Mendelschen Spaltungen, d. h. über Monomerie, 
hinausgehen. Der ärztliche Erbforscher sollte es sich zum Grundsatz machen, 
an komplizierte Möglichkeiten erst dann zu denken, wenn mit den einfachen 
wirklich nicht auszukommen ist. Gerade Anfänger nehmen viel zu oft Koppe- 
lung, multiple Allelie und anderen „höheren" Mendelismus an. Auch Just' 2 ). 
der diesen Dingen eine ausführliche kritische Darstellung gewidmet hat, 
kommt zu dem Schluß: „Es handelt sich eigentlich mehr um' eine speziali- 
sierte Einkleidung unseres Nichtwissens." Der medizinische Erbforscher muß 
sich damit abfinden, daß es nicht gelingt, alle klinischen Bilder genetisch 
eindeutig zu analysieren. 

Auch eine isolierte Verfolgung der beteiligten pathogenen 
Erbeinheiten ist in vielen Gruppen von Krankheiten wenigstens 
einstweilen nicht möglich, leider auch gerade in so wichtigen 
Gruppen wie der des Schwachsinns und der Schizophrenie. In 
solchen Fällen ist die Feststellung der durchschnittlichen Häu- 
figkeit von Trägern bestimmter Merkmale unter den Blutsver- 
wandten fruchtbarer als der Versuch einer Genanalyse des 
heterogenen Materials. Es ist die Frage zu stellen : ein wie 
hoher Hunclertsatz der Geschwister, der Eltern, der Kinder 
von Merkmalsträgern sind ebenfalls Merkmalsträger, und wie 

1 ) Lenz, F. Koppelung mit dem Geschlecht oder Lokalisation im 
Geschlechtschromosom ? Zeitschr. f induktive Abstammungslehre. Bd. 28. 
S. 243. 1922. 

a ) J u s t , G. Faktorenkoppelung, Faklorcnaustausch und Chromoso- 
menaberrationen beim Menschen. Ergebnisse d. Biologie. Bd. 1.0. S. 566. 1934. 



B a u r - V i s c Ii e r - 1, e n 7, I. 



40 



626 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



sind diese Blutsverwandten sonst beschaffen ? Ein wie großer 
Teil der Merkmalsträger stammt von ebensolchen Eltern ab ? 
Wie ändern sich die Zahlen Verhältnisse bei den Nachkommen, 
wenn beide Eltern, nur einer von beiden, keiner von beiden 
Merkmalsträger ist? Haecker und Ziehen 1 ) haben diese 
Methode der Prozentberechnung mit gutem Erfolge z. B. bei 
der Erforschung der Erblichkeit der musikalischen Begabung 
anwenden können. Sie haben die Eltern in verschiedene Grup- 
pen geteilt, je nachdem beide Eltern ausgesprochen musika- 
lisch, ausgesprochen unmusikalisch oder verschieden veranlagt 
waren; in letzterer Gruppe wurden wieder die Ehen mit musi- 
kalischem Vater und die mit musikalischer Mutter gesondert 
behandelt, was mit Rücksicht auf mögliche Geschlechtsabhän- 
gigkeit von Bedeutung ist. 

Auch Rüdin und seine Mitarbeiter 2 ) haben in den letzten 
Jahren ihre Arbeit hauptsächlich auf die Gewinnung von Pro- 
zentzahlen bei den Kindern, Geschwistern usw. der Erbkranken 
eingestellt. Daß eine derart gewonnene „Erbprognose" eigent- 
lich nur für den großen Durchschnitt und nicht für den Einzel- 
fall gilt, ist ein in der Natur der Sache begründeter Mangel, in 
Fällen, wo ein genetisch einheitliches Leiden von bekanntem 
Erbgang wie etwa die Huntingtonsche Chorea vorliegt, ist die 
Voraussage zwar wesentlich sicherer, aber auch da kann sie nur 
in Form einer Wahrscheinlichkeit (in diesem Falle 1:2) für 
jedes Kind, nicht für ein bestimmtes Kind gegeben werden. 

Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, sei aus- 
drücklich betont, daß die p r a k t i s c h - ä r z 1 1 i c h e Erb- 
forschung in mancher Hinsicht anders vorgehen kann und 
muß als die wissenschaftliche. Bei dieser handelt es sich um die 
Gewinnung naturwissenschaftlicher, d. h. allgemeiner Satze, bei 
jener dagegen um die Beurteilung von Einzelfällen. Wenn der 
wissenschaftliche Erbforschcr z. B. die Erbbedingtheit der 
Schizophrenie oder der Zyklophrenie klären will, so darf er bei 
der Beurteilung nichts voraussetzen; er darf z. B. nicht von 
vornherein zwischen „hereditären" und „isolierten" Fällen unter- 
scheiden. Er muß vielmehr einfach die Häufung des Leidens 
und möglicherweise verwandter Zustände unter den Geschwi- 
stern und sonstigen Verwandten der Kranken feststellen, ins- 



J ) Hacek er, V. und Ziehen, Th. Zur Vererbung und Entwick- 
lung der musikalischen Begabung. Leipzig 1923. J. A. Barth. 

2 ) Vgl. z. B. Luxen burger, H. Die Ergebnisse der Erbprognose 
in den vier wichtigsten Erbkr eisen. Zeitschrift für psychische Hygiene. 1933. 



DIE KORRELÄTIONSRECHNUNG. 



627 



besondere auch die Häufigkeit der Blutsverwandtschaft unter 
den Eltern der Kranken. Aus den Erfahrungen an großem 
Material muß er dann seine allgemeinen Schlüsse ziehen. Der 
Erbarzt dagegen kann die Ergebnisse der wissenschaftlichen 
Erbforschung bei seiner praktischen Tätigkeit voraussetzen. Er 
kann z.B. bei einem Fall von 'Schizophrenie oder von Zyklo- 
phrenie auch ohne Familienforschung begutachten, daß ein Erb- 
leiden vorliegt. Bei Leiden, von. denen die wissenschaftliche For- 
schung gezeigt hat, daß sie außer durch krankhafte Erban- 
lagen auch durch äußere Ursachen bedingt sein können, ist die 
Frage der Erbbedingtheit im Einzelfall oft überhaupt 
nicht zu entscheiden. Wohl wissen wir z. B. vom Schwachsinn, 
daß er in den allermeisten Fällen erbbedingt ist; im Einzel- 
fall ist aber eine sichere Entscheidung meist nicht möglich. 
„Belastung" beweist im Einzelfall nicht Erblichkeit, da auch 
umweltbedingte Schäden zufällig hi einer Sippe mehr als ein- 
mal vorkommen können; und Fehlen von „Belastung" schließt 
im Einzelfall Erblichkeit nicht aus, da rezessive Erbleiden oft 
isoliert auftreten. Auch die Feststellung eines äußeren Scha- 
dens wie etwa einer angeborenen Syphilis schließt die Erbbe- 
dingtheit eines Schwachsinnsfalles nicht sicher aus, da auch 
ein erblich schwachsinniges Kind syphilitisch sein kann. In 
solchen Fällen kann der Erbarzt Urteile über die Erbbedingt- 
heit also nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlich- 
keit abgeben; und für die meisten praktischen Zwecke genü- 
gen solche Wahr scheinlichkeitsur teile glücklicherweise auch. 



Ein wichtiges Hilfsmittel der menschlichen Erbforschung 
ist die K o r r c 1 a t i o n s r e c h 11 u 11 g. Zwei Merkmale stehen in 
Korrelation, wenn sie häufiger zusammen vorkommen, 
als nach ihren einzelnen Häufigkeiten zu erwarten wäre 1 ). 
Wenn zwei Merkmale immer nur zusammen vorkommen, so ist 
ihre Korrelation vollständig (==-|-i); wenn sie dagegen selte- 
ner zusammen vorkommen,' als nach den einzelnen Häufig- 
keiten zu erwarten wäre, so ist die Korrelation negativ; im 
äußersten Fall, wenn beide Merkmale sich gegenseitig aus- 
schließen, ist sie = — 1. Null ist die Korrelation, wenn das Zu- 
sammentreffen nicht häufiger und nicht seltener ist, als nach 
den einzelnen Häufigkeiten zu erwarten ist, wenn aiso das 

1 ) Der Korrelationsbegriff kann ebenso gut auf Reihen von mehr als 
zwei Gliedern angewandt werden. Davon wird weiter unter noch die Rede sein. 



FR/TZ LENZ, METHODEN. 

Zusammentreffen gerade gleich dem Produkt der einzelnen 
Häufigkeiten (oder was dasselbe ist, der einzelnen Wahrschein- 
lichkeiten) ist. Die Korrelation ist also ein TViaß, welches an- 
gibt, um wieviel die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens 
zweier Ereignisse von dem Produkt der einzelnen Wahrschein- 
lichkeiten abweicht. 

Wenn zwei erbliche Merkmale in einer menschlichen Be- 
völkerung in Korrelation stehen, so kommt das in der Regel 
daher, daß sie ganz oder teilweise durch eine und dieselbe Erb- 
anlage bedingt sind. Man hat diese Erscheinung auch als Poly- 
phaenie bezeichnet. Koppelung von Erbeinheiten bedingt in 
menschlichen Bevölkerungen keine Korrelation, wie schon 
oben ausgeführt wurde. Eine gewisse Korrelation erblicher 
Merkmale kann aber auch durch gemeinsame (soziale oder 
geschlechtliche) Auslese zweier oder mehrerer Erbanlagen ent- 
stehen. Nichterbliche Merkmale können als Folgen gemein- 
samer Umweltwirkungen in Korrelation stehen. 

Die Berechnung der Korrelation wird am besten an einem 
Beispiel gezeigt, zunächst für den Grenzfall von zwei Merk- 
malen, deren jedes entweder vorhanden sein oder fehlen kann. 
In einem Material v. Pfaundlers litten unter 34555 Kindern 
764 an Kropf, 87 an Kretinismus und 80 an beiden Zuständen 
zugleich. Danach kann man folgende Korrelationstafel auf- 
stellen: 



Kretinismus 



Kropf 



80 



nicht 
Kretinismus 



68+ 



33784- 



nicht Kropf I 7 

Der Korrelationsko effizient (nach Bravais und Fear- 
son) ist für den Fall alternativer Merkmale 

a d— b c 



V (a+bMc+d) (a+c) (b+d) 
wobei die Buchstaben folgendermaßen die Zahlen der Kor- 
relationstafel vertreten : 

a | _b_ 
" c | d 

a bezeichnet also die Zahl der Kinder mit beiden Zustän- 
den (80), b die Zahl der Kinder mit Kropf ohne Kretinismus 
(684), c die Zahl der Kinder mit Kretinismus ohne Kropf (7), 
d die Zahl der Kinder ohne Kropf und ohne Kretinismus 



DIE KORRELATIONSRECHNUNG. 



629 



(33784). Die gesamte Summe der Kinder ist a -|- b -\- c -]- d = 
34555, die der Kinder mit Kropf a-|-b = 764, die der Kinder 
mit Kretinismus a-j- c = 87, die der kropffreien c-|-d — 33791, 
die der kretinismusfreien b -|- d = 34 
koeffizient ist also in diesem Falle 

80 ■ 33704 — 684-7 



Der Korrelations - 



3,31 



V 764-33791 - 87 "34468 

Als mittlerer Fehler der kleinen Zahl gilt beim Korrela- 

1 __ r 2 

Die Berechnung ergibt 



tionskoeffizienten der Wert 



V" 



0,005. Die Korrelation zwischen Kropf und Kretinismus ist also 
r = -j-o,3i 7h 0,005. D er Pcarsonsche Koeffizient ergibt in die- 
sem Falle also keine sehr starke Korrelation, obwohl die Bezie- 
hung zwischen Kretinismus und Kropf so stark ist, daß von 87 
kretinischen Kindern nur 7 keinen Kropf haben. 

Einen viel höheren Wert ergibt der von Yule angegebene Assozia- 
tionskoeffizient ass = "",,, ' , nämlich 0,98. Dieser hat aber eine Schwäche , - 
ad-j-hc 

er gibt nämlich, wenn eine der Gruppen b oder c nicht vertreten ist, immer 
-j- 1 und entsprechend bei Fehlen einer der andern Gruppen a und d immer 
— 1. Es dürfte aber einleuchten, daß 2. B. die Korrelation zwischen Kropf 
und Kretinismus auch dann nicht eine vollständige zu sein brauchte, wenn 
keine Fälle von Kretinismus ohne Kropf gefunden würden; denn dann würde 
es immer noch sehr zahlreiche Fälle von Kropf ohne Kretinismus geben; 
und erst, wenn auch diese Gruppe nicht vertreten wäre, würde die Korrela- 
tion wirklich vollständig sein. 

Ein „Korrelationsindex", den ich angegeben habe, hat leider, wie ich 
mich überzeugt habe, einen größeren Fehler der kleinen Zahl als der Korre- 
lalionskocffizient, d. h. er wird mit steigender Zahl der Beobachtungen 
langsamer konstant als dieser. Trotz gewisser anderer Vorzüge des Korrcla- 
tionsindex habe ich ihn daher wieder aufgegeben. 

Die Korrelationsrechnung ist in der deutschen Wissenschaft viel weni- 
ger gebräuchlich als in der englischen und amerikanischen. Verschiedene 
deutsche Forscher sind daher unabhängig auf den Begriff der Korrelation 
gekommen und haben ihn zum Teil, mit .andern Namen belegt. So hat 
Kretschmer 1 ) die „statistische Tatsache der vergleichsweisen größeren 
Häufigkeit des Zusammentreffens von Syndromen" als „Affinität" bezeich- 
net. Wie man sieht, ist „Affinität" hier gleichbedeutend mit Korrelation ge- 
hraucht. 

v. Pfaundler 2 ) hat „die Häufigkeit des Zusammentreffens zweier 
oder mehrerer Krankheitszustände" „Syntropie" genannt und als Maßzahl 



x ) Kretschmer, E. Der Körperbau der Gesunden und der Begriff 
der Affinität. Zeitschrift für Neurologie. Bd. 107. H, 5. S. 749. 1927. 

2 ) v. Pfaundler, M. und v. Seht, L. Über Syntropie von Krank- 
heitszuständen. Zeitschrift für Kinderheilkunde. Bd. 30. H. 1/2. S. 100. 1921. 



630 



FRITZ LENZ, METHODEN, 



der Syntropie einen „syntropischcn Index" angegeben, der von einigen me- 
dizinischen Forschern in Gebrauch genommen worden ist. Wenn unter N 
Individuen n a ein Merkmal A, iib Individuen ein Merkmal B und n a b Indi- 
viduen beide Merkmale aulweisen, so soll die ,, Syntropie" s= — - — sein. 

1 n a nb 

Dieser „syn tropische Index" hat den Fehler, daß er nicht nur von der 
Häufigkeit des Zusammentreffens der Merkmale sondern auch von der Häu- 
figkeit der einzelnen Merkmale abhängig ist; er wird nämlich mit steigender 
Häufigkeit der Merkmale kleiner. Wenn man z. B. für die ,, Syntropie" 
zweier seltener Merkmale A und B einen bestimmten Wert findet, so er- 
hält man für die ,, Syntropie" der beiden entgegengesetzten Merkmale 
Nicht-A und Nicht-B einen ganz andern und zwar viel kleineren Wert. Es 
Hegt aber auf der Hand, daß z. B. die Verteilung von Kropf und Kretinis- 
mus durch dieselben Ursachen bewirkt wird wie die von Nicht-Kropf und 
Nicht-Kretinismus. Demgemäß ergibt die Korrelationsrechnung hier nur 
einen Wert, indem die Häufigkeiten der vier Kombinationen zusammen 
erst den Korrelationskocffizienten bestimmen. Ein mein* äußerer Mangel 
des ..syntropischen Index" besteht darin, daß er keine festen Grenzen hat; 
er kann ein echter Bruch und eine positive Zahl sein, die bei seltenen Merk- 
malen ins Unbegrenzte gehen kann. 

Der Korrelationskoeffizient ist vielfach auch als Maß der 
Erblichkeit als solcher angesehen worden, besonders von der 
sogenannten biometrischen Schule Pearsons. Man erfaßt auf 
diese Weise die durchschnittliche Ähnlichkeit von Verwandten 
bestimmten Grades, z. B. von Eltern und Kindern oder von 
Geschwistern untereinander. Die Anwendung der Korrelations- 
rechnung dabei möge an einem theoretisch konstruierten Bei- 
spiel erläutert werden. 

Angenommen, ein Merkmal finde sich bei r o/o der Bevölkerung; von 
10 ooo untersuchten Vätern mögen es also 100 aufweisen und von den 100 
ersten Kindern dieser ioo Väter 10; im übrigen sei das Merkmal auch in der 
kindlichen Generation mit der Häufigkeit 1:100 vertreten, im ganzen also 
bei ioo der ersten Kinder aller 10 ooo Väter. Dann ergibt sich folgende 
Korrelationstafel über die Familiengruppen in bezug auf das Merkmal: 



Kind + 



Kind 



Vater -f 



Vater — 



10 
90 



90 



9810 



Als Korrelationskoeffizient ergibt sich -\- 0,09, also scheinbar eine 
schwache „Erblichkeit" des Merkmals. Und doch kann dieses vollständig 
erbbedingt und von Umwelteinflüssen praktisch unabhängig sein. In genau 
dem gleichen Verhältnis wie in der Korrclationstafel angegeben, würde sich 
nämlich ein einfach rezessives Merkmal, das in der Bevölkerung mit der 
Häufigkeit 1:100 vorkäme, bei den Kindern von Merkmalsträgern wieder- 
finden (vgl. S. 618). Wir sehen daraus, daß die .Korrelationsrechnimg ein 
recht mangelhaftes Maß der Erblichkeit ist. 



DIE KORRELATIONSRECHNUNG. 



631 



Freilich, eine Andeutung der Erblichkeit kann man immerhin in ihm 
finden. Wenn gar keine Erblichkeit bestände, wenn mit andern Worten das 
Merkmal bei Vätern und Kindern rein zufällig zusammentreffen würde, so 
würde sich die Verteilung folgendermaßen gestalten; 



Kind + 



Vater -j- 



1 



Vater 



99 



Kind 



99 



9801 



Die Korrelation ist dann = o. Wenn sich wirkliche Erblichkeit auch 
oft in der Korrelation andeutet, so muß man doch immer im Auge behal- 
ten, daß es sich um eine Gleichung mit mehreren Unbekannten handelt. 
Außer der Umwelt hat auch die Art des Erbganges und die Häufigkeit eines 
Merkmals Einfluß auf die Korrelation. Nehmen wir einmal an, ein rezessives 
Merkmal sei bei einem Viertel der Bevölkerung vorhanden. Dann würde es, 
wie leicht zu berechnen ist, bei der Hälfte von Nachkommen der Merkmals- 
träger zu erwarten sein. Es würde sich unter 10 000 Familiengruppen fol- 
gende Verteilung finden: 





Kind -f 


Kind — 


Vater + 


1250 


1250 


Vater —..,.... 


1250 


6250 



Als Korrelation findet man nunmehr 0,33 (genau 1 / 3 ), also einen viel 
höheren Wert, als wenn das Merkmal seltener wäre — obwohl der Erbgang 
gleichgeblieben ist. 

Die Korrelationsrechnung wird in der Erbforschung be- 
sonders bei Merkmalen angewandt, hinsichtlich derer eine Son- 
derung der Individuen in scharf geschiedene Gruppen nicht ge- 
troffen werden kann, wo sich vielmehr nur quantitative Unter- 
schiede mit allerlei stetigen Übergängen finden, wie das bei 
normalen Eigenschaften (im Unterschied von den krankhaften) 
die Regel ist. 

Wie sich in solchen Fällen die Korrelationsrechnung ge- 
staltet, möge am Beispiel der Körperlänge gezeigt werden. Hier 
kann man nur künstliche Gruppen bilden, indem man z. B. alle 
Individuen, deren Länge die gleiche Zahl ganzer Zentimeter 
beträgt, zu einer Gruppe zusammenfaßt; oder wenn dieser 
Spielraum sich praktisch als zu klein erweisen sollte, läßt man 
die Gruppen je 2 cm umfassen, oder je 5 cm, oder wie es sonst 
dem Material angemessen ist. Wenn man Eltern und Kinder 
vergleichen will, so stellt man weiter fest, wie sich die Körper- 
längen der Kinder der verschiedenen Elterngruppen verteilen. 
Man kann die Befunde dann in Form einer Korrelations tafel 
(vgl. S. 633) anordnen. 



632 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



Die Ziffern in der Korrelationstafel geben die Zahlen der 
Kinder an, deren Körperlänge mit einer bestimmten Körper- 
länge der Eltern zusammentrifft. (In den äußersten Feldern 
sind die Mittelwerte nicht ganz genau, da eigentlich einzelne 
Varianten noch darüber hinausgingen; ein wesentlicher Fehler 
entsteht aber wegen der geringen Zahl dieser Fälle daraus 
nicht.) Die Untersuchung erstreckte sich auf 928 Kinder. Die 
Körperlänge der Frauen wird in solchen Fällen nach dem 
durchschnittlichen Verhältnis in männliche Körperlänge umge- 
rechnet ; aus der Körperlänge beider Eltern wird dann das 
Mittel genommen. Wenn man nur die Korrelation zwischen 



72 



71 



70 



69 



67 



66 





















s 






















1. 


y\ 


















V 


/ 


















S^ 


















y 


S 
















\f^~ 


^ 
/ 
















/ 


X 

/ 


y 
















V, 


SS 


















| 



o> 65 66 6? 



69 70 71 78 73 



Fig. 202. 

Die Regression der Körperlänge der Kinder gegen 
die der Eltern (nach Gallons Material). 



Vätern und Söhnen oder die zwischen Vätern und Töchtern 
usw. prüfen will, so bedarf es solcher Umrechnungen natür- 
lich nicht. 

Man kann aus der angeführten Korrelationstafel schon 
erkennen, daß mit der Körperlänge der Eltern im Durchschnitt 
auch die der Kinder steigt, daß also eine positive Korrelation 
zwischen beiden besteht. Wenn vollständige Korrelation (—+0 
bestände, so würden sich alle Zahlen in die Diagonale von links 
oben nach rechts unten zusammendrängen, bei vollständiger 
negativer Korrelation in die Diagonale von rechts oben nach 
links unten. 



DIE KORRELATIONSRECHNUNG. 



633 



Der von Pearson in die Erbforschung eingeführte B ra- 
vaische Korrelationskoeffizicnt wird am einfachsten von der 
sogenannten Regression her verständlich. In dem ange- 
führten Material über die Körperlänge weichen die Kinder 
nicht ebenso stark vom Mittel ab wie ihre Eltern, sondern nur 
etwa zwei Drittel so stark; ihre „Regression" gegen die 
Eltern beträgt 0,68. 





Körperlänge der Eltern (X-Rcihe) 
63,5 64,5 65,5 66,5 67,5 68,5 69,5 70,5 


71,5 


72,5 73.5 


N u 

■d 


d 
ja +j a 


, £ 

all 


61,2 


1 


1 
1 


1 






1 


1 1 




t 


5 


66,4 




62,2 




3 


3 












7 


66,6 




-. 63,2 


2 
4 


4 


9 


3 


5 


7 
11 
16 


1 
16 

4 
17 
27 


1 






32 


66,3 




% 64,2 
>< 65,2 


4 | 5 


5 


14 
15 










59 


67,8 




1 

2 


1 S 7 


2 


1 
1 

3 
12 


1 

3 
4 
3 






48 


67,9 




u 66,2 


5 


11 


17 


36 


25 




117 


67,7 




| 67,2 


2 


5 


1! 
7 


17 
14 
13 

4 


38 
28 
38 


31 






138 


67,9 


68,303 


% 68,2 


1 
1 




34 


20 


1 
2 


1 
3 


1 20 1 68,3 




& 69 > 2 


2 


7 


48 


33 


18 


5 


1 67 | 69,5 




£ 70,2 

1- 






5 


19 

11 

4 


21 


25 


14 


10 


1 


99 
64 


69,0 




e- 71,2 






2 


18 


20 


7 


4 


2 


69.0 




W 72,2 






1 


4 


11 
4 
5 


4 


9 


7 


41 

17 

14 


70,0 
70,4 
70.9 




73,2 








__.... 




3 


3 
3 


2 
2 


2 

4 




74,2 








Zahl 
der Fälle 


14 


23 


66 


78 


211 


219 


183 


68 


43 


19 


4 


923 






Durchsclin. 
der Kinder 


65,3 


65,8 


66,7 


67,2 


67,6 


68,2 


68,9 


69,5 


69,9 


72,2 


72,7 




i 


Gesamt- 
durclischu. 
der Kinder 












80,095 



















Korrelation zwischen Körpcrlange von Eltern und erwachsenen Kin- 
dern. (Nach Material Galtons, Maße in englischen Zoll.) 

Wenn man die Eltern nach der Größe in Klassen ordnet 
und die Durchschnitt sgröße der Kinder in den verschiedenen 
Klassen berechnet, so erhält man: 

Eltern: 63,5 64,5 65,5 66,5 67,5 68,5 69,5 70,5 71,5 72,5 73,5 
Kinder: 65,3 65,3 66,7 67,2 67,6 68,2 68.9 69,5 69,9 72,2 72,7 

Die mittlere Länge der Eltern betrug 68,364 Zoll, die der Kin- 
der 68,086. Für das Verhältnis der Abweichungen vom Mittel 



634 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



ergeben sich in den einzelnen. Klassen dann folgende Regres- 
sionsziff ein : 

0,57 0,59 0,48 0,48 0,56 0,84 0,72 0,66 0,58 0,99 0,90 
Die Zahl der Familien in den verschiedenen Klassen betrug: 

1 4 23 66 78 21 1 219 1 83 68 43 1 9 4 
Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Regression von o,68. 
Die „Regression" bezeichnet also nicht einen „Rückschlag" 
gegen das Mittel, wie Öfter irrtümlich angenommen wird, son- 
dern das Gegenteil. Sie war als ein Maß der durchschnittlichen 
Erblichkeit, als „Erbziff er", gedacht. Die Abhängigkeit der 
Körpergröße der Kinder von der der Kitern wird durch Fig. 202 
gezeigt. Die Unregelmäßigkeiten des Verlaufs sind durch den 
Fehler der kleinen Zahl bedingt; wenn diese mittels eines Aus- 
gleichsverfahrens beseitigt würden, so würde eine mittlere Re- 
gressionslinie entstehen, wie sie durch die gestrichelte 
Linie angedeutet ist. 

Man kann auch umgekehrt zuerst die Kinder nach ihrer Größe in Klas- 
sen ordnen und dann untersuchen, in welcher Beziehung die Grüße der Eltern 
zu der der Kinder steht (vgl. Fig. 203). Da zeigt sich an dem gleichen Mate- 
rial, daß auch eine Regression der Eltern gegen die Kinder besteht, aber 
im Durchschnitt nur von 0,33. Das ist auf den ersten Blick ein überraschen- 
des Ergebnis; denn da die Eltern einen ebenso großen Teil ihrer Erbmasse 




62 63 6H- 65 66 67 68 69 70 71 72 73 



Fig. 203. 

Die Regression der Körperlänge der Eltern gegen die der Kinder. 

(Nach Galtons Material.) 

mit den Kindern gemeinsam haben wie die Kinder mit den Eltern, sollte 
man erwarten, daß die „Erbziffer" in beiden Fallen dieselbe sein werde. 
Das scheinbar abweichende Ergebnis erklärt sich daraus, daß in der elter- 
lichen Generation das Mittel aus der Größe beider Eltern genommen worden 
ist, während die Größe der einzelnen Kinder als solche eingesetzt ist. Die 
Körperlänge eines Kindes ist natürlich viel stärker von der durchschnittlichen 
Körperlänge beider Eltern abhängig als diese von der nur eines Kindes. 
Die Variabilität der mittleren Körperlänge der Elternpaare ist kleiner als 
die der Körperlänge der einzelnen Kinder. Wenn man den Durchschnitt 



DIE KORRELATIONSRECHNUNG. 



635 



zweier Maße nimmt (hier den der Körperlängen beider Eltern), so weicht 
dieser im Mittel weniger von dem allgemeinen Mittel ab als die einzelnen 
Maße, nämlich im Verhältnis 1 : \f 2. Die Regressionen aber sind mit 
abhängig von dem Verhältnis der Variabilitäten. Wenn die Variabilität der 
Kinder gleich der der Eltern wäre, so würden beide Regressionen gleich sein. 
Da aber in Wirklichkeit die Regressionen meist verschieden sind, hat Fear- 
son als Maß der Erblichkeit das geometrische Mittel (d. h. die Wurzel, aus 
dem Produkt) der Regressionen als Erbziffer vorgeschlagen. Eben das ist 
der Korrelationskoeffizient. 



Die Regression der Y -Reihe gegen die X -Reihe (in un- 
serm Falle der Kinder gegen die Eltern) ist R- y -~ 



a x ay 



n a s 



die Regression der X -Reihe gegen die Y-Rcihe (in unserm 
Falle der Eltern gegen die Kinder) R- — ^lR.-* ..?. y . Das geo- 



metrische Mittel aus beiden Regressionen ist der Korrela- 

11 a, a v 



tionskoeffizient r — 



Die Bedeutung der Zeichen wird am einfachsten an unserm Beispiel 
erläutert. a s bedeutet die Abweichung der Länge irgendeines Eltcmpaares 
vom Mittel der Eltern, a Y die Abweichung der Länge eines Kindes vom Mit- 
tel der Kinder. a s • a y ist also das Produkt beider Abweichungen; p bedeu- 
tet die Zahl der Fälle in jeder Gruppe und 2 p a s «y die Summe der Ab- 
weichungsprodukte aller Fälle; n bedeutet die Gesamtzahl der Fälle, in unserm 
Falle also 92S; a x ist die Wurzel aus dem arithmetischen Mittel der Quadrate 
der Elternabweichungen vom Mittel der Eltern und o y entsprechend die 
Wurzel aus dem arthime tischen Mittel der Quadrate der Kinderabweichungen 



vom Mittel der Kinder; es ist also dx 



!_«£.* und °y 



Wenn man den Korrelationskocffizienten direkt 



nach der Formel r = 



berechnen wollte, so würde die 



II C7 x O> 

Rechnung sehr umständlich sein, weil die Abweichungen vom 
Mittel in der Regel keine ganzen Zahlen sind und ihre Pro- 
dukte und Quadrate das Rechnen mit langen Dezimalbrüchen 
erfordern würde. Glücklicherweise ist eine leichtere Berech- 
nung von r möglich, bei der im wesentlichen nur ganze Zahlen 
verwandt zu werden brauchen. Diese möchte ich an unserm 
Beispiel kurz zeigen 1 ). 

i) Ausführlicher ist die Korrelationsrcchnung erläutert in Weber, E. 
„Varialions- und Erblichkeitsstatistik." München 1935. J. F. Lehmann. 

J o h a n n 5 c n , W. ,, Elemente der exakten Erblichkeitslehre." 3. 'Aufl. 
Jena 1926. G. Fischer. 

Just, G. „Methoden der Vererbungslehre" in „Methodik der wissen- 
schaftlichen Biologie" herausgegeben von T. P e t e r i i , Bd. 2, Berlin 1928. 
J. Springer. 



636 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



DIE KORRELÄTIONSRECIINUNG. 



Man erhält noch eine ausreichende Genauigkeit, wenn man je zwei Zoll 
zu einem Klassenspielraum zusammenfaßt. Dann erhält man folgende Tafel: 





Körperlän 
64 66 


je der 
68 


Eltern 
70 


(X- Reihe) 

72 74 


Zahl 
d.Fälle 




■Ü* 60,7 


2 


I 


1 


1 

2 






5 

39 

107 




& 62,7 


7 


15 


15 


1 






Ö 64,7 

TS 


10 
14 


19 


56 


21 




Cy r... 

2,075 


'0 66,7 


56 


130 


48 


7 




255 


68,086 


na 68,7 


4 


41 


148 


83 


11 




287 


tiO 


— 


11 


69 


66 
22 


17 




163 

58 


üy = 

2,583 


01 Tri t 

sx 72,7 
1-1 


1 


11 


20 


4 


rf 74,7 








8 


6 




14 




Zahi 
der Fälle 


37 


144 


430 


251 


62 


4 


928|^ 


i 


e x = 


1,419 


Mx = 


68,364 


1x = 


,835 


| 





Statt von den genauen Mittelwerten geht man von Abgangsklassen 
A x und A y aus, die den Mittelwerten benachbart liegen. Wir wählen die 
X-Klasse 63 und die Y-KIasse 68,7 als Ausgangsklassen. Der Abstand der 
Klasse A x vom Mittel M x ist b x = M x — A x , der Abstand der Klasse A y vom 

Mittel M y ist b y = M y — A y . 

h x = 68,364 — 68,000 = 0,364 Zoll = 
b v = 68,oS6 — 68,700 = — 0,614 Zoll = — 

ann nun den Korrelationskoeffizientcn 



Man 
Formel 



0,182 Spielräume 
0,307 Spielräume 

r erhalten mittels der 



p a x a y — n b x b y 



n c x c. 



o-s- erhält man mittels der Formel 



2 p a x 2 



Die 144 Eltempaare, die in der ersten X-Klasse links von der Aus- 
gangsklasse angegeben sind, haben von dieser eine Entfernung von einem 
Spielraum 1 ) a K s ist also gleich 1. Die 37 Eltempaare der zweiten Klasse 
links von der Ausgangsklasse haben eine Entfernung von zwei Spielräumen; 
hier ist also a x a = 4 usw. 



*) Während der griechische Buchslabe u weiter oben den Abstand vom 
Mittelwert bezeichnete, bedeutet der lateinische Buchstabe a hier den Ab- 
stand von der Ausgangsklasse. 



p a x « - 



144 


1 = U4 37 ■ 4 = 148 


4 ■ 9 


251 


1 = 251 62 - 4 = 248 






-f 395 + 396 






827 : 928 = 0,891 






b x a = 0,033 





36 



36 



637 



= 827 



Diff. = 0,858 
0x . =0,926 Spielräume = 1 ,853 Zoll 
Entsprechend findet man a y = 1,293 Spielräume = 2,586 Zoll. 

Nunmehr gilt es, die Produkte a x a y zu bilden. In den Feldern, die den 
Ausgangsklassen entsprechen, sind die Produkte gleich o, weil dort entweder 
a x oder a y gleich o ist. Im linken oberen Quadranten ist für das Feld, das die 
Zahl 7 trägt, a x = 2 und a y = 3, also a s a y = ö und p a x a y = 42; für das 
Feld mit der Zahl 19 ist a x = 1, a y — 2, a x a y = 2, p a x a y = 38 usw. Im 
zweiten und dritten Quadranten sind die Produkte negativ, da im zweiten a x 
und im dritten a y negativ ist. Im ganzen ergeben sich folgende Produkte: 



I. Q 


uadrant 


56 • 1 = 56 


14 


2 = 28 


19 


2 = 38 


10 


4 = 40 


15 


3 = 45 


7 


6 ^ 4-2 


1 


4=4 


2 


8 = 16 




+ 269 



IV. Quadrant 



II. Quadrant 



66 

17 

22 

20 

4 

8 

6 



1 = 

2 = 

2 = 

4 = 

6 = 

3 = 
6 = 



66 
34 

44 
80 
24 
24 
36 



48 

7 
21 
1 
2 
1 



48 

14 

42 

4 

6 



III. Quadrant 
11 -1 ,--- 11 

1 ■ 2 = 2 

— 13 



18 



4- 308 



Summe der positiven Produkte =577 
Summe der negativen Produkte = 131 
Z p a x a y -- 446 
n b x b y = 928 ■ 0,182 (—0,307) = — 51,85 
S p a x a y — n b x by = 497,85 
n a x Oy = 1111 
r = 498 : 1 1 1 1 = 0,45 

Der mittlere Fehler cles Korrelationskoeffizientcn. wird nach 

1— r a 
Pearson und Filon mittels der Formel —.—~ berechnet; er 

V n 

ergibt sich in unserm Fall auf 0,026. Demnach ist 



Einen Korrelationskoeffizienten auf mehr als zwei Dezima- 
len zu berechnen, hat keinen Sinn. Dadurch würde nur ein 
Grad von Genauigkeit vorgetäuscht werden, der der Natur der 
Sache nach ausgeschlossen ist. 

Da die Dezimalen von der zweiten ab auf alle Fälle un- 
sicher sind, kann man das Multiplizieren, Dividieren und Wur- 
zelziehen in den meisten Fällen ruhig mit dem Rechenschieber 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



DIE KORRELATIONSRECHNUNG. 



639 



ausführen. Alle Zahlen im Verlauf der Rechnung genau zu be- 
rechnen, würde einen unwirtschaftlichen Zeitaufwand bedeu- 
ten.; auch die Logarithmentafel braucht man meist nicht. Für 
dreistellige Zahlen genügt ein guter Rechenschieber von etwa 
30 cm Länge. Wenn man vier Stellen haben will, kann man 
eine Rechenwalze nehmen. Für Maße am Menschen und für 
Prozentzahlen genügen in der Regel aber drei Stellen. 

jedenfalls muß der menschliche Erbforscher die Korrela- 
tionsrechnung einigermaßen kennen. Daher habe ich hier ver- 
hältnismäßig viel Raum darauf verwandt. Der auf S. 628 be- 
sprochene Korrelationskoeffizient für den alternativen Fall er- 1 
gibt sich aus dem für Reihenvariabilität, wenn man nur zwei j 
Stufen der Reihe unterscheidet. Wenn man dasselbe Material j 
einmal reihenstatistisch und einmal alternativ bearbeitet (also 1 
z. 13. bei der Körpergröße nur zwischen „Groß" und „Klein" % 
unterscheidet), so findet man bei alternativer Bearbeitung re- i 
gelmäßig einen etwas kleineren Wert, der die tatsächliche Kor- ; 
relation nicht voll zum Ausdruck bringt. Pearson hat für den 1 
alternativen Fall daher einen besonderen Vierfelderkoeffizien- f 
ten angegeben, der indessen nicht nur sehr umständlich zu be- I 
rechnen, sondern auch in seiner Begründung fragwürdig ist. i 
Wenn wir bei alternativer Variabilität den Korrelationskoeffi- 1 
zienten als ein wenig brauchbares Maß der Erblichkeit be- l 
funden haben (vgl. S. 630), so gilt das bei Reihen Variabilität \ 
nicht in gleichem Maße, weil hier die verschiedene Häufigkeit \ 
einzelner Erbeinheiten keinen großen Einfluß hat. Von der \ 
Erblichkeit normaler oder, was praktisch dasselbe ist, poly- j 
nierer Eigenschaften gibt die Korrelationsrechnung ein recht j 
brauchbares Bild. ] 
Wenn man mit Hilfe der Korrelationsrechnung Anhalts- | 
punkte gewinnen will, wie stark in einer gegebenen Bevölke- : 
rung ein Merkmal von der erblichen Veranlagung und wie stark j 
es von der Umwelt abhängig sei, so tut man gut, sich klar zu j 
machen, wie starke Korrelationen bei Merkmalen, die aus- j 
schließlich durch die Erbanlage bedingt wären, zu erwarten ? 
wären. Nehmen wir einmal an, daß eine Bevölkerung F 2 - ! 
Charakter habe und daß die Ehewahl ohne Rücksicht auf das • 
Merkmal erfolge. Im Falle alternativer Variabilität wäre zwi- J 
sehen Vätern und Söhnen dann eine Korrelation von -j-0,33 ... j 
(= V3) zu erwarten, wie schon an dem Beispiel auf S. 631 I 
gezeigt wurde. Im Falle intermediären Verhaltens wäre die * 
Korrelation -I- 0,5. Die Korrelation zwischen Geschwistern ; 



wäre bei dominant-rezessivem Verhalten 0,42 und bei inter- 
mediärem 0,5. 

Vergleichen wir nun damit einige Korrelationen, die man 
an empirischem Material gefunden hat. Pearson. und seine 
Mitarbeiter haben eine große Zahl von Korrelationen zwi- 
schen Eltern und Kindern einerseits und Geschwistern anderer- 
seits berechnet. Ich greife die Korrelationen für Augenfarbe 
heraus, weil dieses Merkmal von Umwelteinflüssen praktisch 
so gut wie unabhängig ist. 



Bruder und Bruder 0,52 
Schwester und Schwester 0,45 
Bruder und Schwester 0,46. 



Vater und Sohn 0,55 

Vater und Tochter 0,44 

Mutter und Sohn 0,48 

Mutter und Tochter 0,51. 
Die kleinen Unterschiede zwischen diesen Zahlen sind ver- 
mutlich m der Hauptsache durch den Fehler der kleinen Zahl 
bedingt. Außerdem ist die Häufigkeit der Merkmale in einer 
Bevölkerung von wesentlichem Einfluß auf den Korrelations- 
koeffizienten. Wenn das dominante Merkmal seltener wird, 
50 ist ein Steigen der Korrelation zu erwarten (vgl.S. 631). So 
würde in Schweden, wo dunkle Augenfarbe seltener als in Eng- 
land ist, eine höhere Korrelation zwischen Eltern und Kindern 
in bezug auf die Augenfarbe zu erwarten sein. Man darf also 
aus kleinen Korrelationswerten nicht einfach auf geringe Erb- 
lichkeit eines Merkmals schließen. 

Wenn bei der Augenfarbe die Korrelation rund 0,5 beträgt, so heißt 
das keineswegs, daß die Augenfarbe nur etwa zur Hälfte durch die erbliche 
Veranlagung und zur andern Hälfte durch die Umwelt bedingt sei. Die 
Abhängigkeit der Korrelation von der Häufigkeit der Erbanlagen im Falle 
dominant-rezessiven Verhaltens bei alternativer Variabilität ist aus folgender 
Tabelle ersichtlich: 

0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 
0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0, 1 
0,47 0,44 0,41 0,38 0,33 0,29 0,23 0,17 0,09 
das Zusammentreffen der Anlagen 
nach Maßgabe der Häufigkeiten erfolgt und daß äußere Einflüsse für die 
Manifestation der Anlagen keine Rolle spielen. Bei intermediärem Verhalten 
ist zwischen Eltern und Kindern stets eine Korrelation von 0,5 zu erwarten, 
ganz gleich, mit welcher Häufigkeit intermediäre Anlagen verbreitet sind, 
ebenso zwischen Geschwistern. 

Ist die Häufigkeit der rezessiven Erbanlage m, so ist die Korrelation 

ÜL. + 1V) 

fm 2/ 

1 ) Weinberg, W. Vererbungsgesetze beim Menschen. Z. f. induk- 
tive Abstämmlings" und Vererbungslehre. Bd. 1 u. 2. 1908/09. 



Häufigkeit der domi- 
nanten Erbanlage 

Häufigkeit der rezes- 
siven Erbanlage 

Korrelation zwischen 
Eltern u. Kindern 

Dabei ist angenommen, daß 



0,0 
1,0 
0.50 



1,0 
0,0 
0,00 
rein 



m 1 

zwischen Eltern und Kindern-;;-—" - und zwischen Geschwistern — 

1 -4- m 2 



640 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



DIE ZWILLINGSMETHODE. 



641 



Wenn eine Erbanlage durch Umwelteinflüsse an der Äußerung gehin- 
dert wird, so wird die Korrelation um so niedriger, je häufiger diese Unter- 
drückung statthat. Wie der Verlauf der Korrelation zwischen Eltern und 
Kindern mit steigender Häufigkeit der Unterdrückung durch Umweltein- 
flüsse sich gestalten würde, zeigt folgende Zahlenreihe: 

D wird m ulSü^t a fu 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 

D Eltem e iHd°IcSeS en °' 33 °> 23 °' 17 °> 12 °> 09 °- 07 °> 05 °> 03 °> 02 °> 01 °> 00 
Es ist dabei vorausgesetzt, daß die Häufigkeit der dominanten Erban- 
lage 0,5 sei, folglich ebenso die der rezessiven. Bei intermediärem Verhalten 
fällt die Korrelation sowohl zwischen Eltern und Kindern als auch die zwischen 
Geschwistern von 0,5 bis o ab. Wenn man statt Unterdrückung einer Erb- 
anlage durch Umwelteinflüsse ihre Auslösung durch entgegengesetzte Um- 
welteinflüsse einsetzt, so läuft das natürlich auf dasselbe hinaus. Die Zahlen- 
reihe zeigt also den Verlauf der Korrelation bei verschiedenen Graden der 
Umweltstabilität. 

Die Korrelation zwischen Blutsverwandten, die auch bei 
voller Erbbedingtheit nicht gleich i zu erwarten ist, fällt jeden- 
falls mit zunehmendem Einfluß der Umwelt rasch ab, voraus- 
gesetzt, daß die Umweltwirkungen sich rein zufällig verteilen. 
Da jedoch nahe Blutsverwandte meist in ähnlicher Umwelt 
leben, kann die Gemeinsamkeit der Lebenslage unter Umstän- 
den die Korrelation zwischen ihnen auch erhöhen. 

Ein weiterer Umstand, durch den die Korrelation zwischen 
Blutsverwandten erhöht werden kann, ist die Bevorzugung ähn- 
licher Personen bei der Ehewahl („assortative mating", auch 
wohl „Homogamie" genannt). Wenn z. B. europäische Fami- 
lien in tropischen Ländern unter einer farbigen Bevölkerung 
leben, ohne sich wesentlich mit ihr zu vermischen, so wird die 
Korrelation zwischen Eltern und Kindern eine sehr hohe sein. 
Korrelationskoeffizienten als Anzeichen von Erblichkeit haben 
daher nur innerhalb einer bestimmten Bevölkerung und einer 
bestimmten Umwelt einen klaren Sinn. Das wird leider oft 
außer acht gelassen. Entsprechendes gilt übrigens auch von 
dem Begriff der Ähnlichkeit. Zehn beliebige Individuen un- 
serer Bevölkerung sind im allgemeinen zehn beliebigen anderen 
recht unähnlich. Wenn dieselben beiden Gruppen von je zehn 
Individuen aber unter einer Negerbevölkerung lebten, so wür- 
den sie einander recht ähnlich erscheinen. Vermutlich ist die 
verhältnismäßig hohe Korrelation naher Blutsverwandter hin- 
sichtlich der Körpergröße zum Teil auf eine derartige Homo- 
gamie zurückzuführen; erfahrungsgemäß heiraten große Per- 
sonen nur selten sehr kleine und umgekehrt. 

Manche Rassenforscher haben geglaubt, mittels Korrelationsrechnung 
eine gemischte Bevölkerung auf ihre Rassenbestandteile analysieren, näm- 



i 




lieh feststellen zu können, welche Rassenmerkmale ursprünglich, d. h. vor 
der Mischung vereinigt waren. In einer wirklich durchgemischten Bevölke- 
rung, d. h. einer Bevölkerung von F u -Charakter, ist eine solche Analyse 
unmöglich, da die einzelnen Erbeigenschaften der Rassen sich unabhängig" 
voneinander vererben und folglich ihre ursprüngliche Korrelation nicht be- 
wahren. Anders liegt die Sache, wenn nicht ein Gemisch von F u -Charak- 
ter, sondern nur ein Gemenge vorliegt. In den Südstaaten Nord- 
amerikas, wo Weiße und Farbige in der Hauptsache unvermischt durch- 
einandergemengt leben, besteht eine hohe Korrelation zwischen krausem 
Haar, dunkler Hautfarbe, breiter Nase, wulstigen Lippen usw. In der Be- 
völkerung einer mitteleuropäischen Stadt dagegen ist eine Korrelation zwi- 
schen Haarfarbe, Gestalt, Kopfform, Nasenform usw. kaum noch angedeutet, 
weil hier seit vielen Generationen eine intensive Durchmischung stattgefun- 
den hat. Soweit hier noch Korrelationen bestehen, etwa zwischen Haar- und 
Augenfarbe, rühren sie daher, daß solche Merkmale zum Teil von denselben 
Erbeinheiten abhängen. Eine solche (polyphäne) Erbeinheit aber ist natür- 
lich etwas ganz anderes als die aus zahlreichen Erbeinheiten bestehende 
Erbmasse einer ursprünglichen Rasse. Auch durch Koppelung wird 
keine dauernde Korrelation zwischen den Erbanlagen einer Rasse be- 
dingt, sondern höchstens in den ersten Generationen nach der Mischung 
und auch da nur zwischen Erbeinheiten, die im gleichen Chromosom 
liegen. Es gibt keine Möglichkeit, durch Untersuchung einer durchgemischten 
Bevölkerung festzustellen, welche Rasseneigenschaften ursprünglich ver- 
einigt waren. 

Wenn man größere Gebiete ins Auge faßt, etwa ganz Europa, so zeigt 
sich eine beträchtliche Korrelation zwischen Haarfarbe, Körpergröße und 
Gestalt (große Blonde im Nordwesten, kleine Dunkle im Südwesten usw.). 
Das rührt daher, daß ganz Europa nicht gleichmäßig durchgemischt ist. 
Auf solche Korrelationen hat z. B. Deniker seine Aufstellung von „Ras- 
sen" gegründet, die zunächst nichts weiter waren als geographische Korre- 
lationen. Soweit in enger umgrenzten Gebieten noch Reste der ursprüngli- 
chen Merkmalskombinationen vorhanden sind, kann man solche natürlich 
auch im Korrelationskoeffizienten angedeutet finden. Man muß dabei aber 
im Auge behalten, daß solche Korrelationen auch durch sekundäre 
gemeinsame Auslese von Merkmalen, die ursprünglich gar nicht ver- 
einigt gewesen zu sein brauchen, und zum kleinen Teil auch durch Um- 
wcltwirkung bedingt sein können. Meist sind solche Korrelationen überhaupt 
nur gering. 



4. Die Zwillingsmethode. 

In allen Fällen, wo die Erbbedingtheit eines Merkmals 
nicht durch die Feststellung eines einfachen Erbgangs (domi- 
nant, rezessiv, geschlechtsgebunden) aufgeklärt werden kann, 
bietet die Zwillingsforschung die sicherste Handhabe, 
zu entscheiden, ob ein Merkmal erbbedingt bzw. in welchem 
ungefähren Ausmaß es etwa umweltbedingt ist. Bei Pflanzen 
kann der Einfluß der Umwelt am besten an reinen Linien, 
deren einzelne Individuen erbgleich sind, studiert werden, wie 

Baur-Fischer-tenzI. 41 



642 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



zuerst J o h a n n s e n gezeigt hat. Beim Menschen haben wir ein 
Analogem der reinen Linien in den eineiigen Zwillingen (£Z), 
die regelmäßig von gleicher Erbmasse sind. Eigenschaften, die 
wesentlich nur von der Erbmasse abhängen, treten bei ein- 
eiigen Zwillingen dalier konkordant, d, h. in gleicher Art und 
in gleichem Grade auf. Wenn EZ in einem Merkmal verschie- 
den (diskordant) sind, so muß das irgendwie durch Umweltein- 
flüsse bedingt sein, entweder durch Umwelteinflüsse in ge- 
wöhnlichem Sinne oder schon durch Verschiedenheiten der 
Umwelt vor der Geburt, von denen die Entwicklungsbedingun- 
gen während der ersten Stadien der Embryonalentwicklung am 
wenigsten den gewöhnlichen Umwelteinflüssen an die Seite ge- 
stellt werden können. Im Gegensatz zu EZ können zweieiige 
Zwillinge (ZZ) nicht nur infolge von Umwelteinflüssen, son- 
dern auch infolge verschiedener Erbanlage diskordant sein; 
ZZ haben im Durchschnitt ja nur einen ebenso großen Teil 
ihrer Erbmasse gemeinsam wie andere Geschwister auch. So 
kommt es, daß EZ in jeder ganz oder teilweise erbbedingten 
Eigenschaft häufiger bzw. stärker "konkordant sind als ZZ, 
Eine hohe Konkordanz bei EZ für sich allein ist noch kein 
sicherer Beweis der Erbbedingtheit eines Merkmals, da Kon- 
kordanz auch eine Folge von Umweltwirkungen sowie auch 
von großer Häufigkeit eines Merkmals sein kann. Nur wenn 
die Konkordanz bei ZZ im Durchschnitt einer genügend gro- 
ßen Zahl von Paaren deutlich kleiner ist als die bei EZ, darf 
man auf mindestens teilweise Erbbedingtheit schließen. 

Schon Galton 1 ) hat mit intuitivem Scharfblick die Be- 
deutung der Zwillingsforschung für die Abschätzung des An- 
teils von Erbanlage und Umwelt an der Entwicklung vorweg- 
genommen, obwohl damals der Unterschied zwischen ein- und 
zweieiigen Zwillingen noch nicht bekannt war. Galton unter- 
schied aber bereits identische (d. h. erbglcichc) und nicht- 
identische (d. h. erbungleiche) Zwillingspaare. In neuerer Zeit 
ist zunächst P o 1 1 2 ) Galtons Spuren gefolgt, sodann S i e - 
m ens ;i ) und W ei t z. Gegenwärtig steht die Zwillingsfor- 



1 ) Galton, F. The history of twins as a. criterion of the relative 
power s of naltire and nur Iure. Journal oi' the Anlhropological Institute. 
1876. [ ( 1 

2 ) Pell, H. Über Zwillingsforschung als Hilfsmittel menschlicher Erb- 
kunde. Zeitschr. L Ethnologie. Bd. 46. 1914. 

3 ) Siemens, H. VV. Die Zwillingspathologie. Berlin 1924. J. Sprin- 
ger. S. 4. 



DIE ZWILLINGS METHODE. 



643 



schung im Mittelpunkt der Erbforschung. Sie ist im letzten 
Jahrzehnt besonders durch v. V e r s c h u e r und Luxen- 
burger gefördert worden. Eine ausführliche Darstellung der 
Zwillingsmethode hat Versehrter 1 ) gegeben. 

Die Feststellung, ob zwei Zwillinge EZ oder ZZ sind, er- 
folgt auf Grund ihrer Ähnlichkeit in Merkmalen, deren Erb- 
lichkeit schon bekannt ist. Alle verschiedengeschlechtigen sind 
sicher zweieiig ; aber nur ungefähr zwei Fünftel der gleich- 
geschlechtigen Paare sind eineiig. Diese als solche zuerkennen, 
ist nicht auf Grund eines bestimmten Merkmals möglich, son- 
dern nur unter Benutzung vieler Merkmale zugleich. In einem 
erblichen Merkmal stimmen oft auch zweieiige Zwillinge (ZZ) 
überein; je mehr erbliche Merkmale man berücksichtigt, desto 
geringer wird aber die Wahrscheinlichkeit, daß zwei ZZ darin 
übereinstimmen. Praktisch wird diese Wahrscheinlichkeit bald ver- 
schwindend gering. Immerhin ist es theoretisch möglich, daß zwei 
ZZ einmal in allen untersuchten Merkmalen zufällig überein- 
stimmen. Die Erfahrung zeigt auch, daß in einer gewissen, aller- 
dings kleinen Minderheit der Fälle Zweifel bleiben, ob es sich 
bei einem Paar um EZ oder ZZ handelt. Wenn klare Unter- 
schiede in bekannten Erbmerkmalen bestehen, so handelt es 
sich sicher um ZZ. Wenn keine deutlichen Unterschiede zu 
finden sind, andererseits aber auch die Gleichheit nicht klar 
auf der Hand liegt, so tut man besser, das Paar zu den un- 
sicheren Fällen zu stellen. Es kommt dabei viel auf die Erfah- 
rung des Untersuchers an. Ich habe den Verdacht, daß nicht 
ganz wenige Fälle, die in der Literatur als EZ gehen, in 
Wahrheit ZZ sind. Es muß daher davor gewarnt werden, aus 
Erfahrungen an einem einzigen oder einigen wenigen Paaren 
von EZ weitgehende Schlüsse auf Erblichkeit bzw. Nichterb- 
lichkeit eines Merkmais zu ziehen. Bei dem Vergleich größerer 
Reihen gleichen sich etwaige einzelne Fehler der Zuordnung 
in die Reihe der EZ oder ZZ so gut wie ganz aus. Die 
Zwillingsmethode ist eine statistische; sie bedarf der großen 
Zahlen. 

Durch denEihautbefund kann die Frage, ob ein Zwillings- 
paar ein- oder zweieiig ist, nicht sicher entschieden werden. 
Der Eihautbefund ist in vielen Fällen nicht mehr bekannt. 
Auch haben EZ in einem erheblichen Teil der Fälle zwei 



x ) In Diehl, IC, und v. Verschucr, O. Zwillungslubcrkulosc. 
Jena 1933. G. Fischer. 

■11* 



44 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



DIE ZWILLINGSMETHODE. 



645 



Choricn 1 -). Untersuchungen im Kaiser Wilhelm-Institut in .Ber- 
lin -Dahlem haben ergeben, claß von 14 EZ 5 dichorisch waren-). 
Inzwischen ist die Zahl auf 29 EZ gestiegen, darunter 12 
dicho risch e. Während die Geburtshelfer auf Grund des Eihaut - 
befundes nur rund 15% monochorische Zwillinge finden, be- 
trägt der Anteil der eineiigen Zwillinge tatsächlich rund 25%, 
wie sich aus dem Zahlenverhältnis zwischen den gleich- und 
den verschiedengeschlechtigen Zwillingen ergibt. Der Eihaut- 
befund kann nur insofern für die Feststellung der Eiigkeit her- 
angezogen werden, als monochorische Zwillinge praktisch im- 
mer eineiig sind. Andererseits sind verschiedengeschlechtige 
Zwillinge selbstverständlich immer zweieiig. 

Im übrigen hat sich für die Entscheidung", ob es sich um 
EZ oder um ZZ handelt, die Verwendung folgender erblicher 
Merkmale bisher am besten bewährt: Augenfarbe, Haarfarbe, 
Hautfarbe, Haarform und Verteilung, Nasenform, Lippenform, 
Zungenfalten, Ohrform, Hautgefäßc, Form und Stellung der 
Zähne, Sommersprossen, Tastleisten der Finger und Handflä- 
chen, Körp erlange, Blutgruppe. Wenn in unserer Bevölkerung 
bei einem Zwillingspaar Augen-, Haar- und Hautfarbe genau 
überemstimmen, so handelt es sich schon mit überwiegender 
Wahrscheinlichkeit um EZ. In rein dunklen Bevölkerungen da- 
gegen ist mit Pigmentunterschieden nicht viel zu machen. Der 
genaue Vergleich, der Fingcrl eisten ermöglicht ebenfalls mit 
großer Wahrscheinlichkeit für sich allein die Entscheidung, 
erst recht natürlich in Verbindung mit den Farbmerkmalcn. 
Da auch rund zwei Drittel der ZZ in ihrer Blutgruppe überein- 
stimmen, macht diese nur im Falle der Diskordanz die Dia- 
gnose ZZ möglich, diese aber dann auch sicher, da die Blut- 
gruppe von Umwelteinflüssen praktisch unabhängig ist. Die 



J ) Vcrschuer meint, es sei ein Verdienst von Siemens, zuerst der 
Ansieht widersprochen zu haben, daß monochorische Zwillinge stets eineiig, 
diehorische stets zweieiig seien. Siemens hat indessen noch in seiner 
Zwillingspathologie (1924) eleu Standpunkt vertreten, der sichere Beweis der 
Eineiigkeit könne durch die Untersuchung der Eihäute erbracht werden. 
Ich habe dieser Ansicht erstmalig widersprochen und zwar in einer Bespre- 
chung der genannten Schritt: ,,Ob ein oder zwei Choricn gebildet werden, 
hängt entscheidend offenbar nur von der Entfernung voneinander ab, in 
der sich zwei Embryonalanlagcn einnisten, nicht eigentlich von ihrer Her- 
kunft aus einem oder aus zwei Eiern" (Münch. ,mcd. Woch. 1924, Nr. 29, 
S. 993). Siemens hat diese meine Stellungnahme in seiner späteren Arbeit 
allerdings nicht zitiert, 

2 ) lassen, Marie Thcrese. Nachgeburtsbefunde bei Zwillingen und 
Ähnlichkeitsdiagnose. Archiv für Gynäkologie. Bd. 147. H. 1. S. 48. 1 93 1 . 



Kopfform ist nur mit großer Vorsicht zu verwenden, da sie 
auch bei EZ erheblich verschieden sein kann, was offenbar 
eine Folge verschiedener Lage infolge gegenseitiger Raum- 
beengung im Mutterleibe ist. Bezüglich weiterer Einzelheiten 
verweise ich auf das Kapitel „Ähnlichkeitsdiagnose" von Vcr- 
schuer in der „Zwillingstuberkulose". 

Eine große Schwierigkeit der Zwillingsmethodc besteht 
darin, claß es oft nicht gelingt, genügend viele Zwillinge mit 
einer Eigenschaft, die auf Erblichkeit untersucht werden soll, 
aufzutreiben. Auf rund 80 Geburten kommt nur eine Zwillings- 
geburt und eine Geburt eineiiger Zwillinge erst auf rund 400. 
Die Zahl der verfügbaren Paare ist außerdem durch den Tod 
eines der beiden Zwillinge erheblich vermindert. Von den er- 
wachsenen Zwillingen hat nur jeder dritte bis vierte ehren 
lebenden Partner. Wenn ein bestimmtes Merkmal, etwa der 
Schwachsinn, mittels der Zwillingsmethode untersucht werden 
soll, so kann man versuchen, durch Umfrage bei entspre- 
chenden Anstalten Kenntnis von einer größeren Zahl von Fäl- 
len zu bekommen. Es muß dabei nach Möglichkeit vermieden 
werden, daß konkordante Fälle infolge ihrer Konkordanz häu- 
figer (oder seltener) in das Material kommen, da gerade das 
Zahlenverhältnis zwischen beiden Schlüsse gestattet. Die Fest- 
stellung, ob es sich um EZ oder um ZZ handelt, muß ein ge- 
übter Untersucher treffen. Zur Untersuchung seltener Eigen- 
schaften wie der meisten Erbleiden ein ausreichendes Zwillings- 
material zu bekommen, ist schwer. Es bedürfte dazu einer um- 
fassenden Organisation der Zwillings forschung. In mehreren 
Berliner Krankenhäusern wird jeder Patient gefragt, ob er 
ein Zwilling ist. Bejahendenfalls wird er dem Kaiser Wil- 
helm-Institut für Anthropologie gemeldet, das sich be- 
müht, auch den andern Zwilling zur Untersuchung zu be- 
kommen. Auch Zwillingsgeburten werden entsprechend ge- 
meldet. Leichter ist es, Material zur Untersuchung auf nor- 
male Eigenschaften zu bekommen. Eigenschaften wie Körper- 
größe, Augenfarbe oder Blutgruppe können an jedem Zwilling 
festgestellt werden. Die Berliner Schulen melden zu diesem 
Zweck ebenfalls ihre Zwillinge. 

Der Vergleich alier ZZ mit allen EZ ist nur bei Merk- 
malen zulässig, die vom Geschlecht unabhängig sind. Bei ge- 
schlechtsabhängigcn Eigenschaften ist es nötig, die ZZ in 
gleichgeschlechtige und in verschiedengeschlechtige zu teilen. 



646 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



Die Gruppe der verschiedengeschlechtigen Zwilling"e nennt 
man auch Pärchenzwillinge (PZ). 

Bei alternativen Eigenschaften, die jemand entweder haben 
kann oder nicht, gestattet das Verhältnis zwischen der Zahl 
der konkordanten und der der diskonkordanten Paai~e Schlüsse 
auf Erb- bzw. Umweltbeclingthcit. Dieses Verhältnis ist bei den 
ZZ erstens von dem Erbgang der betreffenden Anlage, zweitens 
von Umwelteinflüssen und drittens von der Häufigkeit des 
Merkmals abhängig. Bei EZ ist es erstens von Umwelteinflüs- 
sen und zweitens von der Häufigkeit des Merkmals abhängig. 

Betrachten wir zunächst einmal den Fall, daß ein Merk- 
mal nur von der Erbmasse abhängig sei. Bei einem einfach 
rezessiven Erbleiden wie z. B. dem allgemeinen Älbinismus sind 
unter den ZZ auf ein konkordantes Paar sechs diskordante zu 
erwarten. Die Wahrscheinlichkeit, daß es bei einem Kinde, 
dessen beide Eltern die Anlage überdeckt enthalten, auftritt, 
ist 1 / i , die Wahrscheinlichkeit, daß es bei beiden Zwillingen 
eines ZZ-Paares auftritt, folglich (VJ 2 = Vio daß es bei De ^" 
den nicht auftritt (V4) 8 = 9 / 1(i) und daß es bei nur einem von 
beiden auftritt, l5 /.io- ^' ie Verteilung der ZZ-Paare ist die- 
selbe wie die der Geschwisterpaare, an denen auf S. 612 die 
Geschwistermethode erläutert wurde. Wenn die Wahrschein- 
lichkeit des Auftretens eines Erbleidens bei gegebener Erb- 
masse der Eltern w°/o ist, so sind unter allen ZZ-Paarcn, von 

100 w 

denen mindestens einer damit behaftet ist, % konkor- 

' 2— w 

dante zu erwarten. Bei einfach dominanten Erbleiden sind es 
33 0/0, bei einfach rezessiven 14,3% (= 1 / 7 ). Wenn gleichzeitig 
bei EZ die Konkordanz eine vollständige ist, also 1000/0 be- 
trägt, so darf man schließen, daß Umwelteinflüsse für die Ent- 
stehung des Leidens bedeutungslos sind, dieses also allein aus 
der Erbanlage entsteht. 

Wenn es sich um Anlagen handelt, die durch gewisse 
Umwelteinflüsse an der Äußerung gehindert bzw. durch Um- 
welteinflüsse ausgelöst werden können, so ist auch bei EZ 
keine volle Konkordanz zu erwarten. Wenn die Anlage zu 
einem Merkmal bei w% ihrer Träger wirklich zur Entfal- 
tung kommt, so sind unter allen EZ-Paaren, von denen minde- 
stens ein Partner das Merkmal zeigt, °/o konkordante zu 

2 — w 

erwarten, vorausgesetzt, daß die Vcrscliiedenlieiten der Um- 
welt sich rein zufällig verteilen. Auch bei den ZZ wird die 



DIE ZWILUNGSMETHODE. 



Konkordanz durch Umwelteinflüsse verändert; sie kann eines- 
teils dadurch herabgesetzt werden, nämlich dann, wenn die 
Zwillinge verschiedenen Einflüssen ausgesetzt sind; anderer- 
seits kann sie aber durch Umwelteinflüsse auch gesteigert 
werden, und zwar dann, wenn beide Zwillinge öfter denselben 
Einflüssen ausgesetzt sind, z. B. denselben Ernährungsbe- 
dingungen oder der Ansteckung mit demselben Krankheits- 
erreger. Eine genauere Erfassung dieser umweltbedingten 
Konkordanz bzw. Diskordanz ist nur möglich, wenn es ge- 
lingt, die EZ in solche, die in gleicher, und solche, die in 
verschiedener Umwelt leben, zu trennen. Aus der bloßen 
durchschnittlichen Konkordanz bzw. Diskordanz bei EZ und 
ZZ kann der Grad der Umweltstabilität bzw. Umweltlabilität 
nicht genauer bestimmt werden, da es sich gewissermaßen um 
eine Gleichung mit mehreren Unbekannten handelt. Wenn die 
Konkordanz bei EZ die bei ZZ wesentlich übertrifft oder, was 
bei sehr häufigen Merkmalen deutlicher ist, wenn die Dis- 
kordanz bei ZZ wesentlich größer als die bei EZ ist, so ist im- 
merhin der Schluß gestattet, daß die Erbanlage bei dem Zu- 
standekommen des Merkmals wesentlich mitwirkt. 

Eine weitere Schwierigkeit erwächst der Zwillingsmethode 
daraus, daß mit zunehmender Häufigkeit eines Merkmals auch 
die Konkordanz zunehmen muß, weil dann rein zufällig das 
Merkmal häufiger bei beiden Zwillingen zu erwarten ist. Das 
möge an einem Beispiel gezeigt werden. Angenommen, in einer 
Bevölkerung seien blaue Augen in einer Häufigkeit von 10 0/0 
vertreten; die übrigen 90 0/0 seien braunäugig; und die Blau- 
äugigkeit vererbe sich einfach rezessiv 1 ). ZZ-Paare, von denen 
mindestens ein Teil blaue Augen hätte, würden dann zu rund 
150/0 konkordant sein. ZZ-Paare, von denen mindestens ein 
Teil braune Augen hätte, würden dagegen zu rund 850/0 kon- 
kordant sein, weil die braune Augenfarbe schon infolge ihrer 
angenommenen größeren Häufigkeit (90 0/0) sich meist bei 
beiden Zwillingen finden würde. Man könnte also die beiden 
Konkordanzen nicht vergleichen. Es handelt sich hier um einen 
ähnlichen Mangel der Methode, wie er weiter oben für den 
„syntropischen Index" festgestellt wurde. 

Eine weitere Fehlerquelle liegt darin, daß öfter Konkor- 
danzzahlen, die sich nur auf ein Merkmal bezichen, mit andern 
verglichen werden, die auf zwei alternative Merkmale zugleich 

l ) Das ist eine vereinfachte Annahme, die in Wirklichkeit nicht genau 
zutrifft. 



648 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



bezogen sind. Auch das sei an einem Beispiel erläutert. Ange- 
nommen, in einer Bevölkerung seien blaue und braune Augen 
zu je 500/0 vertreten, also gleich häufig. Blaue Augenfarbe sei 
einfach rezessiv erblich. Dann würde man bei ZZ-Paaren, von 
denen mindestens ein Teil blauäugig wäre, in bezug auf blaue 
Augenfarbe eine Konkordanz von etwa 580/0 finden. Bei ZZ- 
Paaren, von denen mindestens ein Teil braunäugig wäre, würde 
man eine Konkordanz der braunen Augenfarbe von gegen 60 0/0 
finden, also eine etwas höhere, was eine Folge der Dominanz 
der braunen Farbe wäre. Wenn man nun aber die Konkordanz 
in bezug auf Augenfarbe überhaupt (blaue und braune zusam- 
men) berechnen würde, so würde man 740/0 finden. In diesem 
Falle wäre nämlich die Zahl der blaukonkordanten und die der 
braunkonkordanten Paare zusammen in Beziehung zu der Zahl 
der diskordanten Paare gesetzt, was natürlich eine wesentlich 
höhere Konkordanz ergibt, als wenn nur die Zahl der blau- 
konkordanten oder die der braunkondordanten Paare für sich 
in Beziehung zu der der diskordanten gesetzt wird. 

Es ist auch nicht angängig-, Konkordanzzahlen, die sich auf 
ein alternatives Merkmal beziehen, mit solchen für eine meri- 
stisch 1 ) oder kontinuierlich variable Eigenschaft zu vergleichen. 
Man kann z.B. Konkordanzzahkn für Schizophrenie nicht sol- 
chen für Blutgruppen oder für Fingerleisten an die Seite stellen. 

Die zufallsbedingte Konkordanz ist nur bei häufigen Merk- 
malen ernstlich störend. Bei Erbleiden, deren Häufigkeit meist 
kleiner als 1 0/0 ist, macht die Störung weniger als 0,50/0 aus, 
ist also bedeutungslos. Andererseits tut man bei Merkmalen, die 
ganz überwiegend häufig sind, besser, die Konkordanz für das 
Fehlen des Merkmals zu berechnen. Gegen 900/0 der erwach- 
senen ZZ haben z. B. beide Masern und Keuchhusten durchge- 
macht. Mit diesen Konkordanzwerten ist daher wenig anzufan- 
gen. Man tut besser, das Konkordanzverhältnis in bezug auf 
Freibleiben von Masern oder Keuchhusten zu berechnen. Dann 
ergibt sich, daß dieses Freibleiben in unseren Lebensverhält- 
nissen ganz vorwiegend von der erblichen Veranlagung abhängt. 

Kann man wenigstens bei Krankheiten, deren Häufigkeit 
weniger als 1 o/ beträgt, aus dem Verhältnis von Konkordanz 

1 ) Man spricht von meris tischer Variabilität, wenn die verschiedenen 
Grade eines Merkmals ohne weiteres durch ganze Zahlen unterschieden sind 
(z. IL Zahl der Naevi), und von kontinuierlicher Variabilität, wenn alle 
Übergänge vorkommen (z. B. Körperlänge). Durch Annahme bestimmter 
Spielräume, z. B. nach Zentimetern, kann man die kontinuierliche Varia- 
bilität mit der meristischen vergleichbar machen. 



DIE ZWILUNOSMETH ODE. 



649 



und Diskordanz bei EZ und ZZ die „Manifestationswahr- 
scheinlichkeit" einer entsprechenden Erbanlage berechnen? 
Auch hier bleibt manches fragwürdig. Vermutlich werden 
Zwillinge häufiger von gleichsinnigen Umwelteinflüssen getrof- 
fen als andere Individuen. Mit andern Worten, auch Umwelt- 
einflüsse können im Sinne der Konkordanz wirken oder bei EZ 
doch der Entstehung einer Diskordanz entgegenwirken. Ande- 
rerseits können Umwelteinflüsse bei EZ größere Durchschnitts- 
unterschiede zur Folge haben als bei ZZ, wovon noch zu reden 
sein wird. Diese Dinge liegen hinsichtlich verschiedener Merk- 
male vermutlich verschieden; und es ist daher nicht möglich, 
eine allgemeine Formel dafür zu geben. 

Die Berechnung der „Manifestationswahrscheinlichkeit" 
eines alternativen Merkmals würde eigentlich auch voraus- 
setzen, daß man genau wisse, wie das Stichprobenmaterial ge- 
wonnen sei. Luxenburger 1 ) 2 ) hat auf gesammelte Zwil- 
lingsmaterialien die Probandenmethode angewandt. Dabeiwäre 
vorausgesetzt, daß Zwillingspaare mit zwei Merkmalsträgern 
gerade die doppelte Wahrscheinlichkeit hätten, in ein Mate- 
rial zu kommen, als solche mit nur einem Merkmalsträger. 
Diese Voraussetzung ist fragwürdig. Andererseits wird man 
nicht erwarten dürfen, daß ein Zwillingsmaterial hinsicht- 
lich der Konkordanz genau entsprechend zusammengesetzt sei 
wie die Gesamtheit der Zwillingspaare in der Bevölkerung. 
Eine Umfrage nach Zwillingen unter den Schwachsinnigen 
würde vermutlich verhältnismäßig zu viele konkordante Paare 
ergeben, da solche in den Anstalten auffallen, während nor- 
male Zwillingsgeschwister von Schwachsinnigen leichter der 
Erfassung entgehen. Besser gesicherte Zahlenverhältnisse wür- 
den erst zu erhalten sein, wenn die Lebensgeschichten sämt- 
licher Zwillinge verfolgt und in Zwillingsarchiven niedergelegt 
sein würden. 

Wie man den Grad der Ähnlichkeit zwischen gewöhnlichen 
Geschwistern mit Hilfe der Korrelationsrechnung er- 
fassen kann, so natürlich auch den zwischen Zwillingen. Ihre 
Anwendung setzt voraus, daß man die Verteilung aller Grade 

») Luxcnb u r g er , H. Leistungen und Aussichten der menschlichen 
Mchrlingsforschung für die Medizin. Bericht über die 9. Jahresversammlung 
der Deutschen Gesellschaft für Vererbungs Wissenschaft (Leipzig 1932). 

s ) ■ — — ■ Die Manifestationswahrscheinlichkeit der Schizophrenie im 
Lichte der Zwillingsforschung. Z. f. psych. Hyg. (Sonderbeil. z. Allg. Z. 
Psychiatr. 103) Bd. 7. 1935. 



650 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



des Merkmals auf die Zwillinge kennt, im Falle alternativer 
Merkmale also auch die negativ konkordanten Paare. 

Ich habe für EZ und ZZ gesondert berechnet, welche Kor- 
relationen im Falle der Dominanz einer Erbanlage von der 
Häufigkeit 0,5 zu erwarten wäre, je nachdem die Erbanlage 
häufiger oder seltener an ihren Trägern in die Erscheinung 
tritt. Bei der Berechnung ist vorausgesetzt, daß die Äußerung 
einer Erbanlage unabhängig sei von ihrer Äußerung bei dem 
andern Zwilling, daß Zwillinge ebenso oft von verschieden ge- 
richteten wie von gleichgerichteten Einflüssen getroffen wer- 
den und daß die auf solche Weise entstehenden Unterschiede 
bei ZZ im Durchschnitt ebenso groß seien wie bei EZ. Da 
diese Bedingungen oft nicht erfüllt sind, kann die Korrelations- 



Das Merkmal er- 


Korrelation bei 


scheint unter 100 






Anlageträgern bei 


EZ 


ZZ 


I00 


1,00 


0,42 


90 


0,69 


0,29 


80 


0,50 


0,21 


70 


0,37 


0,15 


60 


0,27 


0,11 


50 


0.20 


0,08 


40 


0,14 


0,06 


30 


0,10 


0,04 


20 


0,06 


0,02 


10 


0,03 


0,0 i 





0,00 


0,00 



rechnungbei Zwillingen nur ungefähre Anhaltspunkte für die Ent- 
wicklungsstabilität bzw. -labilität einer Anlage geben. Bei inter- 
mediärem und polymerem Erbgang - ist für ZZ eine etwas 
höhere Korrelation zu erwarten. Auch wenn statt zwei Variabi- 
litätsklassen deren viele unterschieden werden, werden die Kor- 
relationen etwas höher. 

Wie man die Berechnung von Korrelationen bei Zwillin- 
gen durchführt, habe ich in meinem Beitrag zu dem von 
Gotschlich herausgegebenen „Handbuch der hygienischen 
Untersuchungsmethoden" gezeigt 1 ). Ich habe z. B. an einem 
von Meirowsky gesammelten Material von 300 Zwillings- 
paaren gefunden, daß die Korrelation der EZ in der Zahl ihrer 
Pigmentnaevi 0,78+0,036, die der ZZ 0,31+0,09 betrug. 
Wie die Tabelle zeigt, würden solche Korrelationen dann zu 

*) Bd. 3. Jena 1929. G. Fischer. S. 689 ff. 



DIE ZWILLINGSMETHODE. 



651 



erwarten sein, wenn die Zahl der Mae vi zu etwa neun Zehnteln 
durch die Erbmasse bestimmt würde. Man kann, also immerhin 
Anhaltspunkte für den Grad der Entwicklungsstabilität bzw. 
Umweltstabilität auf diese Weise gewinnen. Gegenüber der 
Konkordanzmethode hat die Korrclationsmethode den Vorteil, 
daß bei ihr die negativ konkordanten Paare ebenso wie die po- 
sitiv konkordanten berücksichtigt werden. Auch können die ver- 
schiedenen Grade meristisch oder kontinuierlich' variabler Merk- 
male unmittelbar erfaßt werden 1 ). 

Wenn man auf kontinuierlich oder meristisch variable 
Merkmale die Konkordanzmethode anwenden will, kann man 
mehrere Grade der Konkordanz unterscheiden, je nachdem .ein 
bestimmter Grad eines Merkmals mit einem hohen, mittleren 
oder niederen Grad des Merkmals bei dem andern Zwilling zu- 
sammentrifft. Man unterscheidet dann starke, schwache und 
fehlende Konkordanz bzw. Diskordanz. 

Wenn man Reihen von EZ mit solchen von ZZ auf kon- 
tinuierlich variable Merkmale vergleichen will, kann man nach 
dem Vorgange von Verschuer den mittleren Unterschied 
der EZ mit dem der ZZ vergleichen oder, wenn man sehr ge- 
nau sein und auch, die verschiedenen absoluten Maße der Zwil- 
linge berücksichtigen will, die mittlere prozentuale Abweichung, 
die durch Beziehung des Unterschiedes eines Paares auf das 
absolute Maß des Merkmals gewonnen wird. Die EZ sind nur 
durch nichterbliche Differenzen verschieden. Diese entstehen 
einesteils durch Unterschiede der Umwelt im gewöhnlichen 
Sinne, andernteils aber auch durch Entwicklungsunterschiede 
während der Embryonalentwicklung, die man den gewöhnlichen 
umweltbedingten Unterschieden nicht an die Seite stellen kann. 
Ich habe eine Zeitlang gemeint, die nichterblichen Unter- 
schiede seien in ihrem Ausmaß im Durchschnitt bei EZ und 
ZZ als gleich anzunehmen 3 ). Es hat sich dann aber herausge- 
stellt, daß das nicht zutrifft, daß vielmehr der nicht erbbe- 
dingte Unterschied bei den EZ im Durchschnitt größer Ist als 
bei den ZZ 3 ). EZ, die gleich veranlagt sind, können durch 
Umwelteinflüsse einander nicht noch ähnlicher, sondern nur 

i) Vgl. die Fußnote auf S. 648. 

3 ) Lenz, F., und v. Verschuer, O. Zur Bestimmung des Anteils 
von Erbanlage und Umwelt an der Variabilität. ARGB. Bd. 20. H. 4. S. 
425. 1928. 

3 ) Lenz, F. Zur genetischen Deutung von Zwillingsbefunden. Bericht 
über die 9. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungs- 
wissenschaft (München 1 93 1 ) . Erschienen Leipzig 1932. Bornträger. 



652 



/■'RITZ LENZ, METHODEN. 



unähnlicher werden. ZZ dagegen, die von vornherein verschie- 
den veranlagt sind, können durch Umwelteinflüsse sowohl ähn- 
licher als auch unähnlicher werden. Bei ihnen heben sich die 
Umwelteinflüsse hn Durchschnitt der Paare daher zum großen 
Teil auf. Wenn Umwelteinflüsse für sich allein einen Unter- 
schied i und Erbunterschiede für sich ebenfalls einen Unter- 
schied i bewirken würden, so würden beide zusammen nicht 
etwa einen Unterschied 2, sondern vielmehr \/ 2 = ca. 1,41 
ausmachen. Wenn der reale durchschnittliche Unterschied von 
ZZ um 410/0 größer als der von EZ ist, so ist die Bedeutung 
der Erbmasse für das Zustandekommen der Unterschiede der 
ZZ also mindestens ebenso groß wie die der Umwelt. Und 
wenn der reale Unterschied der ZZ doppelt so groß wie der 
der EZ ist, so ist die Bedeutung der Erbmassse nicht etwa 
ebensogroß, sondern mindestens dreimal so groß ais die der 
Umwelt 1 ). 

Auch auf diese Weise erhält man immer erst ein Mindest- 
maß des Erbeinflusses. Der beobachtete Unterschied von EZ 
ist gegenüber dem realen Unterschied nämlich noch durch den 
Meßfehler vergrößert. Es ist z. B. nicht möglich, die Körper- 
länge auf ein Millimeter genau zu messen. Auch wenn zwei EZ 
wirklich genau gleich groß wären, würde die Messung einen 
Unterschied von einigen Millimetern im Durchschnitt ergeben. 
Bei ZZ dagegen, die schon ihrer Erbanlage nach verschieden 
groß sind, gleichen die Meßfehler sich zum größten Teil aus. 

Der Meßfehler läßt sich praktisch nicht von den flüch- 
tigen Modifikationen trennen. Die Körperlänge ist z. B. etwas 
von der Haltung im Augenblick des Messens abhängig. Man 
kann solche Unterschiede einerseits als Meßfehler, anderer- 
seits aber auch als tatsächliche flüchtige Modifikationen an- 
sehen; bei straffer Haltung ist die Körperlänge in dem betref- 
fenden Augenblick tatsächlich größer als bei lässiger Haltung. 
Man muß sich bei der Zwillingsforschung also darüber klar 
werden, ob man auch flüchtige Modifikationen oder nur dau- 
ernde erfassen will. 

Besonders groß sind die Meßfehler bzw. die nie ganz da- 
von zu trennenden flüchtigen Modifikationen bei seelischen 
Eigenschaften. Wenn man an einer Reihe EZ einen durch- 
schnittlichen Unterschied findet, der nicht wesentlich über den 



v ) Lenz, F. Inwieweit kann man aus Zwillingsbclunden auf Erbbc- 
dingtheit oder Umwelteinfluß schließen ? Deutsche medizinische Wochen- 
schrift 1935. Nr. 22. S. 873. 



DIE ZWILLINGSMETHODE. 



653 



r 



y 



durchschnittlichen Meßfehler hinausgeht, so bleibt es über- 
haupt zweifelhaft, ob ein tatsächlicher Unterschied der EZ in 
dem betreffenden Merkmal besteht. Wenn der durchschnittliche 
Meßfehler e ist, so ist zu erwarten, daß an zwei gleichen In- 
dividuen im Durchschnitt eine scheinbare Differenz von e V 2 
gefunden wird 1 ), also ein Unterschied, der um etwa 400/0 grö- 
ßer als der durchschnittliche Meßfehler ist. 

Man hat bei Intelligenzprüfungcn an Zwillingen gefunden, 
daß der durchschnittliche Unterschied der EZ etwa die Hälfte 
oder etwas mehr von dem der ZZ betrug, und daraus geschlos- 
sen, daß die Fähigkeit, Intelligenzprüfungen zu bestehen, un- 
gefähr zur Hälfte umweltbedingt sei. Dieser Schluß ist nach 
den vorstehenden Überlegungen falsch. Der durchschnittliche 
Unterschied der ZZ kann durch nichterbliche Einflüsse mög- 
licherweise nur ganz wenig vergrößert sein. Die erbliche Ver- 
anlagung kann zum Zustandekommen dieses Unterschieds ein 
Vielfaches von dem Einfluß der Umwelt beigetragen haben. 

Es scheint, daß Unterschiede, die im Verlauf der Em- 
bryonalentwicklung entstehen und die nicht auf Umweltein- 
flüsse im gewöhnlichen Sinne zurückzuführen sind, bei EZ häu- 
figer bzw. ausgesprochener vorkommen als bei ZZ. So zeigen 
EZ bei der Geburt in der Kopfform, der Körperlänge und dem 
Gewicht im Durchschnitt nicht geringere Unterschiede als ZZ 
(v. Verschuer). Da die Unterschiede der ZZ sicher zum 
großen Teil erbbedingt sind, müssen die nicht erbbedingten 
Unterschiede bei den EZ größer sein. Dem entspricht die Er- 
fahrung, daß die genannten Unterschiede nach der Geburt ab- 
nehmen, bei den ZZ dagegen zunehmen. Die größere Ver- 
schiedenheit der vorgeburtlichen Entwicklung bei den EZ ist 
vermutlich eine Folge ihrer Entstehung aus einem Ei. Die bei- 
den Embryonalanlagen eines EZ-Paares liegen unmittelbar 
nebeneinander. Daher beeinflussen bzw. beeinträchtigen sie sich 
vermutlich gegenseitig stärker als die von ZZ. EZ scheinen 
häufiger in ihrer Händigkeit (Links- oder Rechtshändigkeit) 

J ) Zur Begründung dieser Formel sei folgendes bemerkt: Wenn der 
durchschnittliche Fehler einer Messung, d. h. die durchschnittliche Ab- 
weichung vieler Messungen vom Mittel, e ist, so ist der durchschnittliche 

e 
Fehler zweier Messungen nach dem Gaußschen Fehlergesctz -y -■. Der 

durchschnittliche Fehler zweier Messungen ist aber andererseits gleich der 
lialbcn Differenz der beiden Messungen. Ist die Differenz d, so ist also 

■■ ■ = —r-~ ; daraus ergibt sich d == e V 2. 

2 V 2 



654 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



DIE ZWILLINGS METHODE. 



655 



diskordant zu sein als ZZ, Zwillinge überhaupt häufiger als 
andere Geschwister. Bouterwck 1 ) glaubt Unterschiede im 
seelischen Verhalten zweier EZ zum Teil auf eine damit zu- 
sammenhängende Rechts- bzw. Linkshirnigkelt zurückführen zu 
sollen. Da von den beiden Hirnhälften die eine die Führung in 
gewissen Funktionen zu übernehmen pflegt, wäre es immerhin 
denkbar, daß auch seelische Unterschiede auf diese Weise ent- 
stehen könnten. Bouterwek hat weiter darauf hingewiesen, 
daß zwei EZ öfter eine eigentümliche „polare" Verschiedenheit 
zeigen. So kann von zwei EZ-Schwcstern die eine ein mehr, 
die andere ein weniger ausgesprochen weibliches Wesen zei- 
gen, die eine mehr gefühlsmäßig, die andere mehr verstan- 
desmäßig handeln. Auch in der körperlichen Erscheinung 
pflegt sich das anzudeuten. Derartige Unterschiede könnten 
möglicherweise auch eine verschiedene Widerstandsfähigkeit 
gegen krankmachende Einflüsse zur Folge haben. Es wäre z.B. 
immerhin wenigstens denkbar, daß eine Anlage zu Schizophre- 
nie bei dem einen von zwei derart verschiedenen EZ leichter 
als bei dem andern zum Durchbruch kommen könnte. Jedenfalls 
muß man mit der Möglichkeit von Entwicklungsunterschieden 
rechnen, die nicht erbbedingt und die auch nicht umweltbe- 
dingt in gewöhnlichem Sinne sind. Man darf also nicht einfach 
alle Unterschiede von EZ als Umweltwirkungen im gewöhn- 
lichen Sinne buchen. 

Auch ZZ machen ihre vorgeburtliche Entwicklung zum 
Teil unter stärker verschiedenen Bedingungen als andere Ge- 
schwister durch. Wenigstens gilt das von den mechani- 
schen Bedingungen. Während einem Einling der ganze Raum 
der Gebärmutter zur Verfügung steht, beeinträchtigen Zwil- 
linge sich unvermeidlich gegenseitig. Auch bei ZZ können auf 
diese Weise vermutlich Unterschiede der Kopfform, des Ge- 
burtsgewichtes u. a. entstehen. Die chemischen Bedingun- 
gen, unter denen sich Zwillinge entwickeln, sind dagegen im 
Durchschnitt gleichartiger als bei andern Geschwistern. Das 
gilt z. B. für die Ernährung, hormonale Einflüsse seitens der 
Mutter, Toxine und Antitoxine. 

Eine über das sonst bei Geschwistern gewöhnliche Maß 
hinausgehende Ähnlichkeit von Zwillingen kann auch durch 
die Gleichaltrigkeit bedingt sein. Da die meisten Zwillings- 
arbeiten sich vorwiegend auf Beobachtungen an Kindern 

1 ) Bouterwck, H. Asymmetrien und Polarität bei erbgleichen 
Zwillingen. ARGB. Bd. 28. H. 3. S. 241. 1934, 



stützen, muß diese Fehlerquelle sorgfältig beachtet werden. 
Während des Kindesalters pflegt z. B. ein Nachdunkeln der 
Haare und eine Vermehrung der Muttermale r einzutreten; und 
daher weisen diese Merkmale bei Zwillingen schon infolge der 
Gleichaltrigkeit eine höhere Korrelation als bei andern Ge- 
schwistern auf. 

Die Möglichkeit, daß Unterschiede von Zwillingen durch 
verschiedene mechanische Bedingungen während der vorge- 
burtlichen Entwicklung entstehen können, muß stets berück- 
sichtigt werden, wenn man Trugschlüsse vermeiden will. Wenn 
z. B. bei einem von zwei EZ Hochköpf igkeit (Hypsikephalie) 
beobachtet wird, so folgt daraus nicht etwa, daß' die Kopfform 
für gewöhnlich nicht erblich sei. Die Entwicklung der aller- 
meisten Menschen erfolgt eben nicht unter den Bedingungen 
der Zwillings Schwangerschaft. 

Die Wirkungen von Umwelteinflüssen, wie sie im gewöhn- 
lichen Leben vorkommen, können am besten an EZ, die in 
verschiedener Umwelt aufwachsen, studiert werden. Besonders 
Newman 1 ) hat sich große Mühe gegeben, solche EZ-Paare 
aufzufinden und ihr Lebensschicksal möglichst genau zu er- 
forschen. Von diesen Forschungen wird noch in dem Abschnitt 
über die geistige Begabung die Rede sein. Auch die genaue 
Erforschung der Beschaffenheit von EZ, die in gleicher Um- 
welt aufgewachsen sind und leben, ist von großem Interesse, 
da deren Unterschiede nicht auf Unterschiede der Umwelt in 
gewöhnlichem Sinne, sondern nur auf solche der Embryonal- 
entwicklung zurückgeführt werden können. Natürlich ist die 
Umwelt zweier Zwilling'e niemals völlig gleich und niemals völ- 
lig verschieden. Der Grad der Verschiedenheit der Umwelt ist 
auch nicht exakt zu erfassen. Gleichwohl aber bieten solche 
Fälle die beste Möglichkeit, den Einfluß der Umweltunter- 
schiede des gewöhnlichen Lebens zu erforschen. Natürlich dür- 
fen auch hier nicht aus einzelnen Fällen weitgehende Schlüsse 
gezogen werden. Es sei noch einmal daran erinnert, daß die 
Eineiigkeit im Einzelfall nicht völlig sicher festgestellt werden 
kann. DahersindBeobachtungen an möglichst vielen Fällen nötig. 

Während EZ, die in verschiedener Umwelt leben, den Ein- 
fluß der Umwelt bei gleicher Erbmasse zu studieren gestatten, 
tritt die Bedeutung der Erbmasse am klarsten an ZZ, die in 
gleicher Umwelt leben, zutage. 

J ) Newman, H. H. Mental ancl physical traits of identical twins re- 
ared apart. Journal of Heredity. Bd. 25. S. 208. 1934. 



656 



FRITZ LENZ, METHODEN. 



Wenn man aus Zwillings befunden, die sich auf die durch- 
schnittlichen Unterschiede von EZ einerseits und ZZ anderer- 
seits beziehen, Schlüsse auf die Ursachen der tatsächlichen 
Unterschiede in der Bevölkerung ziehen will, so muß man fol- 
gendes bedenken : Die Unterschiede der Umwelt, unter denen 
die Angehörigen eines Volkes leben, sind im Durchschnitt viel 
größer als die Unterschiede der Umwelt von Zwillingen. An- 
dererseits aber sind auch die Unterschiede der Erbmasse in 
der Bevölkerung im Durchschnitt viel größer als die von zwei- 
eiigen Zwillingen; denn diese haben ja mindestens die Hälfte 
ihrer Erbmasse gemeinsam. Man kann sich vorstellen, daß die 
Erbverschiedenheit zwischen zwei beliebigen Individuen in 
einer Bevölkerung gegenüber der zwischen zwei zweiengen 
Zwillingen im Durchschnitt im gleichen Maße größer sei als 
die Verschiedenheit ihrer Umwelt gegenüber der zweieiiger 
Zwillinge. Falls eine derartige Annahme zutreffen sollte, würde 
das Verhältnis von Erbanlage und Umwelt an den Unterschie- 
den zweier beliebiger Individuen dasselbe sein wie das an den 
Unterschieden zweieiiger Zwillinge. 

Ein solches Ergebnis gilt aber nur für eine Bevölkerung von 
gegebener Erbmischung und für die Umwelt, in der sie lebt. Der 
Einfluß der Umwelt ergibt sich bei Zwillings unter suchungen 
um so größer, je größere Unterschiede der Umwelt in der 
Bevölkerung tatsächlich vorkommen. Das Ergebnis hängt also 
nicht allein von der Modifizierbarkeit der Anlagen ab, son- 
dern auch von der Häufigkeit und dem Ausmaß der tatsäch- 
lichen Modifikationen. Andererseits erscheint die Bedeutung 
der erblichen Veranlagung auf Grund von Zwilling sunt er- 
suchungen um so größer, je mehr und je größere Erbunter- 
schiede in einer Bevölkerung tatsächlich vorkommen. In einer 
völlig erbgleichen (isogenen) Bevölkerung wäre ungefähr das- 
selbe Verhältnis von Konkordanz und Diskordanz bei EZ und 
ZZ zu erwarten (soweit Entwicklungs Verschiedenheiten in 
Frage kommen, bei EZ sogar eine geringere Konkordanz). 
Man würde versucht sein, daraus auf Bedeutungslosigkeit der 
Erbanlage im Vergleich zur Umwelt zu schließen; und für die 
gedachte Bevölkerung würden Unterschiede der Erbanlage in 
der Tat keine Bedeutung haben. Irgendeine Eigenschaft würde 
danach als um so weniger erblich erscheinen, je weniger erb- 
gemischt bzw. je reinrassiger eine Bevölkerung wäre. Nun 
ist aber die Erblichkeit einer Eigenschaft als solche in einer 
reinrassigen Bevölkerung offenbar nicht .geringer als in einer 



DIE ZW/LUNGSMETNODE. 



657 



gemischten. Die Übereinstimmung zwischen Eltern und Kin- 
dern ist in einer reinen Bevölkerung ja größer als in einer 
gemischten; man hat in dem Grade dieser Übereinstimmung 
ja geradezu ein Maß der „Erbkraft" gesehen. So erscheint eine 
Eigenschaft einerseits um so stärker erblich, je erbgemischter, 
und andererseits, je erb reiner die Bevölkerung ist. Dieser 
Widerspruch rührt davon her, daß der Begriff „erblich" in 
zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird, einmal be- 
zogen auf die Unterschiede und ein andermal auf die Eigen- 
schaften bzw. den Typus als solchen 1 ). Diese verschiedenen 
Bedeutungen des Wortes „erblich" werden auch in der wissen- 
schaftlichen Literatur meist nicht klar auseinandergehalten. 
Jedenfalls tut man gut, sich darüber klar zu werden, daß Aus- 
sagen, die auf Grund des durchschnittlichen Verhältnisses von 
Konkordanz und Diskordanz bei Zwillingen gemacht werden, 
sich eigentlich immer nur auf die tatsächlich vorkommenden 
Unterschiede in einer Bevölkerung von gegebener Mischung 
von Erbmasse und Umwelt beziehen. Daraus folgt, daß es 
nicht möglich ist, den Anteil von Erbmasse und Umwelt an 
einer Eigenschaft jemals genau zu bestimmen. Man soll von 
der Zwillingsmethode nichts verlangen, was sie nicht leisten 
kann. Innerhalb der ihr von der Natur gesteckten Grenzen ist 
sie mit die wertvollste Methode der Erbbiologie. 

*) Entsprechendes gilt von dem Begriff des Gens oder der Erbeinheit, 
den Baur als einen „Grundunterschied" definiert, während andere Autoren 
sich darunter ein positives Etwas vorstellen. 



Baiir-Fisciier-I, cuz I. 



Fünfter Abschnitt 



Die Erblichkeit der geistigen Eigenschaften 



Von 
Professor Dr. Fritz Lenz. 



( ie geistigen Unterschiede der Menschen sind nicht nur un- 
gleich größer als die körperlichen, sondern auch ungleich 
bedeutungsvoller. Die Kulturwelt, in der wir leben, ist durch den 
menschlichen Geist gestaltet. Die geistige Ausstattung der Men- 
schen, ihre Eignung für die Bewahrung und Weiterführung der 
Kultur ist äußerst verschieden. Von der höchsten Verstandes- 
begabung bis zur Idiotie gibt es ungezählte Stufen und Über- 
gänge, und Entsprechendes gilt auch von den Unterschieden 
des Temperaments und Charakters. Woher kommt es nun, daß 
manche Menschen klug, viele dumm und die meisten mittel- 
mäßigsind? daß die einen meist heiter, die anderen meist trau- 
rig sind, daß einige betriebsam und andere träge, daß diese 
menschenfreundlich und jene eigensüchtig sind? Für den, der 
biologisch zu denken gewöhnt ist, ist es ganz selbstverständ- 
lich, daß die seelische Eigenart des Menschen ebenso wie die 
körperliche ihre Wurzel in der erblichen Veranlagung hat und 
daß die äußeren Einflüsse einschließlich der Erziehung nur eine 
Ausgestaltung oder Hemmung der erblichen Anlagen bewirken. 

In der psychologischen Erblehre liegt wegen ihrer ent- 
scheidenden Bedeutung für die menschliche Kultur der Schwer- 
punkt der Erblehre überhaupt. Leider ist sie zugleich auch ihr 
schwierigstes Teilgebiet, weil die seelischen Eigenschaften und 
Anlagen so wenig der Messung zugänglich und auch sonst so 
schwer zu erfassen sind. Abgesehen davon ist die Methode der 
psychologischen Erbforschung aber genau dieselbe wie die der 
sonstigen menschlichen Erbforschung. 

Schon bei Besprechung der krankhaften Erbanlagen sind 
wir einigen Tatsachen begegnet, die Schlüsse auf die Erblich- 
keit normaler seelischer Fähigkeiten erlauben. So können wir 
aus dem geschlechtsgebundenen rezessiven Erb gange der Rot- 
grünblindheit schließen, daß gewisse geschlechtsgebundene 
dominante Erbanlagen zum Zustandekommen normaler Far- 
bentüchtigkeit nötig sind. Das ist nur eine Betrachtung von der 
anderen Seite her. Die Farbenblindheit ist eine seelische Ano- 
malie, nämlich ein Mangel der Sinneswahrnehmung, die Far- 
bentüchtigkeit eine normale seelische Fähigkeit. Ganz entspre- 



662 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



chend kann man aus dem Vorkommen rezessiver Erbanlagen, 
die Taubstummheit bedingen, schließen, daß es gewisse domi- 
nante Erbanlagen gibt, die bei der Entstehung normalen Ge- 
hörs mitwirken. In einer Bevölkerung, in der die allermeisten 
Leute taubstumm wären, würde normale Hörfälligkeit als eine 
dominant erbliche Anlage verfolgt werden können, und zwar 
würde diese als eine eigentümliche höhere Fähigkeit imponie- 
ren, Vorgänge wahrzunehmen, ohne sie zu sehen, eine Fällig- 
keit, von der sich die Mehrheit d.er Bevölkerung keine rechte 
Vorstellung machen könnte. Aus dem Vorkommen erblicher 
Geistesschwäche können wir auf die erbliche Bedingtheit der 
normalen Verstandesanlagen schließen; und aus der Tatsache, 
daß es eine ganze Reihe verschiedener Arten erblicher Geistes- 
schwäche gibt, folgt weiter, daß beim Aufbau des normalen 
Verstandes eine ganze Anzahl von Erbeinheiten mitwirken, von 
denen keine fehlen darf, ohne daß Mängel des Verstandes in die 
Erscheinung treten. In einer Bevölkerung von lauter Schwach- 
sinnigen würde normale Begabung als eine erbliche besondere 
Fähigkeit des Geistes hervortreten, der allerdings die große Mehr- 
zahl der Bevölkerung verständnislos gegenüberstehen würde. 

Entsprechend verhält es sich mit der Erblichkeit von Be- 
gabungen, die den Durchschnitt der heutigen Bevölkerung in ähn- 
lichem Grade überragen, wie diese die Begabung der Schwach- 
sinnigen. Man pflegt derartige hervorragende Begabungen im 
Deutschen mit den beiden Fremdwörtern .„Talent" und „Genie" 
zu benennen, wobei man unter „Talent" mehr einseitige Be- 
gabungen, besonders auf künstlerischem Gebiet, unter „Genie" 
dagegen vielseitige und umfassende Begabungen zu verstehen 
pflegt. Andererseits hat man freilich auch einen Gradunter- 
schied dabei im Äuge. So wie etwa Idiotie einen höheren Grad 
von Geistesschwäche gegenüber dem Schwachsinn bedeutet, 
soll mit dem Wort „Genie" ein besonders hoher Grad hervor- 
ragender Begabung gegenüber dem bloßen „Talent" bezeich- 
net werden. Man stellt sich vor, daß in einer Millionenbevölke- 
rung zwar viele „Talente", aber höchstens ganz wenige „Ge- 
nies" vorhanden sind. 

Während man die gewöhnlichen Unterschiede der Bega- 
bung in ihrer Erblichkeit begreiflicherweise nur schwer ver- 
folgen kann, ist das bei hervorragenden Begabungen leichter, 
und zwar einfach deshalb, weil sie sich stärker vom Durchschnitt 
abheben. Besonders auffällig ist das familienweise Vorkommen 
der musikalischen Begabung. 



BESONDERE BEGABUNGEN. 



663 



In der Familie Bach läßt sich hohe musikalische Begabung 
in ununterbrochener Reihe durch 6 Generationen männlicher 
Linie verfolgen; unter den Söhnen Johann Sebastian Bachs wa- 
ren nicht weniger als 5 bedeutende Musiker. Johann Sebastian 
sagte i. J. 1730 von seinen damals lebenden 7 Kindern: „Ins- 
gesamt sind sie geborene Musici" 1 ). 

Die dargestellte Sippentafel verdanke ich Herrn Oberlehrer i. R. Hugo 
Lämmerhirt in Leipzig, der die Familiengeschichte der verwandten Sippen 
Bach und Lämmer h tri eingehend erforscht hat. Alle früher veröffentlichten 
ßßc/2-Stammbäume sind mehr oder weniger unrichtig; das gilt auch von dem 
in der vorigen Auflage dieses Buches. 

Die hier abgebildete Sippentafel beschrankt sieh bewußt auf die männ- 
lichen Linien. Mit Ausnahme von Johann Sebastians beiden Frauen sind auch 
nur Männer in die Tafel aufgenommen, diese aber, soweit sie das erwachsene 




J.E. J.Lo, 



J.B. 



J.An. Frm. Em. 



F. Ctrn. 



Fig. 204. Hohe musikalische Begabung in der Familie Bach. Eine kleine 
schwarze Scheibe bedeutet Berufsmusiker, ein Ring um die Scheibe bedeutet 
Komponisten, die große schwarze Scheibe Johann Sebastian. Musikalische 
Begabung, die nicht beruflich betätigt wurde, ist durch einen Punkt im 
Kreise angedeutet; ein kleiner weißer Kreis bedeutet, daß über musikalische 
Begabung bei dem betreffenden Mitglied der Sippe nichts bekannt ist. 



Alter erreicht haben, vollständig. Jung gestorbene sind nicht aufgenommen, 
weil sie keine Gelegenheit zur Bewährung eines etwaigen Talents hatten. Aus 
dem gleichen Grunde sind die weiblichen Sippcnmitglieder nicht aufgenom- 
men. Ihre Berücksichtigung hätte die sippenmäßige Häufung der musikali- 
schen Begabung nicht so konzentriert erscheinen lassen, wie sie es tatsächlich 
gewesen ist. 

Die Komponisten waren in der Reihe der Sippentafel folgende: 
III 1, Johann, 1604—73 (unsicher ob Komponist), Erfurt. 

III 3, Heinrich, 1615—92, Arnstadt. 

IV 5, Georg Christof, 1642—97, Schweinfurt. 
IV 8, Johann Michael, 1648—94, Gekren. 

IV 9, Johann Christof, 1642—1703, Eisenach. 

!) Nach brieflicher Mitteilung von Herrn Oberlehrer H u g o Lam- 
ra e t li i r t in Leipzig. 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



V 4, Johann Bernhard, 1676 — 1749, Eisenach. 

V 16, Johann Sebastian, 1685 — 1750, Leipzig. 

V 18, Johann Nikolaus, 1669 — 1753, Jena. 

V 20, Johann Friedrich, 16.. — 1730, Mühlhausen i. Th. 
VI 4, Johann Ernst, 1722 — 1777, Eisenach. 

VI 5, Johann Lorenz, 1695— 1773, Laben i. Frk. 

VI 10, Johann Bernhard, 1700 — 1743, Ohrdruf. 

VI 13, Johann Andreas, 1713 — 1779, Ohrdruf. 

VI 14, Wilhelm. Friedeinann, 1710 — 1784, Halle a. S. 

VI 15, Karl Philipp Emamiel, 17 14 — 1788, Berlin, Hamburg. 

VI 18, Johann Christoph Friedrich-, 1732— 1795, -Bückeburg. 

VI 19, Johann Christian, 1735— 1782, Mailand, London. 

Die Generationen sind mit römischen Ziffern bezeichnet, wobei die 
Generation Veit Bachs als die erste gerechnet ist. Auch ein Sohn Wilhelm 
Friedemanns (VI 14), Wilhelm Friedrich Ernst, 1759 — 1845, hat sich als 
Komponist betätigt. Seine Generation, die noch 4 andere Berufsmusiker 
enthält, ist hier aber aus Rücksicht auf den Raum weggelassen. 

Auch in den verschwägerten Familien Mozart und Weber 
läßt sich hohe musikalische Begabung durch mehrere Gene- 
rationen verfolgen. 

In der vorigen Aullage dieses Buches war eine Sippentalel der Familien 
Mozart und Weber nach J. A. M j ö c n wiedergegeben, auf deren Unrichtig- 
keit mich Herr Präsident Dr. .F. Reinohl, Stuttgart, aufmerksam ge- 
macht hat. Konstanze Weber war die Frau Wollgang Amadeas Mozarts und 
nicht seine Mutter. 

Kureila 1 ) hat 28 Musikerfamilien zusammengestellt, in 
denen sich hohe musikalische Begabung durch drei und mehr 
Generationen verfolgen läßt. Außer den schon genannten gilt 
das z. B. von den Familien Beethoven, Brahms, Schubert und 
Liszt. 

Haeckc r und Ziehen 3 ) haben auf Grund von Fragebogenerhe- 
bungen über 350 Familien sich dahin ausgesprochen, daß Erbanlagen, die 
musikalische Begabung bedingen, im allgemeinen dominant seien. Weib- 
liche Personen werden seltener als hochmusikalisch angegeben, doch war die 
Vererbung bei gleicher Höhe der Begabung durch die Mutter deutlicher als 
durch den Vater zu verfolgen, was dafür spricht, daß musikalische Erban- 
lagen im weiblichen Geschlecht weniger als im männlichen zur Geltung zu 
kommen pflegen. Koch und F. M j ö e n 3 ) dagegen sind auf Grund eines 
ähnlichen Fragebogenmaterials (315 Familien) zu dem Schluß gekommen, 
daß positive und negative musikalische Belastung seitens der Eltern gleich 
wirksam sei und daß auch Belastung seitens des Vaters ebenso wirksam 
wie seitens der Mutter sei. 



*) Kurella, PI. Die Intellektuellen und die Gesellschaft. Wiesbaden 
1913. J. F. Bergmann. S. 119. 

2 ) Haecker, V. und Ziehen, Th. Zur Vererbung und Entwick- 
lung der musikalischen Begabung. Leipzig 1923. J. A. Barth. 

3 ) Koch, PI. und M j ö e 11 , F. Die Erblichkeit der Musikalität. Zeit- 
schrift für Psychologie. Bd. 99. 1926. S. 16. 



BESONDERE BEGABUNGEN. 



665 



Jon Alfred Mjöen 1 ) hat auf Grund von Erhebungen an 
114 Familien gefunden, daß zwei musikalisch unbegabte Eltern 
regelmäßig wieder nur unbegabte Kinder haben, zwei hochbe- 
gabte Eltern dagegen regelmäßig nur begabte und hochbegabte 
Kinder. Mit der Begabung der Eltern steigt auch die der Kin- 
der. In einer norwegischen Sippe waren sämtliche 37 Mitglie- 
der musikalisch begabt. 

Der Vater des norwegischen Komponisten Cleve war in erster Ehe mit 
einer unmusikalischen Frau verheiratet und hatte von ihr fünf unmusikalische 
Kinder; in zweiter Ehe dagegen bekam er von einer musikalischen Frau fünf 
musikalische Kinder, darunter den hervorragend musikalischen Hatjdan 
Cleve. In einer von Mjöen aufgenommenen Familie hatte eine Virtuosm 
von einem musikalischen Manne sieben hochmusikalische Kinder; sie selber 
sollte angeblich von zwei unmusikalischen Eltern abstammen. Später erfuhr 
Mjöen jedoch von einem Familienmitgliede, daß sie ein außereheliches 
Kind sei und in Wirklichkeit von einem großen Musiker abstamme. 

M j Ö e n hat bei seinen Sippenforschungen den Grad und die Art 
der musikalischen Begabung nach Möglichkeit durch eigene Prüfungen fest- 
zustellen gesucht. Das Hauptgewicht wurde auf die Fähigkeit, eine Melodie 
zu erfassen, eine Unterstimme wiederzugeben und eine Unterstimme zu im- 
provisieren, gelegt. Außerdem hat Mjöen, wie übrigens auch schon Hae- 
cker und Ziehen und Miss Stanton») versucht, die einzelnen Kompo- 
nenten der musikalischen Begabung zu erfassen. 

Die musikalische Begabung ist offenbar keine genetische 
Einheit; sie setzt sich vielmehr aus mehreren Anlagen zusam- 
men. Sicher ist sie polymer bedingt. Außer der Empfindlich- 
keit für Torihöhenunterschiede sind wichtig die Empfänglich- 
keit für Konsonanzen und Dissonanzen, die Gefühlsbetonung 
von Tonfolgen sowie das Gefühl für Rhythmus. Wenn jene An- 
lagen, die musikalische Begabung bedingen, in einem Men- 
Menschen vereinigt sind, so darf man aber noch nicht erwar- 
ten, daß er nun auch geniale Leistungen auf dem Gebiete der 
Musik erreichen werde. Zwischen der Musikalität und sonstiger 
Schulbegabung (Rechnen, Deutsch) besteht keine deutliche 
Korrelation 3 ). Ausgesprochen musikalisches Empfinden kommt 
sogar bei Schwachsinnigen vor; selbstverständlich aber kann 
ein Schwachsinniger kein großer Musiker werden. Insbeson- 
dere zu schöpferischer Betätigung auf clem Gebiete der Musik 
bedarf es nicht nur eines hervorragenden Musikgehörs, son- 

*) Mjöen, J. Ä. Zur Erbanalyse der musikalischen Begabung. Plere- 
ditas. Bd. 7. 1925. 

a ) Stau ton, PL M. The inheritance of specific musical capacities. 
Eugenics Rccord Office Bulletin Nr. 12. Cold Spring Harbor 1922. 

3 ) Koch, PI. und Mjöen, PI. Zur vergleichenden Psychologie der 
Allgemeinbegabung und der Musikalität. Z. f. Psychologie Bd. 128. H. 
4—6. 1933. S. 241. 



666 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



dem auch eines reichen Gefühlslebens, reger Phantasie und 
geistiger Gestaltungskraft. Damit hängt es offenbar zusammen, 
daß sich in der Familie eines musikalischen „Genies" zwar in 
der Regel noch weitere talentierte Musiker zu finden pflegen, 
nicht aber ein zweites Genie. Wir brauchen daher auch nicht 
anzunehmen, daß Johann Sebastian Bach seine musikalischen 
Verwandten gerade in der eigentlich musikalischen Anlage über- 
ragt habe; es genügt, daß bei ihm besondere andere geistige 
Anlagen damit zusammentrafen. Entsprechend dürfte auch auf 
anderen Gebieten der Unterschied zwischen der einseitigen Be- 
gabung des Talents und der umfassenden des Genies Zustande- 
kommen. 

Die sippenmäßige Häufung musikalischer Begabung wird 
durch den Umstand begünstigt, daß musikalische Menschen 
mit Vorliebe musikalische Gatten wählen („assortativemating", 
Homogamie). Darauf hat schon Galton hingewiesen; und 
alle späteren Untersucher haben diese Beobachtung bestätigt 
gefunden. 

In unserer Bevölkerung ist die Musikalität auffallend variabel. Ausge- 
sprochen unmusikalische Menschen sind viel häufiger als etwa Farbenblinde 
oder Schwachsinnige. Man muß daraus schließen, daß die Musikalität unter 
unseren Lebensverhältnissen nur einen geringen Erhaltungswert hat. Und 
doch muß sie in der Vergangenheit einen wesentlichen Auslesevortcil gehabt 
haben; sonst hätte sich eine so ausgesprochene Fähigkeit stamm es geschicht- 
lich gar nicht entwickeln können. Mit diesem Problem hat sich schon 
Weis mann beschäftigt. Mir wurde der Erhaltungswert der Musik im 
Leben der Naturvölker deutlich durch den englischen Tonfilm „Bosambo". 
Man erlebt darin gewissermaßen mit, wie die Neger durch Gesänge, Trom- 
meln und rhythmischen Tanz zum Kampf begeistert werden. Unmusikalische 
Stämme würden leichter den Feinden erliegen. Auch für die geschlechtliche 
Werbung spielt der ursprünglich kriegerische Gesang eine Rolle. Die Mu- 
sik gibt den Gefühlen Ausdruck und ermöglicht es, Gefühlte auf andere 
zu übertragen, z. B. das der Begeisterung. Im Leben der Kulturvölker ist 
von dieser ursprünglichen Bedeutung der Musik ein guter Teil in der Mili- 
tärmusik und in den Liebeslicdern erhalten. 

Hervorragende Begabung für Malerei und Plastik 
kommt ähnlich wie die musikalische sippenweise gehäuft vor. 
So sind aus der Verwandtschaft Tizians 9 Maler hervorgegan- 
gen 1 ). Für die bildende Kunst gilt in noch höherem Maße als 
für die Musik, daß zu der eigentlichen Formbegabung, der 
Anschaulichkeit der Vorstellungs- und Gedächtnisbilder, noch 
mancherlei andere geistige Anlagen hinzukommen müssen, da- 
mit bedeutende Leistungen entstehen. Große bildende Künstler 
stammen daher in der Regel aus Sippen, aus denen auch auf 

1 ) Nach Galton, F. Hereditary Genius. London 1869. Macmillan. 



BESONDERE BEGABUNGEN. 



667 



andern Gebieten bedeutende Männer hervorgehen. Das gilt 
z. B. von der Sippe Anseltn Feuerbachs. 

Die fränkische Familie V ' oltz hat mehrere erfolgreiche Maler gestellt. 
Außerdem waren eine Reihe weiterer SippenmitgHcdcr malerisch talentiert, 
ohne einen Beruf daraus zu machen 1 ). 

Recht auffallend ist auch die sippenmäßige Häufung der 
mathematischen Begabung. 

Berühmt geworden ist die Mathematikerfamilie Benioüüi, aus der 8 
bedeutende Mathematiker hervorgegangen sind 2 ). Das Schema zeigt nur den 
genealogischen Zusammenhang der mathematisch begabten Bertiotdlis, ist 
aber unvollständig, da die weiblichen Mitglieder und vielleicht auch einige 
männliche nicht bekannt sind. Der Stammvater lebte 1623—1708, der letzte 
Mathematiker 1744— 1807. 

Auch die Anlage zur Mathematik ist keine genetische Ein- 
heit. Man kann eine mehr räumlich-anschauliche (geometrische) 
und eine mehr logisch-begriffliche (algebraische) Begabung 
unterscheiden. Beide können für sich 
und auch zusammen vorkommen. Eine 
weitere Teilanlage mathematischer Be- 
gabung ist das Zahlengedächtnis und 
die Begabung für Kopfrechnen. Diese 
verschiedenen Teilbegabungen kommen 
familienweise gehäuft vor; Ziehen 4 ) 
fand das besonders für die räumlich - 
anschauhche Begabung. Die logisch- 



d 



Fig. 205. 
mathematische bedeutet nicht notwen- IIohc mathematische Be- 
dig auch logische Begabung auf an- ff^ung in der _ Familie 
n ö ,-,,• t-,? ■ ■ ■ -1 Bernoulli. Die mit einem 

deren Gebieten, z. B. dem juristischen. Ring bczcichncten Mitgiie- 

Die genannten Teilanlagen wären nach der bildeten „eine Klasse 
Ziehen auch noch nicht als letzte für sich". 3 ) 

Einheiten, („ultimale Komponenten"), 

d. h. als monomer, anzusehen. Die elementaren Teilanlagen 
könnten nach seiner Ansicht einfach dominant sein eben- 
so wie entsprechende Teilanlagen der Musikalität. Für ge- 
schlechtsgebundene Erbanlagen fand er in seinem Material 
von 127 mittels Fragebogen aufgenommenen Sippen keine 



x ) Voltz, F. Die Malerfamilie Voltz. Jahrbuch des Historischen Ver- 
eins für Nördlingcn und Umgebung. 1927. 

s ) Galton, F. Hereditary Genius. London 1869. Macmillan. 

3 ) v. Behr-Pinnow, C. Die mathematische Begabung in der Fa- 
milie Bernoulli. ARGB. Bd. 27. H. 4. S. 395. 1934. 

4 ) Haeckcr, V. (|) und Ziehen, Th. Beitrag zur Lehre von der 
Vererbung und Analyse der zeichnerischen und mathematischen Begabung. 
Z. f. Psychologie. Bd. 120. S. 1. 193t. 



668 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



BESONDERE BEGABUNGEN. 



669 



Anzeichen. Dagegen, äußert sich die geometrische und die 
algebraische Begabung viel seltener bzw. schwächer im weib- 
lichen Geschlecht. Die Äußerung dieser Anlagen ist also vor- 
wiegend auf das männliche Geschlecht begrenzt. Ausgespro- 
chene Begabung für Kopfrechnen fand sichern weiblichen Ge- 
schlecht immerhin etwa halb so oft wie im männlichen. 

Zwischen mathematischer und musikalischer Begabung scheint eine 
gewisse Korrelation zu bestehen, indem beide Arten der Begabung verhält- 
nismäßig häufig bei derselben Person oder auch in derselben Familie vor- 
kommen sollen (Möbius, Kurella). Da die Tonverhältnisse auf Zah- 
lenvcrhällnissen beruhen, muß es sich bei der Musik ja bis zu einem ge- 
wissen Grade um ein unbewußtes Zählen handeln. Ziehen hat eine deut- 
liche Korrelation zwischen geometrischer und rhythmischer Begabung, eben- 
so zwischen geometrischer und zeichnerischer Begabung gefunden. 

Begabung für technische Erfindungen kann in 
der Familie Krupp in Verbindung mit hervorragendem Or- 
ganisationstalent durch 3 Generationen männlicher Linie ver- 
folgt werden. Aber auch schon die Großmutter Friedrich 
Krupps, des Begründers der Essener Werke, war eine ganz 
ungewöhnlich begabte und tatkräftige Frau. Ebenso war die 
Gattin Friedrichs von hervorragender Tüchtigkeit und Willens- 
stärke. In ihrem Sohne Alfred, der beim Tode des Vaters erst 
14 Jahre alt war, war ihre Tatkraft mit der Erfinderphantasie 
des Vaters so glücklich vereinigt, daß er trotz seiner Jugend 
das Werk weiterführen und auf eine ungeahnte Höhe bringen 
konnte. Auch in seinem Sohne Friedrich Alfred vereinigten sich 
Erfindungsgabe und Organisationstalent in selten glücklicher 
Weise. In der Familie Siemens waren 3 (oder bei anderer Be- 
urteilung 4) Brüder unter 14 Geschwistern bedeutende Er- 
finder und erfolgreiche Unternehmer. Der überragendste war 
Werner von Siemens, dem ein nicht unbeträchtlicher Teil der 
großen Erfindungen des 19. Jahrhunderts zu danken ist. Merk- 
würdigerweise findet sich technisches Talent nicht nur in die- 
sem (Ohlhöfer) Zweige des Geschlechts, sondern auch in dem 
sogenannten Weddinger Zweige bei 3 Siemens, die mit Wer- 
ner von Siemens nur einen gemeinsamen Ururgroßvater haben. 
Auch sonst hat die Familie Siemens eine ganze Reihe hervor- 
ragend begabter und unternehmungstüchtiger Männer hervor- 
gebracht 1 ). 

Galton hat schon 1869 m seinem „Hereditary Genius" 
eine große Reihe hervorragender Sippen zusammengestellt, 

x ) Vgl. Siemens, H. W. Über das Erfindergcschlecht Siemens 
ARGB. 1916/17. 11.2. 



und seitdem sind noch viele andere bekannt geworden. In 
einem zweiten Buche 1 ) hat Galton über eine größere Zahl 
englischer Naturwissenschaftler und ihre Abstammung berich- 
tet. In einem dritten Werke 2 ) sind die Sippengeschichten 
von 100 Mitgliedern der Königlichen Wissenschaftlichen Gesell- 
schaft (englischen Akademie der Wissenschaften), der Fellows 
of the Royal Society (F. R. S.) niedergelegt. 

Galt 011s eigene Verwandtschaft ist ein typisches Bei- 
spiel einer hervorragend begabten Sippe. Galton war ein Vet- 



9 



Er.jiD. 



9^9 



cf 9 9 cf <f 9 9 9 t? 9 c? cf cT 



-rp— 1 i r 
Ch.D. 



9 9 9 9^*9 9 9 9 9 9 ^ 



°"9«9 



hoch begabt. 
■ hervorragend begabt und erfolgreich . 
■von weltgeschichtlicher Bedeutung 



Fig;. 206. 



Die Familien Darwin, Gallon und Wedgewood. 
Die angegebenen hohen Begabungen sind nur als Mindestzahl zu betrachten. 
Vermutlich waren auch noch andere Familienmitglieder hochbegabt, zumal un- 
ter den Frauen, die weniger Gelegenheit zur Betätigung ihrer Begabung hatten. 

ter Darwins, und er war geistig kaum weniger bedeutend als 
dieser; daß er nicht eine ebenso weltbewegende Entdeckung 
gemacht hat, spricht natürlich nicht für eine geringere Begabung. 
Immerhin ist Galtori der Begründer der modernen Rassen- 
hygiene geworden. Auf dem Gebiete der Erblehre hat er 
sogar entschieden klarere Vorstellungen als sein Vetter Dar- 
win entwickelt. Er war einer der hauptsächlichsten Bahnbre- 
cher der modernen Erbforschung. Außer Darwin und Galton 
sind aus demselben Verwandtschaftskreise noch eine ganze 
Anzahl bedeutender Köpfe hervorgegangen; ihr gemeinsamer 
Großvater Erasmas Darwin erfaßte den Grundgedanken der 
Abstammungslehre sogar früher als Lamarck. 

„Robert Warlng Darwin, sein Sohn, war ein ausgezeichneter Arzt und 
wie sein Vater ein F. R. S. (Mitglied der Kömglichen Akademie der Wis- 

*) Galton, F. English men of science, their nature and nurture. 
London 1874. 

3 ) Galton, F. and Schuster, E. Noteworthy Families. London 
1906. Murray. 



670 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



scnschaften), ein anderer Sohn, Charles, war von vielversprechender Be- 
gabung; obgleich er im Alter von 20 Jahren starb, halte er bereits die 
goldene Medaille der Ärztlichen Gesellschall; für experimentelle Forschung. 
Charles Robert Darwin, der Autor der „Entstehung der Arten" und allge- 
mein als einer der größten Naturforscher der Welt anerkannt, war der Sohn 
Robert W. Darwins. Er heiratete seine Base Emma Wedgewoocl, eine Enkelin 
Josiah Wedgewoods, F. R. S., des Begründers der keramischen Werke, die 
das berühmte Wedgewood- Porzellan lieferten. Charles Darwins vier Sohne 
wurden berühmte Leute: Francis Darwin, F.R.S., ein hervorragender engli- 
scher Botaniker, George Darwin, F. R. S. ; ein bekannter Astronom und Pro- 
fessor in Cambridge, Horace Darwin, F. R.S., ein hervorragender Ingenieur, 
Major Leonard Darwin ein Verfasser volkswirtschaftlicher Werke, Vorsit- 
zender der Gesellschaft für rassenhygienische Erziehung (Eugcnics Educa- 
tion Society) und des Internationalen Ausschusses für Rassenhygiene (Inter- 
national Eugenics Congress)." 1 ) 

In solchen Fällen kann es sich natürlich nicht einfach um 
eine dominante Anlage handeln, die sich in einer Sippe wie 
die Sechsfingrigkeit oder die Nachtblindheit ausbreitet. Die 
Häufung hoher Begabung in solchen Sippen kommt vielmehr 
zum guten Teil dadurch zustande, daß hervorragende Familien 
mit Vorliebe untereinander heiraten. 

Über die miteinander verschwägerten Familien Fleh und WislicenüS, 
die eine stattliche Anzahl bedeutender Forscher und Gelehrter hervorge- 
bracht haben, hat A. Fick 2 ) im Archiv für Rasscnbiologic berichtet. Zwei- 
fellos gibt es auch in Deutschland noch zahlreiche ähnliche Sippen; sie 
harren nur noch der Beschreibung unter dem Gesichtspunkt der erblichen 
Begabung. 

Galton 3 ) hat auch die Verwandtschaftsverhältnisse von 
415 hochberühmten Männern statistisch bearbeitet. In den 
300 Familien, denen diese angehörten, fanden sich im gan- 
zen etwa 1000 hervorragende Männer; und zwar zeigte sich, 
daß 100 hochberühmte Männer im Durchschnitt 31 bedeutende 
Väter, 41 bedeutende Brüder, 48 bedeutende Söhne, 17 bedeu- 
tende Großväter und 14 bedeutende Enkel hatten. Diese Zah- 
len werden oft angeführt; man macht sich dabei aber gewöhn- 
lich nicht klar, daß Galt 011 den Begriff der hervorragenden 
Begabung so eng faßte, daß :auf eine Million nur etwa 250 her- 
vorragende Männer kommen, also einer auf 4000. Wenn keine 
Erblichkeit der Begabung bestünde, so würden daher unter 
den 100 Vätern von 100 berühmten Männern nur 0,025 her- 
vorragende Männer zu erwarten sein; die Erfahrung übertrifft 
also die Erwartung um das i24ofache; unter den 200 Groß- 

') Holmes, S. I. The Trend of the Race. New York j 92 1 . 

2 ) Fick, A. Die "Familie Fick. ARGB. Ed. 14. H. 2. 1922. 
Die Familie Wislieenus. ARGB. Bd. 15. H. 2. 1923. 

3 ) Hereditary Genius. Vgl. S. 667. 



BESONDERE BEGABUNGEN. 



671 



vätern der berühmten Männer wären 0,05 hervorragende Män- 
ner zu erwarten, während Galton 17 fand; das geringere Ver- 
hältnis entspricht dem Umstände, daß ein Mensch mit einem 
Großvater einen geringeren Teil seiner Erbanlagen gemeinsam 
hat als mit seinem Vater. Da nach G al t o ns Erhebungen 100 
Mitglieder der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften 
(F. R. S.) im Durchschnitt 206 Brüder hatten, so würden auf 
100 berühmte Männer bei rein zufälliger Verteilung der Be- 
gabung etwa 0,05 hervorragende Brüder zu erwarten sein, wäh- 
rend die Untersuchung das Soofache ergab. Wenn wir auf 100 
berühmte Männer jener Zeit 200 Söhne annehmen, so würde 
bei den Söhnen die zufällige Verteilung um fast das looofachc 
übertroffen sein. 

In Amerika hat F. A. Woods 1 ) die Verwandtschaft von 
3500 bekannten Amerikanern verfolgt. Während irgendein ame- 
rikanischer Bürger die Wahrscheinlichkeit V500 hatte, mit einem 
von diesen näher verwandt zu sein, betrug die Wahrscheinlich- 
keit für einen dieser bekannten Männer, mit einem andern ver- 
wandt zu sein, i/r,, also das Hundertfache. Die 46 hochberühm- 
ten Amerikaner, die in die Ruhmeshalle aufgenommen sind, 
hatten sogar mehr als einen berühmten Verwandten im Durch- 
schnitt. Diese Verhältniszafüen von 1:100 bis 1:500 bleiben 
hinter den aus den Galtonschen Befunden sich ergebenden 
(1 : 800 bis 1 : 1200) entschieden zurück. Die Erklärung dieses 
Unterschiedes dürfte darin zu suchen sein, daß in dem demo- 
kratischen Amerika die Häufung der Begabungen in den Sip- 
pen nicht so ausgesprochen eingetreten ist wie in dem mehr 
ständisch gegliederten England, daß vielmehr eine stärkere 
Durchmischung der Stände und Sippen stattgefunden hat. 
Auch mag die stärkere Häufung der Berühmtheit in gewissen 
Sippen in England bis zu einem gewissen Grade auf stärkere 
äußere Förderung durch Familienbezi chungen zurückzuführen 
sein. Diese hat den Vorteil, daß dadurch manche hohe Be- 
gabung in die Lage kommt, sich auf dem ihr angemessensten 
Gebiet zu betätigen. 

BrimhalP) hat auf Grund vonErhebungen über 956 be- 
kannte amerikanische Naturforscher (einschließlich Mathemati- 
ker und Psychologen) ganz ähnliche Ergebnisse wie Galton 



') Woods, F. A. Heredity and the Hall of Farne. Populär Science 
Montly. Bd. 82. 1913. 

2 ) B r i m hall, D. R. Family resemblances among American men of 
science. The American Naturalist. Bd. 56 und 57. 1922 und 23. 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 

und Woods erhalten. Es zeigte sich, daß die hervorragenden 
Verwandten zum großen Teil ihre Erfolge in derselben Fach- 
gruppe für Naturwissenschaften erzielten; so zeichneten sich 
von 82 bekannten Verwandten hervorragender Physiker 1 8 eben- 
falls auf dem Gebiet der Physik aus, von 36 bekannten Ver- 
wandten hervorragender Botaniker 12 ebenfalls auf dem Gebiet 
der Botanik. Sehr bemerkenswert ist auch Brimhalls Fest- 
stellung, daß die Frauen der hervorragenden Naturwissen- 
schaftler sogar noch etwas mehr bekannte Verwandte haben als 
ihre Männer. Es finden also in ausgedehntem Maße Heiraten 
zwischen begabten Familien statt. Von 21 Frauen, die selber 
wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen hatten, waren 10 mit 
Zoologen verheiratet, was vielleicht daher kommt, daß Zoo- 
logen besonders viel Sinn für den Wert der Erbanlagen haben. 
Brimhall zieht aus seinen Ergebnissen den praktischen 
Schluß, daß die Gesellschaft ein großes Interesse daran habe, 
tüchtigen Wissenschaftlern die Aufzucht einer genügenden Zahl 
von Kindern zu ermöglichen, da von diesen Kindern viel mehr 
hohe Kulturleistungen zu erwarten seien als vom Durchschnitt. 
Gegen die Erblichkeit geistiger Begabung wird gern ein 
Satz Goethes ins Feld geführt: „Das Genie ist freilich nicht 
erblich." Er hat dabei vermutlich bedauernd an seinen Sohn 
August gedacht, dem es nicht an Erziehung und äußerer För- 
derung, wohl aber an angeborener Begabung fehlte. Es ist ge- 
wiß unbestreitbar, daß geniale Männer nicht wieder ebenso 
geniale Söhne zu haben pflegen; das beweist aber nicht das 
geringste gegen die Erbbedingtheit des Genies. Wir haben 
oben gesehen, daß eine ganze Anzahl von Erbanlagen zusam- 
mentreffen muß, damit eine hervorragende und umfassende 
Begabung entsteht. Jedes Kind bekommt aber von jedem sei- 
ner Eltern nur die Hälfte seiner Erbanlagen, und es ist in der 
Regel natürlich nicht gerade die bessere Hälfte der Erban- 
lagen. Selbst wenn also die Frauen der Genies regelmäßig die- 
selben günstigen Erbanlagen enthalten würden wie ihre Män- 
ner, was natürlich' in Wirklichkeit fast niemals der Fall ist, so 
würde es doch nicht zu erwarten sein, daß die Söhne der Ge- 
nies ihren Vätern gleichkämen. Wie alle polymer.en Eigen- 
schaften ist das Genie in gemischten Bevölkerungen nicht als 
solches erblich; gleichwohl aber sind die einzelnen Anlagen, 
die es bedingen, doch erblich. Bei entsprechender Auslese 
und Reinzucht würde das Genie daher ebenso wie andere poly- 
mere Eigenschaften erblich sein. 



BESONDERE BEGABUNGEN. 



67; 



Man hat darüber gestritten, ob man das Genie „züchten" könne. Die 
Antwort hängt davon ab, was man unter „Züchten" versieht. Johanuscn 
hat ein unter Pflanzenzüchtem verbreitetes Wort angeführt: das Geheimnis, 
eine bestimmte Rasse züchten zu können, besteht darin, sie zu besitzen. 
Wenn die für den Aufbau einer genialen Begabung erforderlichen Erbanla- 
gen in einer Bevölkerung fehlen, so kann dort auch kein Genie entstehen. 
Auf Mutationen kann man sich in dieser Hinsicht nicht verlassen; günstige 
Mutationen sind zu selten, als daß man beim Menschen praktisch damit rech- 
nen könnte. Die Züchtbarkeit des „Genies" hängt also von dem Vorhanden- 
sein entsprechender Erbanlagen in einer Bevölkerung ab. Wenn solche ge- 
geben sind, ist das Genie — ■ wenigstens theoretisch — - auch züchtbar. 

Eine solche biologische Auffassung des Genies widerstrebt erfahrungs- 
gemäß manchen Leuten sehr. Man verbindet mit dem Worte „Genie" viel- 
fach magische Vorstellungen; das Genie wird vergöttiieht; man sieht in 
ihm einen ersten Beweger, ein aus sich rollendes Rad, eine ursachlose ab- 
solute Spontaneität, die durch Erbe und Umwelt nicht determiniert sein 
könne. Durch Erfahrungstatsachen ist eine solche Ansicht jedenfalls nicht 
belegbar; die Erfahrung über .die Erbbedingtheit der einzelnen Anlagen 
spricht entschieden dagegen, insbesondere auch die Tatsache, daß die aller- 
meisten Genies psychopathisch sind. Aus einer magischen Neigung heraus 
hat man das Genie auch wohl als eine Mutation auffassen wollen, wobei man 
die „Mutation" als Ausfluß einer geheimnisvollen Schöpferkraft ansah, an- 
knüpfend an die Vorstellung von De Vries, daß neue Arten auf einen 
Schlag auf dem Wege der Mutation entständen. Seit wir wissen, daß Muta- 
tionen durch physikalische und chemische Ursachen entstehen und die Mu- 
tationen auch sonst nichts Schöpferisches an sich haben, weil sie ziellos 
und die meisten krankhaft sind, können wir mit der Zurückführung des 
Genies auf eine Mutation nichts anfangen, unbeschadet der Tatsache, daß die 
einzelnen Erbanlagen, die das Genie zusammensetzen, stammesgeschichllieh 
wie alle andern irgendwann auf dem Wege der Mutation entstanden sein 
müssen. 

Während auf dem Gebiet gewisser „Geisteswissenschaf- 
ten" auch heute noch wie zu Schellmgs und Hegels Zeiten Be- 
rühmtheit gelegentlich durch große Worte und magische Auf- 
machung erreicht wird, besteht diese Gefahr auf dem Gebiet 
der Naturwissenschaften kaum. Daher wären genealogische 
Untersuchungen über große Naturforscher von besonderem 
Interesse. Einen Anfang in dieser Richtung hat Ostwald- 1 -) 
gemacht. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Sippengeschichte 
der Träger des Nobelpreises für Physik, Chemie und Medizin 
systematisch zu erforschen. 

Große Leistungen entspringen nicht aus der Erbmasse 
allein; auch die Umwelt muß ihnen günstig sein. Die meisten 
Entdeckungen sind nur möglich a.uf der Grundlage der voran- 
gegangenen Kulturentwicklung, ihrer Wissenschaft und Tech- 



1 ) Ostwald, W. Große Männer. Studien zur Biologie des Genies. 
Leipzig 19 10. Akad. Vcrlagsgesellschaft. 



I) a u r - F i 5 c h e r - 1, e h st I. 



674 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



nik. Noch vor 100 Jahren hätte auch ein Planck die Quan- 
tentheorie nicht aufstellen können. Und dann gibt es wieder 
Zeiten, wo für einen Fachmann geradezu eine gewisse Be- 
schränktheit dazu gehört, eine Entdeckung nicht zu machen. 
Glück gehört natürlich auch dazu ; aber durch Zufall allein ist 
noch keine große Entdeckung zustande gekommen, auch nicht 
die der Röntgenstrahlen. Je mehr schon entdeckt ist, desto 
weniger bleibt für künftige Entdecker übrig. Einen neuen Erd- 
teil kann heute niemand mehr entdecken. Es ist auch schon 
vorgekommen, daß jemand eine wirklich große Entdeckung 
gemacht hat und daß er dann feststellen mußte, daß ein an- 
derer vor ihm schon dasselbe entdeckt hatte; ein Beispiel ist 
Correns' Entdeckung des Mendelns. Man darf daraus schlie- 
ßen, daß geniale Begabungen wesentlich häufiger sind als 
neue große Entdeckungen und sonstige wirklich große Lei- 
stungen, häufiger auch als der Genieruhm. Die Umstände, 
welche dem Zustandekommen einer großen Leistung günstig 
sind, sind keineswegs immer solche, die allgemein im Leben 
günstig sind. Die größten Taten auch auf geistigem Gebiet 
werden aus äußerer oder innerer Not geboren. Ein. Freiheits- 
held ist nur möglich, wenn das Volk vorher unterdrückt war. 
Sonst wäre er vielleicht nur ein Abenteurer geworden. 

Die innere Not, die zu großen Taten treibt, zu titanischen 
Anstrengungen ihrer Überwindung, entspringt oft aus Anlagen, 
die sonst als krankhaft erscheinen. Nachdem schon Piaton 
und Aristoteles auf die krankhafte Veranlagung großer 
Dichter, Künstler, Philosophen und Politiker hingewiesen ha- 
ben, ist in der neueren Zeit zuerst der französische Psychiater 
Moreau 1 ) den Beziehungen zwischen Genie und 
Psychopathie wissenschaftlich nachgegangen. Diese Lehre 
ist dann durch die Schriften des italienisch-jüdischen Psychia- 
ters Lombroso unter dem Schlagwort „Genie und Irr- 
sinn" in weiten Kreisen bekannt geworden. Die umfangreiche 
Literatur darüber ist bei Lange-Eichbaum*) zusammen- 
gestellt. 

Das Zusammentreffen überragender Leistungen und krank- 
hafter Züge des Seelenlebens in derselben Person ist so häufig, 

x ) M ore a u , J. La psycho] ogic morbide clans les rapports avec la phi- 
losophic de l'histoirc ou de l'mflueiice des nevropatbies sur le dynamismc 
inlellcctuel. Paris 185g. 

2 ) Lange-Eichbaum, W. Genie-Irrsinn und Ruhm. München. 
1928. G. Reinhardt. 



BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE: 



675 



daß es nicht auf Zufall beruhen kann. Man muß sich von 
dem Vorurteil frei machen, daß aus einem krankhaften Geiste 
keine richtigen Erkenntnisse, keine schönen Kunstwerke oder 
keine bahnbrechenden Taten entspringen könnten. Was objek- 
tiv wahr oder falsch ist, ist oft viel zu schwer zu entscheiden, 
als daß man von diesem Unterschied die Feststellung des 
Krankhaften abhängig machen dürfte. Robert Mayer behielt 
schließlich recht mit seiner Überzeugung, für die er fanatisch 
kämpfte ; und die Entdeckung Gregor Mendels wird nicht da- 
durch beeinträchtigt, daß sie von einem seelisch leidenden 
Manne errungen worden ist. 

Daß z y k 1 p h r e 11 e V e r a 11 1 a g u n g zu genialem Schaf- 
fen beitragen kann, ist einleuchtend. Der ungestüme und ruhe- 
lose Betätigungsdrang, der manchen manisch veranlagten Men- 
schen eigen ist, kann die treibende Kraft großer Leistungen 
sein (z. B . bei Luther und Blücher). Eher noch wirksamer 
kann melancholische Veranlagung sein. So sagt der zykloide 
Goethe: 

„Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, 
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide." 
Und Nietzsche fragt: „Die Zucht des Leidens, des gro- 
ß en Leidens — wißt ihr nicht, daß nur diese Zucht alle Er- 
höhungen des Menschen bisher geschaffen hat ?" Byron, Kleist, 
Schopenhauer, Grill parzer waren von melancholischer Veran- 
lagung, entgegen der landläufigen Meinung auch Mozart, wie 
Lange-Eichbaum betont. Zu melancholischen Psychosen 
kam es bei Blücher, Conrad. Ferdinand Meyer, Anselm Feuer- 
bach, Robert Mayer, zuletzt auch bei Mozart. 

Schwerer verständlich ist das Vorkommen genialer Lei- 
stungen bei Schizophrenen. Wenn im Verlauf einer Schizo- 
phrenie eine Demenz eintritt, so sind bedeutende geistige 
Leistungen natürlich nicht mehr zu erwarten. Leichtere schizo- 
phrene Phasen mit ihrer Erregung und ihren Traumgesichten 
scheinen dagegen das Feuer des Geistes unter Umständen an- 
fachen zu können. Das scheint bei Hölderlin, Scheffel, 
Strindberg, auch dem Schachspieler Morphy so gewesen zu 
sein. Auch Ampere und Newton haben anscheinend einen 
Schub schizophrener Seelenstörung durchgemacht (nach 
Kretschme x ) 1 )- 

Ich möchte übrigens vermuten, daß es sich auch bei Nietzsche um 
eine in die Gruppe der Schizophrenien gehörige Krankheit gehandelt habe. 

r ) Körperbau und Charakter. S. Literaturverzeichnis. 



676 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



if ildeb r and t 1 ) hat zwar zu zeigen gesucht, „daß die Krankheit nichts 
mit der angeborenen Veranlagung, nichts mit dein früheren Werk zu tun 
hatte, sondern daß sie einen brutalen materiellen Vorgang, der ein gesundes 
Gehirn zerstört, darstellt". Es scheint mir aber auf der Hand zu liegen, 
daß sich in Nietzsches Schriften schon lange vor dem Ausbruch einer 
eigentlichen Geisteskrankheit zahlreiche Zeichen schizoider Psychopathie mit 
hysterischen Zügen finden. Mitteilungen darüber hat J. Hof millor 2 ) 
zusammengestellt. Auch Lange-Eichbaum ist dieser Ansicht. So dürfte 
es die am wenigsten gesuchte Ausnahme sein, daß bei Nietzsche auf dem 
Coden schizoider Veranlagung eine Schizophrenie paranoider Prägung mit 
Ausgang in Verblödung entstanden sei. Möglicherweise gilt von Rousseau, 
Schumann, Maupassant ähnliches. 

Schizoide Psychopathie bewirkt oft eine einseitige 
und dauernde Einstellung- des Interesses auf Dinge, die den 
meisten andern Menschen mehr oder weniger gleichgültig sind. 
Es leuchtet ein, wie das zum Zustandekommen neuer Entdek- 
kungen wesentlich beitragen kann, und die Erfahrung an nicht 
wenigen Gelehrten und Forschern bestätigt es. Ein typischer 
Fall ist Kant. Schizoide Psychopathen, zumal wenn sie intel- 
lektuell hochbegabt sind, empfinden die Unzulänglichkeit von 
Menschen und Verhältnissen oft sehr lebhaft. Sie sind daher 
die geborenen „Weltverbesserer". Schizoider Fanatismus kann 
dem Feldherrn und dem Staatsmann, der gegebenenfalls Tau- 
sende oder Hunderttausende von Menschen opfern muß, die 
Durchführung einer Aufgabe ermöglichen, die ein normaler 
Mensch nicht übers Herz brächte. „Gerade die schneidende 
Kälte gegen das Schicksal des Einzelmenschen, zusammen mit 
der ebenfalls in gewissen schizoiden Anlagen begründeten Nei- 
gung zum Schematischen, prinzipiell Konsequenten und zur 
strengen Gerechtigkeit können als gut kompensierte Persön- 
lichkeitsbestandteile Menschen von stahlharter Energie und 
unbeugsamer Zähigkeit erzeugen" 3 ). Kretschmer nennt als 
Beispiel Friedrich den Großen. Aufopferung der eigenen Per- 
son für unpersönliche Ideale ist nach Kretschmer geradezu 
kennzeichnend für gewisse Schizoide. Ähnliches wie von der 
schizoiden gilt von der nahe verwandten paranoiden Psy- 
c h o p a t h i e. 

Die Epilepsie ist genialem Schaffen im allgemeinen sicher nicht för- 
derlich. Ich möchte vermuten, daß bei jenen großen Männern, von denen 
Epilepsie bzw. die „heilige Krankheit" berichtet worden ist (z. B. Caesar, 

x ) II ild eb r and t , K. Gesundheit und Krankheit in Nietzsches 
Leben und Werk. Berlin 1926. S. Karger. 

E ) Hofmi Her, J. Nietzsche. Süddeutsche Monatshefte. Jg. 29. LI. 2. 
S. 74. 1931. 

3 ) Kretschmer. Körperbau und Charakter. 



BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE. 



677 



Paulus, Mohammed, Franz v. Assist, Alfred d. Große, Peter d. Große, Na- 
poleon I., Dostojewski), es sich um epilepsieähnliche Äußerungen hysteri- 
scher Veranlagung gehandelt habe, da man in früherer Zeit die Hysterie 
offenbar häufig mit der Epilepsie als „heilige Krankheit" zusammengeworfen 
hat. Auch L a n g c - E i c h b a u m meint, daß genuine Epilepsie bisher in 
keinem Falle von Genie einwandfrei nachgewiesen .sei. 

Der hysterischen Veranlag' u 11 g kommt wohl grö- 
ßere Bedeutung für das geistige Schaffen als irgendeiner an- 
dern seelischen Anomalie zu. Das ist auch die Ansicht des 
Psychiaters Birnbaum 1 ). Krankhafte Züge dieser Art wei- 
sen z. B. Paulus, Mohammed, Luther, Loyola, Pascal, Rous- 
seau, Möllere, Friedrich d. Große, Napoleon, Blücher, Goethe, 
Schopenhauer, Wagner, Nietzsche, Tolstoi auf. Besonders auf 
religiösem, künstlerischem und politischem Gebiet scheint ab- 
norm starke Wunschbestimmbarkeit zu großen Wirkungen bei- 
tragen zu können, zumal wenn ein starker Geltungstrieb die 
Seele beherrscht, wie das bei hysterischer Veranlagung die Re- 
gel ist. Die Bestimmbarkeit auch 1 des normalen'Menschen durch 
Wünsche ist eine Grundlage des Glaubens, der Liebe, der Hoff- 
nung. Kein Wunder daher, daß eine abnorm starke Wunschbe- 
stimmbarkeit zu außergewöhnlichen Leistungen befähigen kann. 
Sie kann Ziele als erreichbar erscheinen lassen, die der nüch- 
terne Verstand von vornherein als aussichtslos ansieht. „Das 
Wort unmöglich kenne ich nicht", sagte Napoleon. Sie kann 
einen Glauben, der Berge versetzt, schaffen, einen Glauben, 
der wider alles Zeugnis der Sinne und der Vernunft gehen 
kann und der eben darum gelegentlich das Ungeheure voll- 
bringt. In der Erregung leuchtender Wunschillusionen liegt 
auch zugleich das Geheimnis der Wirkung auf die Massen, von 
der so viel für den Erfolg in der Welt abhängt. „Den lieb' icli, 
der Unmögliches begehrt." Die „starken Männer" der Ge- 
schichte sind zum guten Teil hysterisch veranlagte Naturen. 
Kretschmer 2 ) hat überzeugend dargelegt, wie die hyste- 
rische Verkrampfung (Tetanisierung) des unterbewußten Wil- 
lens als große Willenskraft in die Erscheinung treten kann. 

Auch der echte paranoische Größenwahn läßt 
Dinge unternehmen, die der gesunde Menschenverstand als 
aussichtslos gar nicht erst in Angriff nimmt; und auch die 
krankhafte Sclbstsicherheit des Paranoikers kann mitreißend 
auf die Massen wirken. 



*) Birnbaum, K. Psychopathologische Dokumente. Berlin, Sprin- 
ger 1920. 

s ) Kretschmer, E. Über Hysterie. Leipzig 1923. Thieme. 



678 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Der Hysteriker macht sich und andern dauernd etwas vor; und begabte 
Hysteriker spielen mit Vorliebe die Rolle des Genies (vgl. S. 550). Das treibt 
und befähigt sie zum Teil zu wirklich bedeutenden Leistungen; zum andern 
Teil gelingt es ihnen, sich vor der Mitwelt und Nachwelt als Genie dar- 
zustelle 11. Das ,, Genie" ist in solchen Füllen zum Teil eine Erscheinung 
der Mimikry; aber eben nur zum Teil. Wahrheit und "Dichtung gehen bei 
solchen Naturen ohne scharfe Grenzen ineinander über. Ihr Lebensweg 
schillert zwischen theatralischer und wirklicher Sendung. Wenn nicht Öfter 
wirkliche Leistung damit verbunden wäre, so wäre auch schwerlich der In- 
stinkt der Massen gezüchtet worden, leuchtenden Wunschbildern zu folgen. 
Dieser muß erhaltungsgemäß sein, selbst wenn er gelegentlich Irrlichtern 
folgt. Der gesunde Menschenverstand ist anscheinend für normale Zeiten 
da; in ungewöhnlichen Zeiten aber können Illusionen lebensrettend sein. 
Freilich, das höchste Heil und das größte Unheil sind manchmal nur durch 
Haaresbreite voneinander getrennt. Es scheint, daß es Erbanlagen gibt, die 
sich je nach der Kombination mit andern und je nach den Umwell bedingun- 
gen in polar entgegengesetzter Richtung äußern können: als ,, Genie" und als 
„Irrsinn". 

Die größte Bedeutung hat hysterische Veranlagung wohl 
auf dem Gebiet der Kunst und Dichtung. Es ist gewiß kein 
Zufall, daß so viele Dichter, Musiker und andere Künstler 
hysterische Züge aufweisen. Die leichte Wunschbestimmbarkeit 
befähigt sie, den Wunschträumen der Menschen Ausdruck zu 
geben. Die hysterische „Pseudologia phantastica", die die 
Wirklichkeit umgestaltet, ist der dichterischen Phantasie ver- 
wandt. „Je inkommensurabler und für den Verstand unfaß- 
licher eine poetische Produktion, desto besser" (G o e th e). 
„Der ganz Gesunde kann das einfach nicht leisten, wonach 
sich die Menschheit sehnt" (L ange -E i chb aum). „Wer 
ohne den Wahn der Musen vor das Tor der Dichtkunst tritt, 
dessen Dichten vergeht vor der Kunst dessen, der den schöpfe- 
rischen Wahn hat" (Piaton). 

Auf wissenschaftlichem Gebiet führt hysterische Veranlagung häufiger 
zu vermeintlichen als zu wirklichen Entdeckungen. Glanzende Einfälle wer- 
den von hysterisch veranlagten Forschern nur zu häufig für endgültige 
Wahrheiten gehalten. Besonders in der Verteidigung gegen Angriffe legen 
sich solche Forscher mehr und mehr darauf fest, bis schließlich ihre ganze 
wissenschaftliche Persönlichkeit mit ihrem Satze steht und fällt. Und die 
Erfahrung zeigt, daß solche Sätze, wenn es auch nicht die Regel ist, tat- 
sächlich richtig sein können. Auch für wissenschaftliche Entdeckungen ist 
die hysterische Veranlagung daher nicht unter allen Umständen ungünstig. 
Meist führt sie allerdings nur zu pseudowissenschaftlichen Produktionen. 

Auch seelische Anomalien, die sich unter dem Bilde der 
P s y c has th enie (Neurasthenie) äußern, scheinen für ge- 
niale Leistungen in manchen Fallen förderlich zu sein. Darwin 
war ein Psychasthcniker, der nur wenige Stunden am Tage 
arbeiten konnte und der doch mehr geleistet hat als 1000 an- 



BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE. 



(379 



dere Forscher. Ähnliches gilt von Feckner und Spencer, Auch 
Conrad Ferdinand Meyer war psychasthenisch. Natürlich wirkt 
die psychasthenische Anlage in den allermeisten Fähen mehr 
liemmcnd als fördernd auf die geistige Leistung. Mörike war 
infolge hochgradiger Psychasthenie berufsunfähig. Nietzsche 
hatte, auch nachdem er von seinen Amtspflichten befreit war, 
schwer unter Erschöpfung und Schlaflosigkeit zu leiden; dort 
.lag die Ursache, weshalb er nur Stückwerk und nicht jenes 
Ganze schaffen konnte, wozu er nach seiner sonstigen Bega- 
bung wohl berufen gewesen wäre. 

Das geniale Gehirn ist fast immerwährend in fieberhafter Tätigkeit, 
und wenn es häufiger die Zeichen der Erschöpfung zeigt als das Durch- 
schnittsgehirn, so braucht das nicht eigentlich auf abnormer Ermüdbarkeit, 
die für Psychasthenie als charakteristisch bezeichnet wurde, zu beruhen. 
„Meine Seele ist wie ein ewiges Feuerwerk ohne Rast" schrieb Goethe von 
sich, und ganz ähnlich Hebbel: „Ich bin immer so, wie die meisten Men- 
schen im Fieber sind." Ein Durchschnittsgehini würde vielleicht schon nach 
einem Bruchteil der Leistung des genialen versagen, und es bleibt vielleicht 
nur deshalb von den Zeichen der Psychasthenie verschont, weil, es auch 
diesen Bruchteil in der Regel nicht leistet. 

Die von genialen Menschen häufig berichteten Anomalie n d e r 
geschlechtlichen Triebe können zu großen Leistungen dadurch 
beitragen, daß die geschlechtliche Energie mangels eines natürlichen Zieles 
sich auf ein Werk konzentriert oder ins Geistige sublimiert. ,,Weib, was 
habe ich mit dir zu schaffen?" Diese Sublimierung ermöglicht eine so un- 
bedingte Hingabe an die Gemeinschaft, zumal an die Jünger, wie sie dem 
glücklich verheirateten Mann und dem Familienvater nicht möglich ist. Ein 
Beispiel aus der alten Geschichte ist Sokrates, eines aus der jüngsten Ver- 
gangenheit George. Damit hängt die häufige Ehelosigkeit genialer Männer 
(und Frauen) zusammen. Homoerotische Triebrichtung lag anscheinend bei 
Alexander, Augustinus, Sokrates, Platon, Michelangelo, Shakespeare vor. 

Es ist ein besonderes Verdienst L ange -E ich b aum s, 
daß er in seinem für das Verständnis der Geschichte und des 
Lebens höchst aufschlußreichen Buche krankhaftes Seelenleben 
nicht nur als eine Triebkraft großer Leistungen beleuchtet, 
sondern daß er auch gezeigt hat, wie die krankhaften Züge 
eines Werkes oder seines Urhebers zum Zustandekommen des 
Genieruhms beitragen. Durch die krankhaften Züge wird der 
Eindruck des Titanischen, Übermenschlichen, Dämonischen 
hervorgerufen. Beispiele sind Goethes ,, Faust" und Nietzsches 
„Zarathustra". Klare und vernünftige Werke wirken nie so 
stark wie dunkle, Widerspruchs- und geheimnisvolle. Das lehrt 
auch die Geschichte aller Religionen. 

Wenn L a. n g e - E i c h b a u m den magischen bzw. religiösen Gehalt 
der landläufigen Genievorstellung aufgedeckt hat, so ist das ein entschie- 
denes Verdienst. Wenn er aber den Satz aufstellt ,, Genie ist nichts als Nim- 



680 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE. 



681 



bus" so ist das eine arge Übertreibung oder vielmehr eine willkürliche Defi- 
nition, die einfach deswegen unzweckmäßig ist, weil sie nicht dem Sprach- 
gebrauch entspricht. Zum Teil beruht darauf allerdings gerade die faszinie- 
rende Wirkung seines Buches, indem das, was er von diesem „Nimbus" 
aussagt, unwillkürlich auf das „Genie" im Sinne des gewöhnlichen Sprach- 
gebrauchs übertragen wird. 

Die Beziehung zwischen genialer und krankhafter Anlage 
läßt sich nicht nur bei den einzelnen Genialen, sondern auch in 
ihren Sippen verfolgen. Besonders eindrucksvoll gehäuft sind 
Psychopathien hysterischer Färbung z.B. in der nächsten Ver- 
wandtschaft Napoleon Bonapartes (Vater, Bruder, Schwestern, 
Söhne), zyklophrene Geistesstörungen in der Blüchers 1 ). Schon 
Galton. hat auf die „schmerzlich nahe Beziehung dieser bei- 
den Erscheinungen" hingewiesen, und er sagt, er sei über- 
rascht gewesen, wie häufig geistige Störungen unter den nahen 
Verwandten hervorragender Männer sich fanden. 

Da eine krankhafte Anlage, wenn sie mit genialen Lei- 
stungen vereinbar sein soll, bis zu einem gewissen Grade durch 
andere, gesündere Anlagen im Zaum gehalten sein muß, fin- 
den sich erbliche Seelenstömngen bei Verwandten genialer 
Männer öfter in stärkerer Gradausprägung als bei den Genia- 
len selber. 

So war Goethes Vater ein ausgesprochener Psychopath: bei einer 
Schwester und seinem Sohne ging die Psychopathie in Geisteskrankheit über; 
auch seine beiden Enkel waren schwer psychopathisch 2 ). Es scheint mir 
nicht zweifelhaft zu sein, daß die vom Vater ererbte psy allopathische An- 
lage Goethes wesentlich zur Auslösung der von der Mutter ererbten Geistes- 
gaben beigetragen hat. 

Ein musikalisch begabter Sohn Johann Sebastian Backs namens Gott- 
fried Heinrich (1724--63) ist allmählich verblödet, anscheinend infolge einer 
Hebephrenic (Schizophrenie); Bachs Sohn Friedeinann war ein (vermutlich 
schizoider) Psychopath, im übrigen ein genialer Musiker. Eine Schwester 
von Bachs Vater starb mit 26 Jahren entweder verblödet infolge von Schizo- 
phrenie oder imbezill Eine „mystische Unterströmimg" in Bachs Wesen 
hat PL Läinraerliirt 3 ) betont. Seine mütterliche Sippe neigte zu re- 
ligiöser Schwärmerei und Sektierertum. Mit größter Wahrscheinlichkeit 
ist Bach selber als Träger einer (kompensierten) schizoiden Erbanlage 
anzusehen. 

Es ist eine ebenso bedeutsame wie schwierige Frage der 
Rasseilhygiene, wie sie positive und negative Anlagen, die in 
einem Menschen oder in einer Sippe vorhanden sind, gegen- 

1 ) Langc-Eichbaum. S. 41 4. 

3 ) Möbius, P. J. Goethe. 3. Aufl. Leipzig 1909. J. A. Barth. 
3 ) Lämmerhirt, H. Bachs Mutler und ihre Sippe. Bach- Jahrbuch. 
Jg. 22. 1925. 



einander abwägen soll. Davon wird im zweiten Bande berichtet. 
Man darf nicht das Genie mit der Psychopathie ausmerzen. 

Gewiß, es ist ein. peinlicher Gedanke, daß die Leistungen 
der Helden des Geistes und der Tat zum guten Teil aus krank- 
hafter Anlage entspringen; und man sucht nach einem Aus- 
weg aus dem Dilemma zwischen der Wertung der genialen 
Begabung und der der geistigen Gesundheit. Mir scheint 
eine Lösung dieser Frage wenigstens grundsätzlich möglich 
zu sein. 

Wie wir oben gesehen haben, ist der Begriff der Krank- 
heit und damit auch der der Gesundheit an der Erhaltung zu 
orientieren, und zwar letzten Endes nicht an der des Indivi- 
duums, sondern an der der Rasse. Und die schöpferische Be- 
tätigung des Genies, auch wenn sie die individuelle Erhal- 
tung beeinträchtigt, kann dennoch dem Leben der Rasse die- 
nen. Eine solche Veranlagung aber wäre im höchsten Sinne 
lebensfördernd, also gesund. Nicht alle Menschen müssen ja 
dem Durchschnitt gleichen. Eine Bevölkerung von lauter Ge- 
nies wäre zwar nicht lebensfähig; einzelne aber können für das 
Leben der Rasse das Höchste leisten, und es ist geradezu eine 
Lebensfrage für eine Rasse, daß sie immer wieder Männer her- 
vorbringt, die ihr neue Wege des Lebens eröffnen. 

Da erhebt sich nun freilich die bange Frage, ob jene Män- 
ner, die als Genies gefeiert werden, durch ihr Lebenswerk 
wirklich dem Leben der Rasse gedient haben? Von manchen 
der bei L ange -E i chb aum aufgeführten „Genies" wird 
man es bezweifeln, z. B. bei Rousseau oder Napoleon. Eine 
neue Wertung erfordert auch eine neue Beurteilung geschicht- 
licher Persönlichkeiten. Von der rassenhygienischen Wertung 
aus, die sich darin mit der nationalsozialistischen deckt, wür- 
den nur solche Männer als Genies anzuerkennen sein, die tat- 
sächlich Bahnbrechendes für das Leben der Rasse geleistet 
haben oder deren geistige Begabung eine solche Wirkung er- 
möglicht hätte, auch wenn sie selbst durch widrige Umstände 
an der Vollendung ihres Lebenswerkes gehindert worden sein 
mögen. 

Man muß ein Genie als Ganzheit bewerten. Es 
kann als Ganzes lebensfördernd sein, auch wenn es eine krank- 
hafte Anlage enthält. Grundsätzlich kann es auch geniale' Men- 
schen ohne krankhaften Einschlag geben. Lange-Eich- 
baum nennt als solche Verdi, Tizian, Rubens, Raffael, Hans 
Thoina, Leibniz. Dem steht seine Liste von 170 pathologischen 



682 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



„Genies" gegenüber. Man darf annehmen, daß manche von 
diesen zu Unrecht den Genieruhm erworben haben. Anderer- 
seits ist zu vermuten, daß es manche bahnbrechende Gei- 
ster gegeben hat, deren Lebensarbeit sich im stillen, gewisser- 
maßen anonym, ausgewirkt hat und die auch nach dem Tode 
nicht die Anerkennung als Genie gefunden haben, Was hier 
von der genialen Begabung gesagt wurde, gilt in geringerem 
Grade auch von sonstiger hoher Begabung. Wer kennt nicht 
diesen und jenen „verrückten" Professor, Erfinder, Künstler, 
der wirklich Originelles geleistet hat? Schon der humoristische 
Unterton des Wortes „verrückt" zeigt, daß wir solchen Leuten 
manches zugute halten, weil wir ihre Leistung zu würdigen 
wissen. Der Hundertsatz psychopathisch Veranlagter ist unter 
bedeutenden Menschen jedenfalls überdurchschnittlich, wenn 
auch nicht so überwiegend wie unter den Genialen. 

.Der norwegische Tierzüchtcr Wriedt 1 ) hat darauf aufmerksam ge- 
macht, daß gewisse Eigenschaften bei standardisierten Rassen van Hunden 
und andern Haustieren auf heterozygoten Erbanlagen beruhen, die homo- 
zygot Krankhaftigkeit und selbst Lebensunfähigkeit bedingen. Entsprechend 
könnten auch gewisse Erbanlagen beim. Menschen, die heterozygot ge- 
nialen Leistungen förderlich sind, homozygot Geisteskrankheit zur Folge 
haben. 

L a n g c - E i. c h b a u m hat die krankhafte Natur psychopathischer Ge- 
nialer durch den Hinweis dartun zu können geglaubt, daß von 1000 Psycho- 
pathen, die einzeln auf einsamen Inseln ausgesetzt würden, ein viel höherer 
Hundertsatz zugrunde gehen würde als von 1000 Normalen. Robinsonmseln 
sind meines Erachtens zur Prüfung der Lebensfähigkeit moderner Kultur- 
menschen aber nicht geeignet. Man wird vielmehr in unserer Kultur alle 
jene Typen als normal ansehen müssen, die sich in eben dieser Kultur be- 
währen. Wenn man 1000 Psychiater auf .Robinsoninseln aussetzen würde, 
so würden die dort auch nicht gedeihen. 

Geniale Begabung war bisher nicht erhaltungsfördernd für 
ihre Träger, am wenigsten in der Gegenwart. Sie konnte da- 
her bisher nicht als Kassencharakter gezüchtet werden. Es 
steht aber nichts der Annahme im Wege, daß geniale Be- 
gabung auch durch Häufung vieler kleiner Mutationen ge- 
schaffen werden kann, d. h. auf demselben Wege, auf dem 
die Entstehung der normalen Rassen geschieht. Sobald 
höhere Begabung Erhaltung und Vermehrung der sie tra- 
genden Erbstämme zur Folge haben würde, würde im Laufe 
der Zeit die Begabung der Bevölkerung dauernd steigen, 

1 ■ i 

l ) Nach Mohr, O. L. Über Letalfaktoren mit Berücksichtigung ihres 
Verhaltens bei Haustieren und beim Menschen. Z. f. induktive Abstammungs- 
lehre Bd. 41. H. 1. S. 59. 1926. 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 



683 



und schließlich würde eine Stufe erreicht werden, die wir 
heute als geniale Begabung bezeichnen. Auch in den bis- 
herigen Genies waren ja viele gesunde Bega.bungsanlagen 
vorhanden; nur mußten ihre Kräfte meist durch ein- 
zelne Verlustmutationen entfesselt werden, die einen Ausfall 
normaler Hemmungen bewirkten. Das braucht nicht notwendig 
so zu sein. Es ist zwar verständlich, daß die Entfesselung 
genialer Betätigung leichter durch Ausfall von Hemmungen 
erfolgen kann; aber ganz harmonisch wird sie dann niemals 
sein. Auf dem Wege planmäßiger Rassenhygiene würde es 
jedoch möglich sein, durch Häufung von lauter gesunden Be- 
gabungsanlagen eine gesunde Rasse hervorzubringen, die 
den bisherigen Genies an Begabung gewiß nicht nachstehen 
würde. 

Die gewöhnlichen Unterschiede d e r Bega- 
bung sind in ihrer Erblichkeit natürlich viel schwerer zu ver- 
folgen als die ungewöhnlichen und auffallenden. 

Pearson 1 ) hat im Jahre 1903 die seelische Ähnlichkeit 
von Geschwistern auf Grund der Beurteilung von über 3000 
Schulkindern durch ihre Lehrer zu erfassen gesucht und .eine 
Korrelation von 0,52 gefunden. Die Korrelation von Geschwi- 
stern hinsichtlich einer Anzahl körperlicher Eigenschaften hatte 
er im Durchschnitt ebenfalls auf r = 0,52 gefunden. Man kann 
also sagen: die geistige Geschwisterähnlichkeit ist ebenso groß 
wie die körperliche. Wenn die Ehewahl ohne Rücksicht auf die 
Begabung erfolgen würde, so würde auch bei vollständiger 
Erbbedingtheit der seelischen Unterschiede eine Korrelation 
von höchstens 0,5 bei Geschwistern zu erwarten sein, bei do- 
minant-rezessivem Verhalten der einzelnen Anlagen sogar nur 
von 0,42. Da begabte Menschen vorzugsweise untereinander 
heiraten, würde bei völliger Erbbedingtheit die Korrelation 
allerdings noch etwas größer sein. Auch Pearsons Mitarbei- 
ter Schuster und Miss El der ton 2 ) haben die seelische 
Ähnlichkeit von Geschwistern hinsichtlich ihrer Schulleistungen 
ebenso groß wie die körperliche gefunden. Sie haben ferner 
Oxforder Studienzeugnisse von Vätern und Söhnen verglichen 
und eine Korrelation gefunden, die hinter der körperlicher 

r ) Pearson, K. On the inheritance of mental and moral characters 
in man, and ils comparison with the inheritance of physical characters. 
Journal of the Anthropological Institute. Bd. 33. S. 179. 1903. 

— — Inheritance o[ psychical characters. Biornctrika. Bd. 12. 1919. 

3 ) Schuster, E. und Eider ton, E. The inheritance of ability. 
Eugenics Laboratory Memoirs. I. London 1907. 



684 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN, 



Merkmale nur wenig zurückblieb. In Amerika haben Thorn- 
dike 1 ) und seine Mitarbeiter bei Geschwistern eine Korrela- 
tion der Schulleistungen von r = 0,32 gefunden. Jedenfalls darf 
man aus den Ergebnissen der Korrelationsmethode schließen, 
daß die seelischen Eigenschaften im gleichen Ausmaß wie die 
körperlichen erblich sind. 

Immerhin kann die Korrelation der Eigenschaften von 
nahen Blutsverwandten zum Teil, auch durch gemeinsame Um- 
welt bedingt sein (vgl. S. 640). Eher noch schlagender als 
in der Ähnlichkeit von Geschwistern kommt die Erbbe- 
diiigthe.it der geistigen Begabung daher in der oft ganz 
auffallenden seelischen Verschiedenheit von Geschwistern zum 
Ausdruck. Jeder Vater und jede Mutter mehrerer Kinder 
weiß, daß diese trotz gleicher Umwelt und Erziehung in 
ihren einzelnen Teilbegabungen, ihren sonstigen Fälligkeiten, 
Neigungen und Charaktereigenschaften stark verschieden sein 
können. Reiter und Osthoff haben bei ihren Erhe- 
bungen an Hilfsschulkindcrn (vgl. S. 528) gefunden, daß 
die Schulleistungen von Geschwistern, die in derselben un- 
günstigen Umwelt aufwuchsen, in etwa der Hälfte der Fälle 
stark verschieden waren, was für das Vorliegen Mendel- 
scher Spaltung und gegen eine wesentliche Bedeutung der 
Umwelt spricht. Die ungünstige Umwelt war vielmehr in der 
Hauptsache als Folge der schwachen Begabung der Eltern 
anzusehen. 

Der Psychologe Peters 2 ) hat die Schulzeugnisse von 
ir 62 Kindern und ihren 344 Elternpaaren gesammelt und mit 
denen ihrer Eltern und Großeltern verglichen. Es zeigte sich, 
daß die Beurteilung eines Kindes im Laufe der Schulzeit und 
durch die verschiedenen Lehrer ziemlich gleichblieb. Die Zeug- 
nisse der Kinder wichen im Durchschnitt regelmäßig in der 
gleichen Richtung vom Mittel ab wie die der Eltern; und zwar 
betrug die Abweichung der Kinder im Durchschnitt etwa ein 
Drittel von der der Eltern. Die Verteilung der Schulnoten bei 
Eltern und Kindern in Form einer Korrelationstafel ergibt 
folgendes Bild 3 ) : 

x ) Tliorndilie, E. I,. u, a. Heredity, correlation and sex diffe- 
renecs in school abiliücs. Columbia University Contributions to Philosophy 
etc. 1903. 

2 ) Peters, W. Über Vererbung psychischer Fähigkeiten. Leipzig 1915. 

3 ) Da die Zahl der Fälle in der Tabelle (3952) mehrfach so groß ist 
als die der Gesamtzahl der Kinder (1162), sind offenbar die Noten in 
verschiedenen Fächern jeweils als besondere Fälle gezählt worden. 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGÄBUNG. 685 







Not 


- der K 


irider 




Zahl der 


Durchschnitt 




1 


2 


3 


4 


5 


Fälle 


der Kinder 


1,0 


177 


198 


51 






426 


1,70 


h5 


261 


513 


225 


6 


1 


1006 


1,98 


£ 2,0 


206 


498 


283 


19 


6 


1012 


2,13 


W 2,5 


115 


366 


299 


21 


13 


814 


2,33 


Ö 3,0 


54 


177 


191 


8 


13 


443 


2,43 


70 3,5 


12 


42 


64 


5 


1 


124 


2,52 


5 4,0 


9 


29 


48 


4 


2 


92 


2,58 


% 4,5 


2 


6 


14 


2 




24 


2,67 


5,0 




3 


6 




2 


11 


3,09 


Zahl der 
Falle 


836 


1832 


1181 


65 


38 


3952 




Durchschnitt 

der Eltern 


1,74 


2,03 


2,36 


2,55 


2,80 







Der Korrelationskoeffizicnt beträgt r = 0,29,;+ 0,013. 
Weinberg 1 ) hat nach dem Petersschen Material die 
Korrelation der beiden Eltern in bezug auf ihre Schulnoten 
etwa ebenso groß befunden wie die zwischen Eltern und Kin- 
dern. Darin zeigt sich, daß durch die Ehe in der Regel 
gleiche oder ähnliche Begabungsgrade zusammengeführt werden. 

Peters ist in seiner Arbeit von 1915 zu dem Schluß gekommen, daß 
die von ihm nachgewiesenen Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern, 
Großeltern und Enkeln und zwischen Geschwistern in der Hauptsache nicht 
auf der Wirksamkeit der gleichen Umwelt bei den Angehörigen derselben 
Familien beruhen könnten, sondern V ererbung s er scheinungen seien. Spätcr 
(1925)2) hat er allerdings, dem Zuge der Zeit folgend, die Bedeutung der 
Umwelt wesentlich stärker betont. 

Reinöhl 8 ) hat einer Untersuchung über die Erblichkeit 
der Begabung das Urteil von Lehrern zugrundegelegt, die drei 
Jahrzehnte und länger in denselben kleinen Orten tätig waren. 
Seine Erhebung erstreckt sich auf 10 071 Kinder von 2675 
Elternpaaren. Die Fragen wurden absichtlich nicht auf die 
Schulleistungen abgestellt, sondern die Lehrer wurden ersucht, 
die verstandesmäßige Begabung der Eltern und der Kinder in 
die drei Stufen gut, mittel und schlecht einzuordnen. Die Ver- 
arbeitung des Materials ergab folgendes bemerkenswerte Re- 

*) Weinberg, W. Methoden und Technik der Statistik a. a. O. 
Vgl.S. 601. 

2 ) S. Literaturverzeichnis. 

3 ) Reinöhl, F. Die Vererbung der Intelligenz. ARGE. Bd. 29. H. r 
S. 26. 1935. 



686 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



sultat : Wenn beide Eltern gut begabt waren, waren es auch 
7Ij5 % Kinder und nur 3 o/o waren schlecht begabt. Zwei schlecht 
begabte Eltern dagegen hatten nur 5,40/0 gut begabte und 
öOjio/o schlecht begabte Kinder. Wenn beide Eltern mittel be- 
gabt waren, so war der Hundertsatz der mittel begabten Kin- 
der wesentlich größer (66,9%), als wenn einer der Eltern gut 
und der andere schlecht begabt war (42,80/0). Das spricht da- 
für, daß die Unterschiede der Verstandesbegabung durch eine 
nicht sehr große Zahl von Erbanlagen bedingt sind und daß 
darunter dominante und rezessive sind. 

Zu einer Zeit, als es noch keine wissenschaftliche Erbforschung gab, hat 
Schopcnh a u c r den Satz verfochten, daß der „Intellekt" immer nur von 
der Mutter, der „Charakter" aber ausschließlich vom Vater her erblich sei. 
Es kann heute gar keinem Zweifel unterliegen, daß die „Intelligenz" keine 
Einheit darstellt, die als solche vererbt würde; sie baut sich vielmehr aus 
einer großen Anzahl von Erbanlagen auf; und dasselbe gilt auch vom Cha- 
rakter. Im Gegensatz zu Schopenhauer hat G a 1 1 o n bei berühmten 
Männern mehr berühmte Verwandte in männlicher als in weiblicher Linie 
gefunden und von einer Unfähigkeit der weiblichen Linie gesprochen, ge- 
wisse Arten von Begabung" weiterzugeben. Man muß indessen bedenken, daß 
es wegen des gleichen Namens leichter ist, berühmte Verwandte in männli- 
cher Linie aufzufinden als in weiblicher; auch mag die Familientradilion die 
männliche Linie bevorzugen. Die landläufige Ansicht, daß die geistige We- 
sensart hauptsächlich in der Namenslinie erblich, sei („ein echter Müller", 
„ein echter Schultze"), hat sich wissenschaftlich nicht bestätigt, ebensowe- 
nig aber auch die andere Ansicht, daß Söhne ihre Begabung vorwiegend 
von der Mutter erbten. 

Ein besonders bemerkenswertes Ergebnis der Untersuchung R c i n - 
ö h 1 s ist, daß er keine Anzeichen geschlechtsgebundener Anlagen für gei- 
stige Begabung gefunden hat. Wohl aber stimmten Väter und Söhne in 
ihrer Begabung etwas mehr überein als Väter und Töchter, Mütter und Töch- 
ter etwas mehr als Mütter und Söhne. Man muß wohl annehmen, daß ge- 
wisse Begabungsanlagen sieh vorzugsweise in dem einen Geschlecht, andere 
im andern äußern, daß also Begabungsanlagen sich teilweise geschlechts- 
begrenzt äußern. 

Das schließt nicht aus, daß es auch geschlechtsgebundene Erbanlagen 
gibt, die bei der Entwicklung der geistigen Begabung mitwirken. Da z. B. 
die Rotgrünblindheit rezessiv geschlechtsgebunden ist, muß es eine domi- 
nante geschlechtsgebundene Anlage für Farbcntüchtigkeit geben. Auch spre- 
chen gewisse Anzeichen dafür, daß es rezessive geschlechtsgebundene An- 
lagen gebe, die Schwachsinn bedingen (vgl. S. 530). Im ganzen spielen ge- 
schlechtsgebundene Anlagen für seelische Fähigkeiten aber anscheinend keine 
große Rolle. 

In der Ähnlichkeit bzw. Korrelation von Blutsverwandten 
hinsichtlich ihrer geistigen Begabung kommt die Erbanlage 
nicht rein zum Ausdruck, weil auch die ähnliche Umwelt, unter 
der Blutsverwandte zu leben pflegen, in derselben Richtung 
wirkt. Um einem darauf gestützten Einwand gegen die Erbbe- 



GEWÖHNLICUE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 687 

dingtheit der Begabung zu begegnen, hat man .Untersuchungen 
an Waisenkindern angestellt, bei denen der Einfluß der elter- 
lichen Umwelt ausgeschaltet ist. So hat M axSch m i d t x ) ge- 
funden, daß die Unterschiede der geistigen Begabung bei Wai- 
senkindern durch die nivellierte Umwelt des Waisenhauses 
keineswegs ausgeglichen wurden, ja daß ein Einfluß der Um- 
welt überhaupt nicht nachzuweisen war. In Kalifornien hat 
Miss Gordon 216 Geschwisterpaarc in Waisenhäusern mit- 
tels der 'von Ter man modifizierten B ine t -S irao n sehen 
Testmethode auf ihre Intelligenz geprüft. Nach dem Ausfall 
dieser Prüfung wurde für jedes Kind das „Intelhgenzaltcr" be- 
stimmt, das in Prozenten des Geburtsalters den „Intelligenz- 
quotienten" ergibt. Die Korrelation r = 0,61, elic sich auf diese 
Weise für Geschwister ergab, ist allerdings zum Teil durch den 
Umstand bedingt, daß die Geschwister sich im Durchschnitt 
im Alter naher standen als andern Kindern des Materials. 
Miss El der ton 2 ) hat diese Alterskorrelation auszuschalten 
gesucht und eine korrigierte Korrelation von 0,54 + 0,24 er- 
halten. Dieser Wert ist höher, als er selbst bei völliger Erb- 
bedingtheit der Intelligenz im Falle wahlloser Paarung zu er- 
warten wäre. Er ist offenbar zum Teil durch die Ähnlichkeit 
der Eltern hinsichtlich ihrer Begabung, also durch assortative 
mating, zu erklären. 

Eine in anderen Teilen wertvolle Arbeit von Wingficld 3 ) geht in 
dem Abschnitt, der sich mit Waisenkindern befaßt, methodologisch von irri- 
gen Voraussetzungen aus. Er hat 29 kanadische Waisenkinder nach Zufall 
zu Paaren zusammengestellt und schwankende Korrelationskoeffizicnlen inner- 
halb d'er Fehlergrenzen von O gefunden. Da ein solches Ergebnis bei star- 
kem Einfluß der Umwelt auch nicht anders zu erwarten wäre, besagt es 
nichts. Wenn er die im Alter benachbarten Kinder zu Paaren zusammen- 
stellte^ so erhielt er eine Korrelation, die durch die Altersähnlichkeit be- 
dingt ist, die also für unsere Frage auch nichts besagt. 

_ Während die Untersuchungen an Waisenkindern, die in 
gleicher Umweit leben, die in der Erbmasse begründeten Un- 
terschiede hervortreten lassen, sind die umweltbedingten Un- 
terschiede der Seele am besten an eineiigen Zwillingen zu stu- 
dieren. Schon Galton 4 ), der darin seiner Zeit weit voraus- 

*) Schmitt, M. Der Einfluß des Milieus und anderer Faktoren auf 
das Intelligenzalter. Fortschritte der Psychologie. 1919. 

2 ) Eid er ton, E. M. A summary of the present uosition with regard 
to the inheritance of intelligence. Biomet rika. Bd. 14. II. 3/4. 1923. 

3 ) Wingficld, A. Twins and orphans. The inheritance of intelli- 
gence. London und Toren vo 1928. Dent and Sons. 

i ) The history of twins vgl. S. 642. 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHÄFTEN. 

geeilt ist, hat die Lebensgeschichte einer Anzahl von Zwillin- 
gen verfolgt. Er hatte Kenntnis von 10 Fällen, wo Zwillinge 
gleichen Geschlechts ausgesprochen verschieden veranlagt wa- 
ren. In keinem Falle konnte die gleiche Umwelt die ungleiche 
Seelenverfassung ausgleichen. Die durch die gleiche Erziehung 
herbeigeführte Ähnlichkeit bezog sich nur auf Äußerlichkeiten 
wie angelerntes Wissen und Übung in gewissen Fertigkeiten. 
In einigen Fällen, wo Zwillinge sich in der Kindheit so gut 
wie vollständig glichen, traten zwar später wesentliche Unter- 
schiede auf, aber bemerkenswerterweise nicht infolge der all- 
täglichen Einflüsse des Lebens, sondern nur infolge starker 
Einflüsse wie schwerer äußerer Krankheiten oder Unfälle. In 
den übrigen Fällen dauerte die Gleichheit das ganze Leben hin- 
durch. 

Ein Vater eines Zwillingspaares berichtete: „Sie sind seit ihrer Geburt 
genau gleich aufgezogen wurden; sie sind beide völlig gesund und kräftig, 
sind aber im übrigen körperlich, geistig und in ihrem Gefühlsleben, sich so 
unähnlich, wie Zwillingsbrüder es nur sein können." Von einem anderen 
Paare wurde berichtet: „Sie glichen sich niemals, weder körperlich noch 
geistig", und ihre Verschiedenheit nimmt noch täglich zu. Die äußeren Ein- 
flüsse sind dabei dieselben gewesen; sie waren niemal's getrennt." 

Man muß Galt 011 s intuitiven Scharfblick, durch den er 
der Begründer der Zwillingsmethode geworden ist, um so mehr 
bewundern, als zu seiner Zeit weder das Mendeln noch der 
Unterschied eineiiger und zweieiiger Zwillinge bekannt war, 
Er unterschied nur zwischen sehr ähnlichen („identischen") 
und unähnlichen Zwillingen. Seine Ergebnisse über die geistige 
Begabung sind durch die moderne Zwillingsforschung aber 
durchaus bestätigt worden, insbesondere durch die Unter- 
suchung Langes an kriminellen Zwillingen (vgl. S. 557), bei 
der die Eiigkcit der Zwillinge mit modernen Methoden festge- 
stellt wurde. 

Will g fiel d 1 ) hat 102 Zwillingspaare mittels mehrfacher Tests auf 
ihre Intelligenz untersucht. Zwillinge, die sich in ihren körperlichen Merk- 
malen glichen, wiesen eine Korrelation ihrer Intelligenz von r = 0,90 + 0,019 
auf, Paare die körperlich verschieden waren, dagegen nur von r = 0,70 
+ 0,045. Diese Zahlen sprechen für eine überwiegende Bedeutung der Erb- 
anlage für die Unterschiede der Intelligenz. Man darf annehmen, daß die 
körperlich gleichen Paare so gut wie sämtlich eineiig waren. Unter den kör- 
perlich verschiedenen dagegen dürften neben einer Mehrzahl zweieiiger auch 
einige eineiige gewesen sein; andernfalls wäre bei diesen auch schwerlich 
eine Korrelation von 0,70 zu erwarten gewesen, die über die bei Geschwistern 
gewöhnliche (0,5) wesentlich hinausgeht. 



U A. a. O. 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 

Falls die Korrelation zweieiiger Zwillinge regelmäßig etwas höher als 
die sonstiger Geschwister sein sollte, würde man diesen Unterschied auf 
die besondere Ähnlichkeit der Umwelt von Zwillingen zurückführen müs- 
sen, soweit er nicht durch die Gleichaltrigkeit der Zwillinge bedingt ist. In 
den verschiedenen Jahren sind die Umwcltbedingungen auch in demselben 
Elternhaus verschiedener als zu gleicher Zeit; und von diesen Verschieden- 
heiten werden verschieden alte Geschwister anders beeinflußt als gleich- 
altrige Zwillinge. Zum Teil daraus würde es sich auch erklären, daß die 
Korrelation zwischen Eltern und Kindern in der Regel kleiner befunden 
wird als die zwischen Geschwistern (0,31 gegen 0,50). Die Eltern sind eben 
unter andern Zeitumständen, in andern Anschauungen, unter andern Er- 
ziehungseinflüssen und oft auch in anderer wirtschaftlicher Lage aufge- 
wachsen als die Kinder. Zum andern Teil dürfte der erwähnte Unterschied 
aber auch erbbedingt sein; häufigere Gemeinsamkeit rezessiver Erbanlagen 
hat bei Geschwistern eine etwas höhere Korrelation zur Folge. 

New man 1 ) hat mittels Intelligenzprüfungen an 50 Paa- 
ren eineiiger (EZ) und 50 Paaren zweieiiger Zwillinge (ZZ) 
folgende durchschnittliche Unterschiede zwischen den beiden 
Partnern eines Paares gefunden : 

Stanford -Binet-Test EZ 5,9 Grade Unterschied, 
Stanford-Binet-Test ZZ 9-9 Grade Unterschied, 
Otis-Test EZ 4,5 Grade Unterschied, 

Otis-Test ZZ 9,2 Grade Unterschied. 

Verschuer 2 ) hat bei 30 Paaren EZ und 27 ZZ\ fol- 
gende Unterschiede des Intelligenzquotienten gefunden: 
Stanford-Binet-Test EZ 4,2 Grade Unterschied, 
Stanford-Binet-Test ZZ 7,0 Grade Unterschied. 
Da die Intelligenzquotienten um 100 herum schwanken, fallen 
diese Gradunterschiede ziemlich genau mit den prozentualen 
Unterschieden zusammen. Das Ergebnis ist bei Verschuer 
praktisch dasselbe wie bei New man. Man wird es als typisch 
ansehen dürfen. Daraus folgt unter allen Umstän- 
den, daß die Begabungsunterschiede der ZZ 
zum großen Teil durch die Erbmasse verursacht 
sind. Ob daneben auch umweltbedingte Unter- 
schiede der Intelligenz beteiligt sind, lä ß t sich 
aus diesen Befunden aber nicht entnehmen. Die 
gefundenen Unterschiede der EZ können nämlich völlig durch 
den Meßfehler bzw. durch flüchtige Modifikationen im" Augen- 
blick desMessens verursacht sein, wie in dem Kapitel über die 
Methoden dargelegt worden ist (vgl. S. 652). Leider läßt sich 

*) Newman, H. H. Identical twins. The Eugenics Review. Bd 22 
H. 1. 1930. 

2 ) v. Verschuer, O. Intellektuelle Entwicklung und Vererbung. In 
„Vererbung und Erziehung". Herausgegeben von G. Just. Berlin 1930. 

B a 11 r - P i s c h e r - 1, c n z I. . . 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 

der Meßfehler von Intelligenztests nicht genau bestimmen. 
Wingfield hat es versucht, indem er bei einer Anzahl von 
Personen den Intelligenzquotienten mittels zweier verschiedener 
Tests bestimmt hat. Dabei ergab sich im Durchschnitt ein Un- 
terschied von 4,6 Graden. So große Unterschiede würden also 
auch' bei eineiigen Zwillingen von völlig gleicher Begabung zu 
erwarten sein. Wie man sieht, sind die Unterschiede der EZ in 
Verschuers Versuchen nicht einmal so groß. Bei New- 
man sind die Unterschiede im Otis-Test von derselben Größe 
und die im Stanford-Binet-Test innerhalb der Fehlergrenzen 
damit vereinbar. Reale Unterschiede der anlag'emäßigen Be- 
gabung sind bei Reihenuntersuchungen von EZ also bisher 
überhaupt nicht nachgewiesen worden. Die bei ZZ gefundenen 
tatsächlichen Unterschiede können daher praktisch so gut wie 
ganz erbbedingt sein. 

Unterschiede im Verhältnis der Differenzen zwischen EZ und ZZ bei 
der Prüfung auf verschiedene geistige Fähigkeiten beweisen nicht etwa ein 
verschiedenes Ausmaß des Umwcltantcils dieser Fähigkeiten, wie einige 
Autoren gemeint haben; sie sind vermutlich in der Hauptsache auf ein ver- 
schiedenes Ausmaß des Meßfehlers bei der Prüfung auf verschiedene Fähig- 
keiten zurückzuführen. So sind Charaktereigenschaften offensichtlich schwe- 
rer durch Messung zu erfassen als die intellektuelle Begabung. 

Was durch eine Testprüfung erfaßt wird, ist im Grunde 
nur die momentane Reaktion der Versuchsperson, die außer 
von der Erbanlage auch von den jeweiligen Umständen und 
nicht zum wenigsten von der Versuchsanordnung und ihren Zu- 
fälligkeiten abhängt. Bei gleicher Erbanlage, sei es bei wieder- 
holten Versuchen an derselben Person, sei es bei eineiigen 
Zwillingen, werden also momentane Unterschiede des Seelen- 
lebens, biologisch' gesprochen flüchtige Modifikationen, erfaßt. 
Da uns aber weniger diese als vielmehr die mehr dauernden, 
insbesondere die konstitutionellen Unterschiede, interessieren, 
sind die flüchtigen Modifikationen für uns Meßfehler. Die 
Frage, war ja gerade die, ob und inwieweit dauernde Ab- 
wandlungen der geistigen Fähigkeiten durch gewöhnliche (nicht 
krankmachende) Einflüsse der Umwelt (Häuslichkeit, Erzie- 
hung) bewirkt werden könnten. 

Man muß bei der Deutung der Ergebnisse von Intelligenzmessungcn 
sich bewußt sein, daß es keine allgemeingültige Definition der Intelligenz gibt. 
Es ist nicht von vornherein zu sagen, ob Phantasie, Interesse, Aufmerksam- 
keit, Gedächtnis zur Intelligenz gehören oder nicht. Je nachdem sich Intelli- 
genztests mehr an diese oder jene Fähigkeit wenden, wird das Ergebnis 
etwas verschieden sein. Immerhin aber weiß man doch ungefähr, was unter 
Intcli'igenz verstanden wird. 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 691 

Ida Frischeisen-Köhler 1 ) hat Schulzeugnisse von 120 ein- 
eiigen und 82 zweieiigen Zwillingspaaren verglichen und gefunden, daß die 
Verschiedenheit der EZ bei den Knaben rund 6o u /o von der der ZZ, bei den 
Mädchen rund 530/0 betrug. Der Schluß, daß der Anteü der Umwelt ent- 
sprechend groß sei, ist indessen nicht statthaft, da die Unterschiede der EZ 
durchaus im Bereich des Meßfehlers, d. h. der Zufallsschwankung der No- 
tengebung liegen. Diese und ähnliche Befunde gestatten daher nicht etwa die 
Folgerung, daß die Unterschiede der Schulleistungen zur Hälfte oder mehr 
umweltbedingt seien, wie es im pädagogischen Schrifttum da und dort zu 
lesen ist. 

K ö h n a ) hat 27 Paare EZ und 36 Paare ZZ auf Kombinationsfähigkeit 
und Phantasie untersucht und ebenfalls größere Unterschiede bei ZZ als bei 
EZ gefunden. Er hat auch das, was ich hier als Meßfehler bezeichnet habe, 
grundsätzlich richtig gesehen und als „Selbstunterschied" zu berücksichtigen 
gesucht, allerdings unter der irrigen Voraussetzung, daß dieser sich mit 
andern Unterschieden summiere (vgl. S. 651). Auch aus der Arbeit von Köhn 
folgt daher nur, daß die Unterschiede der Kombination und Phantasie teil- 
weise oder ganz erbbedingt sind, während der Anteil der Umwelt fraulich 
bleibt. 6 

Der Meßfehler, der bei psychologischen ■Zwülingsforschun- 
gen, die sich auf einmalige Untersuchung stützen, das Ergeb- 
nis hinsichtlich des Anteils der Umwelt problematisch macht, 
kann weitgehend vermieden werden, wenn man das Verhalten 
bei längerer Beobachtung oder die gesamte Lebensbewährung 
zugrundelegt, wie es schonGalton getanhat. Je länger die Be- 
obachtungszeit ist, desto mehr gleichen sich Zufälligkeiten aus. 

Besonders amerikanische Forscher sind Fällen nachgegan- 
gen, wo eineiige Zwillinge in verschiedener Umwelt aufge- 
wachsen sind. Den ersten dieser Fälle hat PopenocS) ausfin- 
dig gemacht. Zwei offenbar eineiige Zwillingsschwestern, deren 
Mutter kurz nach der Geburt starb, wurden im Alter von zwei 
Wochen bei verschiedenen Pflegeeltern untergebracht. Die eine 
Schwester, Bess, wurde von Pflegeeltern aus dem Handarbei- 
terstande aufgezogen; sie besuchte nur 4 Jahre die Schule und 
war dann als H andlungsgehilf in und Sekretärin tätig; sie war 
in Ausübung ihres Berufes viel auf Reisen, auch im Ausland. 
Die andere Zwillingsschwester, Jessie, wurde von Pflegeeltern, 
die eine Farm besaßen, aufgezogen; sie besuchte eine höhere 
Schule und die Universität; nach kurzer Tätigkeit im Lehr- 
fach heiratete sie und bekam ein Kind; dann übte sie wieder 

: ) Frischeisen-Köhler, I. Untersuchungen an Schulzeugnissen 
von Zwillingen. Z. f. angew. Psychologie. Bd. 37. H. 5 u. 6. 1930. S. 385. 

2 ) K ölin, W. Psychologische Untersuchungen an Zwillingen usw. Ar- 
chiv für die gesamte Psychologie. Bd. 88. H. 1/2. 1933. S. 131. 

3 ) Popenoe, P. Twins reared apart. The Journal of Heredity. Bd. 
13. Nr. 3. 1922. 



44* 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 

den Lehrberuf aus. Trotz dieser verschiedenen Lebensumstände 
während der Entwicklung bildete sich keine Verschiedenheit in 
ihrem Wesen heraus; sie sind beide gleich hoch und in gleicher 
Richtung begabt, haben dieselben. Neigungen und Charakter- 
eigenschaften; beide sind tatkräftig und beliebt; beide haben 
einen lebhaften Betätigungsdrang, der leicht zu Überarbeitung 
führt. Prof. H. J. Muller 1 ) von der Universität Texas hat 
die Zwillings Schwestern durch die Psychologin Miss Koch 
auf ihre Begabung prüfen lassen. Beide schnitten sehr gut ab; 
in den Alphatests, die im amerikanischen Heer gebräuchlich 
sind, erreichte Bess 156 Punkte, Jessie 153; in den Otis -Tests, 
die zur Messung höherer Intelligenz angewandt werden, brachte 
Bess es auf 64 Punkte, Jessie auf 62. Die höhere Schulbildung 
und das akademische Studium hatte in dieser Beziehung für 
Jessie also keinen Vorteil gebracht. Die Wahrscheinlichkeit, 
daß zwei Personen zufällig so ähnlich in der Begabungsprü- 
fung abschneiden, ist geringer als 1 : 2500. 

Unter sieben Paaren getrennt aufgewachsener eineiiger 
Zwillinge, die Newman 2 ) veröffentlicht hat, finden sich 
allerdings einige, die bei der Intelligenzprüfung recht ver- 
schieden abschnitten. So erreichte in Newmans Fall 2 eine 
Lehrerin im Otis-Test 14 Punkte mehr als ihre Zwillings- 
schwester, die nur die Volksschule besucht hatte. In Fall 4 
schnitt eine Kontoristin um 20 Punkte besser ab als ihre in 
der Landwirtschaft tätige Zwillings Schwester, die dafür 250/0 
schwerer war. In andern Fällen ließ sich ein unterschiedliches 
Ergebnis der Intelligenzprüfung aber keineswegs so einleuch- 
tend auf bestimmte Umwelteinflüsse zurückführen. In Fall 6 
war die eine von zwei Zwillings Schwestern deutlich' energischer 
und mehr männlich als die andere, die In einer Kropfgegend 
lebte und einen Kropf hatte. Es liegt nahe, den seelischen Un- 
terschied auf diesen körperlichen zu beziehen. In 5 von den 
7 Fällen Newmans liegen die Unterschiede der Testergeb- 
nisse innerhalb der Grenzen des einfachen Meßfehlers oder 
ihnen nahe; seine dreifache Grenze, die man allerdings nur 
schätzen kann, scheint mir in keinem Falle überschritten zu 
werden. Unterschiede des Charakters, soweit sie aus den An- 



*) Muller, H. J. Mental traits and heredity. The Journal of Here- 
dity. Bd. 16. Nr. 12. 1925. 

2 ) Newman, H. H. Mental and physical traits of identical twins rea- 
red apart. Journal of Heredity. Bd. 20. S. 49. 1929. Weitere Fälle: Bd. 20. 
S. 97 (1929), Bd. 24. S. 55 (1933), Bd. 25. S. 208 (1934). 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 693 



gaben der Zwillinge und ihrem Lebenslauf entnommen wer- 
den konnten, waren durch die verschiedene Umwelt offenbar 
noch wcnig'er hervorgerufen worden als solche der Intelligenz- 
leistung. Auch die Charaktertests, die ich im übrigen für recht 
unzuverlässig halte, ergaben meist eine weitgehende Überein- 
stimmung. 

Man darf die Befunde an einzelnen Zwillingspaaren nicht 
überschätzen, weder nach der positiven, noch nach der nega- 
tiven Seite hin. Es sind Umwelteinflüsse denkbar, die auf dem 
Wege über eingreifende körperliche Modifikationen .wirken 
wie die Kropfnoxe in dem einen Falle Newmans, deren 
eigentliche Natur uns aber verborgen ist. Auch der starke Un- 
terschied des Körpergewichts in Fall 4 war nicht eindeutig auf 
die Umwelt zurückzuführen. Es kommen sicher auch Unter- 
schiede eineiiger Zwillinge vor, die nicht durch Umwcltwir- 
kungen im gewöhnlichen Sinn verursacht sind ; ich denke dabei 
an Unterschiede der frühembryonalen Differenzierung entwick- 
lungslabüer Anlagen (vgl. S. 390). Daß auf solche Weise auch 
seelische Unterschiede eineiiger Zwillinge Zustandekommen 
können, ist nicht von der Hand zu weisen. B outer wek 1 ) 
hat auf eine gewisse gegensätzliche Differenzierung aufmerk- 
sam gemacht, die man gelegentlich bei einengen Zwillingen 
beobachten kann, ohne daß diese auf Umwelteinflüsse im ge- 
wöhnlichen Sinne bezogen werden kann. So fand er öfter die 
eine von zwei einengen Zwillings Schwestern mehr männlich, 
die andere mehr weiblich veranlagt. Schließlich ist auch zu be- 
denken, daß die Diagnose der Eiigkeit im Einzelfall öfter nicht 
ganz sicher ist. So bin ich nicht völlig überzeugt, daß die er- 
wähnten sieben Zwillingspaare Newmans wirklich alle ein- 
eiig waren. Bei Reihenuntersuchungen von Zwillingen spielt 
diese Fehlermöglichkeit praktisch keine Rolle, da die Durch- 
schnittsunter schiede durch einzelne irrige Eiigkeitsdiagnosen 
kaum verändert werden. 

Die meisten psychologischen und pädagogischen Arbeiten, 
die den Einfluß der Umwelt auf die geistige Entwicklung nach- 
zuweisen suchten, sind in ihren Ergebnissen nicht eindeutig 2 ). 

1 ) Bouterwek, H. Asymmetrien und Polarität bei crbgleichen Zwil- 
lingen. ARGB. Bd. 28. H. 3. S. 241 (1934). 

2 ) Eine wertvolle Übersicht über diese umfangreiche Literatur hat 
Annelies Argelander gegeben in ihrem Beitrag zum „Handbuch 
der pädagogischen Milieukunde" von A. Busemann u. a. (,,Die Bedeu- 
tung des Milieus für die intellektuelle Entwicklung"). 



694 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Wenn sich z. B. ergibt, daß Kinder aus Familien mit günstiger 
geistiger Umwelt in ihren Schulleistungen und bei Intelligenz- 
tests im Durchschnitt besser abschneiden als Kinder aus un- 
günstiger Umwelt, so erklärt sich das mindestens zum großen 
Teil daraus, daß begabte Eltern sich eine günstigere geistige 
Umwelt schaffen als minclerbegabte und daß sie ihre Bega- 
bung auf ihre Kinder vererben. Entsprechendes gilt von der 
wirtschaftlichen Umwelt, die hauptsächlich auch durch gei- 
stige Fähigkeiten geschaffen wird. Wenn Stadtkinder im Durch- 
schnitt intelligenter als Landkinder befunden werden, so kommt 
das zum guten Teil daher, daß geistig regsame Sippen eher 
in die Stadt abwandern als geistig träge. Die Erbmasse schafft 
sich bis zu einem gewissen Grade che ihr angemessene Umwelt 
oder sie sucht eine solche Umwelt auf. Daraus ergibt sich eine 
Korrelation zwischen Erbmasse und Umwelt. Auch die Fa- 
miliengröße ist teilweise von der erblichen Begabung abhängig. 
Seit Jahrzehnten haben die begabten Familien meist nur we- 
nige Kinder, während Kinderreichtum häufiger bei minder- 
begabten ist. Man kann daher die Familiengröße nicht ein- 
fach als Umweltfaktor einsetzen. 

Der eifrigste Anwalt einer ,,milieu- theoretischen Deutung" von Lei- 
stung simter schieden bei Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten und 
aus verschieden großen Familien ist bis vor wenigen Jahren ein Pädagoge 
Adolf Busemann 1 ) gewesen. Er hat z. B. im Sinne seiner Erwartung 
feststellen zu können geglaubt, daß Kinder mit 2 bis 3 Geschwistern in 
der Schule mehr feisten als solche mit weniger als 2 oder mit mehr als 3 
Geschwistern, daß die älteren Geschwister mehr leisten als die jüngeren und 
daß das Vorhandensein von Geschwistern des anderen Geschlechts hemmend 
auf die Leistungen wirke. Die besseren Schulleistungen von Kindern mit 
2 bis 3 Geschwistern auf Mittelschulen (um solche handelte es sich bei B u - 
s e m a n n) erklären sich indessen einfach daraus, daß Eltern mit weniger 
Kindern diese meist nur dann auf die Mittelschule schicken, wenn sie für 
eine höhere Schule nicht begabt genug erscheinen, und daß andererseits 
große Kinderzahlen sich vorwiegend in minder begabten Familien finden. 
Was den von Busemann behaupteten Einfluß der Reihenfolge innerhalb 
der Geschwister und der Zusammensetzung der Geschwisterreihe nach dem 
Geschlecht betrifft, so hat sich ein solcher an einem viel größeren und nicht 
einseitig ausgelesenen Material, das Katharina Hell 2 ) auf meine Ver- 
anlassung bearbeitet hat, überhaupt nicht gezeigt.. Auch gehen die von Bu- 



x ) Busemann, A. Geschwisterschaft, Schultüchtigkeit und Charak- 
ter. Zeit sehr. f. Kinderforschung Bd. 34. S. 1. 1928. 

— — . Geschwisterschaft u. Schulzcnsuren. Ebenda Bd. 34. S. 553. 1928. 

— — . Milieu und Schul tüchtigkeit von Volksschülern. Ebenda. Bd. 35. 
S. 1. 1929. 

3 ) H eil, K. Zur Frage der Zusammenhänge zwischen Schulleistungen, 
Begabung, Kinderzahl und Umwelt. ARGB. Bd. 28. LI. 4- S. 383. 1935. 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 695 



semann angegebenen Unterschiede nirgends über die Fehlergrenzen hin- 
aus. Aus den erwähnten Publikationen Busemanns, die eine wesent- 
liche Grundlage seiner „pädagogischen Milieukunde" 1 ) bildeten, folgt daher 
nur, daß es ihm nicht gelungen ist, für die von ihm vermuteten Zusammen- 
hänge stichhaltige Belege beizubringen. 

Wie schon in dem Kapitel über die Methoden der Erbfor- 
schung dargelegt wurde, hat die Abschätzung des Anteils von 
Erbmasse und Umwelt immer nur einen Sinn in bezug auf die 
tatsächlich in einer Bevölkerung vorhandenen Unterschiede. 
In einem Lande ohne Schulpflicht ist Analphabetentum vor- 
wiegend unweitbedingt; bei uns ist es vorwiegend erbbedingt, 
nämlich auf hochgradig Schwachsinnige beschränkt. Vor 100 
Jahren, als akademische Bildung bei uns noch selten war, war 
diese noch etwas Besonderes; in unserer Zeit der Akaclcmiker- 
inflation dagegen hat sie viel weniger zu bedeuten; dafür wer- 
den die Unterschiede der erbbedingten Begabung entsprechend 
wichtiger. Je mehr Bildung schon vorhanden ist, desto weniger 
läßt sich durch weitere Verallgemeinerung der Büdungsmittel 
für die geistige Hebung des Volkes tun; eine weitere Hebung 
der geistigen Leistungsfähigkeit wäre dann hauptsächlich nur 
noch auf dem Wege der Rassenhygiene möglich. 

Es ist auch zu bedenken, daß der Begriff der Begabung 
ein Wertmoment enthält. Zum guten Teil daher kommt es, 
daß es nicht gelingt, eine allgemein befriedigende Definition 
des Begriffes „Begabung" zu geben, ja nicht einmal eine solche 
des engeren Begriffes „Intelligenz". Irgendwie muß darin die 
geistige Leistungsfähigkeit zum Ausdruck kommen. Man hat 
Intelligenz wohl als geistige Anpassungsfähigkeit an wech- 
selnde Anforderungen des Lebens definieren wollen. Je mehr 
Bildung schon geboten ist, desto mehr wird die umweltbe- 
dingte Leistungsfähigkeit entwertet und desto geringer wird 
folglich der Anteil der Umwelt an der geistigen Leistungs- 
fähigkeit, eben weil diese keine wertfreie Eigenschaft Ist. 

Auch der Inhalt unserer Vorstellungen scheint, so er- 
staunlich das zunächst klingen mag, zu einem wesentlichen Teil 
erbbedingt zu sein. Eineiige Zwillinge stimmen im Inhalt ihrer 
Vorstellungen im Durchschnitt mehr überein als zweieiige. Na- 
türlich sind Vorstellungen nicht angeboren; aber auch viele 
sonstige erbliche Eigenschaften zeigen sich ja erst später. Viel- 
leicht ist die Sache so zu deuten, daß ein Mensch je nach sei- 
ner Veranlagung vorzugsweise bei diesen oder jenen Wahr- 
tieh mungen und Vorstellungen verweilt und sie dadurch fixiert. 

r ) Busemann, A. Pädagogische Milieukunde. i.Aufl. Halle 1927. 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 

Die verschiedenen Vogelartcn bauen ihre Nester aus sehr verschiedenem 
Material und in sehr verschiedener Weise, ohne es doch von ihren Eltern zu 
lernen. Es muß also in ihrer Erbmasse eine Disposition dafür vorhanden 
sein, was sie für schön und für richtig befinden. Daß sie beim Nestbau 
intelligent vorgehen, zeigt die Anpassung an die wechselnden Bedingungen 
des Nistplatzes und des zur Verfügung stehenden Materials. 

Wesentlich erbbedingt sind offenbar auch Unterschiede 
des Gedächtnisses für Dinge und Ereignisse der Vergangenheit 
sowie der Merkfähigkeit für neue. Unter Merkfähigkeit ist hier 
im Unterschied vom Gedächtnis die Fähigkeit zum zeitweiligen 
Festhalten von Erinnerungsbildern verstanden. 

Köhn 1 ) hat an 24 Paaren eineiiger und 37 Paaren zweieiiger 
Zwillinge Erhebungen über den Charakter angestellt. Als Un- 
terlagen dienten Angaben der Eltern und Lehrer sowie eigene Be- 
obachtungen. Rund die Hälfte der EZ waren in ihren Charak- 
tereigenschaften ausgesprochen gleichartig, die andere Hälfte 
auch noch überwiegend gleichartig; von den ZZ dagegen die 
Hälfte ausgesprochen verschieden und die andere Hälfte mäßig 
verschieden. Nach Köhns Befunden ist die Modifizierbarkeit 
des Charakters durch Umwelteinflüsse recht gering. Verhält- 
nismäßig am stärksten modifizierend wirkten Krankheiten und 
andere Umweltschäden, die die körperliche Konstitution än- 
derten. Es entspricht das den Erfahrungen Langes an kri- 
minellen Zwillingen. Marie-Therese Lassen 2 ) hat auf 
Grund von Fragebogen, die von Lehrern und Eltern ausge- 
füllt wurden, gefunden, daß 70 eineiige Zwillinge sich im 
Durchschnitt in ihren sozialen und sittlichen Eigenschaften 
wesentlich ähnlicher waren als 156 zweieiige. Das Verhältnis 
der Unterschiede von EZ und ZZ spricht wie bei Köhn für 
eine ganz überwiegende Erbbedingtheit der Charakterunter- 
schiede. Dasselbe gilt von der Arbeit Lottigs 3 ), bei der 
zwar nur 10 Paare EZ und 10 gleichgeschlechtige Paare ZZ, 
diese aber dafür um so eingehender auf ihren Charakter unter- 
sucht wurden. Bemerkenswerterweise stimmten die EZ auch 
im Inhalt ihrer Vorstellungen viel mehr uberein als die ZZ. 

Yerke s 4 ) hat die Erblichkeit gewisser Charaktereigenschaften im Tier- 
versuch stu diert. Bei Ratten ließ sich Scheu („wildness") und Bissigkeit 

1 ) Köhn, W. Die Vererbung des Charakters. Studien an Zwillingen. 
ARGB. Bd. 29. H. 1. S. 1 (1935). 

2 ) L a s 5 e n , M.-Th. Zur Frage der Vererbung sozialer und sittlicher 
Charakteranlagen. ARGB. Bd. 25. H. 3. S. 269 (1931). 

3 ) L ottig, H. Hamburger Zwillingsstudien. Beihefte zur Zeitschrift 
für angewandte Psychologie. Leipzig 1931. 

ä ) Yerkes, R. M. The heredity of savageness and wildness in rats. 
Journal of Animall Behavior. Bd. 3. S. 286. 1 9 13. 



GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 697 



(„savageness") in verschiedenen Stämmen als erblich verfolgen. Cobum 1 ) 
hat die Erblichkeit der gleichen Eigenschaften bei Mäusen, speziell auch in 
Kreuzungen zwischen zahmen und wilden Mausen untersucht. Aus der ge- 
mischten Nachkommenschaft ließen sich wieder scheue und zutrauliche, bis- 
sige und friedliche herauszüchten. Im übrigen nahmen Scheu und Bissigkeit 
im Laufe der gezüchteten Generationen nicht etwa ab; es trat also keine 
Vererbung erworbener Zähmung ein. Entsprechend ist die Zahmheit der 
Haustiere nicht auf Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern auf Aus- 
lese zurückzuführen, Dawson 2 ) fand in Mäusezuchten Scheu und Bissig- 
keit im wesentlichen dominant über Zahmheit; die Unterschiede betrafen 
nur wenige Gene. 

Die Erblichkeit seelischer Eigenschaften bei Tieren ist besonders augen- 
fällig bei den zu verschiedenen Zwecken gezüchteten Hunderassen. 

Daß das persönliche Tempo wesentlich erbbedingt ist, hat I d a 
Frischeisen-Köhler 3 ) gezeigt. Es läßt sich experimentell-psycho- 
logisch im Klopfvcrsuch erfassen und kommt z. B. auch im Schnttempo zum 
Ausdruck. 

Zwischen Eigenschaften des Verstandes und des Charak- 
ters besteht eine Korrelation in dem Sinne, daß intellektuelle 
Begabung häufiger mit günstigen Charaktereigenschaften ein- 
hergeht, als bei rein zufälliger Verteilung zu erwarten wäre. 
Pearson 1 ) hat eine Korrelation zwischen Verstandesbega- 
bung und Gewissenhaftigkeit festgestellt, Webb 5 ) zwischen 
heiterem Temperament und Geselligkeit bzw. Gemeinsinn. Diese 
Korrelation erklärt sich daraus, daß sowohl Begabung als auch 
Charakter bei der Ehewahl geschätzt und damit sippenweise 
angehäuft werden. 

Die Gegner des „Intellektualismus" scheinen zwar zu meinen: 
,, Oftmals paaret im Gemüte 
Dummheit sich mit Herzensgute, 
Während höh'rc Geistesgaben 
Meistens böse Leute haben." 

Aber der Humor dieser Verse liegt offenbar gerade darin, daß durch 
die paradoxe Formulierung ein landläufiges Vorurteil ad absurdum geführt 
wird ). 



L ) Coburn, Ch. A. Heredity of wildness and savageness in mice. 
Behavior Monographies. Bd. 4. Nr. 5. 1922. 

3 ) Dawson, W. M. Inheritance of wildness and tameness in mice. 
Genetics. Bd. 17. S. 296. 1932. 

3 ) Frischeisen -Köhler, f. Das persönliche Tempo. Leipzig 
1933. Thicmc. 

4 ) P e a r s G n , K. The rclationship of intelligence to size and shape 
of head and to other physical and mental characters. Biometrika. Bd. 5. 
S. 105. 1907. 

E ) Webb, E. Character and intelligence. Cambridge 191 5. 
G ) Diese Verse werden öfter Wilhelm Busch zugeschrieben, aber 
anscheinend zu Unrecht; der wirkliche Verfasser ist mir nicht bekannt. 



698 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Bei psychologischen Tests ergibt der Vergleich eineiiger 
Zwillinge (EZ) mit verschiedengeschlechtigen zweieiigen (so- 
genannten Pärchenzwillingen PZ) größere Unterschiede als 
der Vergleich mit gleichgeschlechtigen zweieiigen (ZZ). So 
fand Wingfield folgende Korrelationen des Intelligenz- 
Quotienten : 

bei EZ r = 0,90 + 0,025, 

bei ZZ r = o^'+o^io, 

bei PZ r = 0,59+0,086. 
Wenn man die EZ mit den ZZ vergleicht, so sieht man von 
den Geschlechtsunterschieden ab. Wenn man sie aber mit den 
PZ vergleicht, so erfaßt man die erblichen Unterschiede ein- 
schließlich der Geschlechtsunterschiede, die ja auch erbbe- 
dingte Unterschiede sind. Wenn bei diesem Vergleich sich eine, 
stärkere Erbbedingtheit der Unterschiede als bei jenem er- 
gibt, so ist das durchaus nicht widersinnig. Die Zwillings - 
methode gestattet nur eine Abschätzung des Anteils von Erb- 
masse und Umwelt an den tatsächlich vorhandenen erb- und 
umweltbedingten Unterschieden (vgl. S. 656) ; und in einer aus 
beiden Geschlechtern gemischten Population sind die erbbe- 
dingten Unterschiede eben größer als in einer Menge von In- 
dividuen nur eines Geschlechts. Dabeiist zu bedenken, daß die 
Frau im Durchschnitt auch in einer erheblich anderen Umwelt 
aufwächst und lebt als der Mann ; und sie lebt in einer andern 
Umwelt, eben weil sie auf Grund ihrer Erbanlage anders ver- 
anlagt ist als der Mann. Diese erfahrungsmäßige Verschieden- 
heit der Anlagen beider Geschlechter und die dadurch bedingte 
andere Lebensaufgabe hat dazu geführt, daß für beide Ge- 
schlechter eine verschiedene Erziehung und verschiedene Le- 
bensführung üblich geworden sind, ein Beispiel dafür, wie die 
Erbanlage sich mittels der Umwelt auswirkt. 

Der Unterschied der Geschlechter selbst ist derart in der 
Erbmasse begründet, daß das Weib zwei X-Chromosome, der 
Mann nur eines enthält. Dieser Unterschied betrifft sämtliche 
Zellen des Organismus; und vermutlich werden schon dadurch 
auch wesentliche Unterschiede der Seele beider Geschlechter 
bedingt. Dazu kommt noch eine mittelbare Wirkung des Un- 
terschieds der Erbmasse, nämlich' die über die Hormonwir- 
kung der Keimdrüsen (Gonaden). Die verschiedene Entwick- 
lung der Gonaden, einerseits zum Eierstock, andererseits zum 
Hoden, ist von der genannten Verschiedenheit der Erbmasse 
abhängig; und die Hormone der beiderlei Gonaden verstärken 



GEISTIGE UNTERSCHIEDE DES GESCHLECHTES. 



699 



ihrerseits den körperlichen und seelischen Unterschied der Ge- 
schlechter, wie die Erfahrungen über Kastration und Trans- 
plantation zeigen. Doch sind die Unterschiede der Geschlech- 
ter vermutlich auch beim Menschen nicht ausschließlich von 
dieser Verschiedenheit der Hormonwirkung abhängig. Ein Plalb- 
seitenzwittcr des Dompfaffen, den Poll 1 ) beschrieben hat, 
zeigte auf der einen Seite der Brust das leuchtend rote Gefie- 
der des Männchens und auf der andern das graue des Weib- 
chens; beide Bezirke waren in der Mittellinie scharf gegenein- 
ander abgegrenzt; und ähnliche Fälle sind noch mehrere be- 
kannt geworden. Hier waren also die Hormone der Gonaden, 
die natürlich auf beide Seiten wirken, nicht ausschlaggebend, 
sondern die erbliche Anlage der Zellen. Es ist durchaus mög- 
lich', daß Entsprechendes auch für den Menschen gilt. 

Der Mann ist gezüchtet auf Bezwingung der Natur, auf 
Jagd und Krieg und Gewinnung von Frauen, das Weib auf die 
Aufzucht von Kindern und auf die Anlockung des Siegers (die 
freilich mehr instinktiv als bewußt und oft gerade durch Sprö- 
digkeit und Zurückhaltung erreicht wird). Daraus ergeben sich 
die Wesensverschiedenheiten der Geschlechter, die im Banne 
individualistischer Wertung nur allzu oft mißdeutet worden 
sind. Bald ist das männliche Geschlecht, bald das weibliche als 
moralisch minderwertig hingestellt worden; und bald sollte das 
Ewig-Weibliche, bald das Ewig -Männliche uns hinanziehen. 
Jedenfalls ist der Wesensunterschied der Geschlechter da; und 
er ist nicht nur da, sondern er ist auch natürlich und normal. 

Bei psychologischen Begabungsprüfungen schneiden Mäd- 
chen im D urchschnitt nicht schlechter ab als gleichaltrige 
Knaben. Man muß dabei berücksichtigen, daß die körperliche 
und geistige Entwicklung der Mädchen der der Knaben vor- 
auseilt. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts, wo dieser 
Unterschied am größten ist, beträgt er mehrere Jahre. Unter 
den von Terman 2 ) untersuchten, besonders begabten Kindern 
überwogen von vornherein die Knaben, und ihr Überschuß 
nahm in den älteren Jahrgängen unter den begabten Kindern 
noch zu. Die geistige Leistungsfähigkeit der Mädchen scheint 
also auch früher ihren Höhepunkt zu erreichen. Immerhin ha- 

1 ) Poll, H. Zur Lehre von den sekundären Gcschlechtscharakteren. 
Sitzungsberichte der Gesellschaft naturforschender Freunde. Bd. 6. Berlin 
1909. 

2 ) Terman, L. M. Genetic studies of genius. Bd. 1. Stanford Uni- 
versitiy Press. 1925. 



700 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



ben die studierenden Mädchen auch noch auf der Universität 
im Durchschnitt mindestens ebenso gute Erfolge aufzuweisen 
wie die Studenten; im Examen schneiden sie im Durchschnitt 
eher besser ab. Nach den glänzenden Leistungen mancher Stu- 
dentin könnte man erwarten, daß sie später große wissen- 
schaftliche Leistungen vollbringen werde; und doch zeigt die 
Erfahrung, daß das nicht eintritt. Große Frauen im Sinne 
überragender schöpferischer Begabung sind kaum bekannt ge- 
worden. Besonders selten ist hohe mathematische Begabung 
bei Frauen; dasselbe gilt auch von der Begabung für Schach- 
spiel, das immerhin eine, wenn auch einseitige Messung gei- 
stiger Kräfte gestattet. Die höchsten Leistungen von Frauen 
liegen wohl auf dem Gebiet der psychologischen Einfühlung. 
Romanschriftstellerinnen sind ihren erfolgreichen männlichen 
Kollegen wohl ebenbürtig; Romane schreiben ist keine ausge- 
sprochen männliche Tätigkeit. 

In der Auffassung und im Gedächtnis ist das Weib dem 
Manne mindestens ebenbürtig, in der Phantasie und im kriti- 
schen Urteil dagegen im Durchschnitt nicht. Wenn die selb- 
ständigen Leistungen der Frau auf wissenschaftlichem und 
künstlerischem Gebiet hinter denen des Mannes zurückbleiben, 
so liegt das im übrigen hauptsächlich an ihrer anderen Inter- 
essen- und Triebrichtung. Viel stärker als die Unterschiede der 
Verstandesbegabung sind die im Triebleben der beiden Ge- 
schlechter, nicht nur in den geschlechtlichen Trieben, sondern 
auch in den Nahrungstrieben und besonders in den Gesellig- 
keitstrieben. Die Wunschbestimmbarkeit ist beim Weibe nor- 
malerweise größer als beim Manne. Ihr Geltungstrieb ist zwar 
nicht stärker, richtet sich aber auf andere Dinge; das Weib will 
vor allem als schön und begehrenswert anerkannt sein, der 
Mann als Held und Vollbringer. Der Mann hat größeren Mut 
zum Angriff; das Weib größere Tapferkeit im Erdulden. Weil 
das Weib von der Natur auf die Aufzucht von Kindern sowie 
auf die Anlockung des Mannes gezüchtet ist, sind ihre Inter- 
essen abhängig von denen des Mannes und der Kinder und 
weniger auf sachliche Dinge als auf andere Menschen gerichtet. 
Um ihrer Aufgabe willen hat sie auch die Fähigkeit größerer 
psychologischer Einfühlung. Sie lebt mehr für andere, und tut 
das meiste aus Liebe, den Kindern und dem Manne zuliebe, 
dem Manne zur Lust und Illusion. Der Mann lebt mehr für 
sich; er tut das meiste aus Eigenliebe oder um eines sachlichen 
Zieles willen. Im übrigen ist starkes sachliches Interesse ander 



KÖRPERLICHE BEGABUNGSZEICHEN. 



701 



Erkenntnis als solcher oder an einem unpersönlichen Ziel auch 
bei Männern nicht häufig. 

Von den spezifisch weiblichen Trieben, dem lockenden und 
dem mütterlich sorgenden kann je nach Veranlagung der eine 
oder der andere überwiegen; und je nach dem Lebcnsschicksal 
kann der eine oder der andere stärker entwickelt oder unter- 
drückt werden. 

Die Unterschiede der geistigen Wesensart kommen bis zu 
einem gewissen Grade auch in der körperlichen Erscheinung 
zum Ausdruck. Männer, die seelisch wenig männlich veranlagt 
sind, haben meist auch' ein feminines Äußeres, ausgesprochen 
männlich veranlagte ein männliches. Entsprechendes gilt von 
virilen und wirklich weiblichen Frauen. Neuras theniker sind 
meist auch körperlich asthenisch. Hier ist an die von Kretsch- 
mer entdeckte Korrelation zwischen „Körperbau und Cha- 
rakter" zu erinnern (vgl. S. 561). Jedermann weiß, daß große 
Hunde (z. B. Bernhardiner) bedächtig, kleine (z. B. Terrier) 
lebhaft zu sein pflegen; sie unterscheiden sich im „persön- 
lichen Tempo". Entsprechendes gilt auch von großen und klei- 
nen Menschen. Die Karikaturenzeichner wissen, daß ein Idealis t 
schmal und blaß, ein Opportunist breit und blühend zu sein 
hat. Ich' zweifle nicht, daß ich eine Gruppe von 10 musikali- 
schen Menschen sicher von 10 unmusikalischen unterscheiden 
könnte, obwohl ich noch nicht zu sagen wüßte, woran; und der 
Leser wird es auch wohl können. Zum Teil sind es ja freilich 
Folgen geistiger Tätigkeit bzw. Untätigkeit und der Art dieser 
Tätigkeit, die sich im Gesicht ausprägen und aus denen wir 
auf die Seelenverfassung der Menschen zurückschließen; da- 
durch unterscheiden wir einen Gebildeten von einem Unge- 
bildeten, auch wenn er viel unbegabter ist als dieser. Zum Teil 
aber sind die Beziehungen zwischen Begabung und Erscheinung 
viel unmittelbarer. An der Art der Stirnbüdung, der Nase u.a. 
erkennen wir mit großer Wahrscheinlichkeit den geistig begab- 
ten Menschen. Zum größten Teil daher rührt das Interesse, 
das man allgemein den Bildern berühmter Leute entgegen- 
bringt. Zum Teil dürften diese Zusammenhänge auf der Wir- 
kung innerer Sekretionen beruhen, die ja sowohl körperliche 
als auch seelische Folgen haben. Wenn man aber den Begriff 
der inneren Sekretion nicht ungebührlich weit fassen will, so wird 
man daneben auch noch andere Zusammenhänge gelten lassen. 

Bis zu einem gewissen Grade äußert die geistige Bega- 
bung sich in der Kopfgröße, die näherungsweise Schlüsse auf 



702 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHÄFTEN. 



die Größe des Gehirns zu ziehen gestaltet. Auch körperlich ist 
ja ein wohlausgebildetes Organ im allgemeinen leistungsfähi- 
ger als ein weniger entwickeltes. Freilich ist es durchaus nicht 
nötig, daß ein besonders großes Organ auch in jedem Falle 
besonders leistungsfähig sei. Menschen mit großem Brustum- 
fang sind nicht unter allen Umständen körperlich leistungs- 
fähiger als solche mit kleinerem Brustumfang. In einzelnen 
Fällen kann trotz großen Brustumfangs die Leistungsfähigkeit 
gering sein (z. B. bei faßförmigem Brustkorb und Lungen- 
blähung). Gleichwohl aber sind Menschen mit größerem Brust- 
umfang im Durchschnitt leistungsfähiger als solche mit 
kleinerem; und unterhalb eines gewissen Maßes ist größere 
körperliche Leistungsfähigkeit mit Sicherheit auszuschließen. 
Ganz entsprechend liegen die Dinge hinsichtlich des Gehirns. 
Die einfachste näh erangs weise Bestimmung der Kopfgröße er- 
folgt durch Messen des größten Umfanges. Nach den um- 
fangreichen Untersuchungen Bayerthals*) kommen bei 
einem Kopfumfang von weniger als 52 cm bedeutende geistige 
Leistungen kaum noch vor und unter 501/2 cm keine normale 
Intelligenz mehr. Geniale Begabung ist bei einem Umfang von 
weniger als 56 cm auszuschließen. Der bekannte Psychiater 
Ziehen 2 ) setzt die Grenze, unterhalb deren Schwachsinn zu 
vermuten ist, sogar auf 52 cm. Eigentlich sollte bei solchen 
Untersuchungen allerdings nicht .die absolute, sondern die rela- 
tive Kopfgröße zugrunde gelegt werden. Rös.e^) fand an sehr 
großem Schülermaterial in Dresden, daß die Köpfe der Schüler 
im Durchschnitt um so kleiner sind, je schlechter ihre Zeugnisse 
sind. In den Gymnasien hatten die Abiturienten mit den besten 
Zeugnissen im Durchschnitt auch die größten Köpfe, obwohl 
sie jünger waren als der Durchschnitt. Auch der Anatom und 
Anthropologe Pfitzner 4 ) in Straßburg kam auf Grund sei- 
ner sozialanthropologischen Studien zu dem Schlüsse: „Die 
höhere Intelligenz schlechthin dokumentiert sich in der durch- 
schnittlich höheren Statur und in einer über diese Zunahme 
hinausgehenden Größenzunahme des Hirnteils des Kopfes." 

1 ) Bayerthal, Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach den 
Beziehungen zwischen Hirngröße und Intelligenz. ARGB. 1911. 

2 ) Ziehen, Th. Die Erkennung des angeborenen Schwachsinns. Zeit- 
schrift für Schulgesundheitspflcge 1907. 

3 ) R ö se, K. Beiträge zur europäischen Rassenkunde. ARGB. J905 und 
rgo6. 

ä ) Pfitzncr, W. Sozialanthropologische Studien. Zeitschrift f. Mor- 
phologie 1899— 1903. 



KÖRPERLICHE BEGABUNGSZEICHEN. 



703 



Wenn Pearso n 1 ) bei Graduierten der Universität Cambridge nur eine 
geringe Korrelation zwischen intellektueller Leistung und Kopflänge bzw. 
-breite fand (r=o,n bzw. 0,10), so muß man bedenken, daß es sich hier 
schon um eine stark ausgclesene Gruppe handelte. In großen Bevölkerungen 
ist diese Korrelation unzweifelhaft viel höher. 

Woods 2 ) hat gefunden, daß die meisten großen Männer 
eine große oder lange Nase haben, während kurze 'Nasen bei 
ihnen so gut wie gar nicht vorkommen. Höher begabte Grup- 
pen von Menschen haben im Durchschnitt längere Nasen als 
weniger begabte Gruppen. 

Wie es direkte und indirekte Entartungszeichen gibt, so 
gibt es auch direkte und indirekte körperliche Begabungs- 
und Charakterzeichen. Die direkten sind durch diesel- 
ben Erbanlagen bedingt, von denen auch die entsprechenden 
seelischen Eigenschaften abhängen. Indirekte sind dadurch 
möglich, daß in einer bestimmten Umwelt zugleich mit gewis- 
sen seelischen Anlagen auch gewisse körperliche (aber ohne 
direkten Zusammenhang mit ihnen) ausgelesen, beide also in 
gewissen sozialen Gruppen oder in gewissen geographischen 
Gebieten angehäuft werden. Von den geographisch verschieden 
verteilten Erbanlagen ist in dem Kapitel über die seelischen 
Rassenunterschiede die Rede. 

IC r e t s c h m e r 8 ) und seine Mitarbeiter 4 ) haben gefunden, daß schlanke 
(leptosome) Menschen eine größere Spaltungs- und Beharrungsneigung zu 
haben pflegen als untersetzte (pyknische). Unter Spaltungsfähigkeit (so ge- 
nannt in Analogie zum Spaltungsirresein, der Schizophrenie), die man viel- 
leicht noch deutlicher als Sonderungsfähigkeit bezeichnen könnte, versteht 
Krctschmer „die Fälligkeit zur Bildung getrennter Teilintentionen inner- 
halb eines Bewußtseinsablaufs". Leptosomen Menschen fällt es z. B. leichter, 
mit beiden Händen gleichzeitig verschiedene Bewegungen auszuführen, als 
pykmschen. Schizothyme Menschen, d. h. solche mit großer Spaltungsfähig- 
keit, sind mehr für Zergliederung der Erscheinungen und damit für ana- 
lytisches Denken begabt, syntonc Menschen, d. h. solche mit geringer Spal- 
tungsfalngkeit, für Auffassung der Erscheinungen als Ganzheit und damit 
für synthetisches Denken. Auf der Spaltungsfähigkeit beruht zum guten 
Teil die Abstraktionsfähigkcit. Schizothyme Menschen neigen zu längerem 
Beharren (Perseveration) in Vorstellungen und Affekten; sie sind weniger 
ablenkbar. Die Syntoncn sind leichter durch Umweltreize erregbar aber 
meist nicht so nachhaltig. Bei den Schizothymen ist die innere affektive 

!) A.a.O. 

2 ) Woods, F. A. What is there in physiognomy ? I. The size o£ the 
nose. The Journal of Heredity. Bd. 12. H. 7. 1921. 

_ s ) Krctschmer, E. Experimentelle Typenpsychologie. Zeitschrift 
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 113. H. 4 u. 5. S. 776. 1928. 

4 ) Enkc, W. PersönHchkeitsproblcm. In dem Kongreßbericht Ein- 
heitsbestrebungen in der Medizin". Dresden und Leipzig 1933. Steinkopff. 
S. 159. 



704 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Erregbarkeit, die innere Spannung, stärker und andauernder, wie sich auch 
im Galvanometerversuch zeigt. Der schizothyme Mensch, urteilt mehr sach- 
lich, der syntone mehr gefühlsmäßig. 

Entsprechende Unterschiede finden sich auch zwischen den Geschlech- 
tern. Das männliche ist körperlich mehr leptosom, seelisch mehr schizothym, 
das weibliche mehr pyknisch und synton 1 ). Auch zwischen den verschiedenen 
Lebensaltern finden sich übrigens ähnliche Unterschiede: die schlanke Ju- 
gend ist mehr schizothym, das gesetzte Alter mehr synton. 

Es ist eine eigenartige Erfahrung, daß manche Leute die 
Erblichkeit seelischer Anlagen immer wieder in Abrede zu stel- 
len geneigt sind, obwohl sie die Erblichkeit körperlicher Eigen- 
schaften nicht leugnen können. Für die Seele möchten sie einen 
ganz andern Ursprung behaupten, der mit Biologie und Erb- 
lichkeit nichts zu tun haben soll. Der eifrigste Wortführer die- 
ser Richtung ist der Pater S.V.D. Wilhelm Schmidt, 
der allen Ernstes erklärt, die Erblichkeit rein geistiger Veran- 
lagungen sei rundweg abzulehnen. Die Seele steht nach ihm 
„nicht nur mit keinem Körper, sondern auch nicht mit einer 
Seele, auch nicht mit den Seelen der eigenen Eltern in irgend- 
einem erblichen Zusammenhang'' ; sie werde vielmehr „für jedes 
Individuum neu von Gott geschaffen" 2 ). Das ist nachSchmidt 
katholische Glaubenslehre. Die Vertreter der Lehre von der 
Erblichkeit seelischer Eigenschaften werden von ihm eines 
„verkappten Materialismus" beschuldigt. Glücklicherweise hat 
Hermann Muckermann, ebenfalls katholischer Priester, 
der etwas von Biologie versteht, bald darauf erklärt : „Die von 
Geschlecht zu Geschlecht wiederkehrenden Eigenschaften des 
Menschen sind in den Anlagen der Keimbahn gleichsam ver- 
wurzelt. Auch das Seelische ist durch diese Anlagen unzweifel- 
haft bedingt" 3 ). In einer neueren Schrift 4 ) hat S chmidt 
selbst treffend bemerkt, daß sein angeführter Satz einen „Grund- 
gedanken thomistischer Philosophie und Theologie" wieder- 
gebe, d. h. auf Deutsch ein Dogma mittelalterlicher Scholastik. 

Der Schein, daß seelische Eigenschaften erblich seien, soll nach dieser 
Lehre dadurch entstehen, daß die Seele für gewisse Tätigkeiten der erb- 
bedingten körperlichen Organe bedürfe. So soll die Seele eines Taubstummen 

l ) Argelan der, Annelies. Geschlechtsunterschiede in Leistung und 
Persönlichkeit des Schulkindes. Zeitschr. für pädagogische Psychologie. 
Jg. 32. Ii. 1. S. 28. 1930. 

a ) Schmidt, W. Rasse und Volk. München 1927. Kösel und Pustet. 
S. 15. 

3 ) Muckermann, IL Rassenforschung und Volk der Zukunft. Ber- 
lin und Bonn 1928. Dümmler. S. 3. 

4 ) S c h m i d t , W. Die Stellung der Religion zu Rasse und Volk. Augs- 
burg 1932. Haas und Grabherr. S. 14. 



DIE TRAGE DER WILLENSFREIHEIT. 



705 



nur des Gebrauchs des körperlichen Gehörorgans beraubt sein, die eines 
Blinden des körperlichen Sehorgans, die des Idioten gewisser Gehirnteüe 
usw. Es fragt sich aber, ob man jenes Geistige, das nach Abzug aller dieser 
Fähigkeiten übrig bleibt, überhaupt noch als individualisiert, d. h. mit einer 
bestimmten Eigenart begabt, annehmen könne, oder ob es nicht vielmehr 
identisch mit dem geistigen Prinzip der Welt überhaupt sei. Wir nehmen ja 
auch die Substanz, die dem Körperlichen zugrunde liegt, nicht als indivi- 
dualisiert an, sind vielmehr der Ansicht, daß die Substanz in allem Wech- 
sel des individuellen Körperlichen nur eine ist; und diese Substanz ist 
natürlich nicht erblich, sondern ermöglicht alle Erblichkeit überhaupt erst. 
Ob es eine geistige Substanz gibt, die von jener, ,die dem Körperlichen 
zugrundeliegt, verschieden ist, wissen wir nicht. In Anbetracht der engen 
wechselseitigen Abhängigkeit von Körper und Seele, ist es die einfachste 
Annahme, daß beiden dieselbe Substanz zugrundeliegc. Die „Materie", die 
den „Materialisten" des 19. Jahrhunderts so greifbar und konkret gegeben 
zu sein schien, daß sie eine Weltanschauung darauf gründen zu können 
glaubten, ist der modernen Physik unter den Händen zerronnen. Wo ist 
z. B. ihre „Undurchdringlichkeit" geblieben? Im Grunde geht auch der 
Streit gar nicht um den Gegensatz zwischen „Geist" und „Materie", 
sondern um einen Gegensatz der Wertlehren. Die Lehre, daß die indi- 
viduelle Seele Substanz sei und daß alles auf ihr Heil ankomme, steht im 
Gegensatz zu der gentilistischen Wertung, die den entscheidenden Wert in 
der Rasse sieht. Dieser Gegensatz kommt bei Schmidt mit aller wün- 
schenswerten Deutlichkeit zum Ausdruck: „Die Seele als solche hat keine 
Rasse, wie sie auch keine irdische Heimat hat." x ) Gleichwohl soll die Seele 
aber offenbar eine A r t haben, nämlich die Art Mensch, deren Wesen docli 
auch in der Erbmasse begründet liegt. Demgegenüber ist festzustellen: Die 
Eigenart unserer Seele stammt aus dem Erbe unserer Ahnen. Wir sind auch 
geistig die Nachkommen unserer Vorfahren; und wir lassen uns diese Bin- 
dung durch den metaphysischen Individualismus nicht zerstören. 

Wenn unser Leben durch Erbmasse und Umwelt be- 
stimmt wird, wie steht es dann um die Willensfreiheit ? 
Das individuelle Leben verläuft in Reaktionen auf Reize, die 
von der Umwelt ausgehen; und die Reaktionsmöglichkeiten 
ihrerseits sind in der Erbmasse begründet. Ob es außer den 
Reaktionen auch Aktionen gibt, die nicht Reaktionen sind, 
also ursachlose Handlungen, ist die Frage. Denkmöglich ist 
das immerhin. Die Kausalität ist nicht eine apriorische Denk- 
notwendigkeit, sondern eine Hypothese. Einige sehr moderne 
Physiker wie Schrö dinge r haben mit dem Gedanken ge- 
spielt, daß im Bereich der kleinsten Größen die Kausalität 
nicht mehr gelte. Da aber Groß und Klein relative Begriffe 
sind, wäre nicht abzusehen, warum dann nicht auch ursachloses 
Geschehen im Großen vorkommen sollte, warum nicht z. R. 
ein Tonnengewicht auf einmal anfangen sollte, sich von selbst 
zu bewegen, oder warum nicht die Erde aus ihrer Bahn sprin- 



*) A. a. O. S. -16. 

B a n r- F i s c h e r - 1, e a ■/, 1. 



706 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



gen sollte. Praktisch rechnen wir nicht damit, sondern mit 
Kausalität. Naturwissenschaft ist überhaupt nur möglich unter 
der Voraussetzung allgemeiner Gesetzlichkeit. Auch in der Bio- 
logie setzen wir diese voraus ; und gerade die Erblehre hat ja 
ein großes Gebiet dem naturwissenschaftlichen, d. h. gesetzes- 
wissenschaftlichen Verständnis erschlossen. 

Wie man „freies" im Sinne von akausalem Geschehen 
nachweisen könne, ist nicht ersichtlich. Man könnte daran den- 
ken, das Leben eineiiger Zwillinge, die in gleicher Umwelt 
leben, genau zu verfolgen, ob bei ihnen unmotivierte Unter- 
schiede des Verhaltens zu beobachten wären. Schon Galton 1 ) 
hat in seiner Zwillingsarbeit bemerkt, daß ihm Fälle .einer 
Änderung des Charakters infolge des Entschlusses, sich zu 
bessern, nicht bekannt geworden seien, obwohl unter seinen 
Gewährsmännern viele Geistliche waren. Johannes Lange 
war bei seinen Studien an kriminellen eineiigen Zwillingen von 
der Gleichartigkeit ihres Verhaltens so beeindruckt, daß er 
seine Arbeit „Verbrechen als Schicksal" überschrieb 2 ). 

Und dennoch : Wenn wir vor eine Entscheidung gestellt 
sind, haben wir das Bewußtsein, es so oder auch anders machen 
zu können. Wenn wir jemanden loben oder tadeln, setzen wir 
voraus, daß er auch anders hätte handeln können, ich würde 
auch nicht Rassenhygiene betreiben, wenn ich mir nicht ein- 
bildete, dadurch irgend etwas in Bahnen lenken zu können, 
die es sonst nicht einschlagen würde. Ist das eine Illusion, 
und wenn ja, welchen biologischen Sinn hat diese offenbar 
allgemeine Illusion? Ist sie vielleicht nötig für die Tat und 
damit fürs Leben? So kann es aber auch nicht sein; denn wenn 
es eine Illusion ist, so gibt es ja gar keine entscheidende Tat, 
weil doch alles vorherbestimmt ist. Wenn es keine Freiheit 
gibt, so gibt es auch kein wirkliches Tun, sondern nur ein 
Nacheinander und ein scheinbares Tun wie im Film, ja, es 
gäbe dann nicht einmal eine wirkliche Wirkung, weil sich in 
dem jeweiligen Augenblick ja gar nichts entscheiden würde, 
wenn alles vorherbestimmt wäre. Das Weltgeschehen als ab- 
laufender Film ? Ein unerträglicher Gedanke ! Die Freiheit 
ist eine Forderung des Lebens; theoretisch aber ist sie ein un- 
gelöstes Problem, vielleicht ein unlösbares. 

Die Psychologie kann, wenn sie überhaupt Wissenschaft 
sein will, n ur gesetzes wissenschaftlich, d. h. naturwissenschaft- 

*) Vgl. S. 642. 
2 ) Vgl. S. 557. 



ERBPSYCHOLOGIE. 



707 



lieh vorgehen. Andernfalls könnte sie niemals hoffen, Gesetze 
des seelischen Seins und Geschehens zu erforschen. Dieser 
Grundsatz darf nicht mißverstanden werden. Als die Psycho- 
logie im ig. Jahrhundert sich naturwissenschaftlicher Me- 
thoden zu bedienen begann, war sie zunächst ganz darauf be- 
dacht, Gesetzlichkeiten des menschlichen Seelenleben unter 
Außerachtlassung der seelischen Unterschiede der Menschen 
festzustellen 1 ), ähnlich wie die Anatomie den Bau „des" Men- 
schen und die Physiologie die Vorgänge in „dem" mensch- 
lichen Organismus erforschte. Man typisierte also, hatte dabei 
aber nur einen Typus im Auge. Da man bei allen Menschen 
grundsätzliche Gleichheit des seelischen Geschehens voraus- 
setzte, stellte man die Forschung rein phänomenologisch auf 
die seelischen Vorgänge, nicht auf das seelische Sein ab ; und 
da außer den seelischen Vorgängen von der Seele nichts wahr- 
zunehmen war, entstand eine „Psychologie ohne Seele". Daß 
die Erforschung der seelischen Unterschiede der Menschen 
eine wesentliche Aufgabe der Psychologie ist, diese Einsicht 
hat sich erst in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluß der 
Erblehre bzw. der Rassenkunde durchgesetzt. Immerhin setzten 
auch die um die gleiche Zeit aufgekommenen Testmethoden, 
die u. a. auf die „angeborene" Intelligenz gerichtet waren, im 
Grunde voraus, daß die als „angeboren" bezeichneten Unter- 
schiede solche der erblichen Wesensart waren; recht klar war 
man sich aber nicht darüber; angeboren im eigentlichen Sinne 
ist die Intelligenz natürlich nicht; ein Säugling kann noch 
keine Intelligenzprüfmig bestehen. Auch die Aufstellung seeli- 
scher „Typen" (bei Spranger z. B.) wollte der Erfassung 
von Unterschieden der seelischen Struktur dienen. Clausz, 
der seine psychologischen Typen den Rassentypen zuordnet, 
lehnt zwar die naturwissenschaftliche Methode ab ; bezeichnen- 
derweise gelangt er aber zu ebenso vielen seelischen Typen, 
wie Günther Rassen unterscheidet, und zwar zu jeweils ent- 
sprechenden, wenn auch mit anderen Namen. Geradewegs auf 
die erbbiologische Fragestellung läuft die „Strukturpsycholo- 
gie" Felix Kruegers hinaus. In der „Struktur" der Seele 
sind vor allem die Unterschiede des Charakters begründet. 
Charakter ist ja das Charakteristische, das Kennzeichnende der 
Wesensart. Auch die Unterschiede der Intelligenz sind Struk- 

*) Vgl. Kruegcr, F. Die Lage der Seelenwisscnschaft in der deut- 
schen Gegenwart. Bericht über den 13. Kongreß der Deutschen Gesellscli. 
f. Psychologie in Leipzig 1933. Jena 1934. Fischer. 



708 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



turunterschicde. Wenn ich recht sehe, ist die „Struktur" im 
Sinne Kruegers identisch mit der Konstitution der Kliniker, 
die Strukturpsychologie also mit der Konstitutionspsychologie. 
Krueger selbst hat sich im Jahre 1933 dahin ausgesprochen, 
daß die Strukturpsychologie nicht zuletzt durch unbefangen 
erbbiologische Forschung zu fördern sei 1 ). 

Da die Erbforschung immer nur Unterschiede erfassen 
kann, liefert sie allerdings keine Ganzheitstypen, sondern nur 
Teilstrukturen im Sinne Kruegers; und es ist auch nicht 
etwa mit Hilfe der Korrelationsrechnung möglich, Teilstruk- 
turen als zusammengehörig zu erkennen und zu Ganzheiten zu 
integrieren, ebensowenig wie man in der Anthropologie durch 
Korrelationsstatistik Rassentypen abgrenzen kann (vgl.S.641). 
Als elementare seelische Teilstrukturen wird man solche an- 
sehen dürfen, die sich unabhängig voneinander vererben. Die 
letzten Einheiten (die „ultimalen Komponenten", wie sie Zie- 
hen genannt hat, vgl. S. 667) können ganz anders aussehen, 
als die psychologische Zergliederung es nahezulegen scheint. 
Auch die einzelnen körperlichen Organe bzw. Organteile wer- 
den ja nicht durch je eine Erbeinheit determiniert, wie seiner- 
zeit Weismann angenommen hatte. Die Gene wirken viel- 
mehr in ganz anderer Weise beim Aufbau des Organismus zu- 
sammen. Es hätte wohl schwerlich jemand durch psycholo- 
gische Zergliederung herausgebracht, daß der Unterschied 
zwischen der schizothymen und der syntonen Veranlagung ein 
durch eine oder einige wenige Erbeinheiten bedingter ist. 
Kretschmer selbst ist auf seine Entdeckung ja durch die 
Betrachtung der Unterschiede des körperlichen Habitus ge- 
kommen. 

Die seelischen Vorgänge im Individuum sind erbbiologisch 
gesehen Modifikationen, ebenso wie auch die körperlichen 
Vorgänge am Individuum Modifikationen sind. Wenn ich die 
Hand erhebe, so ist das eine Modifikation. Ich rede und schreibe 
in Modifikationen. Modifikationen können von sehr verschiede- 
ner Dauer sein. Wenn ich erröte, so ist das eine flüchtige Modi- 
fikation; wenn ich durch Aufenthalt in der Sonne braun werde, 
ist das eine länger dauernde; und wenn eine Wunde eine 
Narbe hinterläßt, so dauert diese Modifikation das ganze Leben 
an. Entsprechend gibt es auch flüchtige, mehr dauernde und 
eigentliche Dauermodifikationen der Seele. Aber auch die 
flüchtigsten Modifikationen und ihr Wechsel sind durch die 

*) A.a.O. S. 26. 



ERBPSYCHOLOGIE. 



709 



Erbmasse wesentlich mitbestimmt. Die Erbmasse kann ge- 
radezu als die Summe aller Modifikationsmöglichkeiten aufge- 
faßt werden. Auch für das Seelenleben des Individuums liegen 
in seiner Erbmasse die Möglichkeiten und die Grenzen seiner 
Modifikationen begründet. 

Die Art und Weise, wie diese Modifikationsmöglichkeiten 
im Individuum verwirklicht werden, hat auf die Erbmasse kei- 
nen Einfluß. Es gibt also auch keine Vererbung erworbener 
seelischer Eigenschaften. Ein Mensch von einer gewissen musi- 
kalischen Veranlagung kann Klavierspielen oder sonst eine 
musikalische Betätigung erlernen; die musikalische Begabung 
seiner Nachkommen wird dadurch aber weder größer noch 
kleiner, als sie es ohne das geworden wäre. Wo eine Reaktions- 
möglichkeit überhaupt fehlt, kann sie natürlich auch nicht er- 
worben werden. Ein Tauber wird durch keine Gehörsübungen 
und durch keine Strafen hörend. Ein Farbenschwacher kann 
durch keine Übung die ihm fehlenden Farbenempfindungen 
erwerben; die Art und der Grad seiner Farbenschwäche bleibt 
vielmehr immer derselbe. Damit durch' Übung und Erziehung 
ein Erfolg erreicht werden kann, müssen immer schon entspre- 
chende Anlagen vorhanden sein; dann ist innerhalb gewisser 
Grenzen eine Ausbildung möglich. Die Erfolge der Erziehung 
beruhen hauptsächlich auf der Aneignung von Gedächtnis- 
inhalten und auf der Gewöhnung an gewisse Anschauungen 
und Verhaltungsweisen. Das Gedächtnis wie die seelische Bild- 
samkeit überhaupt ist in der Jugend am größten; es ist die 
Zeit, wo der Mensch Kenntnisse, Anschauungen und Gewohn- 
heiten annimmt, die sich im Leben der Gesellschaft, der er an- 
gehört, bisher einigermaßen bewährt haben. Auch auf seeli- 
schem Gebiet kommen Dauermodifikationen vor, die dem Indi- 
viduum bis an sein Lebensende anzuhaften pflegen und die auf 
dem Wege der Tradition auf die nächste Generation übertra- 
gen werden und sich so durch zahlreiche Generationen halten 
können. Die Sprache und die Konfession sind z. B. solche 
Dauermodifikationen. 

Wenn seelische Modifikationen auf die nächste Generation 
übertragen werden, so geschieht das nicht auf dem Wege bio- 
logischer Vererbung, sondern auf dem der Erziehung und. Über- 
lieferung (Tradition). So kann die Sprache oder die Konfession 
sich scheinbar vererben. Durch Anhäufung überlieferter gei- 
stiger Güter kann auch ein Fortschritt der Kultur Zustande- 
kommen, ohne daß dem ein biologischer Fortschritt im Sinne 



710 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



einer Steigerung der Fähigkeiten der Rasse entspricht. Auch 
die Rasse ist in ihren geistigen Anlagen freilich nicht unver- 
änderlich. Sic kann infolge von Mutation und ungünstiger Aus- 
lese entarten ; und sie kann durch günstige Auslese gesunden 
und sich fortentwickeln. Davon handelt der zweite Band die- 
ses Buches. Bei dem großen Werk der Gesundung und Höher- 
führung der Rasse hat auch die Erziehung wesentlich mitzu- 
wirken, indem sie das Verständnis und den Willen für die not- 
wendigen rassenhygienischen Maßnahmen und für das rich- 
tige Verhalten des Einzelnen zu wecken hat, also auf dem Um- 
wege über die Auslese. 

Die Einsich!;, daß die Erziehungsarbeit an. der gegenwärtigen Genera- 
tion keinen Einfluß auf die Anlagen der künftigen im Sinne einer günsti- 
gen Erbänderung habe, will manchen Pädagogen gar nicht in den Sinn. 
Ein typisches Beispiel ist Schwertfeger 1 ), der „ungeahnte pädagogi- 
sche Wirkungsmöglichkeiten" auf dem Wege einer „Vererbung erworbener 
Eigenschaften" zu sehen glaubt. Eine kritische Übersicht über die einschlä- 
gige pädagogische Literatur gibt Köhn g ). 

Wenn die Kinder gebildeter Eltern im Durchschnitt be- 
gabter sind als die ungebildeter, so sind sie es nicht infolge 
der Ausbildung der Eltern, sondern weil sie von diesen Erb- 
anlagen überkommen haben, die schon die Eltern zur Aneig- 
nung der Bildung befähigten. Erblich ist also die Erziehbar- 
keit oder Bildungsfähigkeit. Andererseits ist es eine alltäg- 
liche Erfahrung, daß aus gebildeten Familien oft unbegabte 
Söhne stammen, die trotz allen Aufwands von Bildungs- und 
Erziehungsmitteln sich keine höhere Bildung anzueignen ver- 
mögen. Solche Erfahrungen sprechen deutlich gegen eine Erb- 
lichkeit von Bildungserfolgen, während sie auf Grund des Men- 
delschen Grundgesetzes der Erblichkeit ohne weiteres verständ- 
lich sind. 

Wem es niederdrückend erscheinen mag, daß alles, was 
wir durch immer strebendes Bemühen an unserer Vervollkomm- 
nung vielleicht erreichen können, doch nicht in die Erbmasse 
unserer Nachkommen eingehen kann, der möge daran erinnert 
werden, daß andernfalls die kommenden Geschlechter auch mit 
all dem Wust des Irrtums und Unsinns, der Verächtlichkeit 
und Gemeinheit der Vergangenheit und Gegenwart belastet sein 
würden. Soweit diese nicht aus dem erblichen Wesen der Zeit- 

*) Schwertfeger. Die Vererbungslehre unter Berücksichtigung 
ihrer philosophischen Grundlagen und ihrer pädagogischen Bedeutung dar- 
gestellt. Berlin 1927. 

2 ) K Ö h 11 , W. Die Vererbungslehre in der pädagogischen Aussprache 
der Gegenwart. ARGB. Bd. 23. H. 1. S. 80. 1930. 



RASSENPSYCHOLOGIE. 



711 



genossen, sondern nur aus den Zeitumständen entspringen, 
brauchen unsere Nachkommen damit also nicht belastet zu sein. 
Die kommenden Geschlechter können sich wieder zur Höhe und 
Reinheit emporarbeiten, wofern wir nur dafür sorgen, daß sie 
aus tüchtigem Ahnenerbe stammen. Darauf kommt alles an. 

Von Anhängern des Lamarekismus, d. h. jener vormendelschen Ab- 
stammungslehre, deren Kern die Annahme einer „Vererbung erworbener 
Eigenschaften" ist, ist des öfteren versucht worden, eine Vererbung von 
Lernergebnissen experimentell zu beweisen. So hat der russische Physiologe 
Pawlow i. J. 1923 die damals sensationell wirkende Mitteilung gemacht, 
daß er Mäuse auf Glockenzeichen dressiert habe und daß er die Nachkom- 
men im Laufe der Generationen in immer kürzerer Zeit dressieren konnte. 
Die Erklärung dürfte darin liegen, daß Pawlow im Laufe der Zeit in 
der Dressur von Mäusen größere Übung bekam. Vor einigen Jahren hat 
dann McDougall 1 ) ähnliche Versuche an Ratten mitgeteilt. Weiße Rat- 
ten, deren Aufenthaltsraum unter Wasser gesetzt wurde, konnten diesen 
durch einen dunklen oder einen beleuchteten Gang verlassen. Beim Betreten 
des hellen Ganges wurden sie durch elektrische Schläge zurückgeschreckt. 
Die Zahl der Fehler, bis sie es lernten, den dunklen Gang zu benutzen, hat 
nach McDougall im Lauf von 23 Generationen immer mehr abgenom- 
men. Es ist schwer, aus der Entfernung zu einer solchen Publikation kri- 
tisch Stellung zu nehmen. McDougall hat die Fortsetzung seiner Ver- 
suche in Aussicht gestellt; man hat aber in den letzten Jahren nichts mehr 
davon gehört. Befunde, die eine „Vererbung erworbener Eigenschaften" 
beweisen sollten, sind seit Jahrzehnten von lamarekistisch eingestellten Ge- 
lehrten immer von Zeit zu Zeit veröffentlicht worden; und nach einigen Jah- 
ren ist es immer wieder still davon geworden. Man tut daher gut, abzuwarten, 
ob die Befunde McD ouga.lt s von anderer Seite bestätigt werden oder 
ob sie vielleicht im Einklang mit dem, was wir sonst über Vererbung wis- 
sen, aufgeklärt werden. 



Die körperlichen Rassenunterschiede beruhen auf Erban- 
lagen, die geographisch verschieden verteilt sind; und es spricht 
von vornherein alles dafür, daß es auch geographisch verschie- 
den verteilte Erbanlagen, die sich in seelischen Eigenschaften 
äußern, gibt. Gewisse Erbanlagen äußern sich zugleich in kör- 
perlichen und seelischen Eigenschaften (z. B. im Habitus und 
im Temperament), andere praktisch nur in körperlichen (z.B. 
Haarfarbe) oder nur in seelischen Eigenschaften. Auch diese 
können aber infolge gemeinsamer Auslese in geographischer 
Korrelation stehen. Grundsätzlich sind es nicht ganze Rassen- 



x ) McDougall, W. Second report on a lamarckian experiment. Bri- 
tish Journal of Psychology. Bd. 20. H. 3. 1930. 



712 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



typen als solche, sondern die einzelnen Erbeinheiten, die geo- 
graphisch verschieden verteilt sind. Benachbarte Rassen kön- 
nen daher einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Erb- 
masse gemeinsam haben, während sie sich in anderen unter- 
scheiden. So sind es offenbar zum großen Teil dieselben Erb- 
einheiten, die in den west baltischen und in den ostbaltischen 
Ländern blonde Haarfarbe bedingen, während die durchschnitt- 
lichen Unterschiede der Körper- und Gesichtsform der betref- 
fenden Bevölkerungen recht beträchtlich sind. Entsprechen- 
des kommt sicher auch hinsichtlich seelischer Erbanlagen vor. 

Gegen die Bedeutung seelischer Rassenunterschiede wird gelegentlich 
eingewandt, daß die seelischen Unterschiede innerhalb der einzelnen Bevöl- 
kerungen größer seien als die der verschiedenen Rassen untereinander. In 
der Tat gibt es in einer Bevölkerung wie der unsrlgen die allergrößten Un- 
terscliiede der Begabung vom Genie bis zum Idioten; und die Unterschiede 
des Temperaments und Charakters sind wenigstens qualitativ eher noch 
mannigfaltiger. So groß sind die durchschnittlichen Unterschiede rassisch 
verschiedener Bevölkerungen meist nicht. Es ist aber wenig sinnvoll, den 
durchschnittlichen Unterschied verschiedener Bevölkerungen mit den inner- 
halb einer Bevölkerung vorkommenden Extremen zu vergleichen. Der durch- 
schnittliche Unterschied zweier Individuen derselben Bevölkerung ist wohl 
meist auch in geistiger Hinsicht kleiner als der zweier rassisch verschiede- 
ner Bevölkerungen. Außerdem ist zu bedenken, daß ein großer Teil der erb- 
lichen seelischen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung, wie sie im vori- 
gen Kapitel besprochen worden sind, selber auf Unterschiede geographi- 
scher Rassen zurückgeht, Durch Mischung können Rassenunterschiede zu 
individuellen Unterschieden werden, wie umgekehrt im Laufe der Stammes- 
geschichte aus individuellen Unterschieden durch Auslese Rassenunter- 
schiede werden können. 

Schon Galton hat gesehen, daß kein Wesensunterschied 
zwischen Rassenanlagen und sonstigen Erbanlagen besteht ; er 
sagt in seinem Buche über die Erblichkeit der Begabung: „Die 
natürlichen Anlagen, von denen dieses Buch handelt, sind der 
Art, wie sie ein moderner Europäer in einem weit größeren 
Durchschnitt besitzt als Menschen niederer Rassen." Die ein- 
zelnen Rassenanlagen bleiben ja auch in einer MischbevÖlke- 
rung erhalten; und ebenso wie wir gemeinsame erbliche Eigen- 
tümlichkeiten des Körpers verschiedener Individuen auf ge- 
meinsame Abstammung zurückführen, so gehen auch gemein- 
same Anlagen der Seele auf gemeinsamen Ursprung zurück. 

F. Hertz 1 ) hat die rhetorische Frage gestellt: „Besteht denn etwa 
zwischen weißen und schwarzen Pferden ein fundamentaler psychischer Un- 
terschied?" Dieser Vergleich hinkt. Weiße und schwarze Pferde unterschei- 
den sich nur durch eine einzige Erbeinheit, die europiden und die negriden 
Rassen des Menschengeschlechts aber durch sehr zahlreiche, von denen man- 

') Hertz, F. Rasse und Kultur. 3. Aufl. Leipzig 1925. A. Kröncr. 



RÄSSEN PSYCHOLOGIE. 



713 



che sicher auch seelische Unterschiede bedingen. Dem Unterschied zwischen 
einem weißen und einem schwarzen Pferd entspricht der zwischen einem 
albinotischen (weißen) und einem normalen dunkelhäutigen Neger, die (ab- 
gesehen von individuellen Unterschieden) trotz ihrer verschiedenen Hautfarbe 
in ihrer seelischen Eigenart nicht verschieden sind. Ein albinotischer Neger 
hat immer noch den allergrößten Teil seiner Erbmasse mit den normalen 
Negern gemein; und man rechnet ihn mit Recht zu den Negern und nicht 
zu den Weißen. 

Krankhafte Individuen unterscheiden sich von ihren Rasse- 
genossen in der Regel nur durch eine einzige oder höchstens 
einige wenige, allerdings stark abweichende Erbeinheiten. Die 
großen Rassen dagegen unterscheiden sich durch viele Erbein- 
heiten, von denen jede einzelne von den entsprechenden d'er 
anderen Rassen nur wenig abzuweichen pflegt. Infolge der gro- 
ßen Zahl dieser, wenn auch kleineren Verschiedenheiten sind 
die Unterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Rassen 
nicht weniger bedeutungsvoll als die zwischen krankhaften und 
normalen Individuen. Dazu kommt noch, daß krankhafte Erb- 
anlagen sich immer nur bei einer Minderheit einer Bevölkerung 
finden, während die Rassenunterschiede sich auf große Bevöl- 
kerungen erstrecken. 

Es besteht keinerlei Grund zu der Annahme, daß die seelischen Ras- 
senunterschiede geringer als die körperlichen seien. Sie sind praktisch sogar 
von ganz ungleich größerer Bedeutung. Wenn es nur körperliche Rassen- 
unterschiede gäbe, so wäre die ganze Rassenfrage ohne besondere Bedeu- 
tung; und damit hängt es offenbar zusammen, daß die seelischen Rassen- 
unterschiede mit Vorliebe entweder übertrieben oder ganz geleugnet werden. 
Gewisse Gelehrte wie Boas 3 ) und v. Luschan 2 ) haben nicht nur ge- 
leugnet, daß man Rassenunterschiede der Seele feststellen könne, sondern 
sogar, daß es solche überhaupt gebe. Alle seelischen Unterschiede der 
„Menschengruppen" sollen nur Folgen von Übung und Erziehung oder son- 
stigen äußeren Einflüssen sein; die primitiven „Gruppen" sollen nur des- 
wegen keine höhere Kultur entwickelt haben, weil sie in ungünstiger Um- 
welt gelebt und nicht die nötige „Zeit" gehabt hätten usw. Dabei wird es 
dann gern so hingestellt, als ob jedes Eintreten für das Vorhandensein see- 
lischer Rassenunterschiede tendenziös sei, nicht aber ihre Leugnung. 

Die Ansicht, daß die Anthropologie sich nur mit dem Körperlichen zu 
beschäftigen habe, ist durchaus unberechtigt. Gewiß ist das Seelische nicht 
mit dem Zirkel meßbar; aber das kann kein Grund sein, die Beschäftigung 
mit den seelischen Rassemmt er schieden überhaupt als unwissenschaftlich ab- 
zulehnen. Wer das tut, müßte konsequenterweise auch alle Psychologie und 
alle Psychiatrie ablehnen. Ebenso wie eine Aufstellung bestimmter Typen 
seelischer Störungen muß auch eine solche seelischer Rassentypen möglich 
sein; und sie ist gewiß nicht weniger bedeutungsvoll. Anthropologie heißt 
wörtlich Menschenkenntnis. Ein Anthropologe, der wirklich ein „Menschen- 
kenner" sein will, darf daher der Frage nach den seelischen Rassenunter- 

r ) Boas, F. Kultur und Rasse. Deutsch, Leipzig 1914. 

2 ) v. Luschan, F. Völker, Rassen, Sprachen. Berlin 1922. 



714 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



schieden nicht ausweichen. Die Rassenpsychologie und nicht eine „somati- 
sche Anthropologie" hat daher der Kern der Anthropologie zu sein. 

Besonders verwirrend hat in dieser Hinsicht die Zerreißung der Wis- 
senschaften in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften gewirkt. Seit 
Paulus den Nachkommen Abrahams im „Fleisch" seine Nachkommen im 
„Geist" gegenüberstellte, ist immer wieder und ganz besonders im 19. Jahr- 
hundert versucht worden, die Naturwissenschaft und damit auch die Bio- 
logie auf das Körperliche zu beschränken. Das hat zu der irrigen, aber 
landläufigen Auffassung geführt, daß sich nur der Körper durch die bio- 
logische Erbmasse fortsetze, der Geist aber durch die Tradition. Diese 
Gleichsetzung der Tradition mit der geistigen Erbmasse ist völlig abwegig 
wie überhaupt der ganze angebliche Gegensatz von „Geist" und „Natur". 

Die größte Schwierigkeit einer Rassenpsychologie liegt in 
der Abgrenzung der Rassen und in der Zuordnung der Indivi- 
duen zu einer Rasse. Wenn man einen Menschen nach seinen 
körperlichen Merkmalen „bestimmen" könnte, wie man eine 
Pflanze bestimmt, wäre die Aufgabe der Rassenpsychologie 
verhältnismäßig leicht; man brauchte dann nur noch die see- 
lischen Eigenschaften der derart bestimmten Menschen festzu- 
stellen. Eine solche Bestimmung ist nun aber in gemischten 
Bevölkerungen nicht möglich. Wohl kann man einen Neger 
oder einen Ostasiaten als solche erkennen und von einem Nord- 
westeuropäer sicher unterscheiden. Da diese indessen in we- 
sentlich anderer materieller und geistiger Umwelt leben, ist es 
schwer zu sagen, wieweit die seelischen Unterschiede durch die 
Rasse und wieweit sie durch die Umwelt, insbesondere die Kul- 
tur, bedingt sind. In Europa gibt es keine klaren Grenzen zwi- 
schen den Rassen. In breiten Übergangsgebieten kommen die 
Anlagen benachbarter Rassen neben und mit einander vor. 
Dieses fehlen scharfer Grenzen ist auch keineswegs nur durch 
Rassenmischung verursacht. Man darf überhaupt nicht meinen, 
daß es jemals in sich völlig einheitliche (isogene) Bevölkerun- 
gen gegeben habe. Auch die relativ „reinsten" Rassen sind 
immer noch aus einer großen Zahl verschiedener Erbstämme 
zusammengesetzt. Eine Rasseneinteilung geht daher niemals 
glatt auf; sie bleibt immer bis zu einem gewissen Grade will- 
kürlich. 

Daraus folgt nicht etwa, daß es wesentliche geistige Ras- 
senunterschiede überhaupt nicht gäbe. Es folgt daraus aber, 
daß 'für die Erfassung der geistigen Rassenunterschiede ein 
gewisser Sinn für das Typische, gewissermaßen ein künstleri- 
scher Blick nicht entbehrt werden kann. Um der Gefahr will- 
kürlicher Spekulationen zu entgehen, ist es nötig, daß die hypo- 
thetischen Bilder, die der intuitive Blick liefert, immer wieder 



RASSENPSYCHOLOGIE. 



mit dem Erfahrungsmaterial, das Völkerkunde und Geschichte 
bieten, verglichen werden. So steht das Bild der nordischen 
Rasse, wie es besonders Günther gezeichnet hat, heute ziem- 
lich deutlich vor unseren Augen. Das primäre Bild der nor- 
dischen Rasse ist eigentlich nicht ein körperliches ; es ist das 
geistige Bild der Schöpferin der indogermanischen Kulturen. 
Auch biologisch gesehen wird eine Art von Lebewesen wesen- 
hafter als durch ihre körperliche Gestalt durch die Lebenslei- 
stung gekennzeichnet, die sie vollbringt. Wenn wir die Bevöl- 
kerung der Erde im ganzen betrachten, so hebt sich in Nord- 
westeuropa als dem Quellgebiet der indogermanischen Kultur 
deutlich eine Bevölkerung ab, in der blaue Augen, blondes 
Haar, helle Haut, schlanke Gestalt und längliche Kopfform 
häufig vorkommen, zwar längst nicht bei allen Individuen, 
aber doch so gehäuft wie sonst nirgends auf der Erde. Daher 
hat man idealisierend, aber doch mit gutem Grund, die ge- 
nannten Merkmale der nordischen Rasse als der Schöpferin 
der indogermanischen Kultur zugesprochen, obwohl es eine 
Bevölkerung, die durchweg jene Merkmale zeigt, nirgends gibt 
und auch wohl nie gegeben hat. 

Verhältnismäßig leicht ist die Erfassung seelischer Rassen- 
unterschiede da, wo Angehörige verschiedener Rassen ge- 
mengt, aber nicht blutmäßig gemischt in gleicher oder sehr 
ähnlicher Umwelt durcheinanderwohnen, wie es für die Neger 
in den Vereinigten Staaten und die Juden in Mitteleuropa zu- 
trifft. Ich komme darauf bei der Besprechung dieser Rassen 
zurück. 

Die Neandertalrasse, die in der letzten Zwischeneiszeit 
auch in Europa weit verbreitet war, hat es über die Kultur der 
ältesten Steinzeit nicht hinausgebracht. Sie hat daher kultur- 
begabteren Rassen, die ihr in der Waffentedimk überlegen 
waren, das Feld räumen müssen. Von den gegenwärtig noch 
lebenden Rassen stehen ihr die Uraustralier, besonders see- 
lisch offenbar noch verhältnismäßig nah'. Die Angehörigen 
dieser Rassen gewinnen ihren Lebensunterhalt, indem sie durch 
die Wälder streifen und verzehren, was sie an Genießbarem 
finden. Sie haben keinerlei Viehzucht oder Anbau von Nah- 
rungspflanzen erfunden und, was besonders kennzeichnend ist, 
keine Aufbewahrung von Nahrungsmitteln für Zeiten des Man- 
gels. Sie haben auch nicht gelernt, eigentliche Hütten zu bauen 
oder Kleidungsstücke aus Fellen zu [machen, obwohl die Austra- 
lier z. T. in Gegenden leben, wo es empfindlich kalt ist. Sie 



716 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



haben auch keine geschliffenen Steinwerkzeuge hergestellt, 
lebten also bis in die Gegenwart in der Kultur der älteren 
Steinzeit. Versuche, sie seßhaft zu machen und zum Ackerbau 
zu erziehen, sind völlig fehlgeschlagen. Die wesentlichste Ur- 
sache dieses kulturellen Mißerfolges der primitiven Urrassen 
scheint in ihrem Mangel an Phantasie zu liegen. Gegenüber 
anderslautenden Redensarten ist dabei zu betonen, daß diesen 
ursprünglichen X^assen natürlich genau dieselbe Zeit zur Ent- 
wicklung einer höheren Kultur zur Verfügung gestanden hat 
wie den übrigen Rassen. 

Recht lehrreich ist ein Vergleich dieser Urrassen mit den nächsten heute 
lebenden tierischen Verwandten des Menschen. Über die geistigen Leistun- 
gen der Schimpansen hat Wolf gang Köhler 1 ) wertvolle Beobachtun- 
gen gemacht. Bei Schimpansen kommt wirklicher Gebrauch von Werk- 
zeugen (Stöcken, Steinen) vor, ja bis zu einem gewissen Grade sogar Her- 
stellung von Werkzeugen; so steckten besonders kluge Tiere zwei Rohre 
zusammen, um damit weiter reichen zu können. Der Unterschied gegenüber 
dem Menschen liegt nach Köhler nicht so sehr in der Intelligenz als im 
Intelligenzmaterial, indem die Schimpansen viel ärmer an Vorstellungen 
bzw. an Phantasie sind. Sie sind auf die Verwertung der unmittelbaren 
Sinneseindriicke angewiesen. Daher gelingen dem Schimpansen auch die 
Anfänge einer Kulturentwicklung nicht. Es gibt geistesschwache mensch- 
liche Individuen, deren Begabung nicht höher als die von Menschenaffen 
ist. Andererseits sind die höchstbegabten Menschen den Angehörigen der 
primitiven Urrassen vielleicht ebenso stark überlegen, wie diese den Men- 
schenaffen. 

Die Neger leben im Vergleich zu diesen Rassen viel 
weniger in den Tag hinein. Die Lage der Neger, zumal die der 
Kaffern, in Afrika ist eine wesentlich andere als die der Ur- 
australier in Australien. Sie haben eine ziemlich ausgedehnte 
Viehzucht und auch Pflanzenbau in gewissem Umfang entwik- 
kelt. Auch einige Gewerbe wie das Schmiedehandwerk haben 
sie ausgebildet. Allerdings ist zu bedenken, daß die meisten 
Negervölker mit orientalischen oder mediterranen Rassenele- 
menten durchsetzt sind, so daß sich nicht sicher entscheiden 
läßt, was ursprüngliche Kultuiieistung der Neger ist. Im Ver- 
gleich mit den europiden Rassen fällt ein Mangel an vorsorg- 
lichem Sinn am Neger auf. Die Aussicht auf späteren Wohl- 
stand vermag ihn im allgemeinen nicht zu ausdauernder Ar- 
beit zu bestimmen. Der Neger ist dem unmittelbaren Sinnes- 
eindruck viel stärker hingegeben als der Europäer; er läßt 
sich daher leicht durch Flitterkram bestechen. Je nach den 



1 ) Köhler, W. Intclligenzprüfungen an Menschenaffen. 2. Aufl. 
Berlin 1921. J. Springer. 



DIE NEGER. 



in 



unmittelbaren Erlebnissen schwankt er zwischen sorgloser Aus- 
gelassenheit und ratloser Niedergeschlagenheit. 

Ferguson 1 ) nennt Unstetigkeit, Mangel an Voraussicht 
und Besonnenheit, Mangel an Ausdauer, an Unternehmungs- 
geist und Strebsamkeit („ambition") sowie eine Neigung, sich 
mit Augenblickserfolgen zu begnügen, als kennzeichnende Cha- 
raktereigenschaften des Negers. Yerkes 2 ) berichtet, daß 
nach dem übereinstimmenden Urteil der Offiziere im Weltkrieg 
der Neger als ein fröhlicher, williger, von Natur unterwür- 
figer Soldat geschildert wurde, dem es aber an Initiative und 
Führerbegabung fehlt und der daher für verantwortliche Stel- 
lungen ungeeignet ist. Diebstähle und Geschlechtskrankheiten 
kommen bei den Negern häufiger als bei weißen Soldaten vor, 
da sie den unmittelbaren Triebregungen weniger Widerstand 
leisten können. 

Bei den Begabungsprüfungen, denen die amerikanischen 
Soldaten während des Krieges unterzogen wurden, schnitten 
die Neger im Durchschnitt viel schlechter ab als die weißen 
Soldaten. Der Unterschied im Ergebnis der Alphaprüfung, die 
für Leute, die des Englischen kundig waren, bestimmt war, ist 
aus folgender Aufstellung zu ersehen : 



12586 
Offiziere 


51620 Weiße 
in U. S.A. geb. 


4162 Weiße 
auswärts geb. 


2850 Neger 
a. d. Nordstaat. 


1709 Neger 
a. d. Siidst. 


139,2 


58,9 


46,7 


38,6 


12,4 



Die Ziffern geben die im Durchschnitt erreichten Punkt- 
zahlen an. Die Verteilung über die verschiedenen Begabungs- 
stufen zeigt Fig. 207 u. 208. Dabei entsprechen sich Bega- 
bungsstufen und Alphapunkte in folgender Weise. 



Begabungsklasse : 



A 



B 



C+ 



c 



c— 



D 



D- 



Alphapunkte : 



135—212 105—134 75—104 45—74 25—44 15—24 0—2^ 



Die wegen geistiger Schwäche militä runtauglich befunde- 
nen Individuen sind dabei nicht berücksichtigt; auch daran 
waren die Farbigen stärker beteiligt. 



') Ferguson, G. O. The psychology ot the negro. Archives o[ 
Psychology. New York 1916. 

2 ) Yerkes, R. M. Psychological examining in the United States 
army. Washington 1 92 1 . 



718 FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 

Man darf übrigens nicht meinen, daß die „Farbigen" lau- 
ter reine Neger seien, ein erheblicher Teil von ihnen sind viel- 
mehr Mischlinge (Mulatten oder deren Nachkommen). Jeder, 
der irgendeinen farbigen Vorfahren hat, wird zu den Farbigen 
gerechnet; und es gibt unter diesen daher nicht wenige Indi- 




Jk 


B 


C+ 


C C~ D D- 






A 


= sehr gute 






B 


= gute 






C 


= mittlere 






D 


= schwache 






D— 


= sehr 

schwache 
Begabung 




.C-t C C- D D- 



C+ = guter 
Durch- 
schnitt 

C — = geringer 
Durch- 
schnitt 



Fig. 207 und 20S. 

Ergebnisse der Begab migsprüfung von 93973 weißen und 1S891 farbigen 

Rekruten des amerikanischen Heeres. Die Zahlen geben die Hundertsätze 

der Begabungsgrade bei den weißen und den farbigen Rekruten an. 

viduen von ganz überwiegend europäischem Blut, die zum Teil 
auch eine ebenso helle Hautfarbe wie Europäer haben. Weiter 
ist zu bedenken, daß die Neger auch schon zu der Zeit, als sie 
aus Afrika nach Amerika gebracht wurden, einen Einschlag 
orientalischer und süd europäischer Rassenelemente enthielten. 
Andererseits sind auch in den sog. „Weißen" nicht ganz wenig 
primitive Rassenelemente enthalten, die den Durchschnitt der 
Gruppe drücken. Auch sind die „Weißen" nun schon seit Ge- 



DIE NEGER. 



719 



ne rationen auf Minderbegabung gezüchtet, da höhere Begabung 
unter den modernen Lebensverhältnissen ungenügende Fort- 
pflanzung zur Folge zu haben pflegt. Könnte man reine Rassen 
vergleichen, so würde der Unterschied noch größer sein. Be- 
sonders die „Neger" aus den Nordstaaten enthalten ziemlich 
viel weißes Blut, da vorzugsweise Mischlinge in die Industrie- 
gebiete des Nordens abgewandert sind, während die reineren 
Neger auf den Farmen des Südens zurückgeblieben sind. Aus 
diesem Umstand erklärt sich das verschiedene Ergebnis der 
Begabungsprüfung der „Neger" aus den Nordstaaten und 
derer aus den Südstaaten wenigstens zum großen Teil. Da die 
Neger zum größten Teil nicht mittels der Alphatests, die ge- 
nügende Beherrschung der englischen Sprache voraussetzen, 
sondern mittels der Betatests, bei denen das nicht der Fall ist, 
geprüft wurden und da die des Englischen nicht kundigen 
Neger im Durchschnitt sicher minder begabt waren, bleibt 
auch aus diesem Grunde der bei der Prüfung erfaßte Unter- 
schied hinter dem wirklichen Unterschied der Begabung von 
Weißen und Farbigen wesentlich zurück. 

Da der Einwand nahe liegt, daß das unterschiedliche Er- 
gebnis durch verschiedene Bildung bedingt sein könnte, ist das 
Material in Untergruppen von gleicher Schulbildung geteilt 
worden. Da zeigte sich folgendes: 



Soldaten mit vierjähriger Elementarschulbildung 



2773 Weiße in 
den "U.S.A.geb. 



355 Weiße 
auswärts geb. 



31 2 „Neger" aus 
den Nordstaaten 



356 Neger aus 
den Südstaaten 



Erzielte 
Punkte 



23,4 



26,6 



19,8 



8,4 



Soldaten mit achtjähriger Elementarschulbildung 



448 weiße 14 899 Weiße 
Soldaten in d. U.S.A. geb. 



108,1 



64,4 



928 Weiße 
auswärts geb. 



59,4 



555 „Neger" aus! 144 Neger aus 



den Nordstaaten 



50,0 



den Südstaatei 



28,9 



Auch bei dieser Gruppenbildung kommt aber nicht der 
ganze Unterschied zwischen Negern und Weißen heraus, da 
eine durch soziale Auslese bedingte Korrelation besteht, jene 
Weißen, die nicht über die vierte Volks schulklasse hinauskom- 



720 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



men, stellen eine Auslese nach Minderbegabung dar, während 
die Neger aus den Südstaaten von diesem Bildungsgrade noch 
eine positive Auslese sind, weil die meisten südlichen Neger 
noch weniger Schulbildung haben. 

In einem Truppenlager wurden die Farbigen nach ihrer 
Hautfarbe in zwei Gruppen gesondert. Die hellere Gruppe er- 
reichte 50, die dunklere nur 30 Punkte. Die helleren Misch- 
linge erwiesen sich also auch geistig als die helleren; und ganz 
offenbar verdankten sie das einem größeren Anteil weißen Blu- 
tes. Natürlich aber ist die Hautfarbe nur mit Vorsicht und nur 
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als Begabungszeichen 
verwendbar. Auch Crane 1 ) hat bei Begabungsprüfungen ge- 
funden, daß Farbige im allgemeinen um so besser abschnitten, 
je heller ihre Hautfarbe war. 

Galt 011 hat die Begabung der Neger um durchschnittlich zwei Grade 
seiner Einteilung geringer eingeschätzt als die der Engländer. Auf seinen 
afrikanischen Reisen fiel ihm die Dummheit der Neger besonders auf. 
Diese Erfahrung ist so allgemein, daß das Wort „Kaffer" zum Schimpf- 
wort geworden ist. 

Reuter 2 ) hat festgestellt, daß von 139 Farbigen, die es 
in Amerika zu Namen und Ansehen gebracht hatten, .135 Misch- 
linge waren; und von den übrigen 4 läßt es sich schwerlich 
ausschließen, ob ihre Vorfahren nicht schon in Afrika orien- 
talisches Blut aufgenommen haben. Der berühmte Booker 
T. Washington war der Sohn eines weißen Vaters und einer 
farbigen Mutter. 

Früher fand in den Südstaaten umfangreiche Rassenmischung statt. 
Hertz 3 ) zitiert folgenden Satz von Larousse : „Das vornehmste Blut 
des Südens floß in den Adern virginischer und südkarolinischer Sklaven, 
und keine Pflanzung soll in Louisiana gewesen sein, auf deren Feldern 
nicht die Halbgeschwister, Kinder oder Enkel des Eigentümers von der 
Peitsche des Aufsehers regiert wurden." Gegenwärtig kommt in den Ver- 
einigten Staaten neue Rassenmischung zwischen Weißen und Farbigen nur 
noch wenig vor, weil sie von der öffentlichen Meinung scharf mißbilligt 
wird und in den meisten Staaten auch gesetzlich verboten ist. 

Schon farbige Schulkinder der unteren Klassen schneiden 
bei Begabungsprüfungen im Durchschnitt schlechter ab als 
weiße Kinder. Der Unterschied ist aber nicht so groß wie im 
erwachsenen Alter. Mit dem Eintritt der Geschlechtsreife pflegt 
die geistige Entwicklung des Negers stillzustehen. 

!) Crane, A. L. Race differenecs in Inhibition. Archives of psycho- 
logy. Nr. 63. 1923. 

2 ) Reuter, E. B. Mulatto in the United States. Boston 1918. 

3 ) Hertz, F. Rasse und Kultur. 3. Aufl. Leipzig 1925. A. Kröner. 
S. 390. 



DIE NEGER. 



Auch erwachsene Neger muten den Europäer kindlich 
an. Wie ein Kind ist der Neger dem Sinneseindruck hinge- 
geben, ohne sich viel Gedanken über die Folgen seines Tuns 
zu machen. Das gilt insbesondere auch auf geschlechtlichem 
Gebiet. Auch die vielfach berichtete Grausamkeit der Neger ist 
wohl weniger eine bewußte als eine naive, die aus einem kind- 
lichen Mangel an Mitgefühl entspringt. 

In den Vereinigten Staaten sind die Neger wesentlich häu- 
figer an Straftaten beteiligt als die Bevölkerung europäischer 
Abkunft. Schuld daran ist hauptsächlich ihre geringere Vor- 
aussicht und Selbstbeherrschung. Auch die schlechtere wirt- 
schaftliche Lage spielt mit; doch ist diese ihrerseits wieder auf 
die .Rassenanlage zurückzuführen. Auch erbbedingter Mangel 
an wirtschaftlichen Fähigkeiten disponiert neben anderen An- 
lagen zum Verbrechen. 

Übereinstimmend wird die rednerische Begabung und 
Lebhaftigkeit der Neger hervorgehoben. So sagt Schultz - 
E w e r th x ) : „Man muß einmal einem Eingeborenengottes- 
dienst unter eingeborener Leitung beigewohnt haben, um sich 
ein Hör- und Sehbikl zu machen, wie diese Kanzelredner an 
ihrem Wortschaum sich selbst und ihre Zuschauer berauschen." 
Die musikalische Begabung der Neger wird übereinstimmend 
als ziemlich hoch angegeben. 

Die organisatorische und staatenbildende Begabung der 
Neger ist gering. Sie haben keine den europäischen oder 
asiatischen an die Seite zu stellenden Gesellschaftsbildungen 
hervorgebracht. Negerstaaten wie Haiti und Liberia zeigen 
eine typische primitive Negerkultur. Es ist den dortigen Bevöl- 
kerungen nicht gelungen, sich die technischen Vorteile der 
europäischen Kultur anzueignen, wie es z. 13. die Japaner ge- 
tan haben. Wo Neger mit Menschen europäischer Rassen zu- 
sammenleben;, wie in den Südstaaten Nordamerikas, finden sie 
sich regelmäßig in den niederen Schichten der Bevölkerung 
mit einfachen Beschäftigungsarten. Die farbigen Angehörigen 
geistiger Berufe sind fast alle Mulatten. Geniale Leistungen im 
europäischen Sinne hat nie ein Neger hervorgebracht. 

Sehr lehrreich für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Negern 
und Weißen ist der englische Film „Bosambo", der in Nigeria spielt. Die 
englischen Offiziere und Beamten darin von ausgesucht nordischem Typus 
stechen ungemein von den Negern ab. So wird dem Beschauer die Bedeu- 
tung der Rasse handgreiflich deutlich. Allerdings sind ja längst nicht alle 

J ) Schultz-Ewerth, E. Die farbige Gefahr. Zeitschrift für Völ- 
kerpsychologie und Soziologie 1925. II. 4. 

Bau r -Fisch er- T, enzi, ,[ß 



722 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Europäer und auch lange nicht alle Engländer von so 'her renmäßigem Typus 
wie die in dem Film auftretenden. Bezeichnenderweise wird die Rolle des 
Häuptlings Bosambo offenbar von einem Mulatten gespielt und die seiner 
Frau anscheinend von einer Malayin. Reine Neger waren für diese Leistung 
offenbar nicht zu haben. 

Die mongolidcn Rassen übertreffen die negriden im 
Durchschnitt bedeutend an geistiger Begabung. Bei den ost- 
asiatischen Mongolen haben Ackerbau und Gewerbe seit Jahr- 
tausenden eine hohe Stufe der Entwicklung erreicht. Die Bil- 
dung des chinesischen Reiches und sein Bestand durch vier 
Jahrtausende legen ein unzweideutiges Zeugnis von der hohen 
gesellschaftsbildendcn Begabung der Mongolen ab. Auch das 
japanische und das siamesische Reich sind von Mongolen ge- 
schaffen worden. In Amerika sind von verwandten Rassen das 
altperuanische, das altmexikanische und das Maya-Reioh ge- 
bildet worden. Die höchste Kulturbegabung kommt unter den 
mongoliden Rassen offenbar den Ostasiaten zu. Bei dem Mon- 
golen sind die auf das gesellige Leben gerichteten Anlagen be- 
sonders entwickelt. Im ganzen hat er mehr die Fähigkeit der 
Nachahmung als der Erfindung. Sein Gedächtnis ist stärker 
als der kritische Verstand. Er hat daher geringes Interesse für 
abstrakte Wissenschaften, neigt aber zur Verehrung des Ge- 
schichtlichen. Während die indischen Arier, die in der Philo- 
sophie und der Baukunst so Hervorragendes geleistet haben, 
ihre Geschichte völlig vernachlässigt haben, verfügen die Chi- 
nesen über sorgfältige geschichtliche und genealogische Auf- 
zeichnungen durch Jahrtausende. Der Chinese zeichnet sich 
durch leichte Auffassung und gutes Gedächtnis aus, nicht aber 
durch Phantasie, Kritik und Abstraktion. Er kann daher ein 
guter Gelehrter sein, nicht aber ein großer Forscher und Den- 
ker. Die chinesische Bildung besteht in der gedächtnismäßigen 
Einverleibung positiven Einzelwissens. Die gelehrte Schrift 
Chinas umfaßt Tausende von komplizierten Zeichen. In China 
sind der Kompaß, die Seidenzucht und -Verarbeitung, das Por- 
zellan, das Schießpulver, das Papier und der Druck erfunden 
worden; die Chinesen haben aber keine Technik von europä- 
ischem Ausmaß und keine mörderische Zivilisation daraus ent- 
wickelt. 

Ob die chinesische Kultur und der chinesische Staat hauptsächlich von 
echten Mongolen geschaffen worden sind, ist übrigens auch noch zweifel- 
haft. Im nordlichen China gibt es Millionen Menschen von schlanker Ge- 
stalt, schmalem Kopf, schmalem Gesicht und schmaler vorspringender Nase, 
die an europide Rassenelemente erinnern. Die Mandschu, welche die letzte 
chinesische Dynastie stellten, waren ein tungusischer Jägernumadenstamm. 



DIE MONGOLIDEN RASSEN. 



723 



Im Gegensatz zu dieser auf Bewegung gezüchteten Rasse sind die eigent- 
lichen Chinesen eine auf Beharrlichkeit gezüchtete Pflanzerrasse. Die Chi- 
nesen haben kein Hirtenstadium durchgemacht. Sie haben daher außer dem 
Schwein niemals große Haustiere gezüchtet. Bezeichnenderweise gibt es 
noch heute keine Milchkühe in China. Der kontinentale Winter Chinas 
brachte eine Züchtung auf sparsamen Stoffwechsel mit sich. Unruhige Ele- 
mente konnten den langen kalten Winter schlecht überdauern. Demgemäß 
neigt der Chinese zu Fettansatz. 

Die Japaner dagegen sind durch den milden Winter ihrer Inselhcimat 
mehr auf Beweglichkeit gezüchtet worden, mehr auf Einsatz als auf Ansatz. 
Auch scheint das japanische Volk, zumal in seiner führenden Schicht, einen 
Einschlag der polynesischen Bewegungsrasse zu haben, deren Körperbau 
und seelische Eigenart auf europide Verwandtschaft hinweist 1 ), 

658 japanische Schulkinder, die in Kalifornien unter Lei- 
tung Termans auf ihre Intelligenz geprüft wurden, erzielten 
im Durchschnitt den Intelligenzquotienten 91 gegenüber 99 bei 
gleichaltrigen amerikanischen Kindern europäischer Abkunft. 
Der Unterschied ist vermutlich zum Teil durch geringere Be- 
herrschung des Englischen bedingt. An Aufmerksamkeit und 
Gedächtnis kamen die japanischen Kinder den amerikanischen 
gleich; an Originalität standen sie ihnen wesentlich nach 2 ). 

Geniale Denker, Erfinder und Entdecker im europäischen 
Sinne sind unter den Mongolen kaum zu verzeichnen. Die un- 
geheure Gleichmäßigkeit, die trotz gelegentlicher Wechsel- 
fällc die Geschichte der chinesischen Kultur auszeichnet, ist 
sicher zum großen Teil eine Folge des mongolischen Charak- 
ters, der zum Festhalten am Piergebrachten neigt. So gering 
wie das wissenschaftliche ist auch das metaphysische Bedürf- 
nis des Mongolen. Die Lehren des Kung Tse (Konfuzius) und 
Lao Tse handeln nicht von metaphysischen Dingen, sondern 
sie sind ganz überwiegend auf das praktische soziale Leben ge- 
richtet. Wo in den Schriften der berühmten chinesischen Phi- 
losophen allgemeinere Fragen behandelt werden, da werden sie 
eigentümlich unklar und verschwommen. In Ostasien bestehen 
mehrere Religionen in gegenseitiger Duldsamkeit nebeneinan- 
der. Die Geschichte Ostasiens kennt keine Religionskriege, wie 
sie Europa zerrissen haben. Der praktischen Nüchternheit und 
der geringen Entwicklung der Phantasie entspricht es, daß der 
Mongole auch die romantische Liebe im europäischen Sinne 
nicht kennt. Entgegen den Vorstellungen, die bei uns mit den 
Begriffen der „Hunnen" oder der „Tataren" verbunden zu wer - 

x ) Vgl. Mühlmann, W. E. Die Frage der arischen Herkunft der 
Polynesien Zeitschrift für Rassenkunde. Bd. 1. H. 1. S. 3. 1935. 

s ) Dar sie, M. L. The mental capacity o£ American born Japanese 
children. Baltimore 1926. 



724 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



den pflegen, ist festzustellen, daß die mongoliden Rassen im 
ganzen weniger wild und kriegerisch als die europiden sind. 
Sie unterscheiden sich von diesen seelisch wie körperlich 
in ähnlicher Richtung wie das Weib vom Manne ; sie sind 
mehr aufnehmend als schöpferisch, dabei genügsam und gedul- 
dig. Die Geschlechtsunterschiede sind bei den Mongoliden 
weder auf körperlichem noch auf geistigem Gebiet so ausge- 
sprochen wie bei den europiden Rassen. Der männliche Mut 
zum Angriff ist beim Chinesen weniger vorhanden als die weib- 
liche Tapferkeit im Ertragen. Der Sinn des Chinesen ist viel 
weniger Individualistisch als der des Europäers. Das Leben des 
einzelnen Menschen, auch das eigene, gilt ihm wenig. Für kör- 
perlichen Schmerz scheint der Mongole wenig empfindlich zu 
sein. Oberhummer 1 ) weist auf die Martern der chinesischen 
Rechtspflege, das Harakiri der Japaner und den Marterpfahl 
der Indianer hin und hält den Hang zur Grausamkeit für kenn- 
zeichnend für die Mongoliden. 

Mit der Züchtung auf Beharrlichkeit hängt die Abneigung 
des Chinesen gegen den Krieg zusammen. Aus dem gleichen 
Grunde hat er keinen Sinn für Sport. Sein Wille zur Macht ist 
gering. Dagegen übertrifft er nach Oberhummer alle an- 
dern Volker an geschäftlicher Geriebenheit. Uneigennützige 
Freigebigkeit kennt der Chinese nicht. Auch materiellen Luxus 
gibt es in China kaum. Dagegen steht die Bildung im Sinne 
des vielen Wissens in hohem Ansehen. Der Chinese hat einen 
starken Sinn für äußere Würde ; ein gewisses geistiges Man- 
clarinentum scheint für alle mongoliden Rassen mehr oder we- 
niger kennzeichnend zu sein. Der Chinese sucht unter allen 
Umständen das Gesicht zu wahren und seine Gefühle unter 
einem gleichmäßigen Lächeln zu verbergen. 

Die stärkste Waffe des Mongolen im Wettbewerb mit an- 
dern Rassen ist seine Bedürfnislosigkeit, die ihm im Verein mit 
großer körperlicher Widerstandsfähigkeit und Zähigkeit das 
Gedeihen auch in kümmerlichen Lebensverhältnissen ermög- 
licht, an die der Europäer sich nicht anzupassen vermag. 
Keine andere Rasse hat eine solche Ausdauer zu primitiver, 
eintöniger Arbeit wie die mongolische. Trotz der eindeutigen 
technischen Überlegenheit der Europäer, zumal auch in der 
Kriegstechnik, haben die Mongolen, zumal die Chinesen, doch 
größere Aussicht auf dauernden Bestand, da die Europäer ihre 
Kriegstechnik immer wieder zu gegenseitiger Vernichtung miß- 

1 ) Oberhummer, E. Völkerpsychologie und Völkerkunde. Wien 1923. 



DIE /MONGOLIDEN RASSEN. 



725 



brauchen und in lebensfeindlicher Wertung befangen, ihre 
besten Rassenelemente dem Aussterben zutreiben. Gegen diese 
beiden Übe] scheinen die Mongolen durch ihre Wesensart 
weitgehend gefeit zu sein. 

Die mongoliden Indianer Amerikas sind an Kulturbega- 
bung den Ostasiaten nicht gewachsen. „In den Indianerschulen 
der Vereinigten Staaten geht die Entwicklung über ein tiefes 
Durchschnittsmaß nicht hinaus" (O berhummer). 

Die Indianer der Hochebenen (Mexiko, Peru, Bolivien) sind als Pflan- 
zer auf Beharrlichkeit gezüchtet, die der Waldgebiete (Vereinigte Staaten, 
Chile) als Jäger auf Beweglichkeit. Bezeichnenderweise haben nur diese 
den europäischen Siedlern ernstlich zu schaffen gemacht. Jener romantische 
Typus, der in den Indianerbüchern der Jugend verherrlicht ist, ist der der 
kriegerischen Jäger, nicht der der viel zahlreicheren Pflanzer der Hochflä- 
chen; und gerade die Bewegungstypen unter den Indianern (z. B. Sioux 
oder Araukaner) erinnern in manchen Zügen (z. B. ganz unmongoliden 
Adlernasen) an europide Rassen, so daß man sogar an europiden Rassen- 
einschlag in vorkolumbischer Zeit gedacht hat, der indessen nicht in Frage 
zu kommen scheint. 

Über die mongoliden Rassenelemente Europas ist schwel- 
et was Bestimmtes auszusagen, weil sie nur in Vermischung mit 
andern vorkommen. Immerhin kann man sagen, daß sich euro- 
päische Bevölkerungen mit starkem mongoliden Einschlag wie 
die russische von solchen mit vorwiegend nordischer Rasse in 
ähnlicher Richtung wie der Mongole vom Europäer unterschei- 
den. Stark mongolid gemischte europäische Bevölkerungen sind 
geistig wenig beweglich; sie haften am Hergebrachten und 
gehen in der Gemeinschaft auf. Sie sind ein fruchtbarer Bo- 
den für Massensuggestionen und Mandarinentum. Allerhand 
Aberglaube gedeiht fast so gut wie in China, alte Zöpfe sind 
kaum weniger schwer zu beseitigen. Der Sinn für Natur und 
für Technik ist viel schwächer als in den Gebieten vorwiegend 
nordischer Rasse. Die stark mongolid gemischten Russen sind 
größer im Leiden und Erdulden als in der befreienden Tat. 
„Das russische Volk hat nicht den Wunsch zu herrschen; es 
ist von Natur passiv, ziemlich sanft, bereit zu gehorchen — 
ähnlicher der weiblichen als der männlichen Natur." 1 ) Die 
russischen Dichter sind größer in der psychologischen Einfüh- 
lung als in der Gestaltung. 

Ich habe während der großen Influenzaepidemie im Winter 1918/19 
zahlreiche russische Gefangene sterben sehen. Während germanische Men- 

1 ) R a d o s a w 1 j e w i t s c h , F. R. Eugenic problems of the slavic 
race. In „Eugenics in Race and State". Baltimore 1923. Williams and 
Wilkins Co. 



726 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



sehen, die an einer schweren Infektionskrankheit sterben, sich mit allen 
Kräften gegen den Tod zu wehren pflegen, starben die Russen mit fatalisti- 
scher Ergebung. Ich hatte den starken Eindruck: das ist Asien. Entspre- 
chendes wird von der großen Hungersnot des Jahres 192 t berichtet, die 
die bolschewistische Revolution im Gefolge hatte: ,, Meist lag das Volk in 
geduldiger Teilnahmslosigkeit und erwartete den Tod" 1 ). 

In diesem Zusammenhang sei auch der „ostischen" Rasse Günthers, 
die im wesentlichen mit der „alpinen" Rasse anderer Autoren zusammen- 
fällt, gedacht. Er schildert sie als kleinlich, engherzig, gehässig, neidisch, 
tmoffen, hinterhältig, widerborstig, mürrisch, unreinlich, ohne Schöpferkraft, 
ohne Sinn für irgendwelchen seelischen Aufschwung, Tag für Tag in der 
seelenlosesten Betriebsamkeit fortlebend usw. Gegenüber diesem verächt- 
lichen Bilde hebt sich die Herrlichkeit der nordischen Edelrasse um so 
glänzender ab; und auf dieser künstlerischen Kontrastwirkung beruht zum 
großen Teil der starke Eindruck, den Günthers Buch gemacht hat 3 ); denn 
die Masse der Leser urteilt nicht sachlich, sondern gefühlsmäßig wertend 
und moralisierend. Günther hat das große Verdienst, die nordische Rasse 
als Schöpferin und Trägerin der indogermanischen Kulturen überzeugend 
dargestellt zu haben; die nichtnordischen Bestandteile des deutschen Vol- 
kes aber hat er meiner Ansicht nach t.vl schematisch gesehen. Wesentlich 
günstiger als das Bild der „ostischen" Rasse bei Günther erscheint das 
der „alpinen" bei Fischer 3 ): „Die geistigen Gaben der alpinen Rasse 
sind im allgemeinen lange nicht so hoch wie die oben geschilderten (der 
nordischen), aber nach mancher Richtung auch besser entfaltet. Neigung 
und Fähigkeit zu zäher, energischer Arbeit, nicht geringe Intelligenz zeich- 
net sie aus, ebenso gut entwickeltes Gemeinschaftsgefühl. Hoher Phan- 
tasieschwung fehlt, dagegen bringt es Fleiß, Energie und kluges Aus- 
nützen der Verhältnisse zu Erfolg. Die Fähigkeit, Fremdes zu überneh- 
men und weiterzubilden, ist nicht gering (suggestibel) trotz im Grunde 
großer Beharrlichkeit." 

Ich zweifle überhaupt, ob es zweckmäßig sei, eine „ostische" oder 
„alpine" Rasse aufzustellen. Als einheitliche Bevölkerung kommt ein Typus, 
wie er als „ostisch" oder „alpin" beschrieben wird, nirgends vor, insbeson- 
dere auch nicht in den Alpenländem. Das Wort „Alpini" kommt in diesem 
Zusammenhang zuerst in Linnes „Systems, naturae" vom Jahre 1735 vor. 
L i n n 6 hat die „Alpini." unter den Monstrositäten aufgezählt und sie als 
„parvi, agiles, timidi", d. h. klein, geschäftig und furchtsam gekennzeich- 
net. Er schrieb diese Monstrosität dem Einfluß des Bodens zu: vielleicht 
hatte L i 11 11 €, der die Alpenländer nicht aus eigener Anschauung kannte, 
dabei die Kretinen im Sinne. Später haben Lapougc und Wilscr das 
Wort „alpin" für die Bezeichnung einer geographischen Rasse aufgenom- 
men. Die Abgrenzung dieses Rassenelements gegenüber dem mongoliden im 
Osten und dem vorderasiatischen im Südosten ist immer unklar geblieben. 
Es gibt unter Tataren, Finnen und Lappen einerseits, Armeniern und an- 
deren Kaukasusvölkern andererseits zahlreiche Typen, die uns auch in Mit- 
teleuropa nicht selten begegnen. Daß es sich dabei um nichtnordische Ele- 

l ) Sorokin, P. Die Soziologie der Revolution. München 192S. S. 21. 

3 ) Günther, H. F. K. Rasscnkunde des deutschen Volkes. 1. Aufl. 
1922, 12. Aufl. 1928. München. J. F. Lehmann. 

3 ) Fischer, E. In dem Sammelwerk „Anthropologie", Leipzig und 
Berlin 1923. B. G. Teubner. S. 151. 



DIE MEDITERRANE RASSE. 



727 



mente Imndelt, ist sicher; für die Aufstellung einer besonderen. Rasse fehlt 
es meines Erachtens aber an genügenden Unterlagen. Entsprechendes gilt 
auch von der „ostbaltischen Rasse" Günthers und anderer Autoren. 

Ich halte es überhaupt für nicht glücklich, wenn von „den" Rassen 
des deutschen Volkes gesprochen wird, gleich als ob innerhalb des deut- 
schen Volkes mehrere deutlich abgrenzbare Rassen nebeneinander lebten. 
Was geographisch verschieden verteilt ist, das sind nicht ganze Rasseu- 
typen, sondern die einzelnen Erbeinheiten, z. B. solche, von denen die Haar- 
farbe oder die Gestalt abhängen, und natürlich auch solche, die geistige 
Eigenschaften bedingen. Wo in einer Bevölkerung nichtnordische körper- 
liche Merkmale gehäuft vorkommen, da ist in der Regel auch die geistige 
Eigenart weniger nordisch. Auf die geistige Eigenart des einzelnen Men- 
schen kann man in einer solchen gemischten Bevölkerung aber nur mit einer 
recht vagen Wahrscheinlichkeit schließen. 

Als man zuerst auf die Häufung nichtnordischer Merkmale in ge- 
wissen kargen Gegenden aufmerksam wurde, hat man diese als „Rückzugs- 
gebiete" gedeutet, in die sich eine Urbevölkerung vor den erobernd vor- 
dringenden Nordischen zurückgezogen hätte (Lapouge, Amnion). Da 
aber eine Urbevölkerung von „ostischem" Typus nicht nachweisbar ist und 
ebensowenig die spätere Einwanderung einer solchen, liegt es näher, anzu- 
nehmen, daß die betreffenden Rassenclcmente in Mischung mit den nordi- 
schen eingewandert sind und sich nachträglich von ihnen durch ökologische 
Auslese teilweise gesondert haben. In den ärmlichen Rückzugsgebieten (Ge- 
birgen, Mooren) konnten nur „kleine Leute" mit Erbanlagen zu Genügsam- 
keit, Sparsamkeit und Beharrlichkeit ihren Lebensunterhalt finden. 

Viel deutlicher als eine „alpine" Rasse ist in Südwesteuropa die me- 
diterrane (mittelländische, von Günther „westische" genannte) Rasse 
abgegrenzt. In Spanien und Norditalien ist allerdings auch heute noch viel 
nordisches Blut in der Bevölkerung vorhanden, viel mehr als das verhält- 
nismäßig seltene Vorkommen heller Haar- und Augenfarben es anzuzeigen 
scheint. Da die Erbanlagen zu dunklen Farben sich dominant zu verhalten 
pflegen, und da es nicht nur ein Paar, sondern mehrere von solchen gibt 
(Polymerie), machen sich Erbanlagen zu hellen Farben, auch wenn sie einen 
großen Teil der allelen Erbeinheiten überhaupt ausmachen, nur bei verhält- 
nismäßig wenigen Individuen äußerlich bemerkbar. 

Die mediterrane Rasse zeichnet sich gegenüber der 
Beharrlichkeit der mongoliden durch eine gewisse Unruhe, Leb- 
haftigkeit und Beweglichkeit aus. Die seelischen Unterschiede 
der Bevölkerungen von Sizilien, Korsika, Nordwestafrika ge- 
genüber denen Osteuropas einerseits, Nordeuropas andererseits 
springen in die Augen. Der mediterrane Mensch hat we- 
der die ruhige Arbeitsamkeit des mongoliden noch den Unter- 
nehmungsgeist und die Energie des nordischen. Er hat in 
höherem Grade als der mongolide Sinn für das Anschauliche, 
für Gestalt, Linie, Farbe, Gebärde und bewegtes buntes Schau- 
spiel. Der leichte Sinn des Südländers ist ein Erbteil des medi- 
terranen Menschen; er nimmt das Leben weniger ernst als der 
nordische. Leere Höflichkeitsformeln und nicht ernst gemeinte 



728 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCII ARTEN. 



Gesten spielen eine große Rolle, z. B. Anbieten von Geschen- 
ken und Einladungen, von denen man erwartet, claß sie nicht 
angenommen werden. Der Sinn für Wahrheit und Ehrlichkeit 
ist geringer als beim nordischen Menschen. Der mediterrane 
Mensch ist leidenschaftlich dem Augenblick und dem Sinnes- 
eindruck hingegeben. In der Regel von kindlicher Heiterkeit, 
unterliegt er leicht Stimmungssch wankungen je nach dem 
Wechsel der Eindrücke und Erlebnisse. Hand in Hand damit 
geht ein lebhafter Drang nach Äußerung der Gefühle durch 
Worte und Gesten. Die rednerische Begabung ist demgemäß 
groß, aber auch die Neigung, sich an Worten zu berauschen. 
Der nordische Mensch empfindet die Wesensart des medi- 
terranen als eine hebenswürdige Kmdlichkeit. 

Ich beobachtete während des Krieges mehrfach, wie Soldaten aus 
Süditalien bei der Vornahme von Schutzimpfungen, die so gut wie schmerz- 
los waren, laut schrien: „O, niama, mama!" Bei nordischen, mongolischen 
oder indianischen Kriegern wäre das wohl undenkbar. 

Auch eine kindliche Grausamkeit kommt bei der mediter- 
ranen Rasse vor; die Stierkämpfe als Volksbelustigung sind 
kennzeichnend für sie. Obwohl der mediterrane Mensch über 
eine nicht geringe natürliche Schlauheit verfügt, steht er an 
eigentlicher Verstandesbegabung anscheinend den. andern euro- 
piclen Rassen nach. Bei den amerikanischen Rekrutenunter- 
suchungen schnitten die Italiener und Griechen in der Bega- 
bungsprüfung nicht gut ab (vgl. S. 735). In Südamerika hat die 
mediterrane Rasse sich den einheimischen Indianern und den 
Negern entschieden überlegen erwiesen; sie bildet dort eine 
Herrenschicht über einer ans indianischen und negriden Ele- 
menten bestehenden Bevölkerung, in den tropischen Gebieten 
in vielfacher Vermischung mit ihr. Auch hier ist allerdings an 
den nordischen Einschlag dex Spanier und Portugiesen zu er- 
innern, der In der Zeit der Entdeckung und Eroberung Süd- 
amerikas noch größer war als heute. Zu den großen Kul- 
turen im Bereich des Mittelmeeres, der altägyptischen, der 
mykenischen, der etruskischen, der hellenischen, der römi- 
schen und islamitischen hat die mediterrane Rasse ein wesent- 
liches Element geliefert, aber als eigentliche Schöpferin dieser 
Kulturen kann sie wohl nicht angesehen werden. 

Die orientalische Rasse, die man als einen Sonder- 
zweig der mediterranen ansehen kann, zeichnet sich nicht nur 
durch Klugheit, sondern auch durch Energie und Unterneh- 
mungslust aus. Zu der ruhigen stetigen Arbeit des Ackerbauers 
hat sie noch weniger Neigung, sie neigt vielmehr ausgespro- 



DIE VORDERASIATISCHE RASSE. 



729 



chen zum Nomaclentum. Auch kühne Seefahrer wie die Phö- 
nikier hat sie hervorgebracht. Den Phönikiern wird die Er- 
findung der Buchstabenschrift zugeschrieben, die gegenüber 
der Bilderschrift einen ungeheuren Vorteü bedeutet. Auch die 
sogenannten arabischen Zahlen, die auf dem verschiedenen 
Stellenwert der Ziffern beruhen, scheinen im Bereich der orien- 
talischen Rasse erfunden worden zu sein. Orientalische Ras- 
senclemente bildeten eine Herrenschicht in einem großen Teile 
Afrikas, bis ihre Plerrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts 
vor der europäischen Kolonisation zusammenbrach. Die orien- 
talische Rasse dürfte als die hauptsächlichste treibende Kraft 
der altägyptischen Kultur anzusehen sein, ebenso der phöniki- 
schen und punischen, der altjüdischen und der arabischen Kul- 
tur des Mittelalters. Auch an der assyrisch-babylonischen Kul- 
tur kommt ihr wohl ein großer Anteil zu. Sehr einschneidend 
ist auch ihr Einfluß auf die moderne abendländische Kultur, 
und zwar dadurch, daß sie einen wesentlichen Bestandteil der 
jüdischen Bevölkerung bildet. 

Die vorderasiatische Rasse verfügt neben einem 
hohen Grad von Klugheit über eine besondere Fähigkeit, sich in 
die Seele ariderer Menschen einzufühlen und sich danach zu 
richten. Die Völker von vorwiegend vorderasiatischer Rasse 
wie Juden, Griechen, Armenier zeichnen sich durch eine beson- 
dere Gewandtheit im Handel und Verkehr aus, worauf schon 
Kant aufmerksam gemacht hat. Auch, die Parsen scheinen 
ähnlich veranlagt zu sein. 

v. Lusclun 1 ), der sich um die Erforschung der vorderasiatischen 
Rasse besonders verdient gemacht hat, sagt von der „bekannten Geschäfts- 
tüchtigkeit" der Juden: ,,Abcr diese Eigenschaft kommt nicht etwa den 
Juden allein zu, sondern genau so auch anderen Orientalen, ganz besonders 
den Griechen und den Armeniern. Das erhellt schon daraus, daß im ganzen 
Orient in vorwiegend von Griechen oder Armeniern bewohnten Städten die 
Juden nur schwer oder niemals Fuß fassen können. Der Volkswitz drückt 
das in drastisch übertriebener Weise so aus, daß gesagt wird, auf sieben 
Juden ginge erst ein Grieche und auf sieben Griechen erst ein Armenier, 
was besagen soll, daß ein Armenier noch 49111a! so schlau und geschäfts- 
tüchtig sei als ein Jude." Diese Eigenart konnte sich gerade in Vorder- 
asien, dem Verbindungsgliede zwischen Afrika, Asien und Europa, ent- 
wickeln. Eine besondere geistige Eigenart der Juden leugnet v. Luschan; 
es handle sich vielmehr um die allgemein vorderasiatische. 

Allen Vorderasiaten ist die Neigung gemeinsam, als Min- 
derheiten unter andersartigen Bevölkerungen zu leben. Die vor- 
derasiatische Rasse ist weniger auf Beherrschung und Aus- 



l ) v. Luschan, F. Völker, Rassen, Sprachen. Berlin 1922. Weltverlag. 



730 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



nützung der Natur als auf Beherrschung und Ausnützung an- 
derer Menschen gezüchtet. Trotz ihrer hohen Vcrstandesbe- 
gabung ist ihre Fähigkeit zur Staatenbildung daher gering. 
Die vorderasiatische Rasse kommt der nordischen an Phanta- 
siebegabung nicht gleich, wohl aber an Fähigkeit der Ab- 
straktion; an formaler Logik und Dialektik ist sie ihr 
eher überlegen, auch an einfühlendem Verstehen, an Rührig- 
keit und Beweglichkeit. Im ganzen ist ihre Wesensart weniger 
männlich'. 

Die vorderasiatische Rasse hat offenbar einen hervor- 
ragenden Anteil an der assyrisch-babylonischen und der alt- 
jüdischen Kultur gehabt, einen geringeren auch wohl an der 
etruskisclien, der hellenischen und einen einschneidenden wie- 
der an der hellenistischen. Seeck 1 ) hat darauf hingewiesen, 
daß die berühmten Schriftsteller der hellenistischen Zeit fast 
alle aus dem Orient stammten. Ich möchte hinzufügen, daß 
die hauptsächlichsten Träger der stoischen, der neuplatoni- 
schen, der alexandrinischen und der urchristlichen Lehre vor- 
derasiatischer Herkunft waren. In der Eigenart der hellenisti- 
schen Kultur, die der Schöpferkraft fast ganz ermangelt, zeigt 
sich zugleich die mehr vermittelnde als eigentlich schaffende 
Begabung der vorderasiatischen Rasse. In der modernen 
Welt ist ihr Einfluß wieder fast so stark wie in der helleni- 
stischen. 

Der vorderasiatische Mensch orientiert sich mehr durch 
den Gehörssinn, der vorwiegend vom Seelischen Kunde gibt, als 
durch den Gesichtssinn, der das Körperliche zur Anschauung 
bringt. An Redegewandtheit und Fähigkeit des Ausdrucks 
durch Gebärden übertrifft er alle anderen Rassen. Sein Sinn 
für Form und Gestalt dagegen ist gering. 

Die vorderasiatische Rasse ist ausgesprochen musikalisch. Von den 
großen Musikern zeigen auffallend viele vorderasiatische Züge. Ein großer 
Teil der berühmten Musiker sind Juden (Mendelssohn, Meyerbeer, Offen- 
back, Rubinstein, Joachim, Mahler, Konigold, Auber, Mascagtü, Leon- 
cavallo) oder Ilalbjuden (Iialevy, Blzei). Die musikalische Begabung hängt 
eng mit der Fähigkeit der Einfühlung in andere Seelen zusammen. 

Auch die Neigung zu Sinnlichkeit und Grausamkeit, die man dem 
Vorderasiaten nachsagt, hat wohl etwas damit zu tun. Die seelische Ein- 
fühlung ermöglicht es einerseits, fremdes Leid als eigenes mitleidend zu er- 
leben, aber auch, es in wollüstiger Grausamkeit zu genießen. Einen extre- 
men Typus dieser Art hat Shakespeare in seinem Shylock gezeichnet. 

1 ) Seeck, O. Geschichte des Untergangs der antiken Welt, 4. Aufl. 
Berlin 1922. 



DIE NORDISCHE RASSE. 



731 



Andererseits ist das Gebot „Du sollst nicht töten" ein typischer Ausdruck 
vorderasiatischen Geistes. Der nordische Mensch ist darin naiver. ^ 

Die Aufstellung einer besonderen „dinarischen Rasse" halte ich nicht 
für zweckmäßig. Man sieht gegenwärtig öfter deutsche Menschen, die eine 
abwärts gebogene Nase und dunkle Farben haben, besonders Österreicher 
und Bayern, als „Dinarier" abgebildet. Das ist irreführend. Die betreffen- 
den Leute dürften in Wahrheit meist von überwiegend nordischer Erbmasse 
sein. Es besteht auch sonst kein Anlaß, das deutsche Volk in der erwähnten 
Weise aufzuteilen. Günther meint: „Der dinarischen Rasse scheint krie- 
gerische Neigung und Tüchtigkeit eigen zu sein wie der nordischen, eine 
gewisse händlerische und kaufmännische Begabung fällt den Beobachtern 
auf. Sie scheint zu leichterer Erregbarkeit zu neigen, zu schnellerem Auf- 
brausen, ja zum Jähzorn und zu besonderer Rauflust." „Der dinarischc 
Mensch ist meist ein guter Menschenkenner und weiß besonders die mehr 
lächerlichen Seiten des Menschenlebens trefflich mit Worten wiederzu- 
geben." Günther nennt weiter Begabung für Schauspielkunst und Musik 
und meint, es sei sicherlich kein Zufall, daß Musiker so häufig dinarische 
Züge zeigen. Das alles scheint auch mir richtig zu sein; es sind aber alles 
Züge, die wir teils von der nordischen, teils von der vorderasiatischen und 
teils von der mediterranen Rasse kennen, d. h. von jenen Rassen, deren 
körperliche Merkmale im „dinarischen" Gebiet in mannigfachen Verbindun- 
gen vorkommen. Die bosnischen und sloveni sehen Händler, die den „dina- 
rischen" Typus besonders ausgesprochen aufweisen, sind vorderasiatischen 
Händlern auch in ihrer Wesensart ähnlich. Ebenso wie körperliche Merk- 
male der vorderasiatischen Rasse sich nicht nur auf der Balkanhalbinsel, 
sondern durch Mitteleuropa bis weit nach Frankreich hinein verbreitet fin- 
den, so auch seelische. Das Geschlechtliche steht nicht nur bei den Juden 
und andern Orientalen, sondern auch bei den Südslaven und Franzosen 
eigentümlich im Vor der gründe des Seelenlebens. Der „esprit gaulois" ist 
nicht für die nordischen Kelten, wohl aber für die genannten Gruppen kenn- 
zeichnend. Charakteristische Züge vorderasiatischen Wesens scheint mir z. B. 
Rousseau zu bieten mit seiner glühenden erotischen Phantasie, schier fabel- 
haften Kunst der Einfühlung und der demagogischen Wirkung. Rousseau 
selber empfand das nordische Wesen als Gegensatz zu seinem eigenen, und 
er hat in dem angelsächsischen Gatten seiner Julie den nordischen Typus 
zu schildern versucht, wobei er allerdings die nordische Innerlichkeit und 
Selbstbeherrschung als Temperamentlos] gkeit mißverstanden hat. Das Nor- 
disch-Männliche war ihm unbehaglich, und seine Werke haben überhaupt 
etwas Unmännliches wie auch sonst die Werke vorderasiatischer Schrift- 
steller. 

Die nordische Rasse hat die indogermanischen (ari- 
schen) Sprachen und Kulturen geschaffen. So ist die arische 
Kultur Indiens eine unverkennbare Folge der Eroberung des 
Landes durch die Arier, die in der zweiten Hälfte des zweiten 
vorchristlichen Jahrtausends dort eindrangen. Sie haben aller- 
dings in Indien von vornherein nur eine wenig zahlreiche Hcr- 
renschicht über einer Bevölkerung gebildet, die rassisch den 
Mediterranen und Orientalen verwandt ist. Mit der Verdün- 
nung des nordischen Blutserbes infolge Vermischung einer- 



732 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



scits und seiner Verminderung durch klimatische Auslese an- 
dererseits ging auch die Schöpferkraft der indischen Kultur 
herunter. Die Macht und Blüte des alten Perserreichs ruhte auf 
den Schultern eines nächstverwandten Zweiges der Arier; die 
Lehre Zarathustras ist durchaus eine Schöpfung nordischen 
Geistes. Mit dem Versiegen der nordischen Herrenschicht fand 
auch diese Kulturblüte ihr Ende. Die althellenische Kultur 
schloß sich an die Einwanderung der nordischen Vorfahren 
der Hellenen an. Daß in den ersten Jahrhunderten der helle- 
nischen Kultur die Herrenschicht von nordischer Rasse war, 
ist aus den überlieferten Bildwerken ersichtlich. 1 ) Außerdem 
haben mehrere Schriftsteller die Kassenmerkmale der alten 
Hellenen deutlich beschrieben; so hat Polemon berichtet, 
daß die Hellenen, wo sie ihre Rasse rein erhalten hätten, hoch- 
wüchsige Männer mit heller Haut und blondem Haar waren. 
Auch Aristoteles hat sich noch ganz ähnlich geäußert. 
Die althellenische Kultur fand ihr Ende mit dem Dahin- 
schwinden der nordischen Rasscnelemenre. Das römische Welt- 
reich hatte seine Wurzeln in den mit den Kelten verwandten 
Italikern, die ebenso wie die übrigen Kelten jener Zeit von 
nordischer Rasse waren. 

Die Germanenreiche, die aus der sogenannten Völkerwan- 
derung hervorgingen, wurden gegründet von Stämmen nordi- 
scher Rasse. Das deutsche Kaiserreich des Mittelalters ruhte 
ganz und gar auf den Schultern von Germanen. Weite Küsten- 
gebiete des Mittelalters beherrschten seefahrende Normannen. 
In der italienischen Renaissance äußert sich das Blut der 
Langobarden. Auf dem Boden des oströmischen Reiches, das 
nicht von nordischen Stämmen, sondern von den mongoliden 
Türken erobert wurde, ist keine Renaissance erblüht. Die ibe- 
rische Halbinsel, die im Vergleich mit den beiden andern süd- 
lichen Halbinseln in früh geschichtlicher Zeit nur eine geringe 
nordische Einwanderung erfahren hatte, erlebte auch keine 
solche Kulturblüte im Altertum. Nachdem aber die Westgoten 
nach Spanien gekommen waren, erstand im ausgehenden Mit- 
telalter ein spanisches Weltreich, in dem „die Sonne nicht un- 
terging 1 '. Auch für die Entdeckungen und Eroberungen der 
Portugiesen hat der nordische Bluteinschlag offenbar entschei- 

x ) Eine Fülle von Anschauungsmaterial enthält das Werk von Anton 
H ekler, „Die Bildniskunst der Griechen und Römer"; und es wirkt um 
so überzeugender, als der Verfasser bei der Auswahl der Bilder sich gar 
nicht von Gesichtspunkten der Rassenforschung hat leiten lassen. 



DIE NORDISCHE RASSl 



733 



dende Bedeutung gehabt. Die Reformation wurde aus der 
Eigenart nordischen Geistes geboren, und sie hat im großen 
und ganzen nur die Länder mit überwiegend nordischer Bevöl- 
kerung erobert. Das niederländische Volk hat in der Seegel- 
tung Hervorragendes geleistet und ein großes und. blühendes 
Kolonialreich begründet. Das schwedische Volk hat unter 
Gustav Adolf und Karl XII. eine gewaltige politische Stoß- 
kraft entfaltet, Die französische Macht der vergangenen Jahr- 
hunderte ruhte auf den Nachkommen von Franken, Goten, 
Burgunden und Normannen. Das große russische Reich wurde 
von Normannen (Warägern) begründet. Die angelsächsische 
Kolonisation Nordamerikas, Südafrikas und Australiens in den 
letzten drei Jahrhunderten, die von den Nachkommen ^ von 
Sachsen und Normannen getragen wurde, stellt die gewaltigste 
Ausbreitungswelle nordischen Blutes seit der Völkerwanderung 
dar, vielleicht die gewaltigste der Weltgeschichte überhaupt. 
Arische Sprachen und Kulturgüter sind heute nicht nur über 
fast ganz Europa verbreitet, sondern auch über Nord- und Süd- 
amerika, Südafrika, Australien, Indien und große Teile Vor- 
derasiens und Sibiriens. Die nordische Rasse dagegen ist aus 
einigen dieser Gebiete praktisch wieder verschwunden und über- 
all im Rückgange. 

Die moderne abendländische Kultur ist durchaus nicht 
gleichmäßig über die Erde verteilt; sie ist hauptsächlich in 
den Ländern mit überwiegend nordischer Rasse oder solchen, 
die wenigstens einen starken Einschlag nordischer Rasse ha- 
ben, zu Hause. Die großen wissenschaftlichen Entdeckungen, 
die Erfindungen und sonstigen, geistigen Errungenschaften der 
Gegenwart kommen fast alle entweder aus der nordwestlichen 
Hälfte Europas (diese einschließlich Finnlands, Österreichs 
und der Schweiz gerechnet) oder aus Nordamerika. 

Die Bevölkerung Südeuropas ist der Nordeuropas an gei- 
stiger Begabung nicht gewachsen, die Osteuropas nicht der 
Westeuropas. Man vergleiche etwa die Süditaliener mit den 
Skandinaviern, die Tataren mit den Angelsachsen. Galton 1 ) 
hat die Begabung der Bevölkerung Nordenglands und Schott- 
lands um einen ganzen Grad seiner Einteilung höher einge- 
schätzt als die der stark mediterran gemischten Bevölkerung 
des übrigen England. Er hat gefunden, daß die Zahl der her- 
vorragenden Männer aus dem Norden Englands weitaus grö- 
ßer ist, als der Bevölkerungszahl entspricht. Entsprechend er- 

!) A. a. O. vgl. S. 666. 



734 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



gibt sich aus den Erhebungen Odins 1 ) über die Herkunft der 
großen Männer in Frankreich, daß die allermeisten aus den 
nordisch besiedelten Landestcilen stammen. R i p 1 e y 2 ) hat 
das Ergebnis in Kartenform dargestellt. In Amerika haben 
Cattell ;! ) und Woods 4 ) festgestellt, daß jene Männer, die 
im kulturellen Leben der Vereinigten Staaten führend gewesen 
sind, unverhältnismäßig häufig aus Nationen von vorwie- 
gend nordischer Rasse stammten, in zweiter Linie aus dem 
Judentum. Gleichsinnige Ergebnisse hat auch Ter man 5 ) bei 
der Erforschung der Abstammung von 1000 besonders begab- 
ten Kindern Kaliforniens gehabt. Auch diese stammten in 
erster Linie von Angehörigen der nordischen Nationen der 
nordwestlichen Hälfte Europas ab, in zweiter Linie von Juden. 
Nachkommen südeuropäischer und farbiger Völker waren 
praktisch unter den hochbegabten Kindern überhaupt nicht 
vertreten. 

Außer der geographischen Verteilung kann man auch die Konfession 
zur mittelbaren Erfassimg der Rassemmterschiede heranziehen. De Can- 
d o 11 e s ) hat gefunden, daß unter den Mitgliedern der bedeutendsten wis- 
senschaftlichen Akademien der Anteil der P rote stauten fast das Vierfache 
der nach ihrem Anteil an der Bevölkerung Europas zu erwartenden Zahl 
betrug. Er hat die Erklärung in dem Religionsunterschicd gesucht, doch ist 
der Zusammenhang vermutlich ein mittelbarer, indem die Protestanten zu 
einem höheren Prozentsatz der nordischen Rasse angehören. Das autoritäre 
Wesen der römischen Kirche widerstrebt dem nordischen Menschen; er 
kann die persönliche Freiheit, zumal die geistige nicht entbehren. Anderer- 
seits ist zu bedenken, daß die katholischen Bevölkerungen seit vielen Jahr- 
hunderten in jeder Generation einen großen Teil der hohen geistigen An- 
lagen durch die Ehelosigkeit der Geistlichen verloren haben. 

Die schon erwähnten Begabungsprüfungen an amerikani- 
schen Rekruten werfen auch auf die Begabungsunterschiede 
der europäischen Rassen Licht. Die Verteilung der Begabungs- 
grade unter den in Europa geborenen Rekruten zeigt folgende 
Tabelle : 



!) Odin, A. Genese des grands hommes. Paris 1895. H. Welter. 

3 ) Ripley, W. Z. The races of Europc. 2. Aufl. New York and 
London 1 9 1 o. Appleton. 

s ) Cattell, J.Mc.K. A Statistical study of eminent men. Populär 
Science Monthly. Bd. 62. 1903. 

4 ) W o o d s , F. A. The racial origin of successful Americans. Popu- 
lär Science Monthly. Bd. S4. 1914. 

s ) A.a.O. vgl. S. 699. 

6 ) De Candolle, A. Histoire des sciences et des savants depuis 
deux siecles. Genf 1873. (Deutsche Ausgabe von W. Ostwald, Leip- 
zig [91 1.) 



DIE NORDISCHE RASSE. 



735 





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423 


Zahl der 
Falte 


129 


325 


299 


411 


572 


140 


658 


4007 


611 


301 


382 


2340 


A 


_ 


0.6 


3,3 


5,6 





5,0 


1,2 


0,2 


0,6 


1,7 


_ 


0,4 


4,8 


1,3 


0,4 


B 


0,8 


4,8 


5,0 


14,1 


2,1 


5,7 


2,9 


0,6 


3,5 


1,7 


0,5 


2,3 


8,2 


3,0 


3,0 


c+ 


11,6 


16,2 


17,6 


24,0 


2,1 


21,4 


8,4 


2,3 


8,9 


6,7 


3,1 


4,8 


25,4 


12,6 


5,7 


c 


39.2 


32,4 


31,8 


12,4 


36,7 


25,0 


29,0 


24,4 


36,0 


32,3 


19,5 


22,1 


19,2 


37,0 


34,4 


C — 


24,0 


33,0 


27,8 


35,4 


15,7 


33,7 


18,6 


9,1 


25,9 


20,0 


7,3 


10,5 


28,8 


26,8 


1 4,7 


D 


18,6 


12,8j11,7 


6,0 


35,1 


8,5 


26,2 


40,0 


21,8 


27,5 


43,5 


40,0 


10,9 


17,1 


30,4 


D— , E 


5,4 


0,6 


3,3 


2,7 


8,5 


0,7 


13,2 


23,4 


3,8 


10,0 


26,4 


20,4 


2,7 


2,3 


11,6 


Durch. - 
sclmittl. 


i 
12,8[l3,7 


13,9 


14,9 


11,9 


14,3 


12,3 


11,0 


13,0 


12,3 


10,7 


11,3 


14,3 


13,3 


12,0 


gcnzalter 

































Die Prozentzahlen sind dem vonYerkes 1 ) herausgegebe- 
nen offiziellen Bericht entnommen; das „Inteiligenzalter" ist 
von Prof. Brigham von der Princeton -Universität berechnet 
worden. 2 ) 

Wenn man die Stammländer nach der Reihenfolge der 
durchschnittlichen Begabung der untersuchten Rekruten ord- 
net, so ergibt sich das Bild der Fig. 209. Die Zahlen hinter den 
Ländernamen geben das sog. „Intelligenzalter" an, die waage- 
rechten Zahlen die Hundertsätze, in denen die verschiedenen 
Begabungsgrade in den verschiedenen Gruppen vertreten waren. 
Länder, aus denen weniger als 100 Rekruten stammten, sind 
nicht aufgenommen; daher sind z.B. Frankreich und Spanien 
nicht vertreten. 

Man darf allerdings die Begabung der Rekruten nicht 
einfach der durchschnittlichen Begabung ihrer Herkunftslän- 
der gleichsetzen. Es ist vielmehr zu vermuten, daß die nach 
Amerika Ausgewanderten eine Auslese darstellen, die bei man- 
chen Nationen eine günstige, bei andern eine ungünstige sein 
kann. Das hervorragend gute Abschneiden der Einwanderer 
aus England und Schottland dürfte zum guten Teil darauf zu- 
rückzuführen sein, daß die Ausübung höherer Berufe in Ame- 
rika im allgemeinen die Beherrschung der englischen Sprache 
voraussetzt. Angehörige der höheren Stände finden im allgemei- 
nen nur dann standesgemäße Berufsmöglichkeiten in Amerika, 

ij~Ä".ITo. vgl. S. 717. 

2 ) Ycrkes, R. M. Eugenic bearing of measuremenls of intclligence 
in the United States army. The Eugenics Review. Bd. 14. Nr. 4. 1923. 



736 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



wenn sie aus einem englisch sprechenden Lande stammen. Und 
da die höheren Berufe zugleich eine Auslese nach höherer In- 
telligenz darstellen, erklärt sich der große Anteil höherer Be- 
gabungen unter den Einwanderern aus England und Schott- 
land. Einwanderer aus anderen Ländern dagegen können in 
Amerika meist nur als Handarbeiter oder in anderer abhängi- 
ger Stellung einen Lebensunterhalt finden, nur zum Teil noch 
als bäuerliche Siedler. Darauf dürfte das verhältnismäßig un- 
günstige Abschneiden der Einwanderer aus Skandinavien zu- 
rückzuführen sein. In Anbetracht dieser Umstände sind die Er- 
gebnisse der Intelligenzprüfung der Einwanderer aus Irland, die 
doch meist gut englisch sprechen, auffallend schlecht ; sie spre- 
chen dafür, daß die Iren im Durchschnitt erheblich weniger 
begabt als die Skandinavier sind. Das schlechte Ergebnis bei 
den „Russen" und „Polen" ist um so auffallender, als es sich 
zum großen, vermutlich sogar zum allergrößten Teil in Wirk- 
lichkeit um Juden handelt. Die einwandernden Juden ernähren 
sich in Amerika zunächst meist als Schneider oder sonstige 




Fig. 209. 

Ergebnisse der Begabungsprüfung von 1 1 435 in Europa geborenen Rekruten 

des amerikanischen Heeres. 



DIE NORDISCHE RASSE. 



737 



kleine Handwerker, auch als Kleinhändler. Das bedingt eine 
ungünstige geistige Auslese der Einwanderer. Dazu kommt 
noch, daß die auf anschauliche Begabung zugeschnittenen 
Betatcsts gerade der abstrakten Begabung der Juden wenig 
entsprechen. Auch unter den Österreichern waren viele (galizi- 
sche) Juden. Österreich ist in seinem Vorkriegs umfang gemeint. 
Die Deutschösterreicher für sich allein würden vermutlich er- 
heblich besser abgeschnitten haben. Bei dem Vergleich zwi- 
schen England und Deutschland ist zu berücksichtigen, daß 
Schottland und Irland gesondert behandelt worden sind, 
Deutschland aber nur als Ganzes. Wenn die verschiedenen 
Länder Deutschlands gesondert behandelt worden wären, so 
würden einige vermutlich nicht schlechter abgeschnitten haben 
als. England und Schottland. Man soll nicht vergessen, daß 
das eigentliche angelsächsische Element aus Nordwestdeutsch- 
land stammt. 

Unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Umstände 
kann man als Ergebnis feststellen ; D i e L ä 11 cl e r der nord- 
westlichen Hälfte Europas stehen ausnahms- 
los in der ersten Hälfte der Reihe. Das aber sind jene 
Länder, die den stärksten Anteil nordischer Rasse enthalten, 
genauer der schlanken und der schweren blonden Rasse. 

Ich glaube nicht, daß es übertrieben ist, wenn man sagt, 
daß die nordische Rasse hinsichtlich der geistigen Begabimg 
an der Spitze der Menschheit marschiert. Auch der vorderasia- 
tischen und der orientalischen Rasse ist sie an schöpferischer 
Kraft des Geistes überlegen, wenn auch nicht an aufnehmender 
Intelligenz. Allerdings sind gewisse vorderasiatisch-orientalische 
Elemente unter den Juden ihr auf manchen Gebieten des gei- 
stigen Lebens gewachsen, auf; einzelnen sogar überlegen. Die 
nordische Rasse verdankt ihre führende Stellung im übrigen 
nicht nur ihrer hohen Verstandesbegabung, sondern nicht min- 
der auch ihren Charaktereigenschaften. 

Der nordische Mensch ist von allen am wenigsten dem 
Augenblick hingegeben; er übertrifft alle andern Rassen an 
Willensenergie und sorgender Voraussicht. Infolge der vor- 
dcnklichen Sinnesart werden die sinnlichen Antriebe weiter ge- 
steckten Zielen untergeordnet. Die Selbstbeherrschung ist viel- 
leicht der bezeichnendste Wesenszug der nordischen Rasse; 
und auf ihr beruht zum guten Teil ihre Kulturbegabung. Ras- 
sen, die ihrer ermangeln, sind nicht befähigt, sachliche Ziele 
auf lange Sicht zu verfolgen und durchzusetzen. 

B nur- F ischer-IfCiiz I. 47 



738 FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 

Die seelische Eigenart der nordischen Rasse hängt offen- 
bar mit der nordischen Umwelt zusammen, aber nicht so, daß 
das naßkalte Klima unmittelbar ihre sorgende Sinnesart er- 
zeugt hätte, sondern vielmehr in dem Sinne, daß Sippen mit 
dem leichten Sinn des Südländers, die nicht auf lange Zeit 
vorauszudenken pflegten, viel häufiger im nordischen Winter 
zugrandegingen. Die Rasse ist also in gewissem Sinne das 
Produkt ihrer Umwelt, aber nicht das direkte Produkt der Um- 
welt im lamarckistischen Sinne, sondern das Züchtungspro- 
dukt der Umwelt. Von wesentlicher Bedeutung sind dabei na- 
türlich auch die ursprünglichen Entwicklungsmöglichkeiten 
einer Rasse. Auch mongolide Rassen sind durch Auslese an 
nördliches Klima angepaßt worden. Während aber bei der 
nordischen Rasse die Überwindung der Unwirtlichkeiten der 
Umwelt durch Steigerung der geistigen Kräfte erreicht wurde, 
geschah, die Anpassung der arktischen Mongoliden durch Züch- 
tung äußerster Bedürfnislosigkeit. ; 

Der Züchtung durch die nordische Umwelt verdankt der 
nordische Mensch auch wohl seine Begabung für Technik wie 
überhaupt für Meisterung der Natur. Menschen, die in der 
nordischen Umwelt sich behaupten wollten, mußten dauerhafte 
Häuser und seetüchtige Schiffe zu bauen verstehen. Die nor- 
dische Rasse stellt daher die meisten Tecliniker und Erfinder. 
Sie ist mehr für Naturwissenschaften als für historische und 
philologische Wissenschaften begabt. 

In den letzten Jahrzehnten sind über ioo der hervor- 
ragendsten Forscher auf dem Gebiet der Physik, Chemie und 
Medizin mit dem von dem schwedischen Industriellen Nobel 
gestifteten Preise ausgezeichnet worden. Die Preisrichter setzen 
sich aus führenden Männern der schwedischen Wissenschaft 
zusammen. Bis auf ganz wenige Hundertteile stammen alle 
Träger des Nobelpreises aus der nordwestlichen Hälfte Euro- 
pas oder aus Bevölkerungen, die von da ausgegangen sind wie 
die Nordamerikas. Allerdings sind über ein Zehntel von diesen 
Juden (vgl. S. 751). Von den Trägern des Nobelpreises für 
Literatur und für Frieden sehe ich ab, da es in diesem Zu- 
sammenhang mehr auf die wissenschaftliche Begabung zumal 
die für Naturwissenschaft ankommt. 

Kennzeichnend ist auch die Vorliebe der nordischen Rasse für die See. 
Schon im frühen Mittelalter sind nordische Wikinger auf den unermeß- 
lichen Ozean hinausgesegelt und über Island nach Nordamerika gelangt. 
Außer nordischen haben nur wenige Stämme aus verwandten Rassen eine 
eigentliche Seeschiffahrt entwickelt (alte Bevölkerung der westlichen Mittel- 



DIE NORDISCHE RASSE. 



739 



meerküsten, Phönikier, Polynesier). Für sämtliche negriden und mongo- 
liden Rassen sowie auch für die vorderasiatische dagegen ist das Wasser 
ein unheimliches Element, das keine Balken hat, geblieben. Die alten Hel- 
lenen haben ihre Neigung und Begabung für Seefahrt von ihren nordischen 
Ahnen geerbt, ebenso ihren Sinn für Plastik und Baukunst sowie für tief- 
dringende Forschung, aber auch ihren geringen Sinn für Gemeinschaft, 
ihre mangelhafte Fähigkeit der Einordnung in einen großen Verband, die 
ihnen schließlich zum Verhängnis geworden ist. 

Die nordische Umwelt erlaubte in frühen Zeiten nicht, daß die 
Menschen in großen Gemeinschaften lebten. Bei der nordischen Rasse 
wurde daher die Neigung zur Vereinzelung, zur Einzel sie delung gezüchtet. 
Die Neigung zur Ausdehnung, zur Entfernung vom Nachbar, ja zu Zwist 
und Kampf war für sie in jener Umwelt erhaltungsgcmäß. Während der 
letzten Eiszeit lebten die Vorfahren des nordischen Menschen in den eis- 
freien Strichen nördlich der großen von den Pyrenäen bis zum Kaukasus 
reichenden Gebirgskette so gut wie ausschließlich von der Jagd. Sic griffen 
nicht nur das riesige Mammut, sondern auch den gewaltigen Höhlenbären 
mit den primitiven Waffen der älteren Steinzeit an, überwältigten und ver- 
zehrten sie. Derartige Lebensbedingungen erforderten todesverachtende 
Kühnheit und Angriffslust; und folglich wurden sie gezüchtet. Auch in den 
ersten Jahrtausenden nach der Eiszeit, als der Cro-Magnon-Mensch als 
Rentierjäger nach Nordeuropa vordrang, war die Jagd die wesentliche 
Grundlage der Wirtschaft. So wurde die nordische Rasse als Bewegungs- 
rasse gezüchtet. 

Erst mit Beginn der jüngeren Steinzeit vor rund 7000 Jahren kam 
der Ackerbau nach Nordeuropa. Damit setzte die Züchtung eines seßhaf- 
teren Typus ein. In der Indogermanenzeit ist das Bauerntum der „Lebens- 
quell der nordischen Rasse" (Darre). Mit der Entwicklung einer vielsei- 
tigeren Wirtschaft fanden auch die beweglichen Rassenelemente wieder neue 
Lebensmöglichkeiten. Die Wikinger lebten ähnlich wie die ionischen Hel- 
lenen hauptsächlich von Seefahrt und Handel. 

Die Ausbreitung der Indogermancn wurde durch ihre krie- 
gerische Überlegenheit ermöglicht. Die Neigung zu Kampf und 
Krieg ist echt nordisch. Wo es gilt, eine Not zu wenden durch 
kühnen Angriff, da ist der nordische Mensch zur Stelle. 

Die Kehrseite dieser Kühnheit ist die leidige, in der Ge- 
schichte immer wiederkehrende gegenseitige Vernichtung nor- 
discher Menschen und Gemeinwesen. Die Isländersagas sind 
voll von Mord und Totschlag. Und dennoch ist der nordische 
Mensch nicht eigentlich grausam. Es treibt ihn nicht dazu, 
fremdes Leid zu genießen; seine Kampflust und Kühnheit 
achtet fremdes Leben nur gering wie auch das eigene. 

Der Vorliebe für Kampf und Krieg ist die Sportbegeiste- 
rung verwandt. Unter Sportsleuten ist der schlanke nordische 
Typus unverhältnismäßig stark vertreten. Es scheint zum Teil 
die Gefahr als solche zu sein, die nordische Menschen reizt 
und sie veranlaßt, sich in Hochtouristik, Skispringen und Flug- 
sport zu betätigen. In der sportsmäßigen und militärischen 



740 



'RITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN, 



„Haltung" des nordischen Menschen kommt die verhaltene 
Energie, d. h. die Fälligkeit zur Leistung, zum Ausdruck. 

Ein Chinese sah im Europäerviertcl einer chinesischen Hafenstadt Ten- 
nisspielern zu, die im Schweiße ihres Angesichts ihre Kräfte maßen. 
Schließlich fragte er kopfschüttelnd einen europäischen Begleiter: „Warum 
lassen die das nicht von Kulis machen?" Der Chinese spart seine Kräfte; 
er ist nicht auf Umsatz, sondern auf Ansatz gezüchtet. Er weiß keinen Krieg 
zu führen, obwohl er zäh im Widerstände ist. Er tritt nicht als Eroberer 
auf; er schiebt statt dessen seine kleinbäuerlichen Siedlungen vor; und es 
sieht so aus, als ob diese Veranlagung im Daseinskampf der Rassen schließ- 
lich überleben wird. 

Die nordische Kühnheit befähigt nicht nur zu kriegerischen 
Taten, sondern sie kann auch die treibende Kraft für Großtaten 
des Geistes sein. Bei Erkenntnissen von umwälzender Trag- 
weite ist oft der Mut zur Wahrheit entscheidend. Daher hat 
die nordische Rasse eine stolze Zahl großer Denker und For- 
scher gestellt. Auch große Staatsmänner bringt die nordische 
Rasse hervor. Treitschke hat Niedersachsen das „Land der 
staatsmännischen Köpfe" genannt. In der Tat kann in dieser 
Hinsicht wohl kein anderes deutsches Land mit England wett- 
eifern als eben das Stammland der Angelsachsen. Zur Organi- 
sation befähigt den nordischen Menschen neben seiner starken 
Urteilsfähigkeit vor allem sein Wille zur Macht und Gestaltung. 

Wenig versteht sich dagegen der nordische Mensch auf die 
seelische Beeinflussung anderer Menschen, in der der vorder- 
asiatische Meister ist. Er kann sich überhaupt nur schwer in 
die Seelen anderer Menschen einfühlen. Seine Instinkte sind 
mehr individualistisch als sozial gerichtet. Sein starker Unab- 
hängigkeitstrieb steht der Einordnung in die Gemeinschaft 
entgegen. Begabung und Charakter des nordischen Menschen 
sind zwar von großem Wert für das soziale Leben; für ihn 
aber bedeutet die Gesellschaft wenig; niemals geht er darin auf. 

Der nordische Mensch braucht die Freiheit als Lebensluft, 
die persönliche wie die nationale. Wenn ihm die Freiheit ge- 
nommen wird, so erkämpft er sie wieder, oder er geht zu- 
grunde, „Lieber tot als Sklave" ist ein alter friesischer Grund- 
satz. Der nordische Mensch gedeiht unter keiner Fremdherr- 
schaft, keiner Despotie und in keiner Kollektive. 

.Dieser unbändige Freiheitsdrang ist zugleich die Stärke 
und die Schwäche des nordischen Menschen. Auch der Starke 
ist nicht am mächtigsten allein; auch er bedarf des Zusam- 
menschlusses und der Einordnung in die Gemeinschaft. Es ist: 
eine fast unlösbare Aufgabe, nordische Menschen zu dem not- 



DIE NORDISCHE RASSE. 



741 



wendigen gemeinsamen Handeln zu organisieren und ihnen 
doch jenes große Maß persönlicher Freiheit zu lassen, ohne 
das sie nicht leben können. Die Sachsen sind Karl dem Großen 
unterlegen, weil sie es nicht fertig brachten, an entscheidender 
Stelle durch Überzahl die Stärkeren zu sein. Karl dagegen, 
der von dem römischen Cäsarismus und Papismus gelernt 
hatte, der rücksichtslos über die Menschen verfügte, hat die 
deutschen Stämme mit Gewalt geeint; aber er hat es mit dem 
Odium des „Sachsenschlächters" erkauft. Nordisches Führer- 
tum ist etwas wesenhaft anderes als asiatische oder orienta- 
lische Despotie. Kadavergehorsam auf der Grundlage der 
Angst oder blinder Autorität lassen sich bei nordischen Men- 
schen nicht erzwingen. Nordische Gemeinwesen zeichnen sich 
durch Duldsamkeit aus, die auf dem Bewußtsein der Stärke 
beruht, die aber auch zur Schwäche werden kann. 

Ein gewisser Abstand gegenüber Menschen und Dingen, 
wie ihn besonders Clausz hervorgehoben hat, ist kennzeich- 
nend für den nordischen Menschen. Es ist das, was Nietzsche 
das „Pathos der Distanz" genannt hat. Damit hängt wieder die 
nordische Sachlichkeit zusammen; ohne einen gewissen Ab- 
stand von Menschen und Dingen ist ein sachliches Urteil über 
sie kaum möglich. Der nordische Mensch neigt wenig zu Ge- 
fühlsäußerungen ; er trägt seine Gedanken und Gefühle nicht 
auf der Zunge. Eine gewisse aristokratische Zurückhaltung 
schützt ihn und seinesgleichen vor Zudringlichkeit. Die ihn 
am tiefsten bewegenden Fragen macht er mit sich allein ab. 
Auch in der nordischen Liebe bleibt wohl stets ein gewisser 
Abstand der Seelen bestehen. 

Die Selbstbeherrschung und Zurückhaltung der nordischen Rasse wird 
leicht dahin mißverstanden, daß sie temperamentlos sei; und diese Mei- 
nung wird von jenen, die ihr nicht wohlwollen, anscheinend auch geflissent- 
lich verbreitet. Sie ist indessen von Grund aus falsch. Der nordische 
Mensch ist wählerisch in seiner Liebe, aber keineswegs kalt. 

in der nordischen Rasse hat das, was man Persönlichkeit nennt, seine 
stärkste Ausbildung erfahren. Nietzsche hat den Menschen einmal 
„ein Tier, das etwas versprechen kann", genannt; das trifft besonders für 
den nordischen Menschen zu. Eine Kehrseite ist „das übertriebene Selbst- 
bewußtsein, das der Arier stets hatte" (G o b i n e a u). Auch der Kultus 
der Ehre, der neben seinen Licht- auch seine Schattenseiten hat, hängt 
damit zusammen 1 ). 

G ü n t h e r nennt die körperliche Reinlichkeit ein Kennzeichen der 
nordischen Rasse. Der Vergleich von Städten und Menschen im Norden 
und Süden lehrt in dieser Hinsicht in der Tat sehr anschauliche Unter- 

l ) Vgl. Bavink, B. Rasse und Kultur. „Unsere Welt"; Jg. 26. H. 6. 
S. 183. 1934. 



742 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



schiede. Läuse, die im Osten und Süden Europas noch sehr verbreitet sind, 
kommen im Norden und Nordwesten kaum noch vor. 

Der nordische Mensch hat größeres sachliches und gerin- 
geres psychologisches Interesse als der mongolide und zumal 
der vorderasiatische. Sehr ausgesprochen ist sein Sinn für die 
Natur, während das Interesse des Vorderasiaten sich ganz vor- 
wiegend auf das soziale Leben der Menschen erstreckt. Das 
nordische Interesse ist mehr nach außen auf die anschauliche 
Körpcrwelt als nach innen auf die Seele gerichtet. Der nor- 
dische Mensch denkt anschaulich in Bildern, er ist „zum Sehen 
geboren, zum Schauen bestellt" (Goethe). Die höchste Schön- 
heit findet er in der Gestalt. Seine künstlerische Begabung 
liegt demgemäß hauptsächlich auf dem Gebiet der bildneri- 
schen Formgestaltung. 

Für die Tonkunst, die den Regungen der Seele Ausdruck gibt, scheint 
die nordische Rasse nicht besonders begabt zu sein. Wenn gleichwohl viele 
große Komponisten überwiegend von nordischer Rasse sind, so verdanken 
sie dem nordischen Erbe wohl eher ihre geistige Schöpferkraft als die 
eigentliche musikalische Begabung. „Frisia non cantat". Italiener, Ma- 
gyaren, Juden, Zigeuner gelten bei den Germanen als musikalisch und wohl 
mit Recht. Schon die Süddeutschen sind im Durchschnitt musikfreudiger 
als die Norddeutschen. 

Als Denker hat der nordische Mensch den Willen zur An- 
schaulichkeit und Klarheit. Die klassische Ruhe und Nüchtern- 
heit der alten hellenischen und der modernen angelsächsischen 
Denker ist echt nordisch. Der nordische Mensch neigt nicht zu 
„wahlloser Befriedigung des Erkenntnistriebes" (Nietzsche); 
er verlangt vielmehr von aller Erkenntnis die Beziehung auf 
die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (Kant). 
Er ist daher nicht der Mensch des vielen Wissens. Ober- 
hummer macht darauf aufmerksam, daß bei den indischen 
Ariern „ein völliger Mangel an Sinn für positives Wissen" 
herrschte, während die Chinesen einen ausgesprochenen Sinn 
dafür haben und eine Fülle von historischen und geographi- 
schen Werken hervorgebracht haben. Ein gewisser Mangel an 
historischer und geographischer Bildung, den man den Eng- 
ländern und Amerikanern zum Vorwurf zu machen pflegt, 
scheint im Wesen der nordischen Rasse begründet zu liegen. 
Sie hat mehr Sinn für das Wesentliche und Gesetzliche als für 
das Einzelne und Zufällige. Sie stellt daher mehr Naturfor- 
scher und Philosophen als ^Historiker und Philologen, mehr 
Forscher und Denker als Gelehrte. Der nordische Mensch ver- 
läßt sich mehr auf eigenes Urteil als auf positives Wissen; der 
mongoiide dagegen neigt gleichsam zu einem liebevollen Be- 



DIE NORDISCHE RASSE. 

tasten aller Dinge, zu einer mehr passiven Aufnahme ihrer Be- 
sonderheiten; sein Realismus besteht in dem geduldigen Ein- 
gehen auf die unendliche Mannigfaltigkeit der wirklichen 
Dinge. 

Der Trieb des nordischen Menschen, allen Dingen auf den 
Grund zu gehen, sein Ungenügen am Gegebenen, sein bohren- 
der Tief sinn macht ihn zu metaphysischen Spekulationen ge- 
neigt. Die nordische Sehnsucht findet nicht, was ihr genügt. 
Damit hängt eine eigentümliche Vergeistigung der Liebe zusam- 
men, die leicht einen ungesunden Zug erhält und dem Leben 
der Rasse gefährlich werden kann. 

In den nordischen Ländern Europas ist die Sicher- 
heit des Lebens und Eigentums viel größer als in den süd- 
lichen Ländern. In den Mittelmeerländern muß der Rei- 
sende dauernd auf der Hut sein, daß er nicht bcstohlen 
oder betrogen wird; in den nordischen Ländern und auch 
in England kann er sich dagegen weitgehend auf die Ehr- 
lichkeit der Bevölkerung verlassen. Die Ursache dieses un- 
terschiedlichen Verhaltens kann im wesentlichen nur in der 
Rasse liegen. Selbstbeherrschung, Voraussicht, Selbstachtung 
bewahren den nordischen Menschen weitgehend vor Gesetzes- 
verletzungen. In den Vereinigten Staaten ist die Sicherheit von 
Leben und Eigentum viel größer als in Mittel- und Südamerika. 
Die Einwanderer aus den südlichen und. östlichen Ländern 
Europas sind viel mehr an Verbrechen beteiligt als die aus der 
nordwestlichen Hälfte Europas. Auch hier spielt natürlich die 
wirtschaftliche Lage mit, die ihrerseits wieder zum guten Teil 
von der Rassenveranlagung abhängt. 

In Deutschland ist die Häufigkeit von Verbrechen in den nordwest- 
lichen Teilen bedeutend geringer als in den östlichen und südlichen. In den 
Jahren 1882/91 kamen auf 100 000 straf mündige Personen nach dem 
Wohnort der Täter zur Zeit der Tat folgende Zahlen von Verbrechen und 
Vergehen gegen Reichsgesetze in verschiedenen Landesteilen: 

Hannover, Oldenburg 711 

Hessen-Nassau, Großh. Hessen 729 

Rhcinprovinz 746 

Württemberg und Baden 811 

Pommern, Schleswig- Holstein, Mecklenburg 822 

Schlesien (ohne Oberschlesien) 1060 

Bayern (ohne die Pfalz) 1170 

Ost- und Westpreußen 1570 

Posen 1612 

Oberschlesien 1711 

Die übrigen Gebiete standen in der Mitte, und auf den Reichsdurch- 
schnitt kamen etwas über 1000 Vergehen auf 100 000 Einwohner. 



744 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Zum Teil mag die geringere Häufigkeit von Vergehen in den nor- 
dischen Ländern allerdings auch daher kommen, daß der nordische Mensch 
sich nicht gern mit Kleinigkeiten abgibt. Große Unterschlagungen kommen 
nicht ganz selten auch in Skandinavien, England und den Vereinigten Staa- 
ten vor. Ein Beispiel eines Schwindcluntemehmcns im Großen, ist der Fall 
des „Zündholzkönigs" Jvar Kreuger. 

Schon Lombroso 1 ) hat darauf hingewiesen, daß in Europa Mord 
und Totschlag bei den germanischen Völkern am seltensten, bei den roma- 
nischen am häufigsten vorkommen und daß in Italien diese Verbrechen 
im Süden und auf den Inseln viel häufiger sind als in Norditalien. Die 
mediterrane Rasse scheint also verhältnismäßig stark dazu zu neigen. In 
Sardinien ist Mord und Totschlag 141-nal so häufig als in der Lombardei*). 
Selbst die alte Lehre lombrosos, daß der „geborene Verbrecher" 
einer primitiven Urrasse des Menschengeschlechts angehöre, scheint mir 
nicht ohne ein Körnchen Wahrheit zn sein. Verbrecher weisen oft Züge auf, 
die an den Neandertaler oder sonstige primitive Rassen erinnern durch 
vorspringende massige Kieler, fliehende Stirn u. a. Wenn eine Rasse durch 
eine andere verdrängt wird, so pflegt im allgemeinen etwas von ihrer Erb- 
masse in Mischung erhalten zu bleiben, und es ist gar nicht ausgeschlossen, 
daß auch von der primitiven diluvialen Rasse Europas noch Erbanlagen in 
der europäischen Bevölkerung zerstreut vorhanden sind und daß ihre Trä- 
ger mit den Forderungen des sozialen Lebens besonders leicht in Wider- 
streit geraten. Auch ist zu bedenken, daß es einen biologischen Wesens- 
unterschied zwischen den Rassenanlagen und den sonstigen erblichen An- 
lagen einschließlich der krankhaften eigentlich nicht gibt (vgl. S. 712). 

Ich habe bisher die seelische Eigenart der nordischen 
Rasse als etwas Einheitliches geschildert, ohne Rücksicht dar- 
auf, daß es in Nordwesteuropa neben schlanken beweglichen 
Menschen auch schwere bedächtige gibt, und daß diese Typen 
auch nach Landstrichen verschieden verteilt sind. Es geht 
offenbar nicht an, den schweren Typus Nord Westdeutschlands 
auf „alpine" oder mongolide Rassenelemente zurückzuführen. 
Paudler 3 ) hat daher eine eigene Rasse, die „dalische" 
aufgestellt, die ziemlich allgemeine Anerkennung gefunden 
hat. G ü n t h e r nennt sie die „f ä 1 i s c h e". Von der nordischen 
Rasse im engeren Sinn, der „eigentlichen" nordischen Rasse 
würde die fälische Rasse sich durch schweren (athletischen) 
Bau, durch kürzeres, breiteres Gesicht, breitere Stirn, weiter 
auscinanderstehende Augen und breiteren, vorn mehr waage- 
recht verlaufenden und dann mehr rechtwinklig aufsteigenden 
Unterkiefer unterscheiden. Kern 4 ) sieht für die Dalrasse 

i ) L o m b r o s o , C, L'uomo dclinquentc. 5. Aufl. Torino 1897. 
Deutsche Ausgabe Hamburg 1907. 

2 ) Nach Aschaffenburg, G. Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 
3. Aufl. Heidelberg 1923. 

3 ) Paudler, F. Die hellfarbigen Rassen. Heidelberg 1924. 

4 ) Kern, F. Stammbaum und Artbild der Deutschen. München 1927. 



DIE NORDISCHE RASSE. 



745 



mehr eckige, für die nordische mehr kurvige Formen als kenn- 
zeichnend an. Paudler leitet die „dalische" Rasse von der 
Cro JVLagnon- Rasse ab, die am Ende der letzten Eiszeit in 
Westeuropa verbreitet war, während er für die nordische Rasse 
im engeren Sinne eine Herkunft aus den osteuropäischen Step- 
pen annimmt. K e r n hat auf die Ähnlichkeit des schlanken 
blonden Typus mit der schlanken, dunklen orientalischen Rasse 
hingewiesen. Es scheint mir in der Tat einleuchtend zu sein, 
daß bei der nach eis zeitlichen Besiedlung Nordeuropas jene 
Erbelemente, die die schweren Formen bedingen, aus den west- 
lichen Mittelmeerländern bzw. den Küstenländern des Atlanti- 
schen Ozeans 1 ) gekommen sind, die schlanken dagegen mehr 
aus d.en südöstlichen Ebenen. Schon seit der jüngeren Steinzeit 
sind, aber beide Elemente so innig durchmischt, daß es nicht 
mehr angängig erscheint, sie als zwei verschiedene „Rassen" 
anzusehen. ,, Nordische" und „fälische" Menschen haben offen- 
bar den allergrößten Teil ihrer Erbmasse gemeinsam; es sind 
nur verhältnismäßig wenige Erbeinheiten, die jene Merkmale 
bedingen, nach denen man einen „fälischen" Typus von dem 
nordischen im engeren Sinne zu unterscheiden pflegt. 

Das schlanke blonde Element ist es anscheinend gewesen, 
das mit der Indogermanisierung Europas die starke Bewegung 
in die Geschichte unseres Erdteils gebracht hat. Ich erinnere 
an die Wanderungen und Eroberungszüge der Arier, der Hel- 
lenen, der lialiker, der Kelten, sodann vor allem an che Ger- 
manenzüge der Völkerwanderung, die Wikingerfahrten, Kreuz- 
züge, Italienzüge, die Entdeckungsfahrten, die Eroberung und 
Besiedlung Nord- und Südamerikas, Südafrikas, Australiens. 
Bei den Ostgermanen (Goten, Vandalen, Burgunden) scheint 
der schlanke Bewegungstypus stärker vorgeherrscht zu haben 
als bei den mehr seßhaften Westgermanen. 

Aber auch in der Gegenwart unterscheiden sich Bevölke- 
rungen von schwerem blonden Typus auch seelisch von sol- 
chen von mehr schlankem Typus. So ist in gewissen nieder- 
sächsischen Gebieten, z. B. in Westfalen, eine gewisse Schwer- 
fälligkeit der Bevölkerung nicht zu verkennen. Der schwere 
blonde Mensch ist weniger beweglich als der schlanke ; er hat 
nicht den gleichen Drang in die Ferne; er hängt vielmehr an 



l ) Noltenius hat auf den „dalischen" Typus unter den Basken hinge- 
wiesen (F. Nolteniu.s. Charakterstudium als Mittel zur Rassenerforschung. 
ÄRGB. Bd. 23. H. 2. S. 246). Die Basken waren früher viel weiter ver- 
breitet als heute (Gasgogne = Baskenland, Wasgenwald = Baskenwald?). 



746 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



der Heimat und am Hergebrachten. An Zuverlässigkeit über- 
trifft er den schlanken eher noch. Die „deutsche Treue" ist 
besonders für ihn kennzeichnend. Es ist wohl auch kein Zu- 
fall, daß gerade in Westfalen die Reformation sich nicht durch- 
gesetzt hat. Der schwere blonde Mensch neigt zu Grübelei und 
Mystik. Die deutsche „Tiefe" und „Innerlichkeit" ist vorzugs- 
weise bei ihm zu Hause. Er kann sich noch schwerer als der 
schlanke in die Seele anderer Menschen einfühlen.. Eigensinnig 
besteht er auf seinem Kopf. Westfalen und Schwaben sind als 
starrköpfig bekannt. Der schwere blonde Mensch ist verschlos- 
sener und schweigsamer als der schlanke. Auf ihn ist wohl die 
germanische Einzelsiedlung zm'ückzuführen. Der schwere blonde 
Bauer will Herr sein auf seinem Hof und weitumher nicht 
seinesgleichen haben. So siedelten auch die Buren in Südafrika. 
Hauschild 1 ) führt die gewaltige Stoßkraft der Germanen 
zum guten Teil auf den schweren blonden Typus zurück; zur 
Führung und Herrschaft aber sei er weniger als der schlanke 
geeignet. Allerdings zeigen mehrere der größten Führer der 
Deutschen, z. B. Bismarck und Hindenbarg, den schweren 
blonden Hünentypus. In ihnen paarte sich die „fälische" 
Schwere mit der nordischen Kühnheit. 

Noltcnius hat in einer geistvollen Studie auf Grund seiner Kennt- 
nis der Basken und Nordwestdeutschen im Vergleich zu Spaniern und 
Italicnern den dalischen Typus als den des ,, Freisassen" im Unterschied zu 
dem des „Herren" geschildert. In der Tal ist die gesellschaftliche bzw. 
ökologische Sonderurig dieser Typen deutlicher als die geographische. 
Der schwere blonde Typus hat den indogermanischen Bauern gestellt, der 
schlanke den Militäradel, den Seefahrer und Kaufmann. In der bäuerlichen 
Bevölkerung Südschwedens, und das ist die Hauptmasse des schwedischen 
Volkes, herrscht der schlanke nordische Typus keineswegs so vor, wie man 
sich das bei uns oft vorstellt. Die dortigen Bauern sehen ganz ähnlich wie 
die pommer sehen und mecklenburgischen aus. Die Bevölkerung der Küsten 
und die des Seenstreifens von Göteborg bis Stockholm zeigt den schlanken 
blonden Typus in viel reinerer Ausprägung. Ganz auffallend vorherrschend 
sah ich ihn unter den Studenten und Studentinnen von üppsala. 

Wenn bei uns von der Rasscnfrage die Rede ist, so hat 
man in der Regel die Judenfrage im Auge. Der seelischen 
Eigenart der Juden kommt daher ein besonderes, aktuel- 
les Interesse zu. Sehr oft wird die Wesensart der Juden der 
der Germanen gegenübergestellt, wobei allerdings die rassische 
Einheitlichkeit beider Gruppen oft überschätzt wird. Gün- 
ther andererseits hat gerade eine„Vielgenüschtheit" als kenn- 

'■) Hau scliild, M. W. Die menschlichen Skelettfunde des Gräber- 
feldes von Änderten bei Hannover. Zeitschrift für Morphologie und An- 
thropologie. Bd. 25. IL 2. 1925. 



DIE JUDEN. 



747 



zeichnend für das Judentum hervorgehoben und sich auf den 
Standpunkt gestellt, die Juden seien keine besondere Rasse 
sondern ein Volk. Ich vermisse an den Juden indessen die für 
den Begriff des Volkes nötige Einheitlichkeit der Kultur, ins- 
besondere der Sprache 1 ). Andererseits kann man bei uns einen 
Juden in den allermeisten Fällen schon an seiner körperlichen 
Erscheinung erkennen. Noch ausgesprochener als die körper- 
liche ist die seelische Eigenart der Juden. Man könnte die 
Juden geradezu als eine seelische Rasse bezeichnen. So scheint 
mir der Begriff der Rasse immer noch eher als der des Volkes 
auf das Judentum zu passen. Wer es bestreitet, daß die Juden 
eine Rasse seien, dem schwebt dabei wohl ein Rassebegriff 
vor, der vorwiegend morphologisch orientiert und von den 
heute landläufigen „Rassen" abgeleitet ist. An diesen „Rassen" 
ist aber vieles problematisch. Es kommt mehr auf die Lebens - 
leistung als auf äußere Merkmale an; und gerade die Juden 
sind ziemlich einheitlich auf eine bestimmte Lebensleistung ge- 
züchtet. Auch Günther spricht von der Anbahnung der 
Züchtung einer „Rasse zweiter Ordnung" in bezug auf die 
Juden, wobei er als Rassen erster Ordnung die sonst von ihm 
unterschiedenen voraussetzt. Grundsätzlich ist aber die Rassen- 
bildung überall dieselbe; sie beruht stets auf einer Häufung 
bestimmter Erbanlagen durch Auslese in einer bestimmten Um- 
welt. Für die Entstehung des Judentums sind insbesondere ge- 
wisse wirtschaftliche Lebensbedingungen bestimmend gewesen. 
So sind die Juden weniger eine geographische als eine ökolo- 
gische Rasse, die in sehr verschiedenen Ländern und unter 
sehr verschiedenen Völkern unter gewissen gesellschaftlichen 
und wirtschaftlichen Umständen gedeiht. Der Kern der jüdi- 
schen Seele wird von vorderasiatischen Wesenszügen gebil- 
det; und die vorderasiatische ist jene geographische Rasse, aus 
der der Hauptteil der jüdischen Erbmasse stammt. 

Gewiß ist die jüdische Eigenart nicht ausschließlich erbbedingt; zu 
einem gewissen Teil ist sie auch die Folge des Lebens im jüdischen Milieu. 
Auch NichtJuden, die viel mit Juden verkehren, pflegen in ihrer Denk- 
weise und ihrem Gehaben ein wenig zu verjuden. 



1 ) Die Juden der Gegenwart sind zum allergrößten Teil keine ,, Se- 
miten", da sie keine semitische Sprache sprechen; und unter „semitischer 
Rasse" könnte man höchstens dasselbe wie orientalische Rasse verstehen, 
der aber die allermeisten Juden auch nicht angehören. Auch das Wort 
„Antisemitismus" ist daher keine treffende Bezeichnung; es verdankt seine 
Beliebtheit vermutlich zum guten Teil seiner Aufmachung als (schein- )wis- 
senschaftlichcr Fachausdruck. 



748 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Die jüdische Eigenart konnte nur im Laufe einer jahrtau- 
sendelangen Kultur mit weitgehender Vergesellschaftung der 
Menschen herausgezüchtet werden. Die Grundlage dazu wurde 
in Vorderasien, der Heimat der ältesten Hochkulturen der alten 
Welt, gelegt. Aber auch nachdem die Juden diese Heimat ver- 
lassen haben, haben offenbar die Ausleseverhaltnisse der bei- 
den letzten Jahrtausende immer noch in gleicher Richtung 
züchtend gewirkt. Von der Urcrzeugung nicht nur durch eigene 
Neigung, sondern vielfach auch durch Zwang ausgeschlossen, 
haben sie ihren Lebensunterhalt stets ganz vorwiegend im 
Handel und in ähnlichen Berufen gesucht. Daher konnten in 
der Hauptsache immer nur solche Juden eine Familie gründen, 
die für die Vermittlung der Erzeugnisse anderer Menschen, 
die Erregung ihrer Wünsche und ihre Lenkung befähigt waren. 

Wenn die Eigenart der Juden körperlich nicht so stark als seelisch in 
die Erscheinung tritt, so dürfte das darauf zurückzuführen sein, daß sehr 
fremdartig aussehende Juden weniger Erfolg hatten als solche, die dem 
Typus ihres Wirtsvolkes mehr ähneln. Der instinktive Wunsch, nicht auf- 
zufallen, führt auch zu einer Bevorzugung solcher Personen bei der Gatten- 
wahi, die sich dem Aussehen des Wirtsvolkes nähern, wie z. B. v. Lu- 
schau 1 ) dargelegt hat. Auch in der Annahme nichtjüdischer Namen durch 
viele Juden äußert sich der Wunsch, nicht als Juden erkannt 7.11 werden. 
Soweit der Typus durch diese Auslese unauffällig gemacht wird, handelt 
es sich um echte Mimikry, die überall dort vorliegt, wo ein Lebewesen Er- 
haltungsvorle.il von einer Ähnlichkeit mit andern hat. Es gibt in manchen 
Tiergattungen Arien, die sich äußerlich sehr ähnlich sind und die auch 
systematisch nah verwandt sind, die sich aber in ihren Instinkten stark un- 
terscheiden. Mir sind in der Ordnung der Schmetterlinge mehrere solche 
Artengr Lippen bekannt. Die große äußere Ähnlichkeit dieser Arten hat ihren 
Grund offenbar darin, daß der äußere Typus dieser Arten gewisse Erhal- 
tungsvorteile in der gemeinsamen Umwelt bietet. 

So wird es verständlich, daß die Juden sich nicht Hin- 
durch Klugheit und Rührigkeit, Fleiß und Beharrlichkeit, son- 
dern vor allem auch durch eine erstaunliche Fähigkeit aus- 
zeichnen, sich in die Seele anderer Menschen zu versetzen und 
sie nach ihrem Willen zu lenken. Neigung und Fähigkeiten 
führen sie daher immer wieder zu Betätigungen, bei denen das 
Eingehen auf die jeweiligen Neigungen des Publikums und 
deren Lenkung Erfolg bringt. Berufe, denen sie sich mit Vor- 
liebe und Erfolg zuwenden, sind die des Kaufmanns, Händlers 
und Geldverleihers, des Journalisten, Schriftstellers, Verlegers, 
Politikers, Schauspielers, Musikers, Rechtsanwalts und Arztes. 

Nach der Beruf szählmig von 1925 waren in Preußen 
Juden 180/0 der selbständigen Ärzte, 270/0 der Rechtsanwälte, 

*) A.a.O. S. 168 u. 169 (vgl. S. 729). 



DIE JUDEN. 



749 



4,60/0 der Redakteure, 7,5% der Schauspieler, während der 
durchschnittliche Anteil der Juden an der Bevölkerung' 1 o/ aus- 
machte. In Berlin waren Juden 48 0/0 der Ärzte, 500/0 der Rechts- 
anwälte, 8,50/0 der Redakteure, 12 0/0 der Schauspieler. Da diese 
Zahlen sich auf die Konfession beziehen, sind die getauften 
Juden und die Mischlinge darin nicht enthalten. Seit der na- 
tionalsozialistischen Revolution ist in diesen Zahlen ein Wandel 
eingetreten. Was ich über die Berufsverteilung sage, gilt daher 
nur zum Teil für das gegenwärtige Deutschland; es gilt für 
Länder, in denen die Berufswahl der Juden keinen oder doch 
keinen wesentlichen Hemmungen unterliegt. 

Das Kleidergeschäft (die „Konfektionsbranche") liegt in Europa wie 
in Nordamerika ganz überwiegend in den Händen von Juden. Das Theater- 
wesen wird zum größten Teil von Juden gelenkt und betrieben, in den 
Vereinigten Staaten nach Ford') sogar ausschließlich. Entsprechendes 
gilt auch vom Lichtspicl. Ein sehr großer Teil der Zeitungen und Zeit- 
schriften wird von jüdischen Verlegern herausgegeben, von jüdischen Re- 
dakteuren geleitet und von jüdischen Journalisten mit Artikeln versehen. 
Der Beruf des Anwalts ist für den Juden wie geschaffen. 

An Redegewandtheit und Überredungskunst ist der Jude unerreicht. Die 
Neigimg zu vielen Worten (scherzhaft als „Geseires" bezeichnet) steht in 
auffallendem Gegensatz zu der germanischen Wortkargheit, die „jüdische 
Hast" im Gegensatz zur germanischen Ruhe und Schwerfälligkeit. Den 
inneren Abstand von Menschen und Dingen, der bezeichnend für den Ger- 
manen ist, kennt der Jude kaum; er fühlt sich unter den Menschen zu 
Hause. Er ist häufiger aufdringlich und häufiger empfindlich als der Ger- 
mane; auch wenn er sich gekränkt zurückzieht, kommt er meist doch wie- 
der; er ist seiner Wesensart nach eben auf andere Menschen angewiesen. 

Sombart 2 ) hat die Begabung der Juden für das Wirt- 
schaftsleben glänzend geschildert. Ein großer Teil des beweg- 
lichen Kapitals in Europa und Amerika ist in den Händen von 
Juden. Im Bank- und Börsenwesen ist ihr Einfluß maßgebend. 
In der Industrie betätigen die Juden sich mehr als geschäft- 
liche Leiter, weniger als aufbauende Unternehmer. Unter In- 
dustriearbeitern sind sie kaum vertreten. Wo sie einen großen 
Teil der Bevölkerung ausmachen, wie in Polen oder New York, 
sind sie vielfach als ldeine Handwerker, besonders Schneider, 
tätig. Gegen körperliche Arbeit haben sie eine lebhafte Abnei- 
gung. In der Landwirtschaft sind sie fast gar nicht vertreten. 
Das liegt sicher nicht daran, daß man sie von der Landwirt- 
schaft ferngehalten hätte; in Amerika hätten sie ja Farmer 
werden können; sie haben aber auch dort die vermittelnden 

2 ) Ford, H. Der internationale Jude. Deutsche Ausgabe. 11. Aufl. 
Leipzig 1923. 

T ) Sombart, W. Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig- 1911. 



750 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Berufe vorgezogen. Der Jude geht nicht dahin, wo Land frei 
ist, sondern dahin, wo es viele arbeitsame Menschen gibt. 

Bei dem zionistischen Versuch einer jüdischen Besiedelimg Palästinas 
hat sich die bezeichnende Tatsache ergeben, daß die Siedler meist nicht 
jüdisch aussehen 1 ); sie rekrutieren sich offenbar hauptsächlich aus andern 
Rassenelemcntcn, die in dem osteuropäischen Judentum mit enthalten sind. 
Überhaupt machen die Juden von der landwirtschaftlichen Bevölkerung 
Palästinas nur 3,60/0 aus; und dieser Prozentsatz ist im Rückgang 3 ). Wegen 
ihrer geringen Begabung bzw. Neigung für die Urerzeugung scheint ein 
Staatswesen, das nur aus Juden bestände, unmöglich zu sein. 

Die wirtschaftliche Lage der Juden ist unter sonst gleichen 
Umständen am günstigsten da, wo sie nur eine kleine Minder- 
heit der Bevölkerung ausmachen. Ihr Einfluß und ihre Macht 
ist viel größer als ihrer Zahl entspricht. Für England hat das 
Salaman geschildert, für die Vereinigten Staaten Ford. 
Entsprechendes galt auch für das republikanische Deutschland 
der Nachkriegszeit; Belege dafür bietet das „Handbuch der 
Judenfrage" von I" ritsch 3 ). 

Wenn man das begabteste Hundertstel des deutschen Vol- 
kes aussondern könnte, so würde dieses natürlich den Juden 
intellektuell überlegen sein. Aber daß die Juden im Durch- 
schnitt intellektuell begabter sind als der Durchschnitt der 
deutschen Bevölkerung, läßt sich meines E rächt ens nicht be- 
streiten; sind sie doch seit Jahrtausenden gerade darauf ge- 
züchtet. Auf den höheren Schulen, deren Besucher eine Aus- 
lese nach intellektueller Begabung darstellen, waren i. J. 1932 
jüdische Kinder dreimal so viele vertreten, als ihrem Anteil an 
der Bevölkerung entsprach. Die deutschen Universitäten wurden 
von fast 50/0 Juden besucht (4,7%). Noch wesentlich höher 
war der Hundertsatz der Juden unter den Professoren; in der 
Berliner medizinischen Fakultät waren es i. J. 1931 43% ; 
doch war gerade unter den ordentlichen Professoren der 
Hundertsatz lange nicht so hoch. 

Bei dem Vergleich von jüdischen und nichtjüdischen Kindern ist zu 
berücksichtigen, daß die jüdischen im Durchschnitt frühreifer sind. Unter 
ihnen gibt es „Wunderkinder", deren geistige Fähigkeiten ihren Jahren 
weit vorauseilen. Aber ihre glänzenden Leistungen beruhen nach Salaman 4 ) 
auf Frühreife und „quick-wittedness" (Schnelligkeit der Auffassung), nicht 

*-) Salaman, R. N. In dem Sammelwerk „Eugenics in Race and 
State". Baltimore 1923. Williams and Willdns Co. 

J ) Brandt, J. Die jüdische Kolonisation in Palästina. Archiv für 
innere Kolonisation. Bd. 18. 1926. 

3 ) 36. Aufl. 1934. 

4 ) A. a. O. S. 13S. 



DIE JUDEN. 



751 



auf schöpferischer Begabung. Sie halten daher später meist nicht, was sie 
zu versprechen scheinen. 

In der Wissenschaft sind die Juden um ein Vielfaches 
stärker vertreten, als nach ihrer Zahl zu erwarten wäre. Unter 
den Nobelpreisträgern für Physik, Chemie und Medizin waren 
bis zum Jahre 1933 11 Juden (Michelson, Ehrlich, Lippmann, 
Wallach, Bäräny, Wlllstälter, Haber, Einstein, Meyerhol, 
Franck, Landsteiner) und 5 Halbjuden (v. Baeyer, Metschni- 
koff, Bohr, Gustav Hertz, Warbarg) 1 ); das sind über io<y 
aller Preisträger, eine Zahl, die den Anteil der Juden an der 
Bevölkerung der beteiligten Länder um ein Mehrfaches über- 
trifft. Auch von den Volljuden unter den Nobelpreisträgern 
zeigen übrigens mehrere in ihrem Äußeren teilweise nor- 
dische Züge, z. B. Michelson, Ehrlich, Wlllstälter. 

Es ist meines Erachtens nicht zu bestreiten, daß unter 
den Juden auch Genie im Sinne hoher schöpferischer Bega- 
bung vorkommt; ich erinnere nur an den Physiker Heinrich 
Hertz, den Entdecker der elektrischen Wellen, auf denen 
die drahtlose Telegraphie und der Rundfunk beruhen. Im 
ganzen ist aber nicht zu verkennen, daß die Juden auch im 
geistigen Leben mehr an der Übermittlung und Umdeutung 
als an der Urerzeugung beteiligt sind. Ihr Anteil an den For- 
schern und Entdeckern ist nicht so groß wie der an den Ge- 
lehrten und Lehrern der Wissenschaften. In der Physik und 
Mathematik liegen ihre Erfolge mehr nach der abstrakten als 
nach der anschaulichen Seite hin; ihre Stärke auf diesem Gebiet 
liegt in ihrem hochentwickelten Zahlensinn und ihrer formalen 
Logik begründet. Diesen Anlagen verdanken die Juden auch 
ihre hervorragenden Erfolge im Schachspiel. Die großen 
Schachmeister sind ganz überwiegend Juden. 

Für die Gegenstände der Natur haben die Juden wenig 
sachliches Interesse; aber alles, was menschliche Seelen be- 
wegt, interessiert sie lebhaft. Die meisten „Sexualforscher" sind 
Juden. Freud, der Begründer der „Psychoanalyse", kann als 
typisch jüdischer Denker angesehen werden 2 ), ebenso Adler. 
der Begründer der „Inclividualpsychologie". 

Die „Individualpsychologie" Adlers beschäftigt sich nicht mit den 
allgemeinen Gesetzen des Seelenlebens, sondern mit den individuellen Be- 
sonderheiten. Diese werden aber bezeichnenderweise nicht auf Unterschiede 

2 ) Nach dem Philo-Lexikon. Berlin 1936. S. $11. 

2 ) Kutzinski, A. Sigmund Freud, ein jüdischer Forscher. In der 
Zeitschrift „Der Jude". Bd. 8. H. 4. 1924. 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



der Erbanlage zurückgeführt, sondern ausschließlich auf Einflüsse der Um- 
welt, insbesondere auf Erlebnisse der frühen Kindheit. Auch die Freud- 
sehe „Psychoanalyse" führt nervöse und seelische Störungen entschei- 
dend auf Umwelteinflüsse, zumal Hemmungen der Triebbefriedigung, 
zurück; und demgemäß werden fast alle diese Störungen als wcganaiysier- 
ba.r hingestellt. 

In der medizinischen Wissenschaft finden sich die Juden vorzugsweise 
in den Sonder fächern für Geschlechtskrankheiten, für Kinderheilkunde und 
Nervenheilkunde, während die Chirurgie mehr den Germanen vorbehalten 
ist. Das Gebiet der „sozialen Hygiene" wird überwiegend von Juden be- 
arbeitet. Die Vorliebe der Juden für die Heilkunde läßt sich schon seit dem 
Altertum verfolgen. Das hängt wohl damit zusammen, daß der Jude Schmer- 
zen, Krankheit und Tod mehr fürchtet a]s der Germane, zum Teil auch da- 
mit, daß der Erfolg des Arztes mit von seiner Fälligkeit der seelischen Be- 
einflussung anderer Menschen abhängig ist, 

Von den Juden bevorzugte wissenschaftliche Fächer sind weiter die 
Wirtschaft sichre, die Philosophie, besonders in ihren psychologischen Sei- 
ten, die Kunst- und Literaturgeschichte und — die Germanistik. 

Daß die Juden viele bedeutende Musiker gestellt haben, 
wurde schon erwähnt. Bedeutende Malerhaben sie nur wenige 
hervorgebracht, Bildhauer und Baumeister überhaupt kaum. 
Die anschauliche und technische Begabung des Juden ist eben 
gering; er ist mehr auf das Ohr und die Zunge, als auf das 
Auge gezüchtet. 

Die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und sich lebhaft 
in eine Rolle zu versetzen, macht den Juden zum geborenen Schauspieler. 
Berühmte jüdische Schauspieler sind z. B. Kainz (geb. I(ohn), Sarah Bern- 
hard, Moissi, Possart, Reinhardt (geb. Goldmann). Auch die jüdische Fä- 
higkeit des Ausdrucks durch Worte, Mienen und Gesten kommt dem Schau- 
spieler sehr zustatten. Am meisten Schauspieler ist der Jude oft gerade 
dann, wenn er nicht als solcher auftritt. 

Die jüdische Fähigkeit, sich in Vorstellungen hineinzuver- 
setzen, gleich als wären es Tatsachen, kommt nicht nur dem 
Schauspieler, sondern auch dem Anwalt, dem Händler und dem 
Demagogen zustatten. Wenn der Anwalt sich in die Vorstellung 
versetzen kann, sein Klient sei im Recht, der Händler, seine 
Ware sei unerreicht gut und billig, der Parteipolitiker, die 
Lehre seiner Partei sei die allein vernünftige und gerechte, so 
wirken sie viel überzeugender, als wenn sie rein sachlich reden 
würden. Auch die Fähigkeit zu moralischem Pathos und der 
mitleiderregende „Schmerzenszug" sind dabei sehr nützlich. In 
revolutionären Bewegungen spielen hysterisch veranlagte Ju- 
den eine große Rolle, weil sie sich auch in utopische Vorstel- 
lungen hineinversetzen und daher mit weitgehender innerer 
Wahrhaftigkeit den Massen überzeugende Versprechungen ma- 
chen können. 



DIE JUDEN. 



753 



Nicht nur Marx und Lassalle waren Juden, sondern auch in der jüngst 
verflossenen Gegenwart Eisner, Rosa Luxemburg, Levlne, Toller, Landauer, 
Trotzki, Szamaely u. a. Kahn*), der die jüdischen Revolutionäre als Er- 
löser der Menschheit preist, sieht in ihnen „die spezifisch jüdische Art der 
Wellauffassung und der geschichtlichen Aktivität". 

Die jüdische Rasse ist von Schiclcedanz 2 ) als eine Rasse von 
Parasiten geschildert worden. Zweifellos können die Juden zu einem schwe- 
ren Schaden für ein Wirtsvolk werden; und es ist kein Zufall, daß, solange 
es Juden gibt, es auch judenfeindliche Bewegungen, Judenverfolgungen 
und Judenaustreibungen gegeben hat. Ein Lebewesen gedeiht besser ohne 
Parasiten. Andererseits gedeiht ein Parasit am besten auf einem leicht ge- 
schwächten Wirt. Wenn der Parasit den Wirt zugrunderichtet, so geht'er 
aber mit ihm zugrunde. Daher geht das Judentum auch nicht auf Zu- 
grunderichtung seiner Wirtsvölker aus. Es würde sich damit seiner Exi- 
stenzgrundlage berauben. Aber auf ganz starken Völkern gedeiht es auch 
nicht. An einer gewissen Zersetzung der Wirtsvölker ist es daher interessiert. 

An Straftaten sind die Juden im Deutschen Reich etwas 
weniger beteiligt als die sonstige Bevölkerung. Da es eine 
Kriminalstatistik nach der Rassenzugehörigkeit bei uns nicht 
gibt oder doch bisher nicht gab, ist man auf Schlüsse aus der 
Kriminalität der Konfessionen angewiesen. Leider sind in 
der Reichskriminalstatistik darauf bezügliche Feststellungen 
unterdrückt worden; man ist daher auf die älteren Zahlen an- 
gewiesen. In dem Jahrzehnt 1892— 1901 kamen im Deutschen 
Reich auf 100 000 strafmündige Personen 1207 Verfehlungen 
im Durchschnitt. Nach Konfessionen gesondert: 

Katholiken Evangelische Juden 

Verfehlungen überhaupt 1361 1 1 12 1030 

Einfache Körperverletzung 67,0 5^,7 44^0 

Gefährliche Körperverletzung 314,1 1 85,5 75 3 

Betrug 68,2 57,5 U2 '8 

Die im ganzen etwas geringere Straf fälligkcit der Juden 
bestätigt uns die Regel, daß Intelligenz bis zu einem gewissen 
Grade vor Übertretungen schützt. Es mag allerdings sein, daß 
sie mehr noch vor dem Gefaßtwerden schützt. Die geringere 
Kriminalität der Juden war zum guten Teil auch wohl auf 'ihre 
im Durchschnitt bessere wirtschaftliche Lage zurückzuführen. 
Um die Gesamtkriminalität der Juden objektiv beurteilen zu 
können, müßte man sie eigentlich mit jenem Teil der nicht- 
jüdischen Bevölkerung vergleichen, der sich in derselben wirt- 
schaftlichen Lage befindet. 

v ) Kahn, F. Die Juden als Rasse und Kulturvolk. 3. Aufl. Berlin 
1922. Welt-Verlag. 

2 ) Schick edanz, A. Sozialparasitismus im Völkerlebcn. Leipzig 
o. J. (1927). 



!B a 11 r - F ä s c h e r - 1, c 11 z I. 



-1S 



75' 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Die größere Häufigkeit der Körperverletzung bei den 
Christen ist sicher nicht der Religion der Liebe zur Last zu 
legen; hier ist vielmehr die andere Rassenveranlagung ent- 
scheidend. Entsprechendes gilt auch für den Unterschied zwi- 
schen Katholiken und Evangelischen. Die Juden schneiden 
gegenüber den Christen auch günstig ab bei einfachem Dieb- 
stahl (80 gegen 231), schwerem Diebstahl (11 gegen 33), un- 
günstig dagegen bei Beleidigung (200 gegen 143), Betrug 
(113 gegen 61), Urkundenfälschung (25 gegen 13). Bei dem 
Zustandekommen dieser Unterschiede spielt die soziale Lage 
und insbesondere die Berufstätigkeit eine Rode. Zugleich aber 
wirken die Rassenunterschiede in derselben Richtung. Auch 
Aschaffenburg 1 ) ist der Ansicht, daß sich die Rassenver- 
anlagung der Juden in der Eigenart ihrer Kriminalität auswirkt. 

Durch den Fall Barmat und den Fall Kutisker, die im Winter 1924/25 
bekannt wurden, wurde es schlaglichtartig deutlich, wie' frisch eingewan- 
derte Ostjuden während der Kriegs- und Revolutionszeit durch gewissenlose 
Ausnützung der verworrenen Wirtschaftslage zu großem Reichtum und weit- 
gehendem Einfluß auf das wirtschaftliche und politische Leben in Deutsch- 
land gelangt waren. Im Jahre 1929 kam noch der Fall Skiarck dazu. Auch 
der Fall Sklarz aus den Jahren 1919/20 gehört in dieselbe Reihe. Es wäre 
gewiß ungerecht, wenn man allen Ostjudcn Geschäfte wie die der Gebrüder 
Sklarz, Gebrüder Barmat, Gebrüder Kutisker und Gebrüder Skiarck zutrauen 
würde; aber daß es reiner Zufall gewesen sei, daß es Ostjuden waren, 
welche diese Geschäfte machten, wird man andererseits auch nicht behaup- 
ten können. 

Wenn auch die genannten gemeinschädlichen Eigenschaf- 
ten mancher jüdischer Elemente in die Augen springen, so soll 
man doch auch die positiven Eigenschaften der Juden nicht 
übersehen. Man tut nicht gut daran, einen Gegner zu unter- 
schätzen, weder intellektuell noch moralisch. Die Juden zeich- 
nen sich durch ausgesprochenen Familiensinn, starkes Zusam- 
mengehörigkeitsgefühl und gegenseitige Hilfsbereitschaft aus. 
Die Nüchternheit des Juden gegenüber dem Alkohol könnte 
für den Germanen vorbildlich sein. 

Der jüdische Geist ist neben dem germanischen eine 
wesentliche treibende Kraft der modernen abendländischen 
Zivilisation gewesen. Auch das Christentum als eine der Grund- 
lagen dieser Zivilisation ist aus dem Judentum geboren. Das 
Christentum mit seiner Lehre der Gleichheit aller Menschen 
vor Gott, d. h. der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller 
Menschen, hat seinerseits die Ausbreitung des Judentums we- 
sentlich gefördert. 
"~~ yÄXo.(v g i.S. 744). 



DIE JUDEN. 



755 



Material über die geistige Veranlagung der Juden findet sich einerseits 
in dem „Handbuch der Judenfragc" von Theodor F r i t s c h (36. Aufl., 
Leipzig 1934, Hammer-Verlag), in dem Buch „Die Juden in Deutschland", 
2. Aufl. München 1935, F. Eher Nachf., anderseits in dem „Philo-Lexi- 
kon", Berlin 1936. Philo-Verlag und in der Schrift von Felix A. Theil- 
haber „Schicksal und Leistung der Juden in der deutschen Forschung 
und Technik", Berlin 1931, Welt-Verlag. Da in den beiden ersten Büchern 
die für die Juden ungünstigen Tatsachen und in den beiden andern die gün- 
stigen zusammengestellt sind, kann der, dem es nicht um ein einseitiges Bild 
zu tun ist, aus diesen zusammen ein einigermaßen vollständiges Bild gewin- 
nen. Um ein solches hat sich Günther in der Rassenkunde des jüdischen 
Volkes (München 1930, J. F. Lehmann) bemüht, auch der Zionist 
Arthur Kupp in in der „Soziologie der Juden", Berlin 1930. Jüdi- 
scher Verlag. 

Die Leugnung wesenhafter Rassenunterschiede ist eine Lehre, die sich 
aus der jüdischen Eigenart und ihren Lebensbedingungen ergibt. Aus dem 
Wunsch, daß es keine unüberbrückbaren Rassenunterschiede geben möge, 
erklärt sich die Neigung der Juden zum Lamarekismus, der Lehre von 
einer „Vererbung erworbener Eigenschaften". Die Wortführer des Lamark- 
kismus sind zum größten Teil, seine Gegner dagegen nur zum sehr kleinen 
Teil Juden oder jüdischer Abstammung. Wenn es eine Vererbung erwor- 
bener Eigenschaften gäbe, so würden die Juden durch ihr Leben in der 
germanischen Umwelt und die Aneignung der germanischen Kultur zu 
echten Germanen werden können. So wird es verständlich, warum der La- 
marekismus den Juden, die ihrer Wesensart nach ihr Fortkommen als Min- 
derheit unter anders gearteten Bevölkerungen suchen müssen, zusagt. Der 
jüdisch-lamarckistische Schriftsteller Kammer er hat erklärt, daß die 
„Leugnung der Rassenbedeutung erworbener Eigenschaften den Rassenhaß" 
fördere. Dieser eifrigste Anwalt des Lamarekismus ist im Jahre 1926 aus 
dem Leben geschieden, nachdem ihm Noble 1 ) nachgewiesen hatte, daß 
die dunklen Brunstschwiclcn bei einem Exemplar der Geburtshelferkröte, 
das Kammer er als Beleg vorzeigte, nicht durch Vererbung erworbener 
Eigenschaften, sondern durch Einspritzung von Tusche erzeugt waren. 
Schon vorher hatte M e g u a a r , ein Mitarbeiter Kammer er s, mit dem 
er sich überworfen hatte, ausgesagt, daß er von den zahreichen Befunden, 
die Kämmerer als Belege für die Vererbung erworbener Eigenschaften 
veröffentlicht hatte, nie etwas wahrgenommen habe, obwohl er die betreffen- 
den Zuchtversuche zehn Jahre lang vor Augen gehabt habe. 

Gelegentlich wird die jüdische Eigenart, soweit sie nicht geleugnet 
wird, als eine Folge von Unierdrückimg in der Ghettozeit hingestellt, so 
von dem früheren Marburger Philosophieprofessor N a t o r p. Das An- 
derssein der jüdischen Seele wird auf diese Weise als Schuld gedeutet, 
und zwar als eine Schuld der NichtJuden. Daraus wird dann die Folge- 
rung gezogen, daß die Juden nicht nur völlig in die Volksgemeinschaft 
aufgenommen werden müßten, sondern daß man ihnen mit doppelter Liebe 
entgegenkommen müsse; dann werde auch ihre Eigenart sich ändern. Na- 
türlich sind das lamarekistische Illusionen. Die Eigenart der Juden ist 
nicht ein direktes Produkt ihrer Umwelt, sondern ein Züchtungsprodukt der 
Lebensbedingungen, unter denen sie seit Jahrtausenden stehen. 

') Noble, G. K. Kammerers Alytes. In der Zeitschrift „Nalure". 
Bd. 118. Aug. 1926. S. 209. 



756 



{-'RITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Auch die Abneigung der Juden gegen den Krieg kann als Folge von 
Auslesevorgängen verstanden werden. Als der alte Judenstaat stärkeren 
Nachbarn politisch unterlag, wurden vorab die kampfesmutigsten Familien 
ausgetilgt, z. E. in den. blutigen Kämpfen der Makkabäcr gegen die Ptole- 
rnäer. Die unterwürfigen Bevölkerungsteile dagegen blieben erhalten. Wäh- 
rend der römischen Kaiserzeit, wo die Juden im Orient mehrere revolu- 
tionäre Erhebungen anstifteten, wurde bei der Niederschlagung der Auf- 
stände mehrfach die Hauptmasse der in der Heimat verbliebenen Juden 
niedergemetzelt, so unter Titus, Trajan und Hadrian. Vorher aber hatten 
sich Hunderttausende von Juden als Händler, als Leibsklaven vornehmer 
Römer und in anderen Stellen, wo es auf die Geschicklichkeit im Umgang 
mit Menschen ankam, über das römische Reich zerstreut"; und von dieser 
eigenartigen Auslese stammt die Judenhcit der späteren Zeit in der Haupt- 
sache ab. Auch die vielen blutigen Verfolgungen, denen die Juden während 
des Mittelalters und bis in die neuere Zeit ausgesetzt gewesen sind, haben 
in gleicher Richtung züchtend gewirkt. 

Wenn hier in erster Linie die Unterschiede in der 
Veranlagung der Juden und Germanen hervorgehoben wurden, 
so darf man doch auch nicht übersehen, daß beide in wesent- 
lichen geistigen Anlagen sich ähnlich sind, und zwar gilt das 
besonders, wenn man unter „Germanen" Menschen der schlan- 
ken blonden Rasse versteht. Beide zeichnen sich durch hohe 
Verstandesbegabung und Willensstärke aus; beide haben gro- 
ßes Selbstbewußtsein, Unternehmungsgeist und einen ausge- 
sprochenen Herrenwillen, nur mit dem Unterschied, daß der 
Germane seinen Willen mehr mit Gewalt, der Jude mehr mit 
List durchzusetzen geneigt ist. An Geschäftstüchtigkeit werden 
die Juden von nordischen Hanseaten, Schotten und Yankees 
eher übertroffen. Auch der schlanke blonde Herrenmensch 
neigt dazu, sich über andersartige Bevölkerungen auszubreiten 
und dort eine Herrenschicht zu bilden. Auch er überläßt die 
körperliche Arbeit lieber anderen. 

Diese ähnlichen Züge dürften darauf zurückzuführen sein, daß das 
schlanke blonde („nordische") Rassenelement, das in die Germanen einge- 
gangen ist, dein schlanken dunklen („orientalischen") Rassenelement, das 
in die Juden eingegangen ist, stammesgeschichtlich verwandt ist. Viel we- 
niger verwandt sind offenbar das schwere blonde („täusche") Rassenele- 
ment, das wohl den Hauptteil der germanischen Erbmasse, zumal der bäuer- 
lichen Bevölkerung bildet, und das untersetzte dunkle (vorderasiatische), 
das den Hauptteil der Erbmasse des Judentums gestellt hat. Der schwere 
germanische Bauerntypus bildet recht eigentlich den Gegenpol des jüdi- 
schen Häncllcrtyps. 

Im Vorhergehenden wurde mehrfach auf Zusammenhänge 
zwischen der körperlichen Gestalt und der seelischen Eigenart 
hingewiesen. Auch in dem Abschnitt über die Erblichkeit der 
Begabung ist über Beziehungen zwischen Begabung, Tempe- 
rament und Charakter einerseits und körperlichen Merkmalen 



RASSENSEELE UND HABITUS. 



757 



andererseits berichtet worden. Es bleibt nun noch zu erörtern, 
welcher Art die Beziehungen zwischen der geistigen Eigenart 
und den körperlichen Rassenmerkmalen sind. Daß solche Be- 
ziehungen bestehen, ist zweifellos. Die von Kretsclimer 
und anderen abgegrenzten Habitusformen bilden Teile der 
Rassentypen. So gehört der schlanke (leptosome) Habitus zum 
Bilde der nordischen Rasse; und es ist nicht zu verkennen, 
daß die nordische Rasse seelisch von „schizothymer" Veran- 
lagung im Sinne Kretschmers ist. Der untersetzte (pyk- 
nische) Habitus gehört zum Bilde der mongoliden Rassen (und 
der vorderasiatischen) ; auch hier stimmt die seelische Veran- 
lagung dieser Rassen gut damit überein, insofern als man die 
„zyklothymen" Züge, die Kretsclimer von den Pyknikern 
beschrieben hat, auch im seelischen Bilde dieser Rassen findet. 
Der athletische Habitus gehört zum Bilde des schweren blon- 
den Typus; und auch in diesem Falle passen die Erfahrungen 
Kretschmers über die schizothyme Veranlagung des athle- 
tischen Typus gut zu dem seelischen Bilde des schweren blon- 
den Typus. Die kleine unruhige mediterrane Rasse unterschei- 
det sich von der schweren blonden Rasse seelisch in ähnlicher 
Richtung wie ein kleiner unruhiger Tcrrier von einem großen 
bedächtigen Bernliardiner. DiedysplastischenKonstitutionstypen 
Kretschmers kommen hier nicht in Betracht, weil sie auf 
krankhaften Anlagen beruhen und keine Beziehungen zu den 
normalen Unterschieden der großen Rassen haben. 

Man hat schon lange beobachtet, daß Stämme von Jägern, Hirten- 
nomaden und Seefahrern schlank und langköpfig zu sein pflegen, Stämme 
von seßhaften Ackerbauern und Handwerkern dagegen mehr untersetzt und 
breitköpfig. Offenbar besteht eine Korrelation von Schlankheit und Schmal- 
köpfigkeit mit Beweglichkeit und Drang in die Ferne einerseits, von unter- 
setztem Bau und B reitköpf igkeit mit Behäbigkeit und Seßhaftigkeit anderer- 
seits 1 ). Die schlanken Formen finden sich einerseits häufiger in eingewan- 
derten Bevölkerungen, z. B. unter den Nordamerikanern vertreten, anderer- 
seits m den oberen sozialen Ständen, die eine Auslese regsamer Rassen- 
elemente darstellen. Die untersetzten Formen dagegen wiegen in soge- 
nannten Rückzugsgebieten (Gebirgen usw.) einerseits, in den unteren Stän- 
den andererseits vor*)*). Natürlich sind Temperament und Charakter nicht 
von der Körper- und Kopfform als solcher abhängig; der Zusammenhang 
beruht vielmehr zum großen Teil auf Hormonwirkung, die ihrerseits haupt- 
sächlich auf die erbliche Veranlagung zurückgeht. 

Drese Unterschiede hängen mit der Entstehung der Menschenrassen 
selber zusammen. Die menschlichen Rassen sind Züchtungsprodukte des 

*) Stockard, Ch. R. Human types and growth reaedons. American 
Journal of Anatomy. Bd. 31. Nr. 3. 1923. 

2 ) Bean, R. B. The two European types. Ebenda Bd. 3t. Nr. 4. 



758 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Klimas und der ökologischen Lebensbedingungen. Für die seelische Eigen- 
art der Rassen ist insbesondere die Züchtung durch die Wirtschaftsweise 
entscheidend gewesen. 

Die älteste Wirtschaftsform ist die Sammclwir tschaft, in der der pri- 
mitive Mensch seine. Nahrung unmittelbar aus der Natur entnimmt. Aus 
dieser Urwirtschaft gingen, nach der einleuchtenden Hypothese von Graeb- 
ner und W. Schmidt zwei primäre. Kulturkreise hervor, der vaterrecht- 
liche Kulturkrcis der Jäger und der muttcrrechtliche Kulturkreis der primi- 
tiven Hackbauer oder Pflanzer. Im Kulturkreis der Jäger und in dem aus 
ihm hervorgehenden der Wanclerhirte.11 wurde durch natürliche Auslese der 
leptosome Typus mit langen Gliedmaßen gezüchtet, im Kulturkreis der 
Pflanzer dagegen der untersetzte Typus mit kurzen Gliedmaßen (Kern). 
Der Jäger und Nomade mußte vor allen Dingen beweglich sein. Das war 
für eleu primitiven Pflanzer nicht nötig; für Um. war Seßhaftigkeit vorteil- 
hafter; er bedurfte zur Ausnutzung seiner viel weniger nahrhaften und da- 
her umfangreicheren Nahrung großer Vcrdauungsorganc, die nur in einer 
großen Leibeshöhle Platz finden konnten. Der Jäger und Nomade bedurfte 
keines großen Bauches, da seine Nahrung viel hochwertiger war; er würde 
durch einen solchen nur behindert worden sein; bei ihm mußten die Organe 
der Brust, das Herz und die Lunge im Interesse der Bewegung stark ent- 
wickelt sein. So wurden die Jäger und PTirtcnnomnden gewissermaßen als 
Brustrasse, die Pflanzer als Bauchrasse gezüchtet 1 ). Für die Be- 
wegungsrassen war Magerkeit von Vorteil; die seßhaften Rassen dagegen 
konnten mit Hilfe ihres Fettansatzes besser über Zeiten des Hungers hin- 
wegkommen. 

Die derart verschieden gezüchteten Typen sind auch in ihrer seelischen 
Wesensart verschieden. Die Bewegungsrassen sind im allgemeinen aucli 
geistig beweglich, unternehmend, angriff slustlg, herrisch, großzügig, die 
Pflanzerrassen seßhaft, genügsam, ausdauernd, arbeitsam, friedlich, gesellig. 
Die Bewegungsrassen unterscheiden sich von den Pflanzerrassen körperlich 
und seelisch ähnlich wie das männliche vom weiblichen Geschlecht. Im 
wesentlichen hat schon Gustav Klcra m den Gegensatz der Bewegungs- 
rassen und der Pflanzerrassen richtig gesehen, als er in seiner „Allgemei- 
nen Kulturgeschichte" die „aktiven" und die ,, passiven" Rassen einander 
gegenüberstelltc (1H43) 3 ). 

Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, sei ausdrücklich 
gesagt, daß nicht alle Bewegungsrassen untereinander stammesgeschichtlich 
direkt verwandt zu sein brauchen. Es sind vielmehr offenbar Bewcgungs- 
wie Pflanzerrassen in verschiedenen Ländern auf verschiedener sonstiger 
rassischer Grundlage entstanden. Im Bereich der negriclen wie der mongo- 
liden und der europiden Rassen kommen beide Typen, vor. Ob z. B. die 
schlanken Typen unter den Nordchinesen mit den schlanken europiden 
Typen einerseits, die untersetzten Typen unter beiden Gruppen andererseits 
auf gemeinsame oder stammesgeschichtlich direkt verwandte Erbanlagen 
zurückgehen, ist fraglich, immerhin nicht unmöglich. 

Reine Jägerstämme gibt es in Europa seit Jahrtausenden nicht mehr, 
II irtennomaden stamme nur in Resten, und reine Pflanzerstämme auch nicht 



1 ) Vgl. den Typus respiratorius und den Typus digestivus Sigauds. 

2 ) Die einschlägigen Abschnitte aus Klemms Buch sind abgedruckt 
in Woltmanns Arbeit „Klemm und Gobineau". Politisch-anthropolo- 
gische Revue. Bd. 6. H. ri. S. 673. 190S. 



RASSEN MERKMALE UND SEELE. 



759 



mehr. Es hat sich vielmehr eine Kombination von Kulturelcmenten als er- 
haltungsgemäßcr erwiesen. Seit der jüngeren Steinzeit ist die Grundlage 
der europäischen Kultur die bäuerliche Wirtschaft, die Elemente der Pflan- 
zerkultur mit Elementen der Plirtenkultur vereinigt; und diese bäuerliche 
Kultur züchtet den Bauern, der die Bodenständigkeit des Pflanzers mit dem 
Herrentum des Llirtenkricgers in sich vereinigt. Das Musterbeispiel ist der 
schwere blonde Typus des germanischen Bauern. 

Ein anderer Kombinationstypus ist der des Händlers. Dieser ver- 
einigt in sich die Beweglichkeit des Hirtennomaden mit dem Einfühlungs- 
vermögen des Pflanzers. Als Musterbeispiel einer Händlcrrasse kann die 
jüdische gelten. Stämme von Hirtennomaden sind darauf gezüchtet, Her- 
dentiere nach ihrem Willen zu lenken und auszunutzen. Sie sind' nicht 
dazu geschaffen, dichte Siedlungen und große Gemeinwesen zu bilden. 
Große Siedlungsdichte erfordert vorwiegend vegetabilische Nahrung. Her- 
dentiere sind stets Vegetarier. 

Da in einer gemischten Bevölkerung die verschiedenen 
Erbeinheiten sich unabhängig voneinander durch die Genera- 
tionen fortsetzen, kann man in einer solchen Bcvölkerung 
aus den körperlichen Merkmalen eines Menschen nicht einfach 
auf seine seelischen Rassenanlagen schließen. Es ist z.B. durch- 
aus möglich, daß ein helläugiger blonder Mensch eine seelische 
Verfassung habe, wie sie sonst einer dunklen Rasse zukommt. 
Mit größerer Wahrscheinlichkeit als aus derartigen körper- 
lichen Rassenmerkmalen kann man aus der Abkunft eines 
Menschen auf seine seelischen Rassenanlagen schließen. Unter 
niedersächsischen Bauern stellt ein kleiner kurzköpfiger dun- 
kelhaariger Mensch eine Ausnahme dar; er hat aber trotzdem 
mit viel größerer Wahrscheinlichkeit nordische Anlagen der 
Seele als z. B. ein großer blonder langköpfiger Jude. Auch' ein 
blonder Jude ist eben ein Jude. In der Gesetzgebung des na- 
tionalsozialistischen Staates ist der Begriff des „Nichtariers" 
daher mit gutem Grund nicht von äußeren Rassenmcrkmalen, 
sondern von der Abstammung abhängig gemacht. Auch in 
der Einwanderungsgesetzgebung der Vereinigten Staaten ist 
die Rasse nicht nach äußeren Merkmalen, sondern nach 
der Abstammung aus bestimmten Bevölkerungen berück- 
sichtigt. 

Es ist auch zu bedenken, daß Menschen, die gleich große 
Anteile ihrer Erbmasse von denselben Rassen haben, rassisch 
darum nicht gleich zu sein braudien. Es kommt auch darauf 
an, welche Anlagen sie von den verschiedenen Rassen haben. 
Entsprechend brauchen auch Bevölkerungen, in die gleich 
große Anteile gleicher Rassen eingegangen sind, rassisch nicht 
gleich zu sein. Je nach den Auslesebedingungen können näm- 



760 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



lieh" in einer Bevölkerung diese und in einer andern jene Erb- 
anlagen erhalten geblieben sein. Weiter ist daran zu erinnern, 
daß benachbarte Rassen große Teile ihrer Erbmasse gemein- 
sam haben können, etwa die nordische mit der „tauschen" und 
der „ostbaltischen", falls man diese überhaupt als besondere 
Rassen ansehen will. Es geht daher nicht an, für einen Men- 
schen oder eine Bevölkerung bestimmte Hundertsä,tze ihrer 
Rassenbestandteile anzugeben. 

Soviel wir wissen, haben jene Erbanlagen, die Haut-, 
Haar- und Augenfarbe bedingen, gar keine direkte Beziehung 
zu der seelischen Eigenart, unbeschadet der Tatsache, daß sie 
bei Betrachtung großer Erdteile oder gar der Erdbevölkerung 
im ganzen in Korrelation mit geistigen Eigenschaften stehen. 
Bei einem „Schwarzen" setzen wir mit gutem Grund auch die 
geistige Eigenart eines Negers voraus. In jener afrikanischen 
Umwelt, die die schwarze Hautfarbe herausgezüchtet bat, sind 
zugleich auch bestimmte geistige Eigenschaften herausgezüch- 
tet worden. Entsprechend ist im Gebiet der nordischen Rasse 
die helle Hautfarbe zugleich mit der seelischen Eigenart der 
nordischen Rasse herausgezüchtet worden. Wenn wir ganz 
Europa oder noch deutlicher die ganze Erdbevölkerung ins 
Auge fassen, so besteht eine offenbare Korrelation zwischen 
weißer Haut und nordischer Geistesart, innerhalb einer lokalen 
Bevölkerung dagegen nicht. Brünette Hamburger sind im 
Durchschnitt geistig sicher nicht wesentlich anders veranlagt 
als blonde. 

Bedeutungsvoller sind Unterschiede der Gestalt. Schlanke 
Hamburger sind im Durchschnitt nach Temperament und Cha- 
rakter anders veranlagt als untersetzte. Gewisse Eigenschaften 
der Gestalt und der Seele sind von denselben Erbeinheiten ab- 
hängig (vgl- S. 703). Und da schlanke Gestalt zum Bilde der 
nordischen Rasse gehört, bietet ein solches Merkmal auch 
einen Anhaltspunkt für nordische Geistesart. Einen Anhalts- 
punkt, nicht mehr; und auch das nur für gewisse Seiten des 
Seelenlebens. Zwischen Verstandesbegabung und Schlank- 
heit bzw. Untersetztheit scheint iceine direkte Beziehung zu 
bestehen. 

Vermutlich äußern sich die meisten jener Erbanlagen, aus denen die 
geistige Wesensart eines Menschen sich aufbaut, auch in irgendwelchen kör- 
perlichen Merkmalen oder Zügen (Form des Kopfes, des Gesichts, der 
Nase usw.), die als solche recht geringfügig erscheinen können. Weiter ist 
daran zu erinnern, daß die Rassenunterschiede zum großen Teil in Untcr- 



RASSENA4ISCHUNQ UND SEELE. 



761 



schieden der Hormonorgane bestehen') 3 ), und daß die innere Sekretion die- 
ser Organe nicht nur die Körpcrgestaltung, sondern auch das Seelenleben 
beeinflußt. So wird es verständlich, daß die körperliche .Erscheinung we- 
sentliche Anhaltspunkte für die geistige Eigenart bietet, zumal wenn auch 
die Art der Bewegungen und der Gesichtsausdruck berücksichtigt werden. 
Wie die seelische Eigenart der Rassen in Physiognomie und Mienenspiel 
zum Ausdruck kommen, hat CJausz 3 ) mit großem Geschick zu zeigen ver- 
sucht. Gewarnt werden muß aber davor, einen Menschen nach einigen we- 
nigen körperlichen Merkmalen einer bestimmten Rasse zuzuteilen und ihm 
danach die seelische Eigenart dieser Rasse zuzuschreiben (?.. B. Beethoven: 
„vorwiegend ostisch"). Ein solches Verfahren ist zwar sehr beliebt, aber 
unwissenschaftlich und auch praktisch bedenklich. Die erbliche Grundlage 
der seelischen Eigenart und auch der körperlichen Erscheinung ist viel zu 
kompliziert, um ein derartiges schematisches Vorgehen zu gestatten. 

Im Vorhergehenden ist vielfach schon die Frage der 
Rassenmischung gestreift worden . Diese ist gerade wegen 
der Folgen für die geistige Eigenart von größter Tragweite. 

Vielfach ist die Ansicht verbreitet, elaß bei Rassenmischun- 
gen regelmäßig die Geistesart der niederen Rasse durchschlage, 
ja, daß die Mischlinge sogar minderwertiger seien als beide 
Elternrassen. So wird von den Mischlingen in den Küstenstri- 
chen Afrikas, Mittel- und Südamerikas berichtet, daß sie sitt- 
lich tiefer stehen als die reinen Neger oder Indianer, während 
sie an Intelligenz diesen ebenbürtig oder überlegen seien. Ver- 
mutlich ist die Minderwertigkeit dieser Mischlinge zum großen 
Teil das Ergebnis einer Auslese. Die Weißen, welche mit ein- 
geborenen Weibern Mischlinge erzeugen, stellen dem Charak- 
ter nach eine ungünstige Auslese dar, und die eingeborenen 
Weiber, welche sich zum Verkehr mit Weißen hergeben, sind 
vielfach ebenfalls von haltlosem Charakter, kein Wunder, daß 
es dann auch die Mischlinge zum großen Teil sind. 

Die Mischlinge zwischen Europäern und Mongolen in Ostasien (,,half- 
casts") werden als leichtsinnig und leichtlebig geschildert. Von beiden 
Gruppen gehen eben hauptsächlich leichtsinnige Individuen vorübergehende 
Verbindungen ein, aus denen Mischlinge entstehen. Hoilmann 4 ) hat be- 
richtet, daß nach seinen Erfahrungen jene Individuen, die in den Südstaaten 
Nordamerikas an Mischehen und an ungesetzlichen Verbindungen zwischen 



t) Paulsen, j. Wesen und Entstehung der Rasscnmerkmale. Archiv 
für Anthropologie. Bd. 18. 1921. 

2 ) Kcith, A. The evolution of human races in the ligtht of tue hor- 
raone theory. Bull, of the Johns Hopkins hospital. Bd. 33. 1922. 

3 ) Siehe Literaturverzeichnis. 

*) Hofimann, F. L. Race Iraks and (endendes of the American 
negro. New York 1896. 

Hoff mann, F. L. Ncgro-white intermixture and intermarriage. In 
„Eugenics in race and State". Baltimore 1923. Williams and Wilkins Co. 



762 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



Weißen und Farbigen beteiligt sind, weit unter dem Durchschnitt beider 
Rasscn stehen. In der Sklavcnzeit scheint das anders gewesen zu sein; da- 
mals bekamen vorzugsweise die hübschesten Sklavinnen Kinder von ihren 
Herren 1 ). 

Wo keine ungünstige Auslese vorliegt, da ist auch keine 
Minderwertigkeit der Mischlinge im Vergleich zu der farbigen 
Stammrasse die Folge. Das gilt z. B. von den von Fischer 2 ) 
beschriebenen Bastards von Rehoboth, den Nachkommen von 
holländischen Kolonisten und ■ Hottentottinnen, die jene als 
rechtmäßige Ehefrauen nahmen. Fischer hat gefunden, daß 
die Bastards den reinen Hottentotten nicht nur an Intelligenz, 
sondern auch an Charakter überlegen sind, während sie ande- 
rerseits den Buren an Kulturbegabung erheblich nachstehen. 

Der Satz: „Der Bastard folgt der ärgeren Hand" ist nicht Ausdruck 
einer Erfahrung über die Beschaffenheit der Mischlinge, sondern ein 
praktischer Grundsatz, durch den sich eine herrschende Rasse gegen die 
Vermischung mit einer niederen wehrt. 

Es ist meines Erachtens nicht zu bezweifeln, daß Rassen- 
mischung oft zu körperlich und geistig disharmonischen Typen 
führt. Die einzelnen Erbanlagen jeder Rasse sind durch natür- 
liche Auslese im Laufe ungezählter Generationen aneinander 
angepaßt, und durch ; Mischung kann diese Harmonie gestört 
werden. Die Mischlinge der Fi-Generation haben von beiden 
Eiterrassen wenigstens noch je einen in sich harmonischen Satz 
von Erbeinheiten. In den späteren Generationen dagegen treten 
alle möglichen Kombinationen auf, die, wenn es sich um eine 
Kreuzung einander fernstehender Rassen handelt, ihrer über- 
wiegenden Zahl nach disharmonisch sind. Andererseits brau- 
chen nicht alle Kombinationen disharmonisch zu sein; einzelne 
können vielmehr besonders schön oder leistungsfähig sein. 

Ohne Rassenkreuzung wäre keine rationelle Pflanzenzüch- 
tung möglich; und auch in der Tierzüchtung arbeitet man mit 
Rassenkreuzung. Selbst von Artkreuzungen hat man mit Erfolg 
Gebrauch gemacht. So sind unsere großfrüchtigen Gartenerd- 
beeren aus der Kreuzung einer nord- und einer südamerikani- 
schen Art hervorgegangen, die Gartensorten der Feuerlilien 
aus der Kreuzung einiger europäischer und ostasiatischer Arten. 
Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Durch Kreu- 
zung entsteht eine große Mannigfaltigkeit der Formen. Und 

x ) Zitiert nach Holmes, S. J. The trend of the racc. New York 
1921, Harcourt u. Brace. 

2 ) Fischer, E. Die Rehobother Bastards und das Bastardierungs- 
problcm beim Menschen. Jena 1913. G. Fischer. 



RASSENMISCHUNG UND SEELE. 



763 



wenn auch die allermeisten dieser Formen unbrauchbar sind, 
so kann der Pflanzenzüchter doch einzelne davon auswählen 
und vermehren, während die weniger brauchbaren einfach 
ausgemerzt werden. Diese Auslese ist das Entscheidende. 
Ohne sie ist die Masse der Mischungskombinationen für 
den Pflanzen- und Tierzüchter minderwertiger als die Aus- 
gangsrassen, 

Man stelle sich eine Ausstellung von Rassehunden vor. Die dort ge- 
zeigten Rassen sind seit langen Generationen gezüchtet nach Form und 
Leistung, wie es die Richtlinien der Hundezüchter vorschreiben. Man sieht 
dort Schäferhunde, Hühnerhunde, Teckel, Doggen, Terrier, Bernhardiner 
usw. Wenn alle diese in einem großen Gehege untergebracht und freier 
Paarung überlassen würden, so würde eine sehr bunte Population entstehen, 
die vom Standpunkt der Hundezüchtcr höchst minderwertig wäre. Kaum 
noch ein einziger von diesen Hmidcmischlingen würde nach Form und 
Leistung Aussicht haben, auf einer neuen Ausstellung einen Preis zu be- 
kommen. Und doch würden unter einer großen Zahl solcher Hunde einzelne 
zu finden sein, die in bestimmten Leistungen jede der Ausgangsrasscn 
überträfen, die z. B. als Blindenhunde oder als Polizeihunde oder für In- 
tclligcnzprüfungen besonders geeignet wären. Die alten Rassen waren nach 
bestimmten Forderungen gezüchtet. Wenn nun die Umwelt neue Forderun- 
gen stellt, so werden diesen Forderungen wahrscheinlich am besten Tiere 
entsprechen, die gewisse Anlagen verschiedener Ausgangsrassen in sich ver- 
einigen. Es könnten mithin aus der gemischten Population neue Rassen 
für neue Zwecke gezüchtet werden. Und auf einer neuen Ausstellung, die 
die Leistungen nach diesen neuen Zwecken beurteilen würde, würden diese 
neuen Rassen die Preise bekommen. Wenn nun abermals allgemeine Ver- 
mischung stattfände, so würde die Mannigfaltigkeit gegenüber der ersten 
Mischpopülation nicht mehr gesteigert werden, da ja alle möglichen Kom- 
binationen schon in jener verwirklicht waren. Die neue Kreuzung würde 
also nur noch schädlich sein. 

Wenn die Hundepopulation nicht nur freier Paarung überlassen, son- 
dern auch sonst sieh selbst überlassen, d. h. auch nicht mehr gefüttert wer- 
den würde, so würden fast alle Hunde zugrundegehen. Nur einige wenige 
würden sich in freier Wildbahn von Hasen und anderem Wild ernähren 
können; und diese würden vermutlich dem Typus des wilden Hundes, des 
Wolfes, recht ähnlich sein. Durch natürliche Auslese würde wieder eine 
Rasse herausgezüchtet werden, wie sie schon einmal ganz ähnlich in ähn- 
licher Umwelt entstanden war. Dieser wilde Hund aber würde wieder für 
die Leistungen, die der Mensch von den verschiedenen Hunderassen ver- 
langt, weniger geeignet sein. Es kommt in der Frage nach den Folgen der 
Rassenmischung also auch sehr darauf an, was von einem Lebewesen ver- 
langt wird, d. h. auf Wertgesichtspunkte. 

Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß Rassenmischung 
der Entstehung hoher vielseitiger Begabung förderlich sein 
kann. In der Tat sind unter den sogenannten Geni.es reine 
Rassetypen nicht die Regel. Die indogermanischen Stämme, 
die im alten Indien, Griechenland, Italien eingewandert sind, 



764 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



haben den größten Glanz ihrer Kultur erst in Zeiten entfaltet, 
als schon mannigfache Mischungen mit der Urbevölkerung 
stattgefunden hatten. Krctschmer 1 ) hat zu zeigen gesucht, 
daß in Mitteleuropa die meisten genialen Menschen in einer 
Mischungszone zwischen der nordischen und der „alpinen" 
Rasse geboren wurden. Aus solchen Tatsachen folgt aber kei- 
neswegs, daß die Rassenmischung allgemein unschädlich oder 
gar überwiegend nützlich sei. Die alten Inder, Hellenen und 
Italikcr, die in der Mischung mit südlichen Rassenelementcn 
glänzende Kulturen entfaltet haben, sind alle dabei zugrunde- 
gegangen; und die Rassenmischung ist an diesem Niedergang 
wesentlich mitbeteiligt gewesen. Wenn infolge von Rassen- 
mischung einzelne hervorragende Begabungen entstehen, zu- 
gleich aber eine große Überzahl minderer und disharmonischer 
Kombinationen, so ist die Rassenmischung in der Gesamtwir- 
kung eben doch ganz überwiegend schädlich. 

Bei Pflanzen und Tieren kommt sogenanntes „Luxuricren der Ba- 
starde" vor; d. Ii. in manchen Fällen — keineswegs in allen — sind Art- 
barstardc großer und öfter in gewisser Hinsicht auch leistungsfähiger als 
die Elte rar ich. So wachsen die Bastarde der Feuerlilien viel üppiger al's die 
reinen Arten. Auch bei Kreuzungen von Rassen derselben Art kommt ein 
solches Luxuricren vor; ich habe es z. B. an Bastarden verschiedener 
Rassen von Gartenbohnen beobachtet. Maultiere sind im Gebirge leistungs- 
fähiger als Pferde und Esel. Vielleicht erklärt sich das Luxurieren zum 
Teil daraus, daß die Bastarde Ernährungsmöglichkeiten verschiedener 
Rassen in sich vereinigen. Das Luxurieren von Artbastarden beruht aber 
auch zum Teil auf herabgesetzter oder aufgehobener Fruchtbarkeit. Stoff - 
und Energiemengen, die sonst (ür die Fortpflanzung aufgewandt werden 
würden, können bei unfruchtbaren Bastarden ein üppigeres Wachstum be- 
wirken. So möchte ich das Luxurieren von mir gezogener Schmetterlings- 
und Lilienbastarde wenigstens zum Teil deuten. Auch Maultiere sind ja in 
der Regel unfruchtbar. Aus diesen Tatsachen folgt bereits, daß das Luxu- 
ricren keineswegs in jeder Beziehung als günstig zu bewerten ist. Der Gärt- 
ner braucht für seine Zwecke ein üppiges Blühen; und wenn die Blumen 
unfruchtbar sind, so blühen sie um so länger. In der freien Natur aber 
können sich solche Luxusblumen nicht halten. Entsprechende Gesichts- 
punkte gelten für das Luxurieren beim Menschen. Es gibt ein Luxurieren 
von Bastarden anscheinend auch in bezug auf geistige Eigenschaften. Das 
„Genie" dürfte zum Teil auf diese Weise 7.ustandckommen. Daraus folgt 
aber ganz und gar nicht, daß die Rassenkreuzung allgemein förderlich oder 
auch nur unschädlich sei. Neben dem Luxuricren kommt bei Mischlingen 
auch ein „Pauperieren" vor, wie es Eugen Fischer genannt hat; und 
dieses scheint sogar zu überwiegen. Aber auch das Wort „Luxurieren" ent- 
hält ja bereits ein negatives Werturteil. Luxus ist etwas Überflüssiges. Eine 
Rasse aber muß vor allem dauerfähig sein. 



v ) Kretschraer, E. Geniale Menschen. Berlin 1929. 



RASSENMISCHUNG UND SEELE. 



765 



Man darf aber auch die „Rassenreinheit" nicht überschät- 
zen 1 ). Der oft gehörten Behauptung, daß nur „reine" Rassen 
große Kulturleistungen vollbringen könnten, widersprechen die 
Tatsachen der Geschichte. Reinheit der Rasse als solche ver- 
bürgt keine Kulturbegabung. Un vermischte Uraustralier kön- 
nen sich europäische Kultur nicht einmal aneignen. Entschei- 
dend für die Kulturfähigkeit ist die Begabung einer Rasse; 
und eben darum wird eine hochbegabte Rasse wie die nordische 
durch Mischung mit anderen in ihrer Kulturbegabung überwie- 
gend geschädigt. 

Eine völlig „reine" Rasse im Sinne völliger Erbgleichheit 
aller ihrer Glieder würde starrer und einseitiger sein als eine 
Bevölkerung, die verschiedene Erbanlagen in sich vereinigt. 
Eine gewisse Mannigfaltigkeit der Begabungen ist der Arbeits- 
teilung und damit dem Leben der Rasse förderlich; und wenn 
Reinhaltung der Rasse gefordert wird, so ist damit ja nicht 
Erbgleichheit im Sinne der Isogenie gemeint. Ein völlig iso- 
genes Volk würde sich auch nicht durch Auslese an neue Le- 
bensbedingungen anpassen können und leicht dem Aussterben 
verfallen. 

Unserm deutschen Volk fehlt es ganz gewiß nicht an erb- 
bedingter Mannigfaltigkeit. Wir brauchen uns nur umzusehen : 
da sehen wir sehr verschiedene Gestalten und Gesichter und 
noch stärker verschiedene geistige Veranlagungen und Bega- 
bungen. Diese Buntheit noch zu vermehren, wäre nur vom 
Übel; ja schon die vorhandene ist größer, als gut ist. Es sind 
viele disharmonische Kombinationen darunter. Was uns fehlt,, 
ist also nicht etwa eine Vermehrung der Buntheit durch wei- 
tere Rassenmischung, sondern ganz Im Gegenteil eine ge- 
sunde Auslese. 

Es ist verschiedentlich die Ansicht geäußert worden, daß durch Ras- 
senmischung auch psychopathische Veranlagung entstehen könne. Eine 
solche Möglichkeit halte auch ich für gegeben. Geistige Disharmonie und 
Psychopathie ist ja beinahe dasselbe. Diese Ansicht steht nicht im Wider- 
spruch zu der, daß auch Genies aus Rassenmischung hervorgehen können; 
zeigen doch die allermeisten jener Menschen, die als „Genies" gelten, 
psychopathische Züge. Daß durch Kreuzung verschiedener Hunderassen 
ausgesprochen krankhafte Typen entstehen können, hat S t o c k a r d s ) ge- 
zeigt. Und G o 1 d s c h m i d t hat gezeigt, daß durch Kreuzung verschie- 

1 ) Die Worte „rein" und „unrein" werden oft nicht für klare Begriffe, 
sondern in magischer Bedeutung gebraucht, z. B. in den altjüdischen Ri- 
tualvorschriften. 

2 ) Stockard, Ch, R. The physical basis of pcrsonality. New York 
1931. (Deutsch: „Die körperliche Grundlage der Persönlichkeit." Jena 1932.) 



766 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



dcner Rassen des Schwarams pinners Störungen der Geschlechtskonsiitution 
und der geschlechtlichen Triebe entstehen können. Im übrigen ist daran zu 
erinnern, daß die allermeisten krankhaften Veranlagungen nicht durch 
Rassenkreuzung, sondern durch Mutation entstehen. Davon wurde ja indem 
Kapitel über die Neucntstchung krankhafter Erbanlagen berichtet. Und 
durch Ncuent stehimg' und Ausbreitung krankhafter Erbanlagen wird die 
Reinheit einer Rasse nicht weniger gestört als durch Vermischung mit 
fremden Rassen. 

Unser deutsches Volk ist — oder wie man jetzt glück- 
licherweise wohl sagen kann, war — hauptsächlich durch die 
Mischung mit Juden bedroht. Durch die Mischung von Ger- 
manen und Juden wird die Eigenart beider Gruppen gestört. 
Immerhin sind aus christlich -jüdischen Mischehen eine Anzahl, 
bedeutender Köpfe hervorgegangen, z. B. der französische 
Philosoph Montaigne, der englische Astronom Tierschel, der 
russische Chemiker Mendelejeff, der russische Biologe Meisch- 
nikojf, der deutsche Chemiker v. Baeyer, der dänische Phy- 
siker Bohr u. a., was natürlich nicht beweist,; daß diese Männer 
ihre Begabung gerade der Rassenkreuzung verdanken. Viel- 
leicht hätten ihre Eltern in nichtgemischten Ehen nicht weni- 
ger bedeutende Nachkommen hervorgebracht. Jüdisch-christ- 
liche Mischehen fanden in früheren Generationen fast nur 
in intellektuellen Kreisen statt; kein Wunder, daß die Nach- 
kommen aus solchen Verbindungen daher oft besonders intel- 
ligent sind. 

Ehen zwischen blonden und brünetten oder zwischen schlan- 
ken und untersetzten Deutschen sind keine Rassenmischehen 
in diesem Sinne. Hier handelt es sich nicht um abgesonderte 
Populationen sondern nur um Unterschiede in einzelnen Erb- 
anlagen, die als harmlos anzusehen sind. 

Die Kulturbegabung der verschiedenen Rassen wird be- 
sonders darum so viel erörtert und so leidenschaftlich umstrit- 
ten, weil man meint, daß der Wert der Rassen davon, ab- 
hängig sei. So sagt z. B. Grotjahn 1 ): „Objektiv gewertet 
werden kann eine Rasse nur nach ihren kulturellen Leistungen, 
wie die Geschichte sie überliefert hat. Dieser Maßstab läßt von 
den jetzt noch lebenden drei Rassen oder besser .Rassenge- 
mische von besonders hohem Werte erkennen : die jüdische, die 
germanische und die romanische. Diese drei, allen voran die 
jüdische, haben durch ihre Geschichte ihre hohe Kulturfähig- 
keit bewiesen, ganz gleich, ob sie reine oder, was wohl sicher 
ist, stark gemischte Rassen sind. Wie sie also sind, so sind sie 



l ) Grotjahn, A. Soziale Pathologie. 3. Aufl. Berlin 1923. S. 481. 



DIE FRAGE DES WERTES DER RASSEN. 



767 



gut und bewährt." Im Grunde ist dieser Maßstab indessen we- 
der selbstverständlich noch eindeutig. Wenn man nämlich den 
Wert der Rassen von der Kultur abhängig macht, so entsteht 
die Frage nach dem Sinn und Wert der Kultur. Steht z, B. die 
abendländische oder die chinesische höher ? Wie im zweiten 
Bande ausführlich gezeigt wird, hat die abendländische Kultur 
gegenwärtig eine Richtung, die daraufhinausläuft, ihre Schöp- 
fer und Träger auszutilgen und damit sich selbst zu vernichten. 
Man wird vielleicht geneigt sein, zu sagen, daß nur eine ge- 
sunde Kultur zum Maßstabe des Rassenwertes gemacht wer- 
den dürfe. Dann wäre die chinesische Kultur, die für ihre Trä- 
ger ohne Zweifei erhaltungsgemäßer ist, also die höhere und 
ihre Schöpfer die höchststehende Rasse?? Wir werden diese 
Folgerung nicht ziehen mögen, und sie würde in der Tat nur 
einen Zirkelschluß bedeuten. Denn wenn man den Wert einer 
Kultur an. ihrer Wirkung auf die Rasse mißt, so kann man den 
Wert der Rasse nicht wieder an ihrer Wirkung auf die Kultur 
messen. Wenn man aber der Rasse als solcher Eigenwert zuer- 
kennt, so kann eine Rasse weder „höher" noch „tiefer" als 
eine andere stehen, weil alle solche Höhenbeziehungen die Gel- 
tung eines anderweitigen Maßstabes voraussetzen würden. Die 
Erde steht weder höher noch tiefer als etwa der Mars und auch 
nicht gleich hoch, weil die Begriffe Hoch und Tief an der 
Erde selber orientiert sind. Ebenso bei der Rasse. Wenn wir 
unsere Rasse nicht um irgendeiner Kultur, einer Lehre oder 
Moral willen, sondern um ihrer selbst willen lieben, so verträgt 
sich diese Liebe nicht mit der Gleichschätzung irgend einer 
anderen Rasse. 

Selbstverständlich sind die erblichen Ras- 
senanlagen nicht die alleinige Ursache der gro- 
ßen Kultu rlci stungen. Alle Kultur, alle L eis tun g 
entsteht vielmehraus dem Z u s a m m e n w i r k e 11 v o n 
Rassen anläge und Umwelt. Die rassenbiologische Be- 
trachtung muß sich hüten, in ähnliche Einseitigkeiten zu ver- 
fallen wie gewisse ihr entgegenstehende verbreitete Lehren. 
Die Frage, wie die Unterschiede der Menschen und die Unter- 
schiede der Kultur Zustandekommen, hat seit je die Geister be- 
wegt. Rousseau glaubte die entscheidende Ursache der Un- 
terschiede im Privateigentum zu sehen. Diese Ansicht hat ihre 
schärfste Ausprägung in der sogenannten „materialistischen" 
(ökonomischen) Kulturauffassung von Marx und seinen Nach- 
folgern gefunden, die auch heute noch zahlreiche Anhänger 



768 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



hat 1 ). Danach sollen alle Unterschiede der Menschen durch die 
wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt sein, ebenso die Unter- 
schiede der Kultur und damit auch der Fortschritt der Kultur. 
Im Gegensatz zu diesem „historischen Materiaiismus" glaubt 
die sogenannte „idealistische" (spiritualis tische) Auffassung, 
in den geistigen Leistungen und Idealen die primären treiben- 
den Kräfte der Kultur zu sehen. Daß die Rasse eine wesent- 
liche Bedeutung für die Kultur habe, wird von der „idealisti- 
schen" Lehre ebenso wie von der „materialistischen" übersehen 
oder direkt geleugnet. Der „Materialismus" und der „Idealis- 
mus" bekämpfen sich zwar heftig; aber im Grunde sind sie 
feindliche Brüder; ihr gemeinsamer Vater ist der Lamarckis- 
mus, der Glaube an die Allmacht der Umwelt. Der „Materialis- 
mus" fallt im wesentlichen mit jener Spielart des Lamarckis- 
mus zusammen, die als „Mechanolamarckismus" bezeichnet 
wird. Alle Unterschiede der Lebewesen, ihre Anpassung und 
Entwicklung werden, als Folge einer „direkten Bewirkung" 
durch die Umwelt angesehen. Der „Idealismus" dagegen fällt 
weitgehend mit dem „Psychoiamarckismus" zusammen, der die 
Gestaltung der Lebewesen auf seelische Kräfte zurückführen 
möchte und verkündet : „Es ist der Geist, der sich den Körper 
baut." Die „Materialisten" sehen in dem Unterschied zwischen 
Besitzenden und Nichtbesitzenden den hauptsächlichen Unter- 
schied der Menschen, die „Idealisten" in dem Unterschied zwi- 
schen Gebildeten und Ungebildeten. In beiden Auffassungen 
erscheinen die Unterschiede als überbrückbar und aus- 
gleichbar. Die „Materialisten" (Marxisten) lehren, daß nach 
Aufhebung des Privateigentums und damit der wirtschaftlichen 
Unterschiede alle Menschen gut und edel werden würden; die 
„Idealisten" träumen von einer allgemeinen Veredelung des 
Menschengeschlechts durch die innere Aneignung geistiger 
Ideale, speziell der idealistischen Lehre. Biologisch sind beide 
Lehren unhaltbar. Die Ungleichheit der Menschen hat ihre 
wesentlichste Lirsache in der Erbmasse; und diese kann weder 
durch materielle noch durch geistige Einwirkungen einfach 
umgestaltet werden, im Individuum überhaupt nicht, und in der 
Rasse nur durch Auslese. Eine organische Kulturauffassung 
darf zwar die von der „materialistischen" und der „idealisti- 
schen" einseitig hervorgehobenen Bedingungen nicht über- 
sehen; sie muß aber gegenüber jenen auf die Rasse oder all- 

r ) Kautsky, K. Die materialistische Geschichtsauffassung. 2. Bde. 
Berlin 1927. J.H.W. Dielz. 



RASSE UND WELTANSCHAUUNG. 



769 



gemeiner auf die Erbanlage als die erste und unerläßliche Be- 
dingung aller Kultur hinweisen. 

Seit ich diese Sätze in der vorigen Auflage dieses Buches 
geschrieben habe, ist mit dem Nationalsozialismus eine solche 
organische Weltanschauung bei uns zum Siege gekommen. Der 
nationalsozialistische Staat hat nach seinem Begründer Adolf 
Hitler die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens 
zu setzen 1 ). Die nationalsozialistische Weltanschauung wurzelt 
im Glauben an die Rasse. Sie wurzelt nicht etwa in wissenschaft- 
licher Erkenntnis des Wesens der Rasse und ihrer Lebensge- 
setze. Das Erste ist vielmehr der Wille zur Selbstbehauptung 
der eigenen Rasse; dieser Wille geht aller wissenschaftlichen 
Erkenntnis voraus und ist ihr übergeordnet. Die Bedeutung 
der rassenbiologischen Erkenntnis liegt darin, daß sie die Mit- 
tel und Wege zur Erhaltung, Gesundung und Vervollkomm- 
nung der Rasse an die Hand gibt. 

Mancher Leser wird es vielleicht vermißt haben, daß ich 
bei der Schilderung der geistigen Eigenart der Rassen nicht 
näher auf die Unterschiede der Weltanschauung eingegangen 
bin. Man hört und liest heute öfter von „arteigener Weltan- 
schauung". Unter „arteigen" ist dabei etwas verstanden, was 
nicht der ganzen menschlichen Art, sondern den verschiedenen 
Rassen eigen, d. h. angeboren bzw. erbbedingt ist; und man 
sucht diese „arteigene Weltanschauung" wohl durch Zurück- 
gehen auf die Urzeit der Rasse, in der die Weltanschauung 
noch durch keine fremden Einflüsse getrübt gewesen sei, zu 
erfassen. Dabei schwebt eine Vorstellung ähnlich der Gobi- 
neaus vor, daß die Rassen einmal in ursprünglicher Reinheit 
als solche erschaffen worden seien. Sie sind aber allmählich 
aus einer gemeinsamen Stammform des Menschengeschlechts 
herausgezüchtet worden. Die Gegner einer rassischen Weltan- 
schauung neigen demgemäß dazu, eine ursprüngliche gemein- 
same Weltanschauung des Menschengeschlechts anzunehmen. 
Tatsächlich wechseln die Weltanschauungen schneller als die 
Rassen. Es gibt Zeiten ruhiger Entwicklung, Zeiten der Revo- 
lution, Zeiten des Rückschritts und Zeiten des Stillstandes. 
Eine Weltanschauung Ist, was ihren Inhalt betrifft, hauptsäch- 
lich tradilions- und kulturbedingt, in bezug auf den einzelnen 
Menschen also erworbene Modifikation. Der einzelne über- 
nimmt sie durch Überlieferung und Lehre. Natürlich ist nicht 
jede r Men sch für jede Lehre gleich empfänglich. Je nach der 
*) Hitler, A. Mein Kampf. München, F. Eher Nachf. S. 446. 

fiaur-Fisciiet-Lcu?, I. .m 



770 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



erblichen Veranlagung findet eine gewisse Auslese statt. So hat 
sich das lutherische Christentum hauptsächlich nur über Län- 
der nordischer Rasse verbreitet. Daraus ergibt sich eine ge- 
wisse Korrelation zwischen Weltanschauung und Rasse. 

Außerdem wechselt der Charakter einer Weltanschauung 
mit den sie tragenden Menschen trotz weitgehend gleichem 
Inhalt. Das katholische Christentum eines Westfalen, eines Süd- 
italieners und eines Negers hat zwar ungefähr den gleichen 
Inhalt an Glaubensvorstellungen; seinem Charakter nach aber 
ist es verschieden. 

Es gibt gewisse Seiten des Christentums, die dem Instinkt einer Hcr- 
renrasse gerade entgegengesetzt sind. „Ich aber sage euch, daß ihr nicht 
widerstreben sollt dem übel; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf 
deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar" (Matth. 6. 39). 
Auch die Lehre von der Erlösung durch das stellvertretende Leiden des 
Gottessohnes ist aus dem Geist einer passiven Rasse bzw. einer friedlichen 
Pflanzerrasse geboren. Der Instinkt der Herrenrasse sagt vielmehr: „Das 
höchste Heil, das letzte liegt im Schwerte" (Körner). Hier stehen sich 
zwei Anschauungen gegenüber, die Nietzsche in seiner übertreibenden 
und gesucht verletzenden Art als „Hcrrenmoral" und „Sklavenmoral" einan- 
der gegenüber gestellt hat. Dem christlichen Sakrament des Abendmahls., 
das den Gläubigen an der durch Leiden vollbrachten Erlösung teilhaben läßt, 
steht das Sakrament des Zweikampfes gegenüber. Wenn jemand im Zwei- 
kampf sein Leben einsetzt, so zeigt er damit, daß er Ehre hat. Kriegerische 
Einsatzbereitschaft und Todesverachtung entscheiden für diese Auffassung 
absolut über den Mannes wert, auch wenn der also Gerechtfertigte im 
Unrecht war. 

Im ganzen sind die Instinkte einer Rasse ihren Lebensbe- 
dingungen angepaßt. Was für eine Rasse von Jägern crhal- 
tungsgemäß ist, braucht es nicht für eine von Pflanzern zu sein ; 
und was dem Händler frommt, frommt darum nicht auch dem 
Bauern. Wenn wir das Wort „artgemäße Weltanschauung" im 
Sinne von erhaltungsgemäß nehmen, so wird daher vieles, was 
von fremden Völkern stammt, nicht erhaltungsgemäß sein. Vie- 
les, keineswegs alles. Wenn die Japaner grundsätzlich alles 
Fremde abgelehnt hätten, so wären sie heute eine europäische 
Kolonie. Und was von Bestandteilen der technischen Kultur 
gilt, kann auch von Bestandteilen einer Weltanschauung gelten. 
Die Weltanschauungen sind, was immer sie sonst sein mögen, 
biologisch gesehen, Mittel im Kampf ums Dasein und im 
Kampf um die Macht. 

Das Evangelium der Liebe und des Friedens ist dem Leben der nor- 
dischen Rasse im ganzen doch wohl überwiegend nützlich gewesen. Es hat 
die furchtbare gegenseitige Vernichtung der nordischen Stämme und Völker 
immerhin eingeschränkt. „Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert 
umkommen." Darin steckt eine rassenbiologische Wahrheit, von der im 



RASSE UND WELTANSCHAUUNG. 



771 



zweiten Bande bei Besprechung der rassenbiologischen Wirkung des Krie- 
ges ausführlicher die Rede ist. Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß die krie- 
gerischen Instinkte der heroischen Rasse an ihre gegenwärtige Umwelt 
nicht angepaßt sind. Gerade sie bedarf daher der Lehre des Friedens zu 
ihrer Erhaltung. 

Es gibt allerdings auch christliche Lehren, die dem Leben der Rasse 
nicht nützlich sind, so die Lehre von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit 
aller Menschen (ihrer „Gleichheit vor Gott"), die geringe Bewertung der 
Sippe gegenüber dem Individuum (dem „Hell der Seele") und der Glaubens- 
gemeinschaft, die Geringschätzung alles Irdischen und damit auch der Rasse 
und Rassenlüchtigkeit, die Ehelosigkeit der Priester, durch die ungezählte 
überdurchschnittliche Begabungen von der Fortpflanzung ausgeschaltet 
werden. Auf der positiven Seite sind außer der Lehre der Liebe und des 
Friedens aber zu buchen: die Achtung vor dem individuellen Leben, die 
Voranstcllung der gemeinnützigen vor die eigennützigen Interessen,' vor 
allem aber die Verankerung der Moral objektiv in einem höchsten Willen, 
der zugleich allwissend ist, und subjektiv im eigenen Gewissen. Auf wesent- 
liche Seiten des Christentums sprach der Instinkt der nordischen Rasse 
offenbar auch an. Der metaphysische Individualismus, die Lehre von der 
Substantialität des Individuums (der „Unsterblichkeit der Seele") und 
seinem absoluten Wert, sagten dem nordischen Persönlicbkeltsbewußtsein 
zu. Ebenso die Lehre von der Selbstvcrantwortung vor dem eigenen Ge- 
wissen und die direkte Beziehung des Individuums'" zu Gott. 

Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade die indogermanischen Völker 
und nicht die semitischen die eigentlichen Träger des Christentums gewor- 
den sind; und alles in allem haben gerade auch die nordischen Völker in 
ihrer christlichen Zeit ihre größte Kraft und höchste Kultur entfaltet, we- 
nigstens bisher. 

Während das Christentum auch wesentliche heroische Seiten hat, ist 
der Buddhismus viel einseitiger aus dem Geist einer passiven Pflanzerrasse 
geboren. Vegetarische Ernährung ist religiöse Vorschrift. Der konventio- 
nelle Typus der Buddhastatuen atmet Ruhe und Beschaulichkeit. Hier ist 
nichts von kämpferischer Haltung. Beleibtheit wird zum Ideal. Der Typus 
hat etwas Unmännliches. Wenn diese Züge dem nordischen Instinkt nicht 
hegen, so darf man doch den hohen geistigen (erkenntnismäßigen) Rang 
der buddhistischen Lehre nicht verkennen. 

Seit Paulus den „Heiden" eine natürliche Sittlichkeit zugebilligt 
hat, hat insbesondere die katholische Kirche die Lehre von der „natürlichen 
Sittlichkeit" ausgebaut und zum Teil sogar Sittengesetze als „Naturgesetze- 
hingestellt. Naturgesetze handeln indessen von dem, was ist und geschieht 
nicht von dem, was sein oder geschehen soll. Niemand kann gegen das 
Gravitationsgesetz oder gegen das Mendelsche Gesetz verstoßen, niemand 
kann diese Gesetze befolgen. Sittengesetze sind keine Naturgesetze Auch 
ein Leben gemäß den natürlichen Trieben ist nicht darum sittlich weil es 
„natürlich" ist. Gerade die katholische Kirche kennt ja eine , Übernatur" 
die m der Überwindung des Triebhaften bestehen soll. Ebensowenig wie 
eine Überwindung der natürlichen Triebe an sich sittlich ist, ebensowenig 
^ f.^r 5 Ge & ent eü. Aus der Rassebedingtheit folgt mithin auch nicht die 
Sittlichkeit eines Verhaltens. Wenn die Juden von Natur zu gewissen Ver- 
fehlungen mehr neigen als die Germanen, so sind jene Verfehlungen darum 
auch für die Juden nicht entschuldigt. Und wenn der Heroismus eine nor- 



772 



FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN. 



dische Tugend ist, so ist der Alkoholismus darum, daß besonders nor- 
dische Menschen dazu neigen, doch keine nordische Tugend, sondern ein 
Laster. Die „Artgcmäßheit" entscheidet nicht über die Berechtigung einer 
Moral und nicht über die Wahrheit einer Weitanschauung. 

Gewiß, clie Welt sieht von jeder Rasse aus anders aus ; 
aber eben darum können nicht alle diese Bilder richtig sein. 
Der nordische Denker Antisthenes, der markanteste Ver- 
treter der Rassenwertung im hellenischen Altertum, hat mit 
dem Satz : „Jeder erkennt, was seiner Eigenart gemäß ist" 
zwar die erbliche Veranlagung als Grundlage alles Geistes- 
lebens, intuitiv erfaßt ; aber er hat, was man ihm als Bahn- 
brecher zugute halten muß, einseitig übertrieben. Zu Ende ge- 
dacht bedeutet jener Satz eine Relativierung aller Erkenntnis 
und damit die Aufhebung des Begriffs der Wahrheit und der 
Welt. 

Gefährlicher als diese Einseitigkeit ist freilich die entgegen- 
gesetzte, die in der Lehre gipfelt, daß die Übernahme eincr 
Weltanschauung das Wesen eines Menschen von Grund aus 
ändere. Schon Paulus hat bekanntlich gelehrt, daß der 
Mensch, auch wenn er nicht der auserwählten Rasse angehöre, 
durch die Gnade des rechten Glaubens eine völlige Wesens - 
änderung (Metanoia), einen Umbruch des Charakters erlebe, 
daß er auf diese Weise zu einem Nachkommen Abrahams im 
Geiste werde und an dem den Kindern Abrahams verheißenen 
Segen teilhabe. Diese Lehre der Rechtfertigung 'durch den 
Glauben liegt für jede weltanschaulich begründete Bewegung 
nahe, zumal in der gröberen Fassung, daß die Zugehörigkeit 
zu der eigenen Weltanschauungsgemcinschaft die eigene Ge- 
rechtigkeit verbürge. Selbst die Marxisten pflegen, unbescha- 
det der Lehre von der wirtschaftlichen Bedingtheit der Welt- 
anschauung, auch einen Nichtproletarier, der den Marxismus 
als Weltanschauung annimmt, als gerechtfertigt anzusehen. 
Eine neue Weltanschauung kann den Charakter eines Men- 
schen wohl bis zu einem gewissen Grade modifizieren, nicht 
aber ihn von Grund aus ändern. Vielmehr ist mit Kant zu be- 
tonen, daß der ,, angeborene Charakter in der Blutmischung des 
Menschen liegt und auch der erworbene und künstliche nur die 
Folge davon ist" 1 ). 

Diese Einsicht darf weder zum Optimismus noch zum Pes- 
simismus führen. Das Bewußtsein, einer auserwählten Rasse 

*) Kant, J. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg 
1798. (In dem angeführten Satz liegt das Gewicht natürlich nicht in dem 
Wort „Mischung", sondern in dem Wort Blut. D. h. der Charakter liegt im 
wesentlichen in der Erbmasse, in der Rasse.) 



RASSE UND WELTANSCHAUUNG. 



773 



anzugehören, wird für oberflächliche Geister leicht zu einem 
Ruhekissen, auf dem man einschlummert, Ich möchte daher 
die Ausführungen über die seelische Eigenart der Rassen nicht 
schließen, ohne nachdrücklich zu betonen, daß auch das bio- 
logische Ahnenerbe des Geistes nicht unverlierbar ist. Wenn 
wir den Raubbau an unserem besten Erbgut so fortsetzen wie 
in den letzten Jahrzehnten, so werden wir in wenigen Genera- 
tionen den Mongolen ganz gewiß nicht mehr überlegen sehr 
und mit Sicherheit von ihnen verdrängt werden. 

Aber auch zu tatenlosem Pessimismus besteht kein Anlaß. 
Zwar können Geist und Charakter in ihrer erbbedingten rassi- 
schen Grundlage durch keine Lehre und Erziehung unmittel- 
bar umgestaltet werden. Der einzige Weg zur Gesundung und 
Höherführung der Rasse ist vielmehr der Königsweg der Aus- 
lese. Für die Einleitung und Durchführung der rassenhygieni- 
schen Auslese aber ist eine Erneuerung der Weltanschauung 
nötig. Eine solche ist möglich, eben weil sie ihrem Inhaltenach 
nicht entscheidend von der Rasse, sondern von Lehre und Er- 
ziehung abhängt. Auch die Erneuerung der Weltanschauung- 
ist nicht mit einem Schlage durchführbar. Es bedarf der Er- 
ziehung von Generationen. Diese Erziehung zu einer organi- 
schen Weltanschauung hat der Nationalsozialismus in Angriff 
genommen; und es ist seine geschichtliche Aufgabe, die Bahn 
frei zu machen für eine gesunde Auslese im Sinne der Reini- 
gung, Ertüchtigung und Höherführung der Rasse. Was die 
wissenschaftliche Rassenbiologie an Mitteln und Wegen zu die- 
sem Ziel im einzelnen an die Hand gibt, wird im zweiten Bande 
dargelegt. 



Da dieses Buch kein erschöpfendes Handbuch sein will, verzichten, wir 
auf eine vollständige Zusammenstellung des Schrifttums, die sehr umfang- 
reich sein und das Buch unnötig verteuern würde. Wir haben uns vielmehr 
auf die wichtigsten zusammenfassenden Schriften beschränkt. Auf das Son- 
der Schrifttum ist in den Anmerkungen des Textes verwiesen. 



Baar, £. Einführung in die experimentelle Vererbungs- 
lehre. Völlig neubearb. Autl. (7. — 11. Tsd.) Berlin 1930. Bomtraeger. 

Baar, E. und liarlniaiui, M. Handbuch der Vererbungswissen- 
schaft. (Erscheint seit 1927, Berlin, Bomtraeger.) Lief. 1 — 19. 

Gates, R. R, Hercdity in M a n. London 1 929. 

Goldschmidt, R. Einführung i n d i e Vererbungswissenschaft. 
5. Aufl. Berlin 1928. Springer. 

Johannsen, W. Elemente der exakten Erblichkeitslehre. 
3. Aufl. Jena 1926. Fischer. 

Morgan, Tk. H. The theory of the g e n e. 2. Aufl. London 1932. 

Newtnau, H. H. Readings in evolution, genetics and euge- 
liics. 3. Aufl. Chicago 1933. 

Piate, L, Vererbungslehre. 2 Bde. Jena 1932 u. 33. Fischer. 



Zum zweiten Abschnitt: 

Über Abstammung des Menschen s. Hinweise S. 252 und 254. 

Über Bastardierung s. Verz. S. 289. — Dazu: Neuville, li, L'e s p e c e , 1 a 
racc et lc metissage en Anthropologie. Aren, de l'inst. 
pal. hum. Mein. 11. Paris 1933*)- 

Lehrbücher: 

Hause hild, M. W. Grundriß der Anthropologi c. Berlin 1 926. 
Bomtraeger. 

Martin, R. Lehrbuch der Anthropologie. 2. Aufl. Jena 1928. Fi- 
scher. (Großes Lit.-Verz.) 
Salier, K- Leitfaden der Anthropologie. Berlin 1930. Springer. 



*) Dieses Werk ist mir erst nach Abschluß des Druckes bekannt gewor- 
den, was ich außerordentlich bedauere — ich werde an anderer Stelle aus- 
führlich darauf eingehen. F. 



LITERATUR ZUM ERSTEN BÄNDE. 



775 



Scheldi, W. Allgemeine Rassenkunde. München 1925. Lehmann. 
Schultz, B. /(. Erbkundc, Rassenkunde und R a 5 s e n p f 1 e g e 
(Leitfaden). [3.— 14. Tausend. München 1936. Lehmann. 

Rassenkunde: 

Ai.ch.el, O. Der deutsche Mensch. (Prähist. Menschenreste aus Schles- 
wig-Holstein usw.) Jena 1933. Fischer. 

Brandt, B. und Grosser, O. Anthropologische Untersuchungen 
in den S u d e t e n lä.nd e r 11. Prag 1931 (bisher Bd. 1 und 2). 

Bryn, H. Der nordische Mensch. München 1929. Lehmann, 

Denlker, I. Les races de la terrc. 2. Aufl. Paris 1926. 

v. Elckstedt, F,., Erh. Rassen künde und Rassengeschichte 
der Menschheit. Stuttgart 1933. Enke. 

Fischer, E. Deutsche Rassenkunde, Bd. r — 14. Jena 1929—36 
Fischer. 

Günther, H. F. /(. Rassenkunde Europas. 3. Aufl. München 1929. 
Lehmann. 

— Rassenkunde des deutschen Volkes, 85.— 91. Tsd. Mün- 
chen 1935. Lehmann. 

— Kleine Rasscnkundc des deutschen Volkes. 146. bis 
165. Tsd. München 1936. Lehmann. 

— Ras s en künde des jüdischen Volkes. 2. Aufl. München 
1930. Lehmann. 

Kern, F. Stammbaum und A r t b i 1 d der Deutschen und ihrer 
Verwandten. München 1927. Lehmann. 

Landborg, H. Rassenkunde des schwedischen Volkes. Jena 
1928. Fischer. 

— und Linders, F. J. The racial characters of the swedisch 
Nation. Uppsala 1926. 

Menghin, O. Weltgeschichte der Steinzeit. Wien 1 93 i . 
Montandon, G. L'Olo genese humaine. Paris 1928. 

— La race — les races. Paris 1933. 
— L'ethnie francaise. Paris 1935. 

Reche, O. Rasse und Heimat der Ind ogermanen. München 1936. 
Lehmann, 

Ripley, W. Z. The races of Europe, 2. Aufl. London 1912. 

Scheidl, W. und Wriede, li. D i e E 1 b i n s e 1 F i n k e n w ä r d e r. München 
1927. Lehmann. 

Scheidl, W. Lebens-gesetze des Volkstums. Insbesondere Heft 

2, 3, 10. Hamburg 1936. Hermes. 
Weinert, H. Die Rassen der Menschheit. Stuttgart 1935. Enke. 
Über Zwillings Forschung s. Abschn. III und IV. 

Zum dritten Abschnitt: 

Cockayne, E. A. Inherited abnormalitics of the skin and 
its appendages. London 1933. LI. Milford. (Literatur.) 

Curtius, F. Die Erbkrankheiten des Nervensystems. Stutt- 
gart 1935. Enke. (Literaturangaben.) 



776 



SCHRIFTTUM. 



Diehl, K. und v. Verschuer, O. Z w i 1 1 i n g s t u b c r k u 1 o s c. Jena 1 933. 
Fischer. (Literaturverzeichnis.) 

Entres, L. Die Ursachen der Geisteskrankheiten. Bd. 1 des 
Handbuchs der Geisteskrankheiten, herausgeg. von O. Bumke, Ber- 
lin 1928. J. Springer. 

Lange, A4. Erbbiologie der angeborenen Körperfehler. 
Stuttgart 1935. Enke. (Mit Literaturverzeichnis.) 

Naegeü, O. Allgemeine Konstitutionslehre. 2. Aufl. Berlin 
1934. Springer. 

Salier, /(. E r b 1 i c h k e i t s 1 e h r e und Eugenik. Berlin 1932. Sprin- 
ger (Literaturhinweise.) 

Siemens, PI. W. Einführung in die allgemeine Konstitu- 
tions- und V c r c r b u n g s p a t h o 1 o g i e. 2. Aufl. Berlin 1923. 
Springer. 

The Trcasury of Human Inheritanc e. Herausgeber K. Pear- 
son, Cambridge University Press. (Mit sehr vollständigen Literatur- 
listcn.) 

v. Verschuer, O., Erbpathologie. Dresden und Leipzig 1934. Stein- 
kopf f. (Ausführliches Literaturverzeichnis.) 

Waardenbwg, P. J. Das menschliche Auge und seine Erban- 
lagen. s'Gravenhage 1932. M. Nijhoff. (Umfassendes Literaturver- 
zeichnis.) 



Zum vierten Abschnitt : 

Flsker, R. Ä. Statistical methods f o r research workers. 
London 1925. Oliver and Boyd. 

Haecker, V. Methoden der Vererbung sforschung beim 
Menschen. In Abderhaldens Handbuch der biologischen Ar- 
beitsmethoden. Abt. IX. Teil 3. Heft 1. Berlin und Wien 1923. Urban 
und Schwarzcnberg. 

Just, G. Methoden der Vererbungslehre. In „Methodik der 
wissenschaftlichen Biologie", herausgegeben von J. P e t e r f i , Bd. 2. 
Berlin 1928. Fischer. (Mit Literaturverzeichnis.) 

— Praktische Übungen zur Vererbungslehre. 2. Aufl. 
Berlin 1935. Springer. (Mit Literaturverzeichnis.) 

Pearl, R. Introduction to medical biometry and statisties. 
Philadelphia und London 1923. Saunders. 

Scheidt, W. Einführung in die naturwissenschaftliche 
Familienkunde. München 1923. Lehmann. 

— Die Zahl in der lebcnsgesctzlichcn Forschung. Ham- 
burg 1934. Hermes. 

Schulz, B. Methodik der medizinischen Erbforschung. 
Leipzig 1936. Thieme. 

Weber, Erna. Einführung in die Variation s- und Erblich- 
keits-Statistik. München 1 93 5. Lehmann. 



SCHRIFTTUM. 



777 



Zum fü 

Clausz, l.f. Dienordische Seele. 2. Aufl. München 1932. Lehmann. 

— Rasse und Seele. 3. Aufl. München 1933. Lehmann. 

Darre, R, W. Das Bauerntum als Lebensquell der Nordi- 
schen Rasse. München 1929. Lehmann. 

v. Elckstedt, E. Grundlagen der Rasse 11 psychologie. Stutt- 
gart 1936. Enke. (Literatur in Fußnoten.) 

Galion, F. Hereditary Genius. London 1869. (Die unter dem Titel 
,, Genie und Vererbung" erschienene deutsche Übersetzung (Leipzig 
1910, A. Kröner) ist leider nicht ganz auf der Hohe). 

Garih, Tli. R. Race p s y c h o 1 o g y. New York 193 1 . (Literaturverzeichn.) 

Gerlach, I(. Begabung und Stammesherkunft im deutschen 
Volke. München. 1929. Lehmann. 

Günther, H. F. I(. Herkunft und Rassengeschichte der Ger- 
manen. München 1935. Lehmann. 

— DieNordischeRassebci den Indogermanen Asiens, 
München 1934. Lehmann. 

■ — Rassengeschichte des hellenischen und des römi- 
schen Volkes. München 1929. Lehmann. 

An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die schon unter dem Schrift- 
tum zum zweiten Abschnitt genannten Bücher Günthers hingewiesen, 
deren Kern ja in der Psychologie der Rassen besteht. 

Holmes, S. /.The irend of therace. New York 1921. Harcourt, Bracc 
and Co. 

Just, G. und andere Mitarbeiter. Vererbung und Erziehung. Ber- 
lin 1930. Springer. 

Krelschrner, E. Körperbau und Charakter. 9. und 1 o. Auf] . 
Berlin 1931. Springer. 

Langa-Eichbaum, W. G e n i e - 1 r r s i 11 n und R u h m. 2. Aufl. Mün- 
chen 1935. Reinhardt. 

Peter mann, ß. Das Problem der Rassenseele. Leipzig 1935. 
Barth. (Ausführliches Literaturverzeichnis.) 

Peters, W. Die Vererbung geistiger Eigenschaften und 
die psychische Konstitution. Jena 1 92 5. Fischer. (Litera- 
turverzeichnis.) 

Popenoe, P. and Johnson, R. H. Applied eugenics, 3. Aufl. New 
York 1923. 

Schallmayer, W. Vererbung und Auslese. 4. Aufl. Jena 1920. 
Fischer. (Literaturverzeichnis.) 

Scheidt, W. Die Träger der Kultur. Berlin 1934. Metzner. 

Schemann, L. Die Rasse in den Geisteswissenschaften. 
3 Bände. München 1928, 1930, 1931. Lehmann. 

Schoitky, J . und andere Mitarbeiter. Die Persönlichkeit im Lichte 
der E r b 1 c h r c. Leipzig und Berlin 1936. Teubncr. 



778 



LITERATUR ZUM ERSTEN BANDE. 



Atmals of Eugenics. Herausgeber K. Pcarson und E. M. Elderton. 

Cambridge Univcrsity Press. 
Archiv der Julius-Rlaus-Stiftung. Zürich. Orell Füssli. 
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. Herausgeber A. Ploetz. 

München. Lehmann. (Im Text abgekürzt als ARGB.) 
Der Erbarzt. Beilage zum Deutschen Ärzteblatt. Herausgeber Deutscher 
Ärzicvereinsbund und Verband der Ärzte Deutschlands (Hartmann- 
bund). Leiter O. Frh. v. Vcrschuer. 
Eugcnical News. Herausgegeben von der EugenicsResearch Asso- 
ciation. Long Island, N. Y. Cold Spring Harbor. 
Gcaetica. Herausgeber J. P. Lotsy. s'Gravenhagc. M. Nijhoff. 
Qeneücs. Herausgeber G. PI. S h u 11. Brooklyn Botanical Gardens. 
Hereditas. Herausgeber R. L a r s s o n. Lund. 

Journal _ of Genetics. Herausgeber R. C. P u n n e 1 1. Cambridge Univcr- 
sity Press. 

Journal of Herediiy. Herausgegeben von der American G e n c t i c As- 
sociation. Washington. 

Rasse. Herausgegeben von R. v. Hoff. Leipzig und Berlin. Teubner. 

Resumptio GeneÜca. Herausgeber J. P. Lotsy und H. N. Kooiman. 
s'Gravenhagc. M. Nijhoff. (Ausschließlich Referate über die geneti- 
sche Literatur In großer Vollständigkeit.) 

Volk und Rasse. Schriftleiter B. K. Schultz. München. Lehmann. 

Zeitschrift für induktive Abstämmlings- and Vererbungslehre. Herausgeber 
A. Kühn und F. v. Wettstein. Berlin. Borntraegcr. 

Zeilschrift für menschliche Vererbutigs- und Konstitutionslehre. Herausgeber 
G. Just und K. H. Bauer. Berlin. Springer. 

Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie. Herausgeber E.Fisch er. 
Stuttgart. Schweizerbart. 

Zeitschrift für Rassenkunde. Herausgeber E. Frh. von £ i c k s t e d t. 
Stuttgart. Enke. 

Zeitschrift für Rassenphysiologie. Herausgeber O. Reche. München. 
Lehmann. 

Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Berlin. Springer. 
(Sehr vollständige Referate über menschliche Erblehre.) 

ien: 

Bibliographia Genelica. Herausgeber J. P. Lotsy und W. A. G o d d i j n. 
s'Gravcnhage, M. Nijhoff. 

Holmes, S. J. A bibliography of eugenics. Berkeley, California 1924. [Jni- 
versily of California Press. (Umfassende Sammlung des Schrifttums 
bis 1923). 

Das Schrifttum seit 1923 wird fortlaufend aufgeführt in den „Eugcnical 
News" und in der „Zeitschrift für induktive Abstämmlings- und Vererbungs- 
lehre." 



A. 

Abderhalden 456 
Abel, O. (91, 252 
Abel, W. 100, 101, 136, 
147, 149, '53. 165, 
166, 174, 179, 192, 
193, 196, 197, 198, 
200, 298 
Adachi 226 
Adler 474, 576, 751 
Aichel 200, 201, 311 f., 

775 
Albrecht 365—367, 370 

—373, 476 
Alikhan 524 
Allenburg 447, 580 
Amnion 297, 727 
Amrain 389 
Andersson 252 
Argelandcr 693, 704 
Aristoteles 732 
Aschaffenburg 558, 754 
Aschner 387, 391, 475, 

601 
Aschoff 324 
Ash 335 



Babcock 580 
v. Baeycr 555 
Balz 1 19, 222 
Barrington 401, 41 1, 424, 

426 
Barrows 463 
Bartel 419 
Basier 171 
Bateson 331, 368 
Bauer 243 
Bauer A. W. 386 
Bauer, J. 324, 347, 372, 

414, 419, 475. 49 2 > 

569, 601, 624 
Bauer, K. H. 400, 443, 

497, 77S 
Baumann 607, 608 
Baur, E. 657, 774 
Bavink 741 
Bayerthal 702 
Bean 159, 757 



Beckerhaus 161 

Beeton 448 

Behr 356 

v. Behr-Pinnow 667 

Bell 365, 448 

Bemiss 33 1 

Bemmelen van, 159, 272 

Benzc 485 

Berckheimcr 254 

Berglund 384 

Bernstein i6i, 162, 241, 

246, 410, 615, 624 
Bertholet 573 
Bettmann 136, [56 
Bijlmer 159, 19S, 200, 

239 
Birk 436 
Birkenfeld 407 
Birnbaum 55S, 677 
Biswas 147 
Bittle 490, 498 
Bleuler 532, 536, 555 
Bluhm, A. 438, 481, 501, 

503. 573, 574, 59 2 , 

593 
Blumenbach 278 
Boas 129, 132, 169, 176, 

209, 213, 302, 713 
Bodewig 619 
Boehm 354 
Boening 540 
Boeters 521 
Bogatsch 345 
Bohomoletz 395 
BÖker 190 
Bolk 230, 243 
Bonnevie 136, 137,138, 

139, 143, 144, 145, 

149, 153, 423, 424 
Borak 569 
Borchardt 418 
Bouterwek 224, 654, 693 
Boveri 496 
Brandt 750, 775 
La Brand 479 
Brauns r 77 
Bremer in, 522, 469 
Breuil 253 
Brimhall 671, 672 



Broca 278 
Brodmann 227 
Brown 5 1 g 
Brugger 528, 533 
Brugsch 416, 421, 456, 

487 
Bryant 523 
Bryn 122, 132,209, 398, 

775 
Buchanan 453 
Bulloch 377, 402, 464 
Bumke 543 
Bunak 121, 132 
Bunge 575 
Busch 412, 697 
Buschke 490 
Buseinann 694, 69 5 
Busse 224 

C. 

Caesar 410 
C am er er 458 
Carrierc i 5 1 
Castellano 129, 159 
Castle 582 
Cattell 734 
Chen 244 
Classen 422, 5 1 5 
Clausen 341, 343, 347. 

348 
Clauß 194, 707, 761, 

777 
Clouston 386 
Coburn 697 
Cockayne 373, 375, 379, 

382, 383, 385- 386, 

775 
Cole 576 
Collins 580 
Conitzcr 126 
Conrad 400 
Correns 391 
Crampton 480 
Cranc 720 
Crouzon 41 1 
Crowder 463 
Csörsz 379, 380 
Cummins 136, 1 46, 1 47 , 

151 



780 



NAMEN-VERZEICHNIS. 



Curtius J04, 1S6, 234, 
245, 422, 504, 507, 
512, 522, 560, 598, 
599, 601, 775 

Cuthbert 456 

Czellitzer 339, 346, 355., 
620 

Czemy 429, 484 



Dahlberg 100, 101, 104, 
166, 366 

Danforlh 161, 226, 384 

Darre 221, 739, 777 

Darsie 723 

Darwin 189 

Davenport 104, 116, 132, 
133, 1951., 214, 216, 
287, 289, 303, 305, 

308, 37h 375> 39 2 , 
400, 405, 406, 417, 

427; 443. 5*6 
Davidcnkow 505, 507, 

508, 511 
Dawson 697 
De Candolle 734 
Dekking 1 18 
Delbrück 256, 580 
Deneke 469 
Deniker 280, 641, 775 
Dicldnson 470 
Dielil 100, 107, 12 1, 

219, 486, 643, 776 
Dietrich 409 
Dinter 586 
Doederlein 566 
Dollken 464 
Dornfeldt 169 
Dresel 456 
Dubois 350 
v. Dungern 235 
Dünn 116, 1 59, 160, 

198, 199, 289 



Ebstein 387, 397, 590 

Ecker 280 

v. Economo 537 

Ehrenberg- 191 

v. Eickstedt 1 59, 263, 

279, 295, 775, 777, 

778 
Elderton 683, 687, 77S 
Elster 584 
Engelking 470 
Engelmann 387, 391 
Engerth 168 



Entres 5 17, 776 
Erb 509, 5 10 
Esiabrook 523 
Eugster 438 
Evans 215, 703 

F. 

Fahlbusch 592 

Farabee 392, 393 

Faraday 98 

Easold 382 

l ? ay 365, 368, 369 

Fehlingcr 292 

Ferguson 717 

Feischer 394, 395, 55t 

Fibiger 490 

Fick 670 

Filon 627 

Finkbeiner 369, 440 

Finke 459 

Fischer, A 324 

Fischer.E. 109, 1 13, 1 15 
116, 117, 1 59, 1 60. 
162, 168, 170, 176 
185, 186, 187, 200 
209, 287, 289, 291. 

329. 3%5, 593, 726: 
762, 764, 775, 778 
Fischer, M. 193 
Fischer, W. 481 
Fischer-Wascls 497 
Fisher 776 
Fleischer 339, 520 
Fleischhacker 147, 149, 

1 55 

Florschütz 457 

Forel 575 

Frank-Kamcnetzki 352 

Frede 185 

Frets 166, 171, 172, 173, 

410 
Freud 752 
Frey 520 

Friedcnthal 147, 157 
Friedjung 430 
Frischeisen-Köhler 245, 

691, 697 
F ritsch 750, 755 
Fuchs 334 
Fukuoka 102, 213 
Fürbringer 501 
Fürst 407 

G. 

Gallon 135, goi, 642, 
666, 667, 668, 669., 
670, 688, 712, 720, 

777 



Gänßlcn 450, 456, 462, 

467, 476 
Garth jyj 
Gaßler 344, 558 
Gates 1 17, 133, 176, 289, 

774 
Geipel 139, 141, 142, 
143, 145, 146, 151, 

237 
Gelpke 560 
Gerlach 777 
Geyer 192, 207, 233 
Gilford 426 
Glatzel 233 
Goddard 530 f, 
Goddijn 125, 177, 289, 

778 
Godfrey 1 19 
Goldberg 437 
Goldbladt 410 
Goldschmidt 289, 365, 

403. 558, 765, 774 
Goldsmith 518 
Gorj anovic-Kramberger 

2 54 
Gossage 334, 384, 468 
Gothlin 363, 364 
Graebner 758 
Graefe 352 
Gram 460 
Greulich 104 
Grosser 1 10, 114, 775 
Grote 377, 394, 427, 

474. 49* 

Groenouw 362 

Grotjahn 766 

Grüneberg 1 56 

Grütz 383 

Grzegorzewski 234 

Günther, H. 1 69, 179 

Günther, H. F. K. 
193, 279, 2S3, 291, 
295, 726, 727, 731, 

755, 775, 777 
Gusinde 129 
Guthe 169 
Gutmann 394, 422, 516, 

551 
Gütt-Rüdin-Ruttke 583 
Gutzmann 524 



Haecker 626, 667, 776 
Hagedorn 479 
Hagen 1 1 6 
Haike 37 i 
Hammer 37 '5 



'NAMEN-VERZEICHNIS. 



781 



Hammer schlag 367 
Hanhart 1 10, 331, 368, 

369, 379, 393, 397, 
424, 461, 472, 473, 

513 f-, 537, 542, 5S4, 
621 

Hansemann 426, 496 
Hansen 45g 
Hanson, J. B. 580 
Hara 146 
Harc 385 
Harman 400 
Harris 124 
Hartmann 774 
Hauschild, R. 172 
H auschild, W. 13g, 774 
Hcindl 135 
Heiner 383 
lielder 732 
Hell 694 
Heller 386 
Hellpach 194, 19g 
Hemmes 3go 
Henke 520 
Henckel 147, 216 
Heimeberg g22 
Hensen 3 53 
Herringham 508 
Flerrmann 440, 483 
Herskovits 289, 308 
Hertwig, O 563 
Hertz 7 12, 720 
Herzenberg 401 
Hesch 23 g, 238, 239 
v. Heß 361 
Heßberg 360, 361 
Heuck 385 
Heys 580 

Hildebrandt 30g, 676 
Hilden 207 
Hilsinger 233 
Hirszfeld (Hirschfeld) 

235, 237, 238, 479, 

4S3 
Hitler 769 
v. Hoff 778 

Hoff mann 53g, 545^ 761 
Hof milier 676 
Hofstätter 499 
Holmes' 117, 670, 762, 

777, 778 
Hooff 398 

Hooton 19g, 196, 198 
Howe 3 g 1 
Hrdlicka 169, 308 
Hübener 227 
Hüchtemann 492 



Fiuddy 466, 47 g 
Huskins 408 
Husler 441 
Huth g3o 



Ischikawa 489 
Ickert 48g, 488 
Iaigkeit 39g, 412, 413, 
398, 399 

J. 

Jablonski 341, 342,343, 

345 
Jaensch 222, 223, 227 
Jäger 170 
Jankowsky 108 
Jendrassik 524 f. 
Jenny 378 
Johannsen 171, 63g, 642, 

774 
Johnson 21 g 
Jollos 578 
Jüngling 492 
Just 1 1 5, 446, 616, 625, 

635, 776, 777, 77S 

K. 

Kahn 753 

Kalinowsky 5 1 g 

Kammerer 18, 7gg 

Kant 729, 772 

Karplus 228 

Karve 132, 195 

ten Kate 1 19 

Kaup 418 

Kautsky 768 

Keers 127 

Kehrer 436, 468, go4, 

516, gi8, gg 4 , g 59 
Keiter 201 
Keith 761 

KekulcvonStradonitz 594 
v. Kemnitz 418 
Kern 198, 744, 74g, 77g 
Kienboeck 400 
Kim 172 
King g82 
Kirchmair 147 
Klaatsch 129 
Kleiner 357 
Klelwcg de Zwaan l 7 r 
Klemm 7 58 
Klopstock 41 1 
Knudsen 292 
Koby 334 



Koch 522, gg2, 664, 66g 

Kollier, W. 7 ] 6 

Kohn 376 

Köhn 691, 696, 710 

Koller 235 

Komai 102, 1 46, 213 

Konstanlinu 540 

Kooiman 77S 

Korkhaus 177 f., 409 

Körner 770 

Kostakow 505 

Köstlich 573, 577 

Kraft 426 

Kranz 127, 157, 160, 557 

Kraepelin g32, ggg, g7g 

Kraujis ggo, 554 

Krctschmer 221,417, g3Ö, 

543. 554, 5öi, 629, 

675, 676, 677, 701, 
703, 757, 764, 777 

Kreyenberg 530 
Kronfeld ggg 
Krueger 707, 708 
Kruse 194 
Kühn 778 
Kahne 113, 181 ff. 
Kurella 664, 668 
Kutzinski 751 

L. 

LamtSris 381, 382 
Lämmerhirt 678, 679, 

680 
Landauer 110, 111, 112, 

1 60, 1 62 
Landsteincr 236, 241 
Lang 438 
Langbein 468 
Lange, Gus. 501 
Lange, Joh. 533, g37. 

545, 55L 556, gg7, 

688, 706 
Lange, M. 776 
Lange-Eichbaum 674, 

676, 680, 682, 683, 

777 
Lapouge 726, 727 
Larousse 720 
Larsen 119 
Larsson 778 
Lassen 644, 696, 697 
Lassila 138 
Lebzelter t 17 , r 59, 19g, 

289, 440 ■ 
Leclie 136 
Leeden 200 
Legras 535, 541, 557 



782 



NAMEN-VERZEICHNIS. 



Lehmann 431, 436 
Leichcr 165, 177, 

197, 207, 291 
Lenz 99, ioOj 104, 
133, 210, 217, 
229, 235, 243, 
271, 2S7, 306, 

3'7. 3'8, 35°. 
406, 446, 447, 
564, 608, 615, 
621, 625, 651 

Lesscr 402 

Leven 380 

Lcvine 241, 242 

Levinsolm 343 

Levy 426 

Lewis 394, 486 

Lewit 401 

Lewy 3S7 

Liebendürfer 458 

Linders 775 

Linne 726 

Linzenmcier 384 

Litzner 575 

Loeb 576 

Loeffler 586 

Lokay 529 

Lombroso 744 

Long 453 

Lorcntz 522 

Lort 363 

Loth 136, 225 

Lotsy 125, 208, 
778 

Lottig 696 

Löwenstein 244 

Löwy 484 

Lundborg 1 75, 1 76, 
304, 365, 542, 

v. Luschan 729 

Luxenburger 488, 

534, 54i, 544, 
546, 554, 601, 
626, 649 
Lydtin 488 



196, 

128, 
222, 
246, 
309, 
39°, 

449» 
619, 



289, 



2S3. 

775 

503= 

545: 

622, 



Mc. Batts 226 
Mac Clure 136 
Mc Dougall 7 r 1 
Mac Dowcll 425 
Mc Quillen 407 
Madiener 443 
Malkova 445 
Mansfield 333 
Marchesani 343, 344 
Markuse 291 



Maroske 121 

Martin 179, 425, 774 

Martius 567 

Marx 767 

MaUison 475 

Mautner 378 

Mayer-Groß 562 

Mayer-List 227 

Medow 550 

Meggendorfer 543, 554 

Mcirowsky 226, 374, 650 

M en des de Costa 378 

Menghin 775 

Merzbacher 51 1 

Meulengracht ■ 469 

Meyer-Heydenhagen r 50, 
151, 152, 153, 22s 

Meyer-Riemsloh 354 

Midlo 136 
Mincr 518 
Minkowski 506 
Miyake 1 54 
Mjöen, F. 664 
— , H. 665 

— J. A, 304, 664, 665 
Möbius 668 ? 6S0 
Mohr 393, 473, 682 
Mollison 1 1 5 
Montandon 775 
Morel 419, 521 
Morgan 416, 446, 490, 
57L 579. 585» 665, 
774- 
Moszkowski 231 
Muckermann 704 
Mühlmann 170, 368, 723 
Müller 230 
Muller, H. J. 447, 564, 

569, 57L 692 
Muncey 5 16 
Munter 485 
Mygind 367 

N. 

Nachtsheim 120, 122, 
123, 125, 129, 134 

Naegcli 470, 486, 487, 
776 

Nagel 363 

Nassauer 489 

Natorp 755 

Naunyn 456 

Nehse 161 , 224 

Nelson 392 

Nettleship 329, 336, 337, 
355. 356, 357, 358. 



Neubauer 168 
Neuhaus 127, 199 
Neuville 774 
Newman 146, 151, 655, 

689, 692, 774 
Niemann- Pick 1 14 
Nilsson-Ehle 41 
Nissen 519 
Noble 755 
Nodop 350 
Noorden 453, 454 
Nordenskiöld 200 
Norrie 338 
Nylander 389 



Oberhummcr 724, 725 
Ochsenius 1 19, 427 
Odin 734 
Ohly 475 

Orel 219, 441, 620 
Orth 368 
Osborn 384 
Österreicher 40t 
Osthoff 528 
Ostwald 673 
Oswald 344 

P. 

Painter 590 
Paß 423 

Passow 334 

Patellani 101 

Patterson 564 

Patzig 517 

Paudler 744, 745 

Pauli 230 

Paulsen 373, 416, 421, 
491, 761 

Pawlow 7 1 1 

Pearl 232, 448, 776 

Pearson 308, 329, ^^ 1, 
373, 385, 448, 630, 
633, 637, 638, 639, 
683, 697, 703, 776, 
778 

Pei 252 

Peiper 410, 421, 577 

Pel 460, 470 

Peller 492 

Peterfi 776 

Petermann 777 

Peters 348, 777 

Petri 231, 470 

Peyser 432 

Pfanner 409 



NAMEN-VERZEICHNIS. 



783 



v. Pfaundler 428, 429. 

43°, 433, 439, 44 L 

448, 477, 478, 628. 

629 
Pfitzner 393, 702 
Philipps 463 
Philip tschenko 175 
pil tz 554, 559 
Pinkus 156 
Pittard 2 1 6 
Plate 774 
Piaton 678 
Plehn 468 
Ploetz 25 r, 448, 575, 

583, 77% 
Ploetz-Radmann t 55 
Pöch 155, 156 
Poll 136, 146, 388, 642, 

699 
Pölya 616 

Popenoe 582, 691, 777 
Posmykicwicz 226 
Po tri 244 
Praeyer 407, 409 
Preiser 375 
Pribram 484 
Prinzing 546 
Puccioni 1 59 
Punnet 331, 368, 778 



Quelprud 202, 203 ff. 



Radosawljewitsch 725 
Rath 558 
Rautmann. 324 
Reche 170, 775, 778 
Rchsteiner 463 
Reid 480 
Reinöhl, F. 664 
Reisch 517 
Reiter 528 
Rennert 576 
Rensch 271 
Retzius 1 63 
Reuter 720 
Reutlinger 620 
Richter 192, 197, 226 
Riffel 485 
Ripley 775 
Rischbieth 424, '426 
Roberts 385 
Roch 398 
Rochat ^81 



R Odenwald t 116, r 59. 
j 95j j 96, 198, 214. 

289, 303, 3°7, 593 
Roemer 541 
Roeßle 474 
Rose 764, 702 
Rohr 431 
Rosenberg 180 
Roth 168, 215 
Rousseau 767 
Routil 201, 239 
Roux 157 
Rowan 337 
Rubbrecht 408 
Rüdin 534, 535, 537, 

54", 559 

S. 

Sabouraud 384 
Saenger 5 1 5 
Saile 451 

Salaman 291, 396, 750 
Salier 121, 1 23, 125, 
i 26, 1 27, 160, 170, 
417, 774, 776 
Sanders 405, 406, 519 
Sapper 483 
Sarasin 1 18, 129, 1 57, 

1 58, 249, 267 
Schallmayer 777 
Schaeuble 137, 138, 149 
Schamburow 41 1 
Schatz 219 
Schaumann 469 
Scheidt 165, 192, 196, 
201, 209, 226, 292, 
3o8, 595, 775, 776, 
777 
Schellong 127 
Schemann 777 
Scheuer 1 62 
Schickedanz 753 
Schiff 106, 235, 236, 

238, 241, 242 
Schinz 392, 490, 498 
Schiötz 360 
Schirmer 447 
Schi aginhauf en 1 3 6, 

L38.. 555 
Schlatter 392 
Schleicher 458 
Schlesinger 422 
Schloeßmann 434, 442 
Schmidt, W. 704, 705 

758 
Schmidt-Kehl 370, 462 
Schmitt 1 i, 687 



Schneider 554 
Schnitzler 245 
Schofield 392 
Scholz 423, 512 
Schönlank 367 
Schopenhauer 686 
Schott 48 1 
Schottky 538, 777 
Schreiner 122, 169, 173, 

174, 176, 231, 308 
Schrijver 246 
Schröder 243, 399, 407 
Schrödinger 705 
Schulte 541 
Schultheiß 437 
Schultz 775, 778 
Schultz-Ewerth 721 
Schultze 249 
Schuld 440, 776 
Schuster 683 
Schuszik 468 
Schwalbe 115, 207, 252 
Schwalber 439 
Schwarz 177 
Schwarzberg 161 
Schwert feg er 710 
Scckel 456 
Sccck 730 
Secger 520 
Seiser 575 
Seile 426, 427 
Seyder 524 
Seyfarth 329 
Shakespeare 730 
Shull 778 
v. Sicherer 349 
Sidler 506 
Siegert 435 

Siemens 100, 146, 166, 
168, 177, 227, 332, 
365, 374, 375, 376 
378, 380, 381, 383, 
385, 410 412, 423, 
427, 432, 438, 5L3, 
595, 642, 644, 668, 
776 
Sigaud 758 
Sittniann 437 
Sjögren 517, 529, 539 
Smith 425 
Smith, j. Ch. 527 
Sobolewa 121, 132 
Sommer 391, 554, 596 
Sorokin 726 
Spcisser 2 10 
Spemann 1 10 
Spengler 345 



784 



NAMEN-VERZEICHNIS. 



Spiegel 474 
Spindler 620 
Spranger 707 
Standfuß 263 
Stanton 665 
Stark 490, 538 
Stattmüller 519 
Stauder 541 
Stedman 331 
Steggerda 148, 154, 195 

196, 214, 289 
Steiger 340, 473 
Stein 330, 372, 484 
Steiner 104, 135 
Steinthal 508 
Stieren 33S 
Stilbans 41 1 
Stiller 41 6, 485 
S tockard 1 S 9, 757, 765 
Stöcker 554 
Stocks 234, 401, 41 1 
Straßmann 219 
Strauß 474 
Strcbel 336, 473 
Strohmayer 535 
Strong 49 S 
Sttibbe 569, 571 
Study 461 
Stublmann 129 
Stumpf! 557, 558 
Suk 239 
Sverdrup 389 
Swczy 590 
v. Szily 352 

T. 

Tandler 2 17, 414 

Tao 117, 157, 199, 289 

Taruffi 426 

Taylor 392 

Terman 699 

Terra 178 

Tertsch 330 

Theilhabcr 455, 755 

Thiemich 436 

Thomas 385, 407 

Thompson 226 

Thost 379 

Timms 510, 512 

Tülinghast 304 

Timofecff-Ressovsky 

256, 39 1 » 58o 
Todd 180, 308 
Toenniessen 1 13, 457 
Triebe! 515 
Troitzky 172 



ü. 
Ullmann 455 
Umber 454 
Ushcr 329, 335, 373 

V. 

Valentin 413, 514 

van der Valk 378 

Varelmann 357, 359 

Vclhagen 376 

v. Ver schuer 99, 104, 105, 
106, I2J, 136, 137, 
146, 153, 161, 166, 
177, 2 10, 212, 213, 

2 14, 2 1 9, 225, 227j 

234, 339, 366, 436, 

476, 486, 487, 643, 

651, 689, 690, 776, 
778 

Virchow 162, 297 

Vogel 392 

Vogt, O. 227, A. 333, 

336, 337, 347, 348, 

36°. 363, 593 
Voltz 667 
de Vries 391, 673 

W. 

Waaler 364, 490 

Waardenburg 776 

Wachtel 494 

Wagenseil 199, 225 

Wagner 308 

Wagner, G. A. 502 

Wahlund 1 7 5 

Walcher 1 7 1 

Waldmann 396 

Warde 443 

Wardenburg 328, 334, 
33S» 336, 340, 343, 
344, 345, 348, 352, 
353, 354, 358, 364, 
421, 495 

Warthin 493 

Wassink 494 

Wcbb 697 

Weber, E. 615, 616, 776 

Webster 480 

Weil 456 

Weinberg 101, 338, 583, 
601, 61 i, 639 

Weinberger 538 

Weinert 1 1 5, 165, 241, 
252, 255, 775 

Weisenberg 51 1 

Weismann 578, 708 



Weißensieder 465 
Weitz 177, 234, 372, 

3%3, 384, 397, 400, 
404, 409, 432, 436, 

439, 45°, 45*, 469, 
47 1, 473, 476, 497, 
505, 506, 507, 521, 
642 

Weller 576 

Wellisch 239 

Weninger, J. 131, 132, 
I 53, 165, 192, 202, 

— M. 178 
Wentworth 136 
Werner 233 f., 244 
v. Weitstem 778 
Wetzel 415 
Weve 42 1 
Whipple 155 
Whiting 446 
Whltman 496 
Wiede 77 g 
Wicth-Knudsen 292 
WÜbrand 515 
Wilde, de 355 
Wilder 136, 139, 141, 

142, 143, 151, 154 
Williams 289, 555, 556 
Walser 726 
Wilson 337, 495 
v. Winckel 407 
Wingfield 6S7, 688, 698 
Woltmann 758 
Woods 671, 672, 703, 

■ 734 
Worth 344 
Wrledt 393, 682 
Wright 486 
Wulz 620 
Würth 155, 156 

Y. 

Yamagiwa 489 
Yerkes 696, 717, 735 
Yoshioka 226 

Z. 

Zangenmeister 243 
Zebrowski 226 
Zeiger 177 
Ziehen 626, 664, 667, 

668, 702, 708 
Ziesch 397, 422, 435 
Zimmer 256, 580 
Zipperlen 217, 227, 234 
Zoepffel 440 
Zoeppritz 576 



A. 

Abessinier 306 
Achondroplasic 423 
Achylie 469, 474 
Adenoide Konstitution 

43i, 432 
Adrenalin 243, 244 
Agglutinine 236 
Ägypter 239 
Ahnentafel 595, 596 
Ähnlichkeitsdiagnose 64g 
Aino 1 54, 157, 161, 239, 

273, 275, 282 
Akka 129 
Akne 383 
Akranie 41 1 
Akromegalie 1 68, 427 
Albinismus 46, 113, 118, 

*34, 255, 329, 331, 

373 

— des Auges 332, 333 
-—lokaler 129 
Alkaptonurie 113, 457 
Alkohol 70, 7 1, 526, 527, 

572, 573, 574, 575 
Allelenreihe 292 
Allelie, multiple 58, 624 
Allergien 114, 244, 460, 

461, 462, 463 
Alpine Rasse 261, 273, 

282, 283, 296, 317, 

726 
Alter der Eltern 582 
Altern 23 1 

— einer Rasse 3 17 
Amblyopie 356 
Amaurotische Idiotie 539 
Amelie 1 13 

Amerika 736 
Amerikaner 136, 147 
Anämie, perniziöse 468, 

469 
Analogieschlüsse 589 
Andamanen 272, 277 
Angina 483 
Angiome 374 
Angorahaarigkeit r 57 
Angora-Katze 256 
— ■ -Ziege 256 
Angstneurose 555 

Baur-Fisclier-I,enz I. 



Anidrosis 382 

Aniridie 335 

Anlagen, entwicklungsla- 
bile 693 

Anodontie 407 

Anomalie 323 

Anonychie 386 

Anophthalmie 335 

Anpassung 323, 325, 480 

Anthropoide 161, 1 62, 
25 1 f. 

Anthropo-Biologie 99 

Antikörperbildung 242, 
478 f. 

Antizipation 337, 338, 
454, 520 

Antlitz 192 

Antrum Masioideum 165 

Appendizitis 484 

Araber 1 1 9 

Arachnodaktylie 42 ! 

Arier 731, 732 

Arisch-jüdisch 197 

Arteriensystem 226 

Arteriosklerose 232, 450, 
451, 452 

Arthritis deformans 400 

— urica 459 
Assorlative mating 640 
Asthenie 22, 414, 415, 

416, 487 
Asthma 461, 465 
Astigmatismus 34g 
Asymmetrie 223 f. 
Atavismus 163 
Ataxie, Friedreichsche 

spinale 514 

— zerebcllare 5 i 5 
Ateleiosis 426 
Atherome 385, 3S6 
Athetose 518 
Äthiopiden 1 59 
Athletisch 22 t 
Atmung 232 f., 244 
Atropin 244 
Auge 199 f. 
Augenfarbe 1 30, 1 33, 

229, 639 
Augenleiden 328 ff. 
Augenlider 228 



Augenspalte, Schiefstel- 
lung der 201 
Augenzittern 333, 349, 

35o 
Augweiß 134 
Aurignac -Rasse 255, 285 
Auslese 8i, 90, 479, 480 
Ausmerzung 83 
Auslralider Zweig 281, 

285 
Australier 116, [29, E30, 

1 57, S61, 23S f., 267, 

274, 285, 715 

B. 
Bach, Familie 663, 680 
Backenknochen 292 
Baden (Land). Haar- 
farbe 297 
Bart 161, 275 
Bartform d. Wedda 265 
Basedowsche Krankheit 

436, 437 
Bastard, südwestafrikani- 
scher 302, 305 

— (Europ.-HoU. Reho- 
bother) 116, 128 

Bastarde 24, 149, 762 
■ — intermediäre 27 
■-— Luxurieren der 764 
Bastardatavismus 35 
Bastardbevölkerung 
—■Biologie d. 291 ff. 

— Erscheinungsbild 293 
Bastardvolk 3 1 1 
Beckenform 502 

— bei den Mulatten [80 
Begabung 662, 670, 671, 

683, 685, 689, 692, 
695, 697, 735 

— Geniale 672 

— Mathemalische 667 

— - Musikalische 663, 664, 

665, 666, 730 
Begabungszeichen 703 
Behaarung 129 
Belastung 406, 454, 596, 

599, 609, 610 
Belastungsstatistik 610 
Berber 1 19 



71 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS, 



BernouIIi, Familie 667 
Bettnässen 522 
Beugefurche 138, 1 55 
Bevölkerungsdruek 266 
Bewegungsrassen 7 58 
Bildende Kunst 666 
Bildung 710 
Bimanuar ! 47 
Binomialkurve 7 
Blaslophthorie 5 63 
Blei 575. 576 
Bleichsucht 469 
Blindarmentzündung 484 
Blindheit 339, 352 
Blondhaar 297 
Blutmischung i/ 8 V16 V.12 

301 
Blutarmut 46S, 469 
Blutbild 244 
Blutdruck 234, 244 

— krankheit 450, 45] 
Bluteigenschaften M, N 

und P 241 
Bluterkrankheit 229, 

441, 442, 443, 444 
Blutfaktoren G u. H 242 
Blutgefäße 227 
Blutgruppen 106, 23 5 ff., 

237, 253, 624 

— bei Affen 240 f. 
Blutkörperchen 234 
Blutkreislauf 113, 232 
Blutsverwandtschaft 108, 

352, 392, 601, 607, 
619, 620, 62 r 
Bogenmuster der Hand 

139 f- 
Bonin-Inscl 292 
Brachydaktylie 98, 189, 

392 
Brachyzephale 1 6^ 
Brachyzcphaliefakloren 

273, 282 
Braunf'Icckung der Iris 

334 
Braunschweig 297 
Brechungsfehler 340 
Breitgesicht 163 f. 
Breitschädel 1 63 
Brokcnhiil, Fund v. 254 
Bronchialkatarrh 476 
Brüche 404 
Brünn-Rasse 255 
Brustdrüsenkrebs 494 
Brustkorb, Form 217 
Buddhismus 77 1 
Bulgaren 133 



Bullosis 377, 378 
Buren-Hottentotten 291 
Buschmann-Hottentotten 

208, 272 
Buschmänner 1 1 7, 1 59, 

217, 239, 249, 265 

— Ohr der 202 

C. 

Cabocle 290 

Cafuso 290 

Camlies 38 5 

Cape People 208, 290 

Caput obstipum 412 

■ — quadratum 1 68 

Carabellische Höcker- 
chen 178 

Charakter 560, 686, 696, 
697, 757 

— zeichen 703, 760 
Chilene 119, 147 
Chinesen 117, 119, 154, 

1 60, 199, 225, 244, 
722, 723, 724 " 

— Hawai 199, 209 
— - Malaien 303 
Chlorose 469, 470 
Cholo 290 
Cbondrodystrophie 423, 

424 
Chorea 516, 517 
Christentum 770, 77 1 
Chromatophoren 7 4 
Chromogcn 35 
Chromomercn 52 
Chromosome 51, 590 
Colobom i 13 
Combe Capelle 281 
Cro-Magnon-Rasse 255, 

282 
Crossing over 69, J^> 
Cubaner i 29 
Cy stimme 1 13 



Daktyloskopie 1 3 5 
Dalische Rasse 744, 745 
Dänen 132, 260 
Darier sehe Krankheil 

380 
Darwin-Galton, Familie 

669 
Darwinsches Höckerchen 

203 
Dauermodifikal tonen 

578, 70S, 709 
Deckfalte 201 
Deformierung 1 71 



Degeneration 524 
Degenerationszeichen 

560, 561 
Delaware-Indianer 308 
Delta 140 
Dementia amauroticans. 

538 f- 

— paranoides 532 

— praecox 532 

— simplex 532 

— senilis 538 
Dermoglyphen 1 3 5 
Dcuteroni alaien 327 
Dexter-Rind 47 
Diabetes 114, 304, 452,. 

453, 454 
Diastema 407 
Diathese, arthritische.460' 
— ■ dystrophische 429 f. 

— entzündliche 429 

— exsudative 429 

— hämolytische 466 

— hämorrhagische 444,. 
445 

— hyperthyreotische 436 

— lymphatische 43 1 

— rachitische 434 

— spasmophile 436 
Diathesen 428 ff. 

— kombinierte 433 
Dinarische Rasse 261 ,. 

273, 274, 295, 296, 

731 
Diphtherie 482 
Diplegie 5 r i 
Disharmonien 192, 304 f. 
Disposition 477, 478, 482 
Dolichozephale 1 63 
Domestikation 256, 500.. 

579 
Dominanter Erbgangöoi 
Dominanz 27, 602, 604 

— Wechsel 603 
Doppcl ganger 108 
Doppelmißbildungen 

104, 225 
Doppelwirbel am Kopf- 
haar l 6 1 
Dreifingerfurche 138, 1 50. 
Drillinge 104 
Drillingsgeburt 107 
Drosophila 48, 51, 309, 

591 
-— experimente 61 5 
Drüsen, endokrine 243 
Dupuylrcnsche Kontrak- 
tur 394 



SCHLÄGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



Dysostosis cleidocrania- 

lis 411 
— craniofacialis 4 ) 1 
Dystrophia adiposogeni- 

talis 457 
Dystrophie, myotonische 

519, 520, 521 



Eigenschaften, geistige 
283, 659 ff. 

— normale 327 

— Vererbung erworbener 
709, 710 

Eihautbefund 64.3 

— b. Zwillingen 1 03 
ei neiig-iden tisch 1 03 
Einkindsterilität 501 
Eiweißumsatz 234 
Eiszeit 254, 280 
Ektopia lentis 336 
Ektrodaktylie 394 
Ekzem 378, 429, 461 
Elsterneger 129, 373 f. 
Emmetropie 344 
Emphysem 476 
Enchondrome 401 
Endokarditis 472, 473 
Engländer, Nordische 

Rasse 304, 735 

Entartung 339, 524, 581, 
582, 583 

Entartungsirresein 559 

Entartungszeichen 4 1 9, 
420, 560, 561 

Entdecker 674 

Entwicklung, Harmoni- 
sche 1 13 

Entwicklungslabile An- 
lagen 693 

Entwicklungslabilität 
224, 390 

Enuresis nocturna 522 

Eosinophilie 465 

Epheliden 375 

Epidermispolster 139 

Epidermolysis 
bullosa 377 

— dystrophica 378 

Epikanthus 201, 349 

Epilepsie 539—543. 554, 
676 

Epispadie 404 

Erbänderungen 564, 565, 
566, 570, 582 

Erbanlagen, psychische 
284, 661 ff. 



— Verteilung der rassen- 
mäßigen 269, 71 1 

— unabhängig von- 
einander 300, 759 

Erbanlage u. Umwclt65t 

Erbarzt 99 

Erbbiologische Bestands- 
aufnahme 600 

Erbeinheit 657 

Erbeinheiten, pathogene 
525 

Erbkraft 657 

Erblehre, psychologische 
661 

Erblichkeitsbegriff 657 

Erbfaktoren 37 ff. 

Erbforschung, experi- 
mentelle 589 

Erbgang 46 

— dominanter 602 

— geschlechtsgebunde- 
ne" 332, 35°, 351, 
352, 353, 354, 362, 
3(>3, 364, 3^1, 443, 
447, 511, 603, 604, 
686 

■—rezessiver 606, 611, 
612, 615, 618, 619, 
621 

erbgleich 103 

Erblindung 35t 

Erbmasse und Umwelt 
657, 694, 695 

Erbpathologie 326 

Erbprognose 626 

Erbziffer 634 

Erfinder 668 

Ergrauen 129, 231, 385 

Erkrankungsalter 60 1 

Erstgeborene, Minder- 
wertigkeit 583 

Erythema exsudativum 
377 

Erziehung 709, 7 10 

Eskimo 127, 149, 154, 
1 57, 158, 160, 161, 
200, 26r, 263, 273, 
286 

Dänenmischlinge 1 54 

Euphtalmin 244 

Eurasier 290 

Europäer 180 

— -Chinesen 1 57 

Eskimo 197, 200 

- -Hawei 195, 198 

— -Hottentotten 176, 195, 
303 



— -Indianer 176 

— -Malaien 176 
Neger 209 

— -Neger-Mikronesier- 
Japaner 292 

— -Polynesier 199 
Exostosen 401 
Expressivität 391 

F. 

Fähigkeiten, seelische 

66 r 
Faktorenaustausch 69, 73 

— koppelung 48 ff., 69, 
625, 641 

■ Fälische Rasse 198, 282, 

283, 317, 744 
Fallsucht 539 
FarnÜienanamnesen 598 

— forschung 595 
Farbenblindheit 229, 

359, 360 
Farbige 718, 719 
Fehler der kleinen Zahl 

616, 617 
Fehlgeburten 50: 
Fettsteiß bei Hottentottin 

217, 264 

— bei Schaf 264 
Fettstoffwechsel 234 
Fettsucht 234, 457,458 
F euer besitz 257 
Feuerländer 136 
Feuermäler 374 
Fil-Fü 15S, 248, 265, 

272 
Filialgeneration 2 5 
Fingerleisten 139 ff. 
Finnen 132, 175, 176, 

207 
Flüchtige Modifikationen 

708 
Fortpflanzung 

autogame 1 2 

— geschlechtliche (sexu- 
elle) 4, 22 

— ungeschlechtliche 
(vegetative) 4 

— Untüchligkeit zur 
499 ff- 

Fossa pränasalis 165 
Fovea centralis 228 
Franzosen 3 14 
Freiheit 706 
Friedreichsche Ataxie 

513, 5*4, 575 
Friesland 246 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



Fruchtbarkeit 229, 291 

499 ff. 
Frühreife 229 
Fulla 288 
Furunkulose 384 

G. 
Gallensteine 465, 466 
Gallon 669 ff. 
Gartenlöwenmaul 23 
Gaumengewölbe 177 

— leisten 226 

— spalte 405 — 407 
Gebärmutterkrcbs 493 
Gebiß 177, 409 
Geburt, Mortalität bei. 

der 2 1 9 
Geburtenrückgang 3 20 
Geburtsdeformität 592 
— - gewicht 167 
— ■ Schwierigkeiten 502, 

503 
Gedächtnis 696 
Gehirn 702 

— gewicht 227 
Geist 705, 714 
Geisteskrankheiten 525ff. 
Geistige Arbeit 581 

— Fähigkeiten 690 
Geistige Rassenunter- 
schiede 71 1 ff., 7 14 

Gelbfaktoren 274, 281 

— sucht 466, 467 
Gelenkrheumatismus 

472, 484 

Geltungstrieb 550 

Gen 76, 657 

Genealogie 594 f. 

Genie 662, 672, 673, 
68 1, 682 

Genie und Psychopathie 
674 

Genomer, Veränderung 
an 77 

Germanen 732, 756 

Geschlechtliche Anoma- 
lien 558 

G e sc hl echtsbc Stimmung 
590 

— Chromosomen 64, 229 

59o 

— reife 229 

— trieb 558 

— unterschiede 698 

— Vererbung 228 

— Verhältnis 70, 292 

— zelle 4 



Geschmacksinn 246 
Geschwistermethode 

61 1— 614 
Geschwülste 489 — 498 
Gesicht 192, 1 94 

Gesichtsasymmetrien 

224 
— züge 1 92 
Gestalt 760 
Gesundheit 323 f., 325 
Gibbon 181, 186, [89 

241 
Gicht 459—461, 466 
Glabella 1 62 
Glatzenbildung 384 
Glaukom 351, 352 
Gleicherbig 24 
Glioma retinae 49 5 
Glomerulonephritis 470 
Glykosurie 455 
Gnomi 138 
Goethe 680 
Gonorrhöe 501 
Gorilla 186, 240, 252 
Griechen 119, 730 
Grimaldi-Rasse 255 
Grönland 260 
Grünblindheit 364 
Grundumsatz 233, 458 
Grützbeutel 385 



Haar 1561. 
Haar, krauses 1 58 
Haararmut 385 
Haardickc [62 
Haarfarbe 120 f., 229 
— bei Kaninchenrassen 

1 20 
Haarform 1 57, 292 
Haarlosigkeit 1 13, 384 
Habitus 413, 416, 561, 

757 
Habsburger Unterlippe 

198, 408 
Haiti 304 

Halbblut, europäisch-in- 
dianisches 302 
Halbseitenzwitter 388 
Hallux valgus 396 
Halswirbel 181 
Hamiten 285, 288 
Hammerzehe 394 
Hämoglobingehalt 234 
Hämoglobinurie 470 



Hämophilie 441 
Hämorrhoiden 422 
H and 227 

— flächen 149 

— furchen 155 ff. 
Handleisten 1 54 
Handlinienformeln 1 5 e 
Händler 7 59 
Hasenscharte 404, 407 
Häufigkeit krankhafter 

Zustände 622 
Haussa 288 
Hauterkrankungen r 17 
Hautfarbe 1 16 
Hautgefäße, Bläue d. 227 
Hautleiden, erbl. 373 ff. 
Hawaier t [9, 159, 160, 

175 
Hebephrenie 532 
Helix 203 

Hellenische Kultur 732 
Hellenistische Kultur 

73° 
Hemeralopie 3 56 
Heredodegeneration 524 
Hernie 404 
Herz 226, 472 
■ — fehler 473 

— klappenentzündung 
484 

— krankheiten 472 

— schlag 450 
Heterochromie 129, 134, 

224, 334 
Hcterogenie 605 
Heterogenität d. Typus 

308 
Heterozygot 24, 68, 330 
Heufieber 461, 463 
Hirn, Furchen und Win- 
dungen 227 

— gewicht 227 

— schädel 1 62 
Hirsch Sprungs che 

Krankheit 475 
Hirtennomaden 753 
Histamin 244 
Hocken 1 80 
Holland 172, 210, 230 
Hologenese 270 
Hominide 252 
Homo heidelbergensis 

163 
Homogamie 640 
Homosexualität 558 
Homozygot 24, 330 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



789 



Hormon 1 68 

— organe 416 
Hornhauttrübung 339 
Hottentotten 147, 148 

r 49, *55> 158, 200 
' 2 49, 263, 318 

— bastarde 159, 762 

— steiß 275 

— -Buschmänner 179 
Hufeisenniere 226 
Hüftverrenkung 1 1 3, 

397, 398, 399 
Hunderassen 175, 763 
Huntingtonsche Krank- 
heit 516, 517 
Hydroa ^77 
Hydrokephalus 412 
Hydrophthalmie 352 
Hyperidrosis 382 
Hyperopie 345 
Hypertension 450 
Hyperthelie 404 

Hyperthyreose 437 

Hypertonie 450 

Hypophyse 243 

Hypoplasie 419 

Hypospadie 402 

Hypothesen 590 

Hysterie 547 f., 550 f., 
554, 677, 678 

Hysterotelie 189 



Ichthyosis 379, 380 
Idealismus 768 
Idiokinese 495, 496, 563, 

564 
Idioplasma 4 f. 
Idiosynkrasien 244, 460 
Idiotie 527 

— amaurotische 538,539 

— mongoloide 440, 441 
Idiotypus 12 
Idiovariationen 6, ^7 ff. 
Ikterus 466 
Imbezillität 527 
Immunität 243, 477 bis 

482 
Imprägnation 585 
Inder 119, 132, 136, 

147, 195 
Indexkarte 298 
Indianer 130, 133, 1 36, 

147, 154, 158, 161! 

176, 209, 230, 239, 

261, 286, 288, 290, 

725 



Indianer in Chile 200 
— nordamerikanische 274 
Indianer-Neger 197 
Indianer-Weiße 124 
Indien 307, 316 
Individualhygiene 22 
Individualpsychologie 

552, 751 
Indogermanen 739 
Indogermanische Kul- 
turen 715, 73 1 
Induktoren der Entwick- 
lungsmechanik 1 1 o 
Infantilismus 418, 501 
Infektionskrankheiten 

476 ff. 
Intelligenz 686—690, 
692, 702, 707, 735 

— prüfung an Zwillingen 

653 
Intermediäres Verhalten 

602 
Intersexualität 229, 403 
Inzestzucht 92 
Inzucht 91 f., 499, 500, 

582 

— gebiete 621 
Irisflecken 132, 334 

— struktur 131 
Isoagglutinine 236, 242 
Isolierte r Fälle 622 
Italien 210, 299 



J. 

Jäger 758 

Japaner 10t, 102, 1 18, 

119, 136, 147, 154, 

199, 210, 225, 723 
Japanischer R.-Typ 274 
Java 255, 290 
Jod 576 
Juden 149, 

226, 239, 

301, 352 

538, 539, 



'58, 
291, 

369. 

55i, 



216, 
293, 
374, 
729, 

736, 737, 746—756 

— chinesische 1 99 

— Nase 197 
Jüdische Musiker 730 

K. 

Kahlköpfigkeit 384 
Kallikak 531 
Kamptodaktylie 393 
Kanaken 199 
Kaninchenrassen 1 7 5 
Kapazität, vitale 234 



Kapillaren 227 
Karies 179, 409 
Karl d. Große 596 
Karzinom s. Krebs 
Kasko 290 
Kastration 71, 1 68 
Katarrhe 483 
Katarakt 336 
Katatonie 532 
Keimdrüsen 243 
Keimschädigung 567, 

569 
Keratosis 379 
Keratosis follicularis 

381 
Kiefer 177 
■ — höhle 165 
— spalten 404 ff. 
Kinn 193 
Kirgisen 274 
Kisaresen 1 1 6, 196, 198 
Kleinmutationen 8 1 
Kleinwüchsige, neolithi- 

sche 272 
Klinodaktylie 393 
Klon 6, 11, 13 
Klumpfuß 394 ff. 
Knabenfamilien 608 
Kniescheibe, Fehlen 

der 401 
Knochenbrüchigkeit 400 
Kohlehydratstoffwechsel 

?34, 452 
Koisan 249, 272 
Kokain 244 
Kolobom 336 
Kombinationen 5, 22 ff., 

82 
Kompensations- und Ex- 
klusionsmethode 60 1 
Komplexion 133 
Kondition 217, 414 
Konkordanz 646— 65 1 
Konstitution 2 r 7 f., 413, 

414 
Konstitution und Rasse 

221, 417, 757 
Konstitutionsanomalien 

4*3 
Konstitutionstypen 220, 

417 
Kopf große 701 
Kopfhaar, Grenzen d. 

2 53 
Koppelung 69, 624 f., 

641 
— Absolute 69 



790 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



Koreaner 119, 1 54, 225 
Korrelation 433, 624, 

627 f., 639 ff., 650 
Korrelationskoeffizient 

630, 635 
Korrelationsrcchnung 

307, 627 
Körper und Seele 705 

— bau u. Charakter 417, 
701, 757 

Körperbautypen 2 l 7, 221, 
413* 4'6f., 56E. 757 

— form 208 

— fülle 216 

— große 208, 631, 632, 
702 

— haar 1 60 

— bei Chinesen 222 
— - bei Japanern 222 
Krampfadern 422 
Krämpfe 543 
Kranioiogie 165 
Krankheit 323 ff. 
Kraushaar 294 

Krebs 305, 376, 489 ff. 
Kreta 162 

Kretinismus 439, 440 
Kreuzung, chinesisch- 
englische 295 

— chinesisch-jüdische 
295 

Krieg 739, 756 
Kriminal biologische 

Sammelstelle 600 
Kriminalität 557, 753, 

754 
Kropf 437 ff- 
Krüpcrhuhn 1 t o f . 
Kryptorchismus 403 
Kubaner [59, 304 
Kultur, abendländische 

— hellenische 732 

— hellenistische 730 

— indische 731 

— kreise 758 

— rassen 9 1 

— und Rasse 312 f., 
766 f. 

— Wert der 767 
Kurzfingrigkeit 46, 392, 

393 
Kurzkopfrasse 255 
Kurzsichtigkeit 340 ff., 

3 59, 36o 
Kyklopic 41 : 



L. 

Lachen 194 

La Chapelle 163 

Längen-Brcitcn-Index 
166, 172 

Langgesicht 163 f. 

Langschädel 163 

Lamarekismus 572, 584, 
711, 755, 768 

Lappen 132, 175, 176, 
272, 288, 304 

Lateinamerika 318 

Lateralsklerosc, amyotro- 
phische 5 1 o 

Lebensbewährung 69 1 

Lebensdauer 231, 448, 
449, 609, 610 

Leberflecke 374 

Leberzirrhose 468 

Leisten, Entwicklung d. 

137 
Leistenbruch 403, 404 
Leistungsfähigkeit durch 

Züchtung 22 
Letalfaktoren 4Öff., 110 

— rezessive 76 
Letale Mutationen 564 
Leukämie 470, 495 
Lidwinkel 202 

Linie, reine 13 
Linkshändigkeit 427 
Linsenektopie 336 
Liplap 290 
Lippen 198 

— form 292 

— spalte 405 
Littlesche Krankheit 510 
Locken 272 
Lungenblähung 476 

— entzündung 483 

— kapazilät 305 

— tuberkulöse 48s, 487, 
488 

Luxationen 399 
Luxalio coxae 397 f. 
Luxurieren 209, 302, 

764 
Lymphatische Diathese 

43 r £■ 
Lymphosarkom 494 



Mädchenfamilien 608 
Madelungsche Deformi- 
tät 401 
Magengeschwür 474, 475 
— krebs 474, 491, 492 



— leiden 473, 474 

— saft 233, 244 
Magerkeit 458 
Malaien 117, r 18, [27, 

159, 160, 171, 195, 
198 

Malaria 485 

Mameluco 290 

Mandelentzündung 483 

Manie 543 

Manife5tations Wahr- 
scheinlichkeit 649 

Manisch-depressives 
Irresein 543 

Manuar 1 47 

Mariesche Krankheit. 5 1 5 

Marmorknochenkrank- 
heit 401 

Marxismus 768 

Masern 480 ff. 

Massai 288 

Mastdarmkrebs 492 

Mastoidzcllen 165 

Materialismus, histori- 
scher 768 

Mathematik 617 

Mathematische Bega- 
bung 667 

Mauer, Kiefer von 254 

Mediterrane Rasse 727, 
728 

Megalocornea 335 

Melancholie 543 

Melanesier 127, 158,26! 

Melanismus 1 18, 130, 
256 

Menarche 230 

M endein 76 

Mendel sches Gesetz 74, 
589 

Menschenaffen 716 

Mesozephalc 163 

Meßfehler 652, 690,691 

Mestizen 176, 209, 290, 

303, 3'" 
Methoden 590 f. 
Metis 290 ' 
Migräne 464, 465 
Mikrokephalie 410 
Mikrophthalmie 335 
Milchzähne 177 
Milieukunde 695 

— lehre 768 
Müroysche Krankheit 

377 
Minderwertigkeit der 
Erstgeborenen 583 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



791 



Mienenspiel 1 94 
Mischehe, christl.-jüdi- 

sche 291, 766 
Mischlinge 287 f., 720, 

761 
Mißbildungen 73, 88, 

387, 388 
Mittelohreiterung 372 
Mixovariationen 5, 22 ff. 
Modifikation 5, 6 ff., 11, 

708 
Modifikationen, flüchtige 

652, 690 

— seelische 709 
Modifikations-Kurve 17 

— möglichkeiten 709 
Mongolen 149, 180, 193, 

200, 235, 263, 722, 
723, 724 

— falte 263, 275 

— fleck 1 19 
Mongolide 119, 148, 158, 

255, 272, 274, 288^ 

314. 317, 722 
Mongolider Zweig 286 
Moniletrichosis 385 
Moralischer Schwachsinn 

556 
Mortalität 219 
Mulatten 1 16, 129, 149, 

161, 163, 209, 290, 

303, 304, 306, 30S, 

718, 720, 721 
Multiple Sklerose 512 
Mund 193 
Musikalische Begabung 

228, 663 ff., 730 
Musikerfamilien 665 
Muskelatrophie 507, 508 
Muskeldystrophie 504 ff. 
Muskulatur 225 
Mutation, gleichsinnige 

16 
— somatische 74, 495 ff. 
Mutationen 6, 75 ff., 82, 

255, 496, 497, 499, 

564, 565, 567, 569, 

57°, 57i, 579 
— ■ häufigkeit 580, 581 
Mutieren, Ursache 78, 

563 ff- 
Mutlermäler 374 
Myelodysplasien 1 1 1 
Myoklonusepilepsic 542 
Myome 502 
Myopie 340, 341, 344 
Myotonie 518, 519, 521 



Myotonische Dystrophie 

519 
Myxödem 440 

N. 
Nachdunkeln der Haare 
128 

— der Iris 134 
Nachtblindheit 356, 357, 

358 
Nägel 386 

Nase [93 f., 228, 703 
Nasenform 273, 282, 

298 
Nationalsozialismus 769, 

773 

Naturforscher 67 1 , 673 

Naevi 374, 65 j 

Ncandertalmensch 163, 
254, 271, 28g, 715 

Neger i, 1 16 f., 129, 
135 f., 149, 158, 161, 
163, 1 69, 172, 180, 
[98, 208 f., 216, 225, 
230, 235, 239, 244, 
262, 265, 272, 274, 
288, 295, 306, 311, 
318, 716—721. 

— Hottentotten 177 

— haar 295, 299 

— haut 1 1 7 

— mischlinge 195, 285, 
718—720 

— nase 197 
— typus 154 
Negride 119, 314 

— Zweig 285 f. 
Negritiden i 59, 3 i 7 
Negrito 159, 285 
Neolithisch 265, 280 
Nephritis 470 
Nervenleiden 503, 524 
Nervenplcxus 1 8 5 
Nervensystem, vegetati- 
ves 113, 233, 244 

Nervosität 552 
Netzhaut 228 

— ablösung 344 

— gliom 495 

— Verödung 354—356 
Neukaledonier 129, 157, 

158 
Neukombinationen 75 
Neurasthenie 552, 5 53, 

554, 678 
Neuritis 509 
Neurofibromatose 375 



Nierenentzündung 470, 
471 

— Insuffizienz 305 

— Schrumpfung 47 1 

— steine 460 
Nietzsche 675, 676 
Nikotin 576 
Nobelpreisträger 7 5 1 
Nomaden 758 
Nordafrika 318 
Nordeuropäer-Negcr- 

Mischling 292 
Nordische Rasse 276 f., 
731, 732, 737, 738, 
74', 742, 744 

— Umwelt 738, 739 
Norm 184, 323 f. 
Norweger 122, 145, 146, 

r75, 176, 231. 308 
■— -Lappen 209 
Nystagmus 333, 349 f. 

O. 

O-Beine 396, 397 
Obstipation 475 
Ödem, chronisches 377 
Oguchische Krankheit 

358 
Ohr, 177, 202 

— läppchen, Angewach- 
sensein d. 205 

Ohrenleiden 365 
Oktavon 290 
Oldenburg 297 
Oligophrenie 527, 529 
Onychogryphosis 386 
■Ophthalmoplegie 349 
Orang 186, [89, 240, 

252 
Organisatoren der Eni- 

wicklungsmcchanik 

1 10 
Organminderwertigkeit 

449 
Orientalische Rasse 276, 

728, 729 
Orthogenese 190, 572 
Oslersche Krankheit 375 
Ostasien 265 
Ostbaltische Rasse 276, 

296 
Osteogenesis imperfecta 

400 
Osteopsathyrosis 400 
Ostische Rasse 190, 726 
Ostjuden 169, 754 



792 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



Otitis media 372 
Olosklerosc 371, 3/2 
Ozaena 476 

P. 
Papillarleisten 135 
Papua 127, 273, 285 
Papua-Melanesier 262, 

272, 273 
Paradentose 409 
Parakinese 563 
Paralysis agitans 5 1 6 
Paramaeciumcaudatum 6 
Paranoia 537 
Paranoide Psychopathie 

537 
Paraphorie 430 
Paraphrenie 532 
Parapiegie 5 1 1 
Paratypisch 1 7 
Paravariaton 5, 6 ff . (s. 

auch Modifikation) 
Pärchenzwillinge 102, 

645 
Parentalgeneration 2 5 
Parkinsonsche Krankheit 

516 
Patellarsehnenreflex 245 
Pathogene Erbeinheiten 

605 
Pauperieren 209, 303, 

304, 764 
Peliza.cus-Mcrzba.cher- 

sche Krankheit 5 1 1 
Pemphigus heredharius 

37% 
Penetranz 390, 391 
Penis 226 
Peristase 1 1 
Pcrsien 306 
Perthes'sche Krankheit 

399 
Pfefferkornhaar 158 
Pf]anzcrrasscn 758 
Philippinen 119, 239 
Phimose 404 
Physiognomie 1 92, 294, 

761 
Physiognomik 1 65, 174 
Pigment in Sklera und 

Konjunktiva 134 
Pigmentfaktoren 274, 292 
Pilasterbildung 1 80 
Pilocarpin 244 
Pithccanthropus 163, 252 
Plasmaschädigimg 579 
Plattfuß 396 
Platyknemie 1 So 



Pleuragrenze 1 85 
Pneumonie 483 
Polen 133, 226 
Pollcnallergie 460 
Polsterungsfaktor 1 44 
Polydaktylie 1 13, 388, 

389 
Polymerie 623 
Polynesier 117, 239,282 

— Europäer — Chinesen 
291 

Polyphä.n 332 
Polyposis intestini 492 
Polyzythämie 470 
Porokeratosis 382 
Portugiese 175 
Prämolaren 1 78 
Pränasalgrube 177 
Präpotenz der Rasse 292 
Prdmost 281 

— form 285 
Proband öi 4 
Probandenmethode 61 2, 

613, 649 
Processus supracondy- 

loideus 180 
Prognathie 408 
Prothetelie 1 89 
Pseudohämophilie 444 
Pseudosklerose 468 
Psoriasis 382, 383 
Psorospermosis vegetans 

380 
Psychasthenie 552, 678 
Psychoanalyse 552, 751 
Psychologie 706, 707 
Psychologische Typen 

707 
Psychopathen, epileptoide 

54 '. 

— schizoide 533 

— zykloide 544 
Psychopathie 525 ff., 

545. 546, 554, 676 
Ptosis 349 
Puls 244 

— frequenz 234 
Pupillenreaktion 244 
Puschkin 306 
Pygmäen 129, 160, 198, 

261, 262, 272, 273, 
288, 297 
Pygmäen-Faktor 272 

— wuchs 248 
pyknisch 221, 416, 417, 

56), 757 



Quarteron 290 
Quinckesches Odem 463, 

464 
Quinteion 290 

R. 

Rachischisis 41 1 
Rachitis 168, 2 1 9, 434. 

43 5 
Radium 499, 563, 571 
Raraus 250 
Rasse 40, 8 1 f ., 712 

— alpine 261, 273, 282, 
283, 296, 317, 726 

— dalischc 744, 745 

■ — ■ dinarische 261, 273, 

274, 295, 731 

— tausche 198, 282, 283, 

3*7, 744 
■ — geographische 417 

— indide 282 
--mediterrane 2S0, 283, 

304, 727, 728 

— mclanide 288 

— mongolidc 722, 724 

— nordische 268, 273, 

275, 280, 282, 283, 
715- 73h 732, 737. 
73%, 741, 742, 744 

— ■ orientalische 1 19, 274, 
283, 318, 728 

— ostbaitische 273, 282 

— ostische 261, 283, 726 

— polynesische 282 

— reine 765 

-— • sekundäre 267, 31 i 

— und Volk 312, 747 

- — vorderasiatische 261 , 
274, 288, 729, 730 

— westische y^ (s. auch 
mediterrane) 

Rassen des deutschen 

Volkes 727 
Rassenanalyse 641 

— anlagen 7 1 2 

— begriff 246 ff. 

— biologie 286 ff. 

— chaos 3 1 8 

■ — diagnose 193, 300 

— einteilung 260 f., 7 1 4 
■ — entstehung 25 1 

— geruch 235 

— geschichte 284 
— - hygiene 2 2 

— index, biochemischer 
2^8 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



793 



— karten 296 

— - kreuzung 2S7 f. 

— merkmaie 760, 761 

— mischehc 767 

— mischung 398, 720, 
761—765 

— psychologie 714 

— reinheit 765 

— übersieht 278 

— unterschiede, geistige 
711 H., 714 

— wert 767 
Raynaudsche Krankheit 

377 
Räzelbildung 162 
Reaktionsmöglichkeiten 

571 

— weise 14 

Rec klinghausen sehe 

Krankheit 375 
Reduktionsteilung 72 
Refraktionsanomalien 

340 
Regression 633, 634, 635 
Rehobothcr Bastarde 

200, 309 f., 762 
Reihengräbertypus 280 
Reinzucht, bewußte, be- 
stimmter Rassen 93 
Reizwirkungen 57 1 
Retina 253 

Retinitis pigmentosa 354 
Rom 316, 31 8 
Röntgenstrahlen 79, 

490, 496, 498» 563 ff-, 
56S, 570 f. 

Rotblindheit 364 
Rotgrünblindheit 67, 68, 

113, 360—363 
Rothaarigkeit 125, 248 
Rousseau 73 1 
Rückkreuzung 26 f., 294, 

301 
Rückmulalion yj, 570 
Rundkopf rassen 283 
Rundschädel 164 

— Zunahme 168 
Russen 132, 288, 725 
Rußland 238 
Rutilismus 256 

S. 

Sakralfleck 119, 275 
Sambo 290 
San-Blas-Indianer 1 24 



Sarkom 4S9, 490 
Säugetierversuche 592 
Säuglingssterblichkeit 

446, 447 
Schädel, Gesamtform 1 66 

— index 298 

— Verrumlung des 169 
Scharlach 471, 481 
Scheckung 129, 373 f. 
Scheinzwitter 402, 403 
Schiefhals 412, 41 3 
Schielen 346—349 
Schimpanse 1 15, 1S6, 

240, 252, 716 

Schizoide Psychopathen 

533, 535 
Schizophrenie 488, 532, 

533, 534, 536, 537, 

67 5 
Schizothyme Charaktere 

56r 
Schlaganfälle 450, 452 
Schlichthaar 1 57 
Schmetterling 188 f. 
Schnupfen 4S3 
Schotten 132, 169 
Schreibdruck 245 
Schulleistung 684, 691 
Schulterblatt 180 
Schuppenflechte3§2 T 383 
Schwachsichtigkeit 356 
Schwachsinn 527 — 532, 

555 

— moralischer 556 
Schweden 132, 175, 207, 

210 
Schwein 172 
Schweiß 244 
Schwerhörigkeit 370 f. 
Schwindsucht 4S5, 486, 

487 
Seborrhoe 384 
Seelische Eigenschaften 

704 f. 

— Rassenunterschiede 
712, 713 

Sehnervverödung 3 53, 

354_ 
Sekretion, innere 4 1 6, 

584 
Semang 1 59, 272 
Serben 133 
Sinanthropus 1 63, 252, 

25S 
Singstimme 246 



Sippencharakter 1 6 f. 

— geschichte 59 t 

— tafel 595, 596 
Sittlichkeit 771 

Situs viscerum inversus 

427 
Sizilianer 119, 1 69 
Sklerose, diffuse 5 1 2 

— multiple 5 1 2 
— - tuberöse 5 13 
Skoliosen 421, 422 
Slawen 170, 288 
Slowenen 1 1 8 
Somali 1 59 

Sommersprossen : 1 8, 37 5 
Sozialanthropologie 28 7 
Spaltfuß 394 

Spanier 169, 304 
Speichel, Blutgruppen- 
eigenschaften 242 

— saft 244 
Spermien 253 
Spezifität 391 

Spina bifida 395, 411, 
522, 523 

— - nasalis 165 
Spinale Ataxie 5 13 
Spinalparalysc, spasti- 
sche 509, 510 

Spleno-Hepato-Megalie 

114, 468 
„Sporadische" Fälle 622 
Sport 739 

— typen 223 
Sprachgrenze 82 
Stammbaum 595 
Stammesentwicklung, 

Grundlagen d. 8 1 
S t and ar dabweic hung 

308, 635 
Star 336, 337, 339 
Statistik 593 
Status degenerativus 419 

— dysraphicus 522 

— - thynücolymphaticus 

43 = 

— varicosus 423 
Steatopygie 2 1 7 
Steinheim, Schädel von 

254 
Stcinertsche Krankheit 

519 
Sterilisierung 567 
Sterilität 499, 500, 501, 

564, 566 
Stillen 217 



794 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



Slillunfähigkeit 503 
Stirnhöhle 163 
Stoffwechsel 1 [ 3 

— krankheiten 452 

— Störungen 305 
Stottern 523 
Strabismus 346 
Straffhaar 157 
Struma 437 
Südafrika 307 
Sudan 2S8 
Summoprimatc 1 89 
Sünde 317 

Sünden der Väter 584 
Supraorbitalleisten 162 
Symphalangie 394 
Syndaktylie 391 
Syphilis 476, 477, 526, 

577, 578 
Syringomyeiie 521, 522 

T. 

Tabak 576 

Tagblindheit 359, 361 
Talent 662 

— technisches 663, 668 
Talgai-Funde 255 
Tamil-Malaien- Misch- 
linge 1 1 6 

Tamilen 303 
Tasmanier 285 
Tastballen 135 
Tastleisten 135 
Taubstummheit 365, 366, 

3&7, 369.. 370 
Teleangiektasien 375 
Telegonie 585, 586 
Temperament 562, 757 
Tempo 1 14, 245, 697 
Terzeron 290 
Thomsensche Krankheit 

518, 519 
Thrombopathie 444 
Thrombose 452 
Thymopathie 543 
Thymus 243 
Tibia, Retroversion d. 

180 
Tic -Krankheit 518 
Tierversuche 592 
Tigermädchen 129 
Timor 198, 200 
Torsionsdystonie 518 
Totgeburten 229 
Trema 178, 407 
Tremor 518 
Trichterbrust 42 1 



Triradius 142, 1 50 
Trommel schlägelfinger 

3S6 
Tropfenherz 226 
Trophoneurose 52 [ 
Tuberculum impar 178 
Tuberkulose 2 1, 304, 

480, 485, 487, 488 
Tuberöse Sklerose 375 
Turkvölker 288 
Turmschädcl 168, 16^, 

410 

U. 

Übersichtigkeit 

345, 347, 348 

Übersterblichkeit d. Kna- 
ben 445, 446 

Überstreckbarkeit der 
Finger 397 

Übertragung, plasmati- 
sche 438, 439 

Ulcus ventriculi 474 

Umwelt 5, 641 

Umwelteinfluß 623, 642, 
652, 655, 692, 693 

— labilität 390, 647 
Unfruchtbarkeit 299. 499, 

500, 501, 566, 575 
Ungleicher big 24 
Unterernährung 583 
Unterkiefer prognathie 

408 
Urrassen, primitive 7 16 
Urschicht, Melanidc 288 
Urticaria 461 

V. 

Vagotonie 465, 475 
Variabilität 82, 307 
— - meristische 648 
Variationserscheinung 5 

— koeffizienten 307 
Varizen 422 
Vaterschaftsbegutach- 
tung 136 

Veitstanz 516 
Venensystem 226 
Verbrecher 555, 556., 

557, 743. 744, 753 
Verdauung 232 f. 
Vereinigte Staaten 320 
Vererbung im biologi- 
schen Sinn 3, 657 
348 



— ■ erworbener Eigen- 
schaften 15, 479, 589, 
709, 710, 711, 755 

■-- geschlechtsbegrcnzte 
603 

Vernegerung 3 18 

Verrücktheit 537 

, Versehen' der Schwan- 
geren 584 

Verstopfung 475 

Verwachsenfingcrigkeit 
39 1 

Vcrwandtenehe 330, 340, 

352, 354, 369. 376, 

490, 529, 582, 600, 

601, 607, 619, 620 
621, 622 

Vielfingerigkeit 388, 

389, 39" 
Vierlinge 101, 104 
Virchowsche Schul kin- 

deruntersuchung 297 
Vitaminmangel i68, 434 
Volk 81 f., 312 f., 747 
Volkstum (Definition) 

3!2. 747 

Vorderasiatische Rasse. 
729, 7Z° 

Vorstellungen, Erbbe- 
dingtheit 695 



Wadjak-Fund 255 
Waisenkinder 68 7 
Wandern der Menschen 

259 
Wangenrötung 227 
Washington, B. 306, 720 
Wasserhaushalt 233 
Wasserkopf 412 
Wcdda 157, [61, 239, 

272, 277, 285, 317 

— bart 275 
Weltanschauung 769, 

770, 772, 773 
Wert der Rassen 767 
Wiener (Kaninchen) 156 
Willensfreiheit 70 5 
Wilsonsche Krankheit 

468 
Wirbelbildung am Kopf- 
haar 1 6 i 

— säule 180, 1S6 

— Varietäten 181 £. 
Wolfsrachen 113, 405 
Wolhynier 1 56 



SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS. 



795 



Wollhaarigkeit [57 
Wunschbestimmbarkeit 

548, 549, 55'. ^77 

X. 

Xanthomatose 382 
X-Beine 396, 397 
X-Chromosom 447 
Xeroderma pigmento- 
sum 376, 495 

Z. 

Zabim 1 2 7 
Zähne 177, 407 ff. 
Zahnkaries 409 
— Wechsel 177 
Zentralasien 239 
Zerebellare Ataxie 5 1 5 
Zeugung im Rausch 
575 



Zittern 5 18 

Zuchtwahl, künstliche 90 

Zuckergehalt 244 

— krankheit 114, 233, 
304, 452 f. 

— kurven 234 
Zufallskurve 43 f. 
Zulu 288 

Zungenpapille 226 
Zwangsneurose 554 
Zweieiig 102 

Zweig, australider 276 

— europider 276, 279 

— mongolider 273, 277 

— negrider 272, 285 
Zwergwuchs 1 10, 424. 

425, 426, 427 
Zwillinge [i f., 503,600, 
688 

— Entstehung 102 

— Häufigkeit 101 



— Inlelligen/.prüfung 

653 

— Unterschiede 655 
Zwillingsbildung 

bei Affen ioo 
beim Menschen 100 

— bei Haustieren io! 
Zwillingsdiagnose 

107 ff., 151, 644 

— Forschung 557, 607 

— geburten 608, 609 

— methode 641, 688 
Zykloid 543 
Zyklophrenie 543, 544, 

545. 6 75 
Zyklothym 543 
Zyklothyme Charaktere 

562 
Zwitter 229, 388. 403, 

699 
Zystenniere 1 12, 471 



Der II. Band des Werkes ist ebenfalls in 4. Auflage (unveränderter Neu- 
druck der 3. Auflage von 1931) lieferbar: 



Nachträgliche Verbesserungen. 

Seite 409, Zeile 10 statt Kerkhaus lies Korkhaus. 
Seite 469, Zeile 15 von unten statt Botriokephalus lies Bothrio- 

cephalus. 
Seite 527, Zeile 4 von unten statt ir Paare lies 14 Paare. 



Die Darstellung des geschlechtsgebundenen Erbgangs auf 
S. 65 bis 67, wie sie bei Erwin Baurs Tode vorlag, ist un- 
nötig kompliziert. Wir glaubten nichts daran ändern zu dürfen, 
bemerken jedoch, daß Weißäugigkeit eines Drosophilamänn- 
chens lediglich durch eine entsprechende Anlage im X-Chro- 
mosom bedingt ist. Die Annahme, daß auch das Y-Chromosom 
solcher Männchen eine entsprechende Anlage enthalte, ist un- 
begründet. Entsprechendes gilt auch von der Rotgrünblindheit 
beim Menschen. Das Y-Chromosom ist stammesgeschichtlich 
als ein rudimentäres Geschlechtschromosom anzusehen, in dem 
die geschlechtsgebundenen Erbanlagen nicht nur wirkungslos, 
sondern vermutlich überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Mit 
Koppelung hat der geschlechtsgebundene Erbgang als solcher 
nichts zu tun; doch können geschlechtsgebundene Erbanlagen 
mit anderen geschlechtsgebundenen natürlich mehr oder we- 
niger eng gekoppelt sein (vgl. S. 625). Im übrigen verweisen 
wir auf die Darstellung des geschlechtsgebundenen Erbgangs 
auf S. 332 f. und S. 362 f. 




Von Prof. Dr. Fritz Lenz 

600 Seiten mit 12 Textabb. Gek. Mk. 13.50, Lwd. Mk. 15.30 

I. Die Auslese beim Menschen. Fortpflanzungsauslese / Kiuderzahl / Geisteskrankheit 
Ansteckende Krankheiten / Umsturz der Geschlechtssitten / Kindersterblichkeit / Alkohol 
und andere Genußgifte / Auslesewirkung des Krieges / Gegenauslese der Begabten iru 
Kriege / Bürgerkriege / Die Ausmerze in Rußland / Die soziale Auslese: Erbliche Ver- 
anlagung und soziale Gliederung / Klasse, Herkunft und Begabung / Die Schule als Aus- 
lesesieb / Sozialer Aufstieg / Gegenauslese der Charakterschwachen / Rasse und soziale 
Gliederung / Rasse, Klasse und Charakter / Adelsauslese / Die soziale Stellung der Juden 
Konfession, Rasse und Charakter / Zusammenhänge zwischen biologischer und 
sozialer Auslese / Fruchtbarkeit und Geburtenüberschuß / Kmderzakl und soziale Lage 
Ehelosigkeit /Das Pfarrhaus /Abtreibungund Geburtenverhütung /Der Geburtenrückgang/ 
Abwendung von alten Bindungen / Glaubensbekenntnis und Geburtenfrage / Geburteu- 
krieg / Bildnngswahn / Die „unverbrauchte" Unterschicht / Industrialisierung Landflucht / 
Ueberbe Völker nng / Die Auslese Wirkung der geistigen Frauenberufe / Farbige und Weiße. 

II. Praktische Rassenhygiene. Eugenik oder Rassenhygiene? / Soziale Rassen- 
hygiene / Eheverbote und Eheberatung / Unfruchtbarmachung Minderwertiger Außer- 
ehelicher Geschlechtsverkehr / Private Rassenhygiene / Alkoholabstineuz ? / Seßhaf- 
tigkeit oder Siedlung / Rasseuhygienische Eheberatung / Gattenwahl / Verwandtenehe 
Vermögen und Diebe / Altersunterschied / Kameradschaftsehe / Mindestkinderzahl / Quan- 
tität oder Qualität? / Kirche und Gebnrtenverhütung / Parnilienforsehung / Die junge 
Generation / Wege rassenhygienischen Wirkens / Rassenhygiene und Weltanschauung 

Individualismus und Humanität / Nationalismus / Sozialismus / Christentum. 



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